1 Forschungsstand und Erkenntnisinteresse

1.1 Die Definition des Begriffes „digitale Selbstvermessung“

Die digitale Selbstvermessung (englisch: Quantified Self) wird von Melanie Swan (2013, S. 85) als „any individual engaged in the self-tracking of any kind of biological, physical, behavioral, or environmental information“ definiert. Dabei wird impliziert, dass Individuen in irgendeiner Form Daten über sich erheben und sammeln, z. B. biologische und physische oder solche, die das Verhalten oder Umweltfaktoren betreffen (Geib et al. 2015). Das Messen ist dabei eine proaktive Einstellung, um Informationen über sich selbst zu gewinnen und anschliessend die eigenen Handlungen an ihnen auszurichten (Swan 2013). Die digitale Selbstvermessung wird daher auch wie folgt definiert:

Quantified Self ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person sich proaktiv mit Geräten und Applikationen selbst misst, um aufgrund der Analyseresultate ihren Lebensstil in den Bereichen Fitness, Gesundheit oder Wellness zu optimieren (Meidert et al. 2018, S. 3).

Bei der Selbstvermessung werden sowohl der Körper als auch seine Funktionen und Zustände mit digitalen Technologien vermessen und die so gewonnenen Daten in Programme, sogenannte Applikationen (Apps), übertragen – zum Beispiel die Anzahl verbrauchter Kalorien, zurückgelegte Schritte oder Stockwerke (Meidert et al. 2018). Das sogenannte Tracken oder Vermessen wird dabei oft durch Wearables vorgenommen. Das sind Technologien, die Sensoren beinhalten und am Körper getragen werden, beispielsweise in Form von Armbändern oder Brustgurten.

1.2 Die gesellschaftliche Verbreitung der Selbstvermessungstechnologien und die beobachtete Diskrepanz zwischen verschiedenen Konventionen

Technologien zur digitalen Selbstvermessung sind weit verbreitet und mittlerweile auch auf dem Gesundheitsmarkt angekommen. Dies zeigt der achte EPatient-Survey 2019 (Bröckerhoff 2019), in dessen Rahmen 8800 Menschen in der Schweiz, Deutschland und Österreich mithilfe eines Online-Fragebogens befragt wurden. Die Befunde zeigen, dass Krankenversicherungen und ÄrztInnen zunehmend Gesundheits-Apps empfehlen und dass sich dies in einer intensivierten Nutzung äußert. Im Vergleich zum Vorjahr war die Verwendung von Medikamenten-Apps im Jahr 2019 von 11 % auf 18 % angestiegen und jene von Diagnostik-Apps hatte sich von 6 % auf 12 % verdoppelt. Die Zahl der PatientInnen, die von ihren ÄrztInnen App-Empfehlungen bekamen, ist von 3 % auf 9 % gestiegen, und 16 % der Befragten hatten von ihrer Krankenversicherung eine digitale Gesundheits- und Therapieempfehlung erhalten, was eine Zunahme um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr bedeutet.

Dass Selbstvermessungstechnologien wie Apps und Wearables beliebt sind, hat auch mit der starken Verbreitung von Smartphones zu tun. Da diese bereits verschiedene Sensoren integriert haben, werden sie, in der Hosen- oder Handtasche getragen, selbst zum Wearable. Auch sind dazugehörige Apps auf den gängigen Smartphones bereits vorinstalliert, sodass der Zugang zu selbsterhobenen Daten für alle einfach und mit keinen oder geringen Kosten verbunden ist. Attraktiv ist zudem, dass die Geräte Entwicklungsverläufe oder Vergleiche aufzeigen und Feedback geben. Dabei werden die aktuellen Daten mit eigenen Daten aus der Vergangenheit oder mit Durchschnittswerten anderer NutzerInnen verglichen. Aus diesen Vergleichen resultieren dann oftmals Empfehlungen und Tipps, die die NutzerInnen zur Erreichung festgelegter Ziele befolgen (können).

Meist ist dabei aber nicht transparent, aus welcher Quelle die zum Vergleich herangezogenen Daten, die Handlungsanweisungen oder Empfehlungen stammen. Hier zeigt sich dementsprechend ein deutlicher Widerspruch zum üblichen Vorgehen im Gesundheitsbereich. In diesem besteht die Übereinkunft, dass ausgewiesen werden muss, auf welche Empfehlungen man sich stützt. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht sind diese Handlungsanweisungen also nicht transparent, zudem entsprechen sie oft nicht dem aktuellen Wissensstand. So zeigt beispielsweise die Studie von Jennifer Nicholas et al. (2015), dass Apps Personen mit bipolarer Störung falsche oder kontraindizierte Angaben machten und Handlungsempfehlungen gaben. Zu einem ähnlichen Resultat kam eine Untersuchung von Apps für Personen mit Asthma: 44 % der untersuchten Apps gaben Empfehlungen, die nicht den medizinischen Richtlinien entsprachen, und bei nur 5 % der Apps wurde der Inhalt als umfassend bewertet (Huckvale et al. 2012).

Diese Diskrepanz bezieht sich nicht nur auf Empfehlungen und Handlungsanweisungen, sondern auch auf die in den Apps und Wearables hinterlegten Normwerten. Beispielsweise empfehlen viele Selbstvermessungstechnologien, 10.000 Schritte pro Tag zu gehen. Dieser Wert entspricht jedoch nicht den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder des Schweizerischen Bundesamts für Sport (BASPO), denn diese empfehlen, Bewegung in Form der Aktivitätsdauer und des Aktivitätsniveaus zu messen, die zusätzlich auf das Alter abgestimmt sein sollten (WHO 2011; BASPO 2013). Zudem haben Studien gezeigt, dass das Gehen von 10.000 Schritten zwar einfach in den Alltag integriert werden kann, jedoch nicht die wissenschaftlichen Kriterien verschiedener Gesundheitsoutcomes erfüllt, da es nicht immer dem individuellen Bedarf entspricht (Boyer et al. 2011; Wattanapisit und Thanamee 2017). Ein Grund für diese Diskrepanz kann das fehlende Fachwissen der App-TechnikentwicklerInnen sein, die zumeist nicht aus dem Gesundheitsbereich stammen, sondern aus dem Sport- oder Technologiebereich. Und auch die HerstellerInnen von Gesundheits-Apps sind zumeist nicht im Gesundheitssektor angesiedelt, sondern entstammen dem Technologiesektor, wie eine im Jahr 2016 weltweit durchgeführte Erhebung offenlegte: Ihr zufolge gehörten lediglich 28 % der Herstellenden dem Gesundheitssektor an, während 51 % aus dem Technologie-Sektor stammten (research2guidance 2016).

Hier zeigt sich ein möglicher Konflikt zwischen den im Gesundheitswesen anerkannten Kriterien und den in den Produkten hinterlegten Werten und Normen. Problematisch wird dieser vor allem dann, wenn sich in der Gesellschaft Empfehlungen oder Werte etablieren, die einer wissenschaftlichen Grundlage entbehren, jedoch Konsequenzen für die breite Bevölkerung haben. In der Schweiz sind beispielsweise verschiedene Krankenkassen dazu übergegangen, ihren Versicherten monetäre Anreize zu versprechen, sollten sie täglich 10.000 Schritte gehen. Beispielsweise wird diese Schrittzahl mit 0,40 CHF vergütet und 7500 Schritte mit 0,20 CHF. Über ein Kalenderjahr kann so eine „Schrittentschädigung“ von 146 CHF erreicht werden. Gemessen wird die Schrittzahl mit einem Fitnessarmband sowie einer Schrittzähler-App der Krankenversicherung (CSS 2016).

Solche Programme stehen stellvertretend für eine neue Entwicklung in der Gesundheitspolitik, die die Gesundheitsversorgung der Versicherten zunehmend an Bedingungen knüpft. Wobei nicht vergessen werden darf, dass Vermessung und Regulierung der Ordnung auf einer statistischen Vorstellung von Normalität basieren (Gertenbach und Mönkberg 2016).Footnote 1 Im Prozess der Normierung und gesellschaftlichen Prägung werden die Daten jeweils mit Normwerten oder mit anhand diverser Kriterien (Alter, Geschlecht, Krankheitsbild etc.) vergleichbaren Gruppen abgeglichen. Dadurch sind Menschen einer Beeinflussung ausgesetzt, der sie sich möglicherweise nicht bewusst sind. Denn Körperarbeit ist meist keine individuelle, private und subjektive Angelegenheit des Menschen, sondern die Entscheidungen über die Gestaltung des eigenen Körpers sind hochgradig normativ und gesellschaftlich geprägt (Villa 2015). Gesellschaftlich gesehen wird ein Individuum durch das Phänomen der digitalen Selbstvermessung also dazu veranlasst, sich einem Trend anzuschließen, welcher sich wiederum an größeren Gesundheitstrends orientiert.

1.3 Die Soziologie der Konventionen und die digitale Selbstvermessung

Die Soziologie der Konventionen bietet verschiedene Anknüpfungspunkte für die Untersuchung des Phänomens der digitalen Selbstvermessung. Laut Rainer Diaz-Bone und Laurent Thévenot (2010, S. 4) werden

Konventionen […] als interpretative Rahmen aufgefasst […], die durch Akteure entwickelt und gehandelt werden, um die Evaluation von und Koordination in Handlungssituationen durchführen zu können.

Ziel dieses Artikels ist es, Konventionen zu identifizieren, die im Kontext der digitalen Selbstvermessung zu unterschiedlichen Gesundheitskonzepten einen Beitrag leisten. Darüber hinaus wird auf Konfliktlinien und Unsicherheiten zwischen den Gesundheitskonzepten sowie deren Auswirkungen aufmerksam gemacht. Denn damit sich die digitale Selbstvermessung im Gesundheitswesen langfristig etablieren kann, müssen diese Konflikte angesprochen, ausgehandelt und Kompromisse gefunden werden. Dazu sind auch Annäherungen zwischen Konventionen erforderlich.

Der Bereich von Medizin und Gesundheit ist für dieses spezifische Anliegen deshalb besonders interessant, weil hier verschiedene Akteursgruppen und Konventionen aufeinandertreffen: 1) die NutzerInnen und PatientInnen, die ein vermehrtes Interesse an objektiven Körperdaten haben und diese in das ÄrztInnen-PatientInnen-Gespräch einbringen (Meidert et al. 2018; Hauschke et al. 2018), 2) die Gesundheitsfachpersonen, die zunehmend mit diesen Daten konfrontiert werden und diesen bislang nur wenig Aufmerksamkeit schenkten (Meidert et al. 2018; Hauschke et al. 2018), und 3) die Krankenversicherungen, die nicht nur ein Interesse an der Gesundheit ihrer Versicherten haben, sondern auch an deren Daten, um mehr über ihre Lebensweise und ihr Verhalten zu erfahren (Generali Vitality 2019; dacadoo 2019).

Der Artikel untersucht welche Konventionen einen Beitrag zur Etablierung von Gesundheitskonzepten leisten. Er geht der Frage nach, welche unterschiedlichen Gesundheitskonzepte sich in der Gesundheitsversorgung hinsichtlich des Phänomens der digitalen Selbstvermessung identifizieren lassen und inwiefern diese variieren. Er fragt danach, welche konflikthaften Situationen entstehen, wenn verschiedene Gesundheitskonzepte aufeinandertreffen, wie diese gelöst werden und welche Auswirkungen sich daraus ergeben.

2 Methodisches Vorgehen bei der empirischen Untersuchung

Für die Beantwortung der oben genannten Fragestellungen wurde eine qualitative Herangehensweise gewählt: Es wurden einerseits ExpertInneninterviews und andererseits Gruppendiskussionen (Fokusgruppen) mit Gesunden und Personen mit einer oder mehreren chronischen Erkrankungen sowie mit Gesundheitsfachpersonen geführt. Dabei waren die Fokusgruppen für die Fragestellung besonders zielführend, da die Teilnehmenden miteinander in Interaktion treten und durch ihre Gesprächsbeiträge unterschiedliche Meinungen und Einstellungen deutlich werden (Macnaghten 2017). Alle Daten wurden im Rahmen des Projekts „Quantified Self – Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin“ erhoben, welches im Zeitraum 2016–2017 von der Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung (TA-SWISS) initiiert und finanziert wurde.

Die ExpertInneninterviews wurden mit Personen aus den folgenden Bereichen des Gesundheitswesens geführt, die besonders von der digitalen Selbstvermessung tangiert sind: Gesundheitsförderung und Prävention, Ernährungsberatung, Verhaltenstherapie, PatientInnenorganisation im Bereich Diabetes sowie die medizinische Forschung und Entwicklung. Innerhalb dieser Bereiche wurden MitarbeiterInnen von Organisationen und ExpertInnen identifiziert, angeschrieben und um ein persönliches Interview gebeten. Für die Interviews wurden verschiedene Leitfäden entwickelt, die Fragen zum Einsatz von Selbstvermessungstechnologien, den diesbezüglichen Erfahrungen sowie den zukünftigen Entwicklungsprognosen enthielten. Die Interviews wurden im August und September 2016 persönlich oder telefonisch geführt. Es wurden Audiomitschnitte von den Interviews gemacht und anschließend transkribiert.

Für die Fokusgruppen wurden ebenfalls Leitfäden erstellt. Zentrale Themen waren die Motive der Nutzung bzw. Nicht-Nutzung der digitalen Selbstvermessung, die Anwendung der Technologien sowie die diesbezüglichen Erfahrungen, Einstellungen, Erwartungen und Befürchtungen. Die Teilnehmenden wurden auf verschiedenen Wegen angesprochen: Im öffentlichen Raum in Winterthur (Schweiz) wurden eigens zu diesem Zweck erstellte Flyer an PassantInnen verteilt. Auf verschiedenen Webseiten sowie auf Facebook wurden Hinweise und Aufrufe platziert. Und es wurde ein Aufruf an alle Mitarbeitenden der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften verschickt. Zusätzlich wurden Spitäler und Privatpraxen im Grossraum Zürich und Ostschweiz, die Spitex in der Region Winterthur sowie verschiedene PatientInnenorganisationen angeschrieben oder unsererseits telefonisch kontaktiert. Die interessierten Personen wurden entsprechend ihres Gesundheitszustandes einer der drei Fokusgruppen zugeteilt, sodass letztlich eine Gruppe mit gesunden Personen, eine Gruppe mit chronisch kranken Personen und eine Gruppe mit Gesundheitsfachpersonen zustande kamen. Die Interessierten wurden ihrem Profil entsprechend zu einer der Fokusgruppen eingeladen und über deren Ablauf vorab informiert.

Die drei Fokusgruppen fanden zwischen Ende November 2016 und Mitte Januar 2017 statt. Zu Beginn jeder Fokusgruppe wurde die Studie und der Ablauf der Fokusgruppe vorgestellt. Danach stellten sich die teilnehmenden Personen kurz vor und sagten wie sie digitale Selbstvermessungstechnologien bisher verwenden. Darüber hinaus wurden sie über die Freiwilligkeit der Teilnahme und über die Verwendung der Daten informiert. Die Teilnehmenden gaben ihre schriftliche Einwilligung zur Teilnahme und Aufzeichnung der Daten, bevor mit den Fokusgruppen begonnen wurde, die jeweils 100 min dauerten und von einer Projektmitarbeiterin moderiert und einer anderen schriftlich protokolliert wurden.

An der ersten Fokusgruppe nahmen acht Personen teil, die ihrer Selbsteinschätzung nach gesund waren. Darunter waren fünf Männer und drei Frauen im Alter von 17 bis 58 Jahren. Alle Personen, außer einer, nutzten digitale Technologien zur regelmäßigen Selbstvermessung. Das heißt, sie vermaßen einen oder mehrere Parameter ihres Körpers oder Körperfunktionen, ihrer Mobilität, ihres Verhaltens oder Konsums. Die zweite Gruppe der chronisch Kranken bestand aus sieben Personen, davon waren drei Männer und vier Frauen im Alter von 23 bis 70 Jahren. Die Anwesenden hatten folgende chronische Erkrankungen: Bluthochdruck, Diabetes, Asthma, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Hormonstörung und entzündliche Autoimmunerkrankung. Unter den Befragten gab es zwei Personen, die sich nur sporadisch sowie drei, die sich täglich selbst vermaßen. Zudem gab es eine Person, die einen Parameter mehrmals am Tag maß und eine Person, die mehrere Parameter mehrmals am Tag maß. Dabei kamen sowohl Apps und Wearables als auch konventionelle Messgeräte zum Einsatz. Die dritte Fokusgruppe bestand aus Gesundheitsfachpersonen. Es waren sieben Personen im Alter von 25 bis 60 Jahren anwesend, ebenfalls drei Männer und vier Frauen. Vom beruflichen Hintergrund waren in der Gruppe zwei PhysiotherapeutInnen, eine Ergotherapeutin, eine Person aus dem Bereich Gesundheitsförderung und Prävention, ein Arzt und zwei Pflegefachpersonen. Darunter nutzten drei Selbstvermessungstechnologien im beruflichen Kontext und fünf im Privaten.

Anschließend wurden die Audioaufzeichnungen sowohl der ExpertInneninterviews als auch der Fokusgruppen nach den einfachen Transkriptionsregeln von Torsten Dresing und Thorsten Pehl (2015) transkribiert. Die Auswertung erfolgte mittels der Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring (2010) und fokussierte auf verschiedenen Konventionen sowie die daraus resultierenden Gesundheitskonzepte und Konflikte verschiedener Akteursgruppen hinsichtlich der digitalen Selbstvermessung. Zu diesem Zweck wurde das Datenmaterial von beiden Autorinnen dieses Artikels mithilfe des Programms Atlas.ti kodiert und danach kommunikativ validiert. Die verschiedenen Konventionen und daraus resultierenden Gesundheitskonzepte der Akteure wurden im Datenmaterial identifiziert, indem nach Aussagen gesucht wurde, in denen Akteure beschreiben „wie die Dinge sein sollten“ (Diaz-Bone und Thévenot 2010, S. 4). Daher werden deren Einstellungen, Auffassungen und Überzeugungen deutlich. Ebenso wurde nach Stellen gesucht, an denen ein Konflikt zwischen eigenen Vorstellungen und denen anderer zum Ausdruck kam. Die Soziologie der Konventionen ermöglichte es hierbei, die Unterschiede in den Gesundheitskonzepten verschiedener Akteursgruppen hinsichtlich der digitalen Selbstvermessung sichtbar zu machen. Denn diesem Konzept folgend, wurden die Konventionen als explizite Rechtfertigungsordnungen und interpretative Rahmen der Akteure verstanden, die sichtbar werden und in Erscheinung treten, „wenn Akteure kritisiert werden oder selber Kritik üben“ (Diaz-Bone und Thévenot 2010, S. 5).

3 Befunde der empirischen Untersuchung

Aus der Perspektive der Soziologie der Konventionen und auf der Grundlage der im Rahmen der Untersuchung gewonnenen empirischen Daten haben wir verschiedene Konventionen und Gesundheitskonzepte von vier verschiedenen Akteursgruppen herausgearbeitet: von 1) ÄrztInnen, von 2) PhysiotherapeutInnen, von 3) Fachpersonen aus der Gesundheitsförderung und Prävention und von 4) PatientInnen. Darüber hinaus konnten Konflikte herausgearbeitet werden, die auftreten, wenn verschiedene Konventionen aufeinandertreffen, und es konnte ermittelt werden, wie diese gelöst werden. In den folgenden Kapiteln werden die Befunde der Untersuchung vorgestellt: In Abschn. 12.3.1 werden die Gesundheitskonzepte von Gesundheitsfachpersonen und in Abschn. 12.3.2 die Gesundheitskonzepte von Gesunden und chronisch kranken Personen dargelegt. In Abschn. 12.3.3 werden konflikthafte Situationen in Zusammenhang mit den erörterten Gesundheitskonzepten und Konventionen sowie deren Auswirkungen beschrieben. In Abschn. 12.3.4 wird schließlich die viel zur Sprache gebrachte Befürchtung der Akteure vor einer Kommodifizierung ihrer Gesundheitsdaten thematisiert.

3.1 Gesundheitskonzepte von Gesundheitsfachpersonen

Die Gesundheitskonzepte von Gesundheitsfachpersonen basieren, den Befunden der eigenen Erhebung zufolge, vorwiegend auf einem naturwissenschaftlich-medizinischen Verständnis von Gesundheit und Körper. Denn diese Personen vertrauen meist nur denjenigen Selbstvermessungstechnologien, die als Medizinprodukte zertifiziert sind. Diese Zertifizierung bedeutet, dass die Medizinprodukte strenge gesetzliche Auflagen erfüllen, was notwendig ist, damit nur qualitativ hochwertige, sichere und wirksame Produkte und Anwendungen auf den Markt kommen (Meidert et al. 2018, S. 23). In der Schweiz ist für die Zertifizierung das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic zuständig und regelt damit u. a. die Produktsicherheit und die Produkthaftpflicht der Technologien. Die zertifizierten Produkte genügen somit den Anforderungen der Validität und Reliabilität.Footnote 2 Diese Standards, auf welche sich die Gesundheitsfachpersonen beziehen, sind stark regelgeleitet und qualitätsorientiert und entsprechen damit der industriellen Konvention (Diaz-Bone 2009).

Elemente der häuslichen wie auch der industriellen Konventionen (Diaz-Bone 2009) finden sich bei den befragten ÄrztInnen, die Technologien zur Selbstvermessung dann als vertrauensvoll ansehen, wenn bestimmte Regeln und Standards erfüllt sind. Beispielsweise jene der „Guten klinischen Praxis“ (engl. Good Clinical Practice, kurz: GCP) wie sie bei klinischen Studien verwendet werden. Ein wesentlicher Bestandteil der Konventionen der ÄrztInnen ist zudem die Evidenzbasierte Medizin (EbM), bei anderen Gesundheitsfachpersonen dagegen ist es die Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (Evidence Based Healthcare). Auf dieser Grundlage werden Entscheidungen für die Behandlung und Versorgung von PatientInnen getroffen (Sackett et al. 1996).

Die Orientierung an den Gütekriterien wurde in den Interviews unter anderem damit begründet, dass die Produkte durch die Einhaltung der Standards verlässlich sind und dass durch diese Verlässlichkeit das Vertrauen der Gesundheitsfachpersonen und PatientInnen in die Geräte und Apps geschaffen wird, was auf die häusliche oder familienweltliche Konvention verweist (Diaz-Bone 2009). Die fehlende Datenqualität und/oder fehlende Standards führen hingegen dazu, dass ÄrztInnen den Technologien zur Selbstvermessung nicht vertrauen und diese daher zurückhaltend anwenden oder ihnen sogar ablehnend gegenüberstehen. Ein befragter Arzt sagte dazu:

Die größten Hürden sind derzeit die Datenqualität und die Schaffung von Standards für die Datenqualität sowie die Validierung der Verwendung dieser Daten in der medizinischen Forschung, um ihren Nutzen zu demonstrieren, sodass Ärzte sie in einem gesundheitlichen Umfeld einsetzen wollen (D 7:11).

Er fügte zudem an, ein weiterer Grund für die zögerliche Verwendung von Selbstvermessungstechnologen der ÄrztInnen läge darin, dass noch zu wenig darüber bekannt sei, wie die erhobenen Daten sinnvoll in der medizinischen Praxis verwendet werden könnten – dafür brauche es wissenschaftliche Studien. Die Verwendungsmöglichkeiten lägen auf der Hand: Beispielsweise könne das konstante Messen von PatientInnen mit Selbstvermessungstechnologen nach Operationen dazu führen, dass mögliche Komplikationen frühzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden. Dadurch könnten PatientInnen früher nach Hause entlassen, die Rehabilitationsphase verkürzt und Kosten eingespart werden. Insbesondere im letzten Argument wird die marktwirtschaftliche Konvention deutlich (Diaz-Bone 2009).

Die Gesundheitskonzepte der befragten PhysiotherapeutInnen orientieren sich ebenfalls stark am naturwissenschaftlichen Verständnis von Gesundheit und sind jenen der ÄrztInnen sehr ähnlich. Das heißt, auch für PhysiotherapeutInnen ist es wichtig, dass die Selbstvermessungstechnologien als Medizinprodukte zertifiziert sind und den Gütekriterien der Validität und Reliabilität sowie der Evidenzbasierten Gesundheitsversorgung entsprechen. Wenn diese Gütekriterien eines Produkts nicht transparent sind, dann besteht ihrerseits eine gewisse Skepsis, inwieweit sie diesen Daten vertrauen können. Ihrer Meinung nach reicht es nicht aus, dass die Daten mithilfe der Technologien einfach erhoben und „schön“ dargestellt werden können, vielmehr müssen die Daten reliabel und valide sein. Außerdem müssen die positiven Auswirkungen der digitalen Selbstvermessung auf den Behandlungserfolg nachgewiesen sein. Auch diese Punkte verweisen sowohl auf die industrielle als auch auf die häusliche Konvention (Diaz-Bone 2009).

Ein weiteres Vertrauenskriterium der PhysiotherapeutInnen ist, dass die PatientInnen eine gewisse Mess- und Medienkompetenz aufweisen. Von den PatientInnen wird also gefordert, dass sie lernen müssen, „richtig“ mit den Technologien und Daten umzugehen. Ein Physiotherapeut sagte dazu:

Man muss es [=die digitale Selbstvermessung] gezielt einsetzen, um zu schauen, wer kann verantwortungsbewusst damit umgehen und wer kann es nicht. Viele Leute halten sich an Daten fest und interpretieren die Daten falsch und verstehen vieles nicht. Man muss schauen: für wen ist was hilfreich oder vielleicht sogar schädlich (D 3:100).

Hier spielt zudem hinein, dass die PhysiotherapeutInnen die Ausführung von Bewegungen und Aktivität hinsichtlich ihrer Qualität und Quantität unterscheiden. Denn es ist für sie nicht nur wichtig, wie oft eine Bewegung ausgeführt wird, sondern auch, ob diese ihrer Meinung nach korrekt ausgeführt wird. Ebenfalls spielt es eine große Rolle, was die durch die Bewegung erlernten Bewegungsmuster im Alltag für den Patienten oder die Patientin bedeutet, denn

nur, weil ich bei den Kniebeugen besser werde, heißt das nicht, dass ich auch sonst bei (…) alltäglichen wichtigen Dingen besser bin (D 3:24).

Ganz anders sieht es bei den befragten Personen aus der Gesundheitsförderung und Prävention aus. Ziel der Gesundheitsförderung und Prävention ist es, gesunde Verhaltensweisen in der Bevölkerung oder in einzelnen Bevölkerungsgruppen zu stärken und gesundheitsschädigende zu reduzieren sowie Lebensbedingungen zu schaffen, die eine gesunde Lebensweise ermöglichen und fördern. In diesem Bereich ist die digitale Selbstvermessung dementsprechend vor allem bei der Förderung einer gesunden Lebensweise respektive auf der Ebene der Verhaltensänderung bei der Umsetzung von gesundheitsförderndem Verhalten der/des Einzelnen relevant und betrifft damit die von Tamar Sharon (2018) beschriebene Konvention der Vitalität (Repertoire of Vitality). Im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention besteht die Herausforderung, dass die Bevölkerungsgruppen mit den höchsten Gesundheitsrisiken oft die geringsten Gesundheitskompetenzen und Ressourcen für einen gesunden Lebensstil aufweisen. Und dass die Selbstvermessungstechnologien vor allem von Personen verwendet werden, die es nicht nötig haben, etwas an ihrem Lebensstil zu ändern:

Ich habe den Eindruck, dass diese Geräte eher von Personen genutzt werden, die es sowieso schon gut machen. Personen, die bereits ihre 10.000 Schritte machen, nehmen solche Geräte noch als Zusatzmotivation. Personen, die es eigentlich bräuchten, die nehmen das nicht, weil sie wahrscheinlich genau wissen, dass die Realität anders ist und etwas bestätigen, dass sie bereits wissen (D 5:79).

Dennoch können den Befragten zufolge durch digitale Selbstvermessungstechnologien auch bestimmte Bevölkerungsgruppen motiviert werden, die sonst für Präventionsangebote schwierig zu erreichen sind. So äußerte sich eine andere Fachperson aus Gesundheitsförderung und Prävention wie folgt:

Ich sehe da vor allem auch ein Potenzial für Männer. Diese können verstärkt für das Thema abgeholt werden, weil diese viel mehr auf technische Unterstützung und Gadgets ansprechen. (…) Sie [Männer ab 50 Jahren] haben durch technische Geräte nochmals einen anderen Zugang zur Prävention und haben weniger Hemmungen, diese Geräte auszuprobieren. Ich sehe daher vor allem für diese, für Herzkreislauferkrankungen stark gefährdete Gruppe, ein ziemliches Potenzial, das man ausschöpfen könnte (D 6:18).

Anders als bei ÄrztInnen und PhysiotherapeutInnen sind Gütekriterien wie die Genauigkeit der Messungen (Reliabilität) und die Validität (Gültigkeit) der Daten für diejenigen Befragten der Gesundheitsförderung und Prävention zweitrangig. Denn ihnen geht es eher darum, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen motiviert werden, sich mehr zu bewegen. Dabei steht die Genauigkeit der gemessenen Parameter wie die Wegstrecke oder der Puls nicht im Vordergrund. Allerdings ist es auch in diesem Kontext wichtig, zwischen Bewegung als Prävention und Bewegung als Therapie zu unterscheiden:

Wenn man sagt, es ist nicht so wichtig, dass es genau misst, dann sind wir wieder beim Thema Gesundheitsförderung, also Hauptsache, die Personen bewegen sich präventiv und damit gesundheitsfördernd. Wenn man medizinische Zielgruppen hat wie Patienten, da muss man aufpassen (D 3:46).

Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Während eine Zertifizierung der Selbstvermessungstechnologien bei den ÄrztInnen und PhysiotherapeutInnen als zentrale Voraussetzung für den Einsatz bezeichnet wurde (industrielle Konvention), wurde eine solche von den Personen aus dem Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention nur insofern in einem ExpertInneninterview erwähnt, als dass eine Zertifizierung oder ein Gütesigel den KonsumentInnen helfen könnte, aus der Fülle der Produkte jene auszuwählen, die vertrauenswürdig und von guter Qualität sind: „dass man wüsste (…), das ist ein seriöses gutes Angebot“ (D 6:34). Denn dies sei wichtig, da schlechte und unzuverlässige Produkte die KonsumentInnen frustrieren könnten (häusliche Konvention).

3.2 Die Gesundheitskonzepte von Gesunden und Kranken: Von der Selbstoptimierung bis zum Krankheitsmanagement

Die Gesundheitskonzepte von gesunden und chronisch kranken Personen sind sehr unterschiedlich. Gesunde nutzen digitale Selbstvermessungstechnologien meist, um bestimmte Körperparameter wie Puls, Wegstrecke oder Schritte zu messen und in Grafiken oder Zahlen darzustellen. Viele gesunde Personen vermessen diese Parameter vorwiegend während des Trainings, um so die Datengrundlage für spezifische Trainingsziele zu haben, sowie zur Motivation, ein angestrebtes Ziel tatsächlich zu erreichen. Ihre Ziele reichen von mehr Bewegung im Alltag über die Steigerung der sportlichen Leistung bis zur Optimierung des Trainings und der damit notwendigen Dokumentation der Trainings für Analysen oder Vergleiche. Andere wiederum wollen ihr Gewicht reduzieren und verfolgen dessen Verlauf in einer App. Auch wird aus reiner Neugier und Spaß gemessen, entweder aus Interesse an der Technik oder am eigenen Körper, und um zu erfahren, wie bestimmte Körperwerte mit dem eigenen Empfinden korrelieren. Dabei sind Gesunde experimentierfreudiger und erheben mehr Parameter mit verschiedenen Selbstvermessungstechnologien als kranke Personen. Allerdings haben Gesunde auch ein weniger konstantes Messverhalten. Sie probieren etwas aus und lassen das Messen schnell wieder sein, wenn sie genug über den gemessenen Bereich wissen oder wenn sich das Tool als nicht zweckmäßig entpuppt hat. Den gesunden Befragten ist dabei jedoch durchaus bewusst, dass das Messen und die Verwendung von Selbstvermessungstechnologien ihre eigene Vorstellung von Gesundheit und ggf. auch ihre Verhalten verändert:

Also wenn mir mein Kühlschrank sagt, wie ich mich zu ernähren habe, blöd gesagt, oder ähm, auf was ich jetzt schauen muss, dass ich jetzt nicht krank werde, statistisch gesehen, dann hat das ja einen Impact auf mich, ob ich will oder nicht (D 1:191).

Darüber hinaus vermuten sie, dass sich durch die Technologien nicht nur die eigenen Gesundheitskonzepte verändern, sondern auch die gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen:

Es wird wahrscheinlich auch in Zukunft so öffentlicher / so einen Zwang öffentlich, so ein Stück weit (D 1:9).

Anders sieht es bei Personen mit einer oder mehreren Erkrankungen aus. Sie messen langfristiger und zielgerichteter bestimmte Parameter, die sie aufgrund ihrer Erkrankung überwachen müssen. Dazu gehören beispielsweise der Blutzucker, der Blutdruck oder die Kalorienaufnahme. Sie nutzen Selbstvermessungstechnologien vorwiegend zur Kontrolle und zum Management ihrer Erkrankung(en). Auch setzen sie diese Technologien dazu ein, um subjektive Empfindungen in objektive Parameter zu übersetzen, oder umgekehrt, um anhand der gemessenen Parameter Hinweise für bestimmte Empfindungen zu bekommen, die sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr wahrnehmen, wie beispielsweise das Müdigkeits- oder Hungergefühl. Die so erfassten Daten verwenden Kranke als Verlaufsdokumentation für sich selbst und bringen diese in das ÄrztInnen-PatientInnen-Gespräch ein.

Für die befragten Personen mit einer chronischen Erkrankung ist die Veränderung des Körpergefühls durch die Verwendung von Selbstvermessungstechnologien ein wichtiges Thema. Allerdings wird diese Veränderung nicht immer als Mehrwert beschrieben, denn zwar beobachteten einige Befragte eine Verbesserung des Körpergefühls, andere sprachen jedoch von seinem Verlust. Einige PatientInnen weisen dementsprechend ein ambivalentes Verhältnis zur digitalen Selbstvermessung auf, was eine Person mit Diabetes mit den widersprüchlich anmutenden Worten beschreibt: „Es macht mich freier, aber es schränkt mich ein“ (D 2:291). Diese Person stellt fest, dass sie das Messen mit Selbstvermessungstechnologien freier mache, weil sie ihren Blutzucker viel einfacher messen kann, ohne sich stechen zu müssen. Andererseits habe sie festgestellt, dass sie sehr viel mehr misst als früher, weil es so einfach geht:

Ich habe vorher 12 Mal am Tag am Finger gemessen und heute […] komme ich auf 32 bis 45 Mal pro Tag (D 2:291).

Sie berichtet, dass sie früher immer genau gewusst habe, wenn ihr Blutzucker zu hoch oder zu niedrig war. Dieses spezifische Körpergefühl habe sie innerhalb eines halben Jahres verloren, sie spüre diese Anzeichen nicht mehr. Durch das viele Messen habe sie das Vertrauen in ihren Körper verloren. Mit der Konsequenz, dass sie der Technologie jetzt mehr vertraut als ihrem Körper. Von einer Verbesserung des Körpergefühls berichtet hingegen eine andere Person, die sich durch die Selbstvermessung antrainiert hat, den Puls selber zu fühlen, und die diesen mittlerweile auch relativ gut einschätzen kann. Seitdem übt sie das Fühlen des Pulses öfters, wenn sie zum Beispiel eine Steigung hinaufgeht und dann schaut, ob der gefühlte Wert mit dem gemessenen Wert übereinstimmt: „[Seitdem kann] ich meinen Puls […] besser abschätzen […], als vorher“ (D 1:263).

3.3 Konflikthafte Situationen der Gesundheitskonzepte und deren Auswirkungen

In den Gesprächen wurden auch konflikthafte Situationen beschrieben, die sich aus dem Aufeinandertreffen verschiedener Gesundheitskonzepte und gesundheitsbezogener Konventionen ergaben. Diese Konflikte wurden vor allem anhand der Erzählungen der Fokusgruppenteilnehmenden deutlich. Was diese Konflikte anbelangt, so sind die Akteure laut dem Konzept der Konventionen

in der Lage, zwischen verschiedenen Konventionen neue Kompromisse herzustellen oder zur Änderung von Konventionen beizutragen (Diaz-Bone und Thévenot 2010, S. 5).

Und wirklich: Diese Konfliktlösungen bzw. Veränderungen wurden in Bezug auf die digitale Selbstvermessung bei verschiedenen Akteursgruppen sichtbar.

Ein Grund für das digitale Vermessen ist laut den Aussagen der Befragten das Bedürfnis, subjektive Wahrnehmungen in objektive Daten zu übersetzen und somit auch eine Art Nachweis gegenüber dem Arzt/der Ärztin zu haben. So hat eine Befragte, deren Sohn Schlafprobleme hatte, auf Anraten des Kinderarztes das Schlafverhalten über einen längeren Zeitraum protokolliert. Als sie nach drei Monaten dem Arzt das Protokoll vorlegte, fand dieser, dass etwas mit den Daten nicht stimmen könne oder dass beim Messen ein Fehler gemacht worden sei. Daraufhin riet er ihr, mit dem Messen aufzuhören. An diesem Beispiel wird sichtbar, dass zwei verschiedene Gesundheitskonzepte aufeinandertreffen. Auf der einen Seite jenes der Befragten, die mit den Daten einen objektiven Nachweis über das Problem gesammelt hatte, in der Erwartung, das Problem zu lösen. Auf der anderen Seite die naturwissenschaftlich-medizinisch geprägte gesundheitsbezogene Konvention des Arztes, der den gemessenen Daten und auch der Messkompetenz der Befragten nicht vertraut. Wichtig ist hier, dass die Befragte zwar enttäuscht war, aber dennoch an ihrer Praktik des Messens festhielt und ihrer Messkompetenz weiterhin vertraut:

schön [ist], wenn man das schwarz auf weiß auf einem Blatt hat. […] für uns war es entlastend, einen Beweis in der Hand zu haben. Wir haben Daten. Wirklich! (D 1:252).

Den Konflikt hat sie für sich gelöst, indem sie die Kompetenz des Arztes infrage stellt und das Schlafverhalten ihres Sohnes weiter aufzeichnet, weniger um doch noch eine Diagnose gestellt zu bekommen, als vielmehr um das Problem für sich in Zahlen zu fassen und damit zu objektivieren:

Wir haben dann gefunden, wir machen das nun noch weiter und hoffen, dass wir wenigstens für uns diese Motivation, die du angesprochen hast, irgendwann wird’s [das Schlafverhalten] besser oder irgendwann erreicht man sein Ziel. Und für das war es sinnvoll (D 1:295).

Eine weitere Befragte in der Fokusgruppe erzählte, dass sie seit einiger Zeit aufgrund einer Hormonstörung regelmäßig verschiedene Parameter ihres Körpers messe. Diese Störung bewirke große Schwankungen ihres physischen und psychischen Empfindens. Deshalb habe sie einen Monat lang sowohl ihren Tagesablauf aufgezeichnet als auch aufgeführt, welche Medikamente sie wann einnahm, wie sie sich fühlte und was sie empfand. Diese Daten leitete sie, wie sie schildert, an ihre Ärztin weiter:

Meine Ärztin hat beim letzten Besuch gesagt, dass ich mit dem ganzen Dokumentieren aufhören soll. [Denn] ich solle weg von meiner Krankheit zurück ins Leben gehen. Für mich war das Dokumentieren aber so eine Art Werkzeug, wo ich selber sehen konnte, wo ich stehe. Etwas, wo ich sehen konnte: Ich komme weiter, soviel habe ich schon geschafft! Und gleichzeitig habe ich gedacht: Ok, wenn Sie das wollen. Ich habe es probiert (D2:280).

Das Feedback der Ärztin habe sie stark verunsichert. Aufgrund der fehlenden Empfindungen, beispielsweise konnte sie kein Hungergefühl verspüren, habe sie sich von der Anweisung der Ärztin überfordert gefühlt und sei immer noch unsicher, ob es nicht doch sinnvoll sei, wieder mit der Messung zu beginnen:

Der Boden unter meinen Füssen ist aber etwas wackelig derzeit. Auch mit der Nahrungsaufnahme, ich muss schauen, ob ich nicht wieder damit [der Aufzeichnung] anfange, weil ich auch immer mehr abnehme und es einfach nicht im Griff habe. Mir würde es mehr helfen, ich bin es mir daher wieder am Überlegen, ob ich es nicht wieder aufzeichne (D 2:280).

Ihre Überlegungen begründet sie damit, dass sie eine „sehr strukturliebende Person“ (D 2:280) sei und sich besser fühle, wenn sie bestimmte Körperdaten misst und weiß, dass sie ihrem Körper genügend Nährstoffe zuführt. Das Messen ist für sie eine Art Stütze auf dem Weg zu ihrer Heilung.

Ein anderer Patient mit der chronischen Erkrankung COPD (chronische obstruktive Lungenerkrankung) entscheidet unabhängig von den durch die Selbstvermessungstechnologie oder seinen Arzt vorgegebenen Werte. Denn mittlerweile wisse er, was ihm in Bezug auf seine Krankheit guttut und was ihm nichts bringt. Er gab an, dass er zwar den Rat seines Arztes anhört, dann aber entscheidet ob bzw. inwiefern er diesen Rat umsetzen möchte, oder nicht. Mit der gleichen Einstellung hat er auch auf die Vorgabe seines Fitnessarmbandes reagiert, das ihm empfahl, täglich 10.000 Schritte zu gehen. Da er diese aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht erreichen kann, hat er sein Ziel auf 6000 Schritte pro Tag reduziert. Manchmal erreicht er dieses Ziel, manchmal ist er sogar leicht darüber, manchmal auch darunter.

Aber ich feiere nicht, wenn ich darüber bin, oder habe Angst oder mache mir Vorwürfe […], wenn ich darunter bin. Ich spüre selbst wie es mir geht (D 2:264).

Das heißt, dass er das vorgegebene Ziel seinen Bedürfnissen und seinem Gesundheitszustand entsprechend angepasst hat und die (fehlende) Zielerreichung genauso interpretiert. Er vertraut seiner (durch die chronische Krankheit geschulten) Selbstwahrnehmung mehr als den Technologien und ÄrztInnen.

Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass verschiedene Konventionen einen Beitrag zu unterschiedlichen Gesundheitskonzepten leisten. Das zeigt sich darin, dass die Konzepte von Gesundheit und Krankheit der PatientInnen und Gesunden oft nicht denen der Gesundheitsfachpersonen entsprechen. Beispielsweise fühlen sich einige der Befragten trotz ihrer chronischen Erkrankung (zeitweilig) gesund, was aber für die Gesundheitsfachpersonen lediglich bedeutet, dass sie sich durch das Chronische an ihre Symptome gewöhnt haben oder durch die Medikation diese nicht mehr spüren, aber dennoch krank sind. Ebenfalls weisen die Befunde auf große Unterschiede zwischen den Kranken hin: Während für einige das Messen ein Zeichen dafür ist, dass sie mit einer Krankheit leben müssen, ist das Messen für andere eine Bestätigung dafür, dass sie – obwohl krank – leistungsfähig sind. Zudem stellen einige der NutzerInnen von Selbstvermessungstechnologien den Aussagewert der dadurch erhobenen Daten infrage: Die Daten würden sich an Durchschnittswerten orientieren, aber es sei nicht zu erkennen, was es dann bedeute, einen über- oder unterdurchschnittlichen Wert erzielt zu haben:

Ich bin überdurchschnittlich, ich bin unterdurchschnittlich. Aber was sagt mir das am Schluss? Gar nichts. Vielleicht ist der Durchschnitt ja extrem Scheiße und ich bin nur ein wenig weniger Scheiße oder so was, ja. Ähm, insofern, diese Durchschnittswerte, die über alle gerechnet werden, die dann als Referenz herangezogen werden, äh, die müsste man einfach mal relativieren (D 1:131).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass, wenn es um digitale Selbstvermessungstechnologien bei PatientInnen geht, für die Gesundheitsfachpersonen die Gütekriterien von besonderer Bedeutung sind und eine wichtige Voraussetzung für deren Verwendung darstellen. Bei den PatientInnen dagegen, sind diese oft zweitranging, weil sie sich lieber auf ihre subjektive Selbsteinschätzung verlassen. Für die einen sind die Daten das Allerbeste und Ultimative, für die anderen eher eine Gefahr, für andere wiederum nur ein Hinweis, den sie aber gerne nachgehen, selbst bewerten und nicht so ernst nehmen.

3.4 Die Angst vor der Kommodifizierung von Gesundheitsdaten

Konflikthaft wird auch die Situation mit der Datenhoheit beschrieben: Sowohl Kranke als auch Gesunde äußerten in den Gesprächen Befürchtungen, dass in Zukunft eine Art Zwang zur Selbstvermessung ausgeübt werden könnte. Beispielsweise könnte das Vermessen von ArbeitgeberInnen oder Krankenkassen verlangt werden, oder es könnten solche Daten in Zukunft weitläufig verfügbar sein:

Ich weiß nicht, wofür sie es nutzen, aber ich habe die ganz klare Vermutung, dass, wenn jeder getrackt wird, wird es heißen: Das und das zahlen wir dir nicht mehr, weil du nicht genug Schritte gemacht hast, du hast nicht genug das und das (D 2:243).

Das ist auch ein Grund, warum sich einige Befragte bislang bewusst gegen Selbstvermessungstechnologien entscheiden haben:

Das ist genau der Grund, wieso ich es [das Vermessen mit Apps] nicht gemacht habe. Weil, wenn eine Firma oder jemand gratis ein App anbietet, dann wollen sie an die Daten dahinter. Für jedes App, das man runterlädt, weiß man nicht genau… stimmt man irgendjemandem zu, zum Zugriff auf deine Daten. Man weiß nicht, ob sie die Daten dann weiterverkaufen. Oder wenn es die Krankenkasse selber ist, hat das einen Einfluss auf deine Prämie oder … Das finde ich erstens moralisch bedenklich und rechtlich auch bedenklich, deswegen habe ich mich dagegen entschieden, Apps zu benutzen (D 2:285).

Eine klare Haltung gegen die Datenverwendung haben nicht nur Kranke, sondern auch Gesunde. Es wird befürchtet, dass dies nur der Anfang einer größeren Entwicklung ist:

Wovor ich am meisten Angst habe, ist, dass wenn es dann irgendwann so kippt, dass es heißt: Ihr müsst, ansonsten können wir das und das nicht mehr erfüllen! Und dann sind wir genau an diesem Punkt, an dem wir sagen: Ok, dann implantieren wir dem Baby gleich den Chip, oder, und wir haben dann das Tracken komplett. Ich habe vor dem eigentlich ziemlichen Respekt (D 2:78).

Auch werden monetäre Auswirkungen befürchtet und es wird kritisiert, dass die Krankenversicherung mehr Bewegung unterstützt, indem sie finanzielle Anreize in Form von Bonusprogrammen einführt. Denn damit sei nicht gewährleistet, dass man eine Krankheit nicht bekomme:

[Es wurde in einer Zeitschrift erwähnt], dass die Krankenkassen Prämienverbilligungen geben, wenn man so und so viele Schritte erreicht. Ich finde halt, dass das ein starker Eingriff ist. Ich finde halt auch, dass das nicht unbedingt / klar lebt man vielleicht gesünder, was zum Beispiel Herz-Kreislauferkrankungen angeht, aber auf der anderen Seite gibt es auch Krankheiten, die mit dem eigentlich nichts zu tun haben und die man genau gleich bekommen kann. Und was die Krankenkassen dann da/ also ein Stück weit für Verbilligungen, die einem ein Stück weit dazu zwingen, ein gewisses Lebensding zu machen, das finde ich, ist ein starker Eingriff (D 1:229).

Zwar haben einige Befragte an solchen Bonusprogrammen teilgenommen, sie geben allerdings an, dass sie es lassen würden, wenn die Freiwilligkeit nicht mehr gegeben wäre, zum Beispiel durch einen Wechsel der Krankenversicherung. Einige thematisieren, dass die gemessenen Daten als neue Währung angesehen werden können, was aber vielen Nutzenden nicht bewusst sei:

Die denken einfach, ah Gratis-App, ich lade die runter. Aber es ist ihnen nicht bewusst, dass sie mit ihren Daten bezahlen (D 2:127),

und dass damit Geld verdient wird. Sie befürchten, dass „man [mit den Gesundheitsdaten] ein Geschäft aufzieht“ (D 2:289). Gerade Menschen mit chronischen Erkrankungen sind, was den Umgang und die Weitergabe ihrer Gesundheitsdaten angeht, sehr vorsichtig, „weil diese Daten sind die sensibelsten, die es gibt, und auch die gefährlichsten“ (D 2:256). Denn sie befürchten, aufgrund ihrer chronischen Erkrankung diskriminiert zu werden:

Ich teile diese Angst auch ein bisschen. Irgendwann in 50 oder 100 Jahren wird alles zugriffbar sein. Also man wird alles finden über jemanden. Und dann bewirbt man sich z. B. für einen Job und der Chef hat die Möglichkeit, nach meinen gesundheitlichen Daten zu googlen. Dann findet er: Huch die ist ja Diabetikerin, hoher Blutdruck, das heißt pro Jahr fällt sie 13 Wochen aus im Schnitt (D 2:140).

Es wird deutlich, dass der Umgang mit der eigenen Gesundheit und den Gesundheitsdaten etwas sehr Persönliches ist und eine emotionale und private Angelegenheit. Umso mehr wird befürchtet, dass aus dieser privaten Angelegenheit eine öffentliche oder von Dritten eingeforderte Sache werden könnte, z. B. durch Krankenkassen. Daher gibt es unter den in die Untersuchung Einbezogenen auch Personen, die sich bewusst und reflektiert gegen Selbstvermessungstechnologien entschieden haben, „weil ich es halt nicht unterstützen kann oder nicht gut finde“ (D 1:302).

4 Fazit

Der vorliegende Beitrag sollte ein differenziertes Bild der Gesundheitskonzepte und Konventionen verschiedener Akteursgruppen im Bereich der digitalen Selbstvermessung und die sich daraus ergebenden Konflikte und möglichen Lösungen aufzeigen. Dies ist insofern umgesetzt worden, als die unterschiedlichen Gesundheitskonzepte von ÄrztInnen, PhysiotherapeutInnen und Gesundheitsfachpersonen der Gesundheitsförderung und Prävention sowie von Gesunden und Kranken in Bezug auf die digitale Selbstvermessung herausgearbeitet wurden. Darüber hinaus wurde aufgezeigt, dass Konflikte und Unsicherheiten entstehen, wenn unterschiedliche Konventionen aufeinandertreffen. Es müssen Aushandlungen stattfinden und Kompromisse gefunden werden, wenn diese Konflikte gelöst werden sollen. Dies bedeutet wiederum, dass sich Konventionen annähern und ggf. verknüpfen müssen, damit sich die digitale Selbstvermessung im Gesundheitsbereich langfristig etablieren kann. Im Folgenden wird auf diesen Befunden aufbauend auf aktuelle Entwicklungen eingegangen, die Veränderungen der Gesundheitskonzepte und die Entstehung neuer Standards im Gesundheitsbereich aufzeigen.

Im Bereich der Selbstvermessungstechnologien ist zurzeit eine Annäherung verschiedener Konventionen zu beobachten. So werden zunehmend Gesundheitsfachpersonen in die Entwicklung von Selbstvermessungstechnologien einbezogen oder in Technologiefirmen angestellt (research2guidance 2015): Im Jahr 2015 hatte bereits die Hälfte der Firmen eine Gesundheitsfachperson im Team und 45 % kooperierten mit solchen, was damals eine Zunahme um 11 % im Vergleich zum Vorjahr darstellte. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Qualität der Gesundheits-Apps und trägt zum Vertrauen von ÄrztInnen gegenüber Selbstvermessungstechnologien bei.

Eine Annäherung der Konventionen zwischen TechnikentwicklerInnen und Personen des medizinischen Bereichs dürfte auch mittels finanzieller Anreize geschehen. Die Rückvergütung von verschreibungspflichtigen Gesundheits-Apps durch Krankenkassen ist ein attraktives Finanzierungsmodell für HerstellerInnen, geht aber auch mit dem Erfordernis einher, dass die Technologien die Bedingungen und Auflagen des Gesundheitssystems erfüllen müssen. Finanzielle Anreize (Rückvergütungen) können dazu beitragen, dass sich Standards angleichen. Damit verknüpfen sich die marktwirtschaftliche und häusliche Konvention sowie die industrielle Konvention im Bereich der digitalen Selbstvermessung. Insgesamt wird eine bessere digitale Versorgung der PatientInnen angestrebt sowie eine Erleichterung der ÄrztInnen, Gesundheits-Apps zu verschreiben, wie es eine Gesetzesinitiative des deutschen Bundesgesundheitsministeriums für Gesundheit belegt. Das „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG) wurde am 27. September 2019 in der 1. Lesung im Bundestag beraten (Bundesministerium für Gesundheit 2019). Es sieht vor, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ein amtliches Verzeichnis von Gesundheits-Apps führen und per Antrag der HerstellerInnen über die Aufnahme einer App in den Katalog entscheiden soll. Voraussetzung dafür ist die Erfüllung der Anforderungen an Sicherheit, Funktionstauglichkeit, Qualität, Datenschutz und Datensicherheit sowie die Erbringung des Wirksamkeitsnachweises (Bundesministerium für Gesundheit 2019, S. 37).

Auch Artefakte wie Kriterienkataloge, Leitfäden und Checklisten können bewirken, dass sich unterschiedliche Gesundheitskonzepte annähern. Ziel dieser Hilfsmittel ist es, die EntwicklerInnen anzuleiten, damit sie „ein sicheres und konformes Medizinprodukt entwickeln können“ (eHealth Suisse 2018a, S. 4). So geben sie praktische Hilfestellung, um Lifestyle-/Wellnessprodukte und Medizinprodukte zu unterscheiden und den Zertifizierungsprozess als Medizinprodukt vorzubereiten und durchzuführen (eHealth Suisse 2018a). Darüber hinaus gibt es einen Bericht, der alle bestehenden technischen Standards und Normen aufführt und Empfehlungen für TechnikentwicklerInnen im mHealth-Bereich gibt (eHealth Suisse 2018b). Um das Vertrauen der PatientInnen und Gesundheitsfachpersonen in die Gesundheits-Apps zu gewinnen und geeignete sowie vertrauenswürdige Apps erkennen zu können, wurde von einer Arbeitsgruppe der eHealth Suisse ein Katalog mit neun übergeordneten Kriterien entwickelt. Damit soll die Transparenz verbessert und den App-EntwicklerInnen eine Selbstdeklaration ermöglicht werden (Albrecht und Reichertz 2019).

Ein weiteres Spannungsfeld ist jenes zwischen ÄrztInnen und PatientInnen. Letztere fühlen sich oft nicht ernst genommen, wenn der behandelnde Arzt oder die Ärztin ihren Selbstvermessungstechnologien und den damit erhobenen Daten und/oder ihrer Messkompetenz nicht trauen. Ihre Leistung, sich für ihre Gesundheit zu engagieren, indem sie messen und aufzeichnen, wird in den Augen der PatientInnen nicht honoriert. Sie sind enttäuscht und haben kein Verständnis für die Reaktionen der ÄrztInnen, die ihnen entgegnen: „Hören Sie auf damit!“ oder „Das kann nicht stimmen!“. Ebenfalls fühlen sie sich bei der Auswahl der Technologien und der Datenauswertung allein gelassen und wünschen sich, diesbezüglich von Gesundheitsfachpersonen beraten und unterstützt zu werden.

Es gibt allerdings eine Möglichkeit, solche Konflikte zwischen der ablehnenden Haltung vieler Gesundheitsfachpersonen und dem Hilfebedarf der auf deren Fachkompetenz angewiesenen PatientInnen zu lösen, wie ein befragter Psychologe in einem Experteninterview herausstellte: Seiner Ansicht nach ist die Zusammenarbeit mit den PatientInnen, die digitale Selbstvermessungstechnologien verwenden, eine geeignete Lösungsstrategie. Konkret fragt er seine PatientInnen nach ihren Erfahrungen mit der Selbstvermessung, denn

dann weiß ich was er[/sie] weiß und wo er[/sie] recherchiert hat. Das gibt mir Informationen über diese Person, aber ich bekomme auch die Information selbst. Dies hilft mir zu lernen, was ich vorher nicht gewusst habe (D 4:71).

Durch den Erfahrungs- und Informationsaustausch auf Augenhöhe wird eine Konkurrenzsituation, wer über das richtige Wissen verfügt, per se verhindert. Deshalb sei es sinnvoll, mit den PatientInnen zu kooperieren, Interesse an ihren Messungen und Informationen zu zeigen und sie zu fragen, was für Erkenntnisse sie aus den Daten ableiten. Er versteht sich „als Partner“ (D 4:71) der PatientInnen und dabei mit der Aufgabe des „Einordnens der Informationen“ (D 4:71) betraut, sodass er sich immer die Frage stellen muss: „Was heißt das nun, wie ist das zu beurteilen?“ (D 4:71).

Eine veränderte Haltung und eine verbesserte Kommunikation auf der einen Seite sowie Kriterienkataloge, Leitfäden und finanzielle Anreize auf der anderen Seite tragen zur Annäherung der verschiedenen Gesundheitskonzepte der Gesundheitsfachpersonen und PatientInnen bei. Obwohl auch zukünftig Gesundheitskonzepte zwischen verschiedenen Akteursgruppen ausgehandelt werden, ist es derzeit noch so, dass die medizinische Deutungshoheit im Gesundheitsbereich weiterhin gegeben ist, vor allem dadurch, dass Gesundheitsfachpersonen digitale Selbstvermessungstechnologien bis auf weiteres eher mit Skepsis betrachten und nicht wirklich anerkennen. Somit sind PatientInnen in der Verwendung von Selbstvermessungstechnologien und deren Daten bis auf weiteres weitgehend auf sich gestellt.