Der digitale Wandel hat zunehmend Einfluss auf fast alle gesellschaftlichen Bereiche und führt damit zu einem neuen Leben in einer Datengesellschaft (Houben und Prietl 2018). Auch die Digitalisierung von Gesundheit ist in diesem Zusammenhang in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich zentral geworden (Haring 2019). Dabei sind es insbesondere neue Technologien, denen das Potenzial zugeschrieben werden kann, Organisationsprozesse rund um Gesundheit und das Denken über Gesundheit zu verändern. Telemedizin, eHealth, Digital Health, Smart Health, Big Data und Robotik sind nur einige Schlagwörter und Konzepte, unter denen diese Entwicklung beobachtet und diskutiert wird. Die gesellschaftliche Erörterungspraxis dieser Wandlungsprozesse vollzieht sich in erster Linie vor dem Hintergrund ökonomischer Erwägungen, wobei der Zielkonflikt zwischen einer hochwertigen Versorgung jedes Einzelnen und einer bezahlbaren Versorgung in der Regel im Fokus steht (Lux 2017; Lux und Breil 2017).

Die Digitalisierung der Gesundheit wird dann gerne als Lösungsstrategie für diesen Zielkonflikt angeführt, weil es mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gelingen soll, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu erhöhen und gleichzeitig die Kosten dafür zu senken. Künstliche Intelligenz und Big Data werden vor diesem Hintergrund als Schlüsseltechnologien der Zukunft angepriesen und sollen dazu beitragen, Krankheiten früher zu erkennen, Risiken besser einzuschätzen sowie Diagnose- und Behandlungsverläufe zu optimieren. Zudem wird ihnen auch großes Potenzial zugeschrieben, eine personalisierte, prädiktive und präventive Medizin voranzutreiben, weil sie Menschen über Gesundheits-Apps und Wearables ermöglichen, individuelle Gesundheitsdaten im Alltag zu erheben. Künstliche Intelligenz und Robotik sollen zudem auch dazu beitragen, den Fachkräftemangel im Gesundheitssystem zu korrigieren, indem ÄrztInnen durch solche Assistenzsysteme in ihren Tätigkeiten entlastet werden. Mit einer ähnlichen Intention wird auch Telemedizin eingeführt, um mit modernen Kommunikationslösungen eine gute Gesundheitsversorgung über räumliche Distanzen hinweg zu gewährleisten. Erste Formen der Institutionalisierung dieser Entwicklungen lassen sich einerseits beobachten, wenn Regierungen Gesetze zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitssystem verabschiedenFootnote 1, andererseits auch wenn zunehmend privatwirtschaftliche Technologieunternehmen Gesundheitsanwendungen für den privaten Alltagsgebrauch entwickeln und Gesundheitsdaten in ganz neuen Gesellschaftsfeldern mobilisieren (vgl. van Dijck und Poell 2016; Bauer 2018; Sharon 2016).

An dieser Argumentation lässt sich ablesen, dass im Zusammenhang mit neuen Technologien und ihren Auswirkungen zuvorderst die Vor- und Nachteile in einem spezifischen Bereich oder für die ganze Gesellschaft diskutiert werden. Wir möchten in diesem Band einen Schritt weitergehen und fragen, was die eigentlichen Bewertungskriterien sind, anhand derer die genannten Vorteile und Nachteile abgewogen, legitimiert und kritisiert werden. Ein pragmatischer Blick auf die beschriebenen Digitalisierungsprozesse offenbart bereits, dass diese mitnichten widerstandslos ablaufen. Die Diskussionen um Datenschutz, Privatsphäre, persönliche Patientenbetreuung, unterschiedliche Gesundheitsverständnisse oder Handlungsbedarfe, um Professionen, Risikoeinschätzung oder Mensch-Maschine-Interaktionen verdeutlichen die Vielfalt an Bewertungskriterien, die darüber entscheiden, was als Vor- und was als Nachteil verhandelt wird. Auch wenn die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte über viele gesellschaftliche Bereiche hinweg eine Orientierung an Marktlogiken und ökonomischen Optimierungsprozessen befördert hat, soll dies nicht dazu verleiten, Digitalisierungsprozesse rund um Gesundheit explizit vor diesem Hintergrund zu analysieren. Vielmehr stellen wir die Frage, welche Gütekriterien an Relevanz gewinnen können, wie und warum sie sich legitimieren und kritisieren lassen und ob die Digitalisierung von Gesundheit schließlich auch zur Verschiebung oder Festsetzung bestimmter Bewertungskriterien führen kann. Kurz gefasst fragt der Band, nach welcher Logik Praktiken und Ordnungsprozesse um Gesundheit situativ legitimiert und kritisiert werden können und wie sich neue Technologien auf dieses Gefüge auswirken.

Die hier ins Zentrum gestellte Ökonomie der Konventionen (Économie des conventions, EC) zieht sich dabei als pragmatische Perspektive durch den gesamten Band, weil sie sowohl theoretische Konzepte als auch methodische Werkzeuge für die Analyse von Gesundheits- und Digitalisierungsprozessen zur Verfügung stellt. Deshalb wollen wir in dieser Einleitung die zentralen Konzepte „Gesundheit“, „Konvention“ und „Digitalisierung“ vorstellen, bevor wir die in drei Teile gegliederten Beiträge kurz vorstellen. Abschließend werden wir die Schnittmengen, Reibungsflächen und Schwerpunkte reflektieren, die sich aus den Beiträgen ergeben.

1.1 Einführung in die zentralen Begriffe

1.1.1 Die Ökonomie der Konventionen

Das Forschungsprogramm der Ökonomie der Konventionen (kurz EC)Footnote 2 entstand im Zuge des „pragmatic turn“ als ein Teil der sogenannten „neuen französischen Sozialwissenschaften“ und zeichnet sich vor allem durch die Absetzbewegung zu Pierre Bourdieus strukturalistischem Forschungsprogramm aus (Boltanski und Thévenot 1983, 2007; Boltanski 2003).Footnote 3 Wer heute, fast vierzig Jahre später, mit der EC arbeitet, sieht sich mit der Besonderheit und der Herausforderung konfrontiert, dass dieses Forschungsprogramm keine einheitliche Theoriestruktur besitzt. Vielmehr handelt es sich bei der EC um eine transdisziplinäre Wissenschaftsbewegung mit unterschiedlichen theoretischen Konzepten. Was allerdings die unüberschaubare Anzahl an Publikationen von mittlerweile drei EC-Generationen vereint, ist der gemeinsame Denk- und Forschungsstil, der „eine pragmatische Grundlagentheorie“ zum Ausgangspunkt nimmt (Diaz-Bone 2018, S. 2, Herv. i. Org.). Es ist auch dieser gemeinsame Denk- und Forschungsstil, der alle Beiträge in diesem Band trotz unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen und thematischer Schwerpunktsetzungen im Feld der Gesundheit und Digitalisierung konsistent verbindet. Das pragmatische Denken innerhalb der EC machte diese auch sehr fruchtbar für die Ausformulierung von Kritik an den neoklassischen Wirtschaftswissenschaften (Eymard-Duvernay 1989; Eymard-Duvernay und Thévenot 1983a, b; Thévenot 1984).Footnote 4 In der EC bildete sich so ein besonders starker theoretischer Strang heraus, der sich auf die Analyse von ökonomischen Koordinationssituationen und Situationen der Klassifikation konzentrierte. Heute kommt die Ökonomie der Konventionen aber auch in einem breiteren Rahmen als „Soziologie der Konventionen“ in weiteren Feldern wie der Kultur, der Bildung oder auch, wie in diesem Sammelband, im Feld der Digitalisierung und Gesundheit (vgl. auch Sharon 2016) zur Anwendung. Mit den Analysen rund um Bildung und Gesundheit stehen dann neben ökonomischen Situationen auch verstärkt solche der Wohlfahrt oder des Alltags im Fokus. Um schließlich zwischen den methodologischen Positionen des Strukturalismus und des Pragmatismus zu vermitteln, wurde in der EC das zentrale Konzept der Konventionen eingeführt. Dieses leitet in der Regel die Analysen der ForscherInnen, die mit der EC arbeiten, über alle Forschungsfelder und Disziplinen hinweg an.

Konventionen werden in der EC als Koordinationslogiken verstanden, die situativ und pragmatisch in den Praktiken von kompetenten Akteuren wirken. Genau diesen Perspektivwechsel, weg von einer Akteurszentrierung hin zu einem Fokus auf die durch unterschiedliche konventionelle „Sedimente“ durchsetzte Situation, möchte dieser Band im Hinblick auf die Felder Gesundheit und Digitalisierung leisten. In vorangegangenen Bänden der Reihe „Soziologie der Konventionen“Footnote 5 wurde – neben einer ausführlichen Einführung in die EC (Diaz-Bone 2018) – der Beitrag der EC in unterschiedlichen Feldern, so beispielsweise der Bildungsforschung (Imdorf et al. 2019), Qualitätspolitiken (Salais et al. 2019) oder Beschäftigungsverhältnisse (Nadai et al. 2018), einer deutschsprachigen Leserschaft vorgestellt. Denn die aus Frankreich kommende, transdisziplinäre EC wird in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften in den letzten Jahren wohl immer bekannter, aber viele Forschungen sind – auch aufgrund mancher Sprachbarrieren – noch nicht allgemein bekannt. Somit hat dieser vorliegende Band zum Ziel die anfängliche Rezeption der EC durch die Wirtschaftssoziologie und die Sozioökonomie auf das Feld der Gesundheit(ssoziologie) auszuweiten. Hierzu beziehen sich beispielsweise die Beiträge von Rainer Diaz-Bone, Valeska Cappel, Peter Streckeisen sowie von Eryk Noji, Karolin Kappler und Uwe Vormbusch auf Forschungen zu wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, Gesundheitspolitiken sowie Definitionen von Gesundheit und rezipieren die dazu existierende Forschung in Frankreich.

Dabei zeigt der Band auf, dass die EC sowohl zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung als auch als Methodologie zur Untersuchung von Koordinationssituationen im Gesundheitsfeld dient. In diesem Sinne enthält der vorliegende Band empirische Beiträge sowohl qualitativer als auch quantitativer Natur wie auch theoretische Weiterentwicklungen einzelner Aspekte der EC und der Gesundheitssoziologie. Alle Beiträge nehmen somit auf unterschiedliche Art und Weise eine konventionentheoretische Perspektive ein, indem sie beispielsweise diese stärker theoretisch reflektieren, ihrer empirischen Analyse zugrunde legen oder bisherige Leerstellen und offene Punkte in der EC empirisch untersuchen und zu füllen versuchen.

So zeigt sich der Bruch der EC mit der neoklassischen Wirtschaftstheorie sowie der Bourdieuschen Soziologie unter anderem in der Konzeptualisierung der Akteure, die nicht (mehr) als isolierte und vor allem rationale Individuen verstanden werden. Vielmehr situiert sie diese in von Unsicherheit gekennzeichneten Situationen, in der über Akteure hinaus dann auch Objekte, Konventionen sowie Dispositive und Formen an Relevanz für die Analyse gewinnen (wie Abb. 1.1 zeigt).

Abb. 1.1
figure 1

(Quelle: Diaz-Bone 2018, S. 373)

Konzepte der EC.

Akteure gehen somit in sozialen Umgebungen und mit spezifischen Kompetenzen mit einer existierenden Pluralität möglicher Rationalitäten um. Die Konventionen sind deshalb für die EC so wichtig. Konventionen sind hier jedoch nicht, wie dem allgemeinen Verständnis nach, einfache Normen oder (rechtliche) Regeln, sondern Konventionen werden in der EC als „geteilte überindividuelle Logiken“ verstanden, „wie Akteure ihre Handlungen koordinieren und Handlungen, andere Individuen und Objekte in Situationen evaluieren können, die ihrerseits durch Unsicherheit gekennzeichnet sind“ (Diaz-Bone 2018, S. 371; vgl. ebenso Eymard-Duvernay 1989; Salais 1989, 2007; Storper und Salais 1997).

In diesem Sinne erscheint die Anwendung der EC im Gesundheitsfeld mehr als sinnvoll, denn Situationen in denen Gesundheit(en) eine Rolle spielen, können auf vielfältige Art und Weise durch Unsicherheiten geprägt sein – seien es stärker individualisierte Fragen zu Krankheit und Gesundheit oder Wohlbefinden, die zwischen ÄrztInnen, PatientInnen und weiteren institutionellen Akteuren ausgehandelt werden, oder wohlfahrtsstaatlich geprägte Problemstellungen. Konventionen dienen hierbei der kollektiven Koordination soziokultureller Gesundheitsressourcen, die Kollektive in der Koordination auf die Konstruktion von Gesundheit und die Koordinierungsprobleme institutioneller Gesundheitsfragen ausrichten (Diaz-Bone 2018, S. 371). Konventionen im Feld der Gesundheit sind daher mögliche Arten und Weisen, wie PatientInnen, ÄrztInnen, EntwicklerInnen von Gesundheits-Apps, SelbstvermesserInnen, aber auch Gesundheitsinstitutionen wie Krankenhäuser, Krankenkassen bis hin zu den entsprechenden GesetzgeberInnen sich bei der Definition und Verhandlung sowie der Herstellung von Gesundheit koordinieren können. Konventionen und Objekte können alleine aber auch in Verbindung miteinander situativ als Dispositiv der Evaluation fungieren. Sie sind dann die Grundlage für die Konstruktion einer spezifischen Qualitätsvorstellung von Gesundheitsleistungen oder auch der Art der Bewertung von Gesundheitspraktiken (Eymard-Duvernay 2012). Eine zentrale Annahme der EC ist dabei eine „radikale Pluralität existierende[r] Konventionen, d. h. dass faktisch in den meisten Situationen eine plurale Konstellation von Konventionen virtuell für die Koordination zur Verfügung steht“ (Diaz-Bone 2018, S. 371). So können je nach Konvention oder Kombination von Konventionen auch unterschiedliche Wert- und Qualitätsvorstellungen mobilisiert werden. Die EC geht nun davon aus, dass Akteure auch ganz bewusst dazu in der Lage sind, angemessen mit dieser Pluralität oder den Kombinationen von Konventionen umzugehen. Sie können Konventionen sowohl situativ beurteilen, also auch zwischen ihnen wechseln, um damit beispielsweise Kompromisse zwischen bestimmten Konventionen herzustellen (Diaz-Bone 2018, S. 371).

Wichtig ist dabei jedoch herauszustellen, dass Konventionen in ihrer Pluralität sowohl rechtfertigungsmöglich sind, aber nicht immer einem kollektiven Rechtfertigungszwang unterliegen müssen. Für den Fall der nicht rechtfertigungsnotwendigen (oder -möglichen) Praktiken führte Laurent Thévenot (2011a, b, 2014) das Konzept der „Regime des Engagements“ ein. Dieses Konzept kann vor allem dann herangezogen werden, wenn es um Koordinationssituationen und Praktiken geht, die weder auf ein bestimmtes Allgemeinwohl ausgerichtet sind, noch problemlos generalisiert werden können. Thévenot führt daher in seiner Regimetheorie neben dem Regime der Rechtfertigung drei weitere Regime des Engagements ein, die sich auch auf andere Formen des Handelns beziehen (Thévenot 2011a, b, 2014). Er unterscheidet zwischen dem Regime der Rechtfertigung, dem Regime des planenden Handelns und dem Regime des Vertrauten. Im Anschluss an diese Konzeption führt Nicolas Auray (2011) das Regime der Exploration ein. Möchte man sich im Rahmen der EC stärker mit der Perspektive und der Rolle der Akteure auseinandersetzen, ist es insbesondere das Konzept der Regime des Engagements, das einen Beitrag zu einer Handlungstheorie in der EC leisten kann. Auch wenn sich die EC mit ihrem Situationalismus explizit von einer eindimensionalen Handlungstheorie absetzt, lässt sich die Regimetheorie nach Thévenot trotzdem als eine integrative und damit anwendbare Handlungstheorie in der EC verstehen und anwenden.Footnote 6

Gerade im deutschsprachigen Raum wurde das junge Konzept der Regime des Engagements bisher empirisch kaum umgesetzt. Im Zusammenhang mit der Analyse von Gesundheit erweist sich die Anwendung dieses Konzeptes als besonders fruchtbar, wie bereits einige Beiträge in diesem Band aufzeigen. Eryk Noji, Karolin Kappler und Uwe Vormbusch, Karin Scaria-Braunstein und Raffael Hiden, Johannes Achatz und Stefan Selke sowie Valeksa Cappel setzen sich unter anderem auch mit den Regimen auseinander und leisten somit einen zentralen Beitrag zu der konzeptionell-theoretischen Weiterentwicklung der EC. Gerade das Thema Gesundheit kann private und intime Situationen betreffen, genauso wie öffentliche und damit kollektive und generalisierbare Situationen im institutionellen Bereich. Mit dem Konzept der Regime ist es dann auch möglich den Wechsel zwischen solchen Regimen und der Involviertheit von Akteuren in die jeweiligen Regime zu analysieren.

1.1.2 Gesundheit aus Sicht der EC

Die heutigen Gesundheitswissenschaften bilden längst keine einheitliche Disziplin, sondern zeichnen sich vielmehr durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen aus. Die zentralen Bereiche lassen sich in die Gesundheitsökonomie, die Gesundheitskommunikation, Public Health und die Gesundheitssoziologie untergliedern (Hehlmann et al. 2018). In der Gesundheitssoziologie werden weiterhin Formen der Medizinsoziologie, der medizinischen Soziologie und der Gesundheitssoziologie unterschieden.Footnote 7 Was hierbei auffällt ist, dass sich ein Großteil der Forschung und der Lehrbücher, die sich mit soziologischen Aspekten der Gesundheit beschäftigen, dabei auf eine „Soziologie in der Medizin“ beziehen. Dabei wird in der Regel ein bio-psycho-soziales Modell von Krankheit und Gesundheit vorausgesetzt, welches den Ausgangspunkt der Forschung bildet. Die Forschung zielt dann insbesondere auf Erkenntnisse ab, die aus medizinischer Sicht nützlich erscheinen (Hehlmann et al. 2018, S. 5). Nach Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch und Friedrich Schorb lässt sich diese Art der Forschung als „Gesundheitssoziologie“ bezeichnen. Daneben gibt es aber auch eine soziologische, gesundheitsbezogene Forschung, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Kategorie der Medizin oder Gesundheit selbst zum Forschungsgegenstand zu machen. Diese bezeichnen Hehlmann et al. als „Soziologie der Gesundheit“ (Hehlmann et al. 2018, S. 5). Das heißt, die Gesundheitssoziologie beschäftigt sich beispielsweise mit den Entstehungsmechanismen und Einflussfaktoren von Gesundheit und wie man gesundheitliche Interventionen idealerweise gestalten könnte, dass eine „bessere“ individuelle und kollektive Gesundheit erreicht wird. Eine Soziologie der Gesundheit nimmt hingegen eine Perspektive ein, bei der sie fragt, wie Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit kulturell, sozial und gesellschaftlich hergestellt werden. Es ist eine Perspektive, der sich auch die Arbeiten von Michel Foucault zuordnen lassen, wenn dieser beispielsweise untersucht, wie Krankenhäuser (1973) und Irrenanstalten (1961) in einer Gesellschaft als Institution entstehen konnten. Um diesen Blickwinkel zu verinnerlichen, muss man sich vor Augen halten, dass es Zeiten gab, in denen geistig behinderte Menschen als ganz normaler Teil der Gesellschaft und nicht als behandlungswürdig angesehen wurden (Foucault 1961). In dieser Art des Forschens treten dann auch eher Funktionen, Strukturen und die unterschiedlichen Akteure in den Vordergrund, die an der Mobilisierung von Gesundheit beteiligt sind. Gesundheit und Krankheit werden dann nicht als essentialistische Kategorien angesehen, sondern sind vielmehr das Ergebnis von gesellschaftlichen und diskursiven Aushandlungsprozessen (Hehlmann et al. 2018).

Diese zweite Perspektive, also eine Soziologie der Gesundheit, lässt sich in unserem Sinne als eine pragmatische Gesundheitssoziologie lesen, weshalb wir mit diesem Band daran anschließen. Wir folgen damit auch dem Anspruch von George Canguilhem (2012), der eine relationale Betrachtungsweise von Gesundheit befürwortet und damit auch die Ablehnung essentialistischer Forschungskategorien. Die Soziologie der Gesundheit richtet ihren Blick dann auch auf die medizinischen Professionen und Institutionen selbst und macht damit die Praktiken, organisationalen Strukturen und Werthaltungen zum Untersuchungsgegenstand (Hehlmann 2018, S. 33; vgl. dazu beispielsweise die Arbeiten von Gemperle et al., Gonon und Streckeisen in diesem Band). Für die AutorInnen in diesem Band ist es daher auch ein gemeinsamer Ausgangspunkt, ganz im Sinne von Gaston Bachelard (1980), die eigenen und bestehenden Forschungskategorien im Zusammenhang mit Gesundheit aufzubrechen.Footnote 8 Gerade die EC bildet dazu einen geeigneten gemeinsamen methodologischen Grundstein.

In dieser soziologischen Betrachtungsweise treten die Ursachen für Gesundheit und Krankheit erst einmal in den Hintergrund. Im Vordergrund dieses Bands steht somit die Situation, in der Gesundheit als Kategorie erst mobilisiert wird (Foucault 1973; Ewald 1993). Dadurch soll auch gerade über den Akteur hinaus aufgezeigt werden, welche Rolle dabei bestehende und neue Formen, Konventionen und Objekte spielen, insbesondere im Zusammenhang mit digitalen Transformationen (Ruckenstein und Dow Schüll 2017; Strübing et al. 2016; Wiedemann 2016; vgl. zu diesem Aspekt auch den Beitrag von Cappel in diesem Band).

Der Band setzt sich damit von einer salutogenetischen oder pathologischen Betrachtungsweise ab, die den bisherigen soziologischen Blick auf Gesundheitsverhältnisse mitunter geprägt hat (Hurrelmann et al. 2014; Kriwy und Jungbauer-Gans 2016) und bietet entsprechend ganz bewusst auch keine Analysen in Hinblick auf die Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Gesundheit (Albrecht 2016). Vielmehr soll hier – zumindest für den deutschsprachigen Raum – ein (erweiterter) Theorieansatz für eine Soziologie der Gesundheit vorgestellt werden, der auch als Antwort auf die häufig geäußerte Kritik an der Theorielosigkeit von Public Health-Forschungsansätzen sowie der fehlenden Reflexion von Werthaltungen innerhalb der Gesundheitssoziologie, der Gesundheitsökonomie und der Gesundheitskommunikation dienen kann (Hehlmann et al. 2018, S. 55). Der an die Soziologie der Kritik angelehnte pragmatische Ansatz der EC kann jedoch nicht nur eine teilweise kritisierte, theoretische Lücke füllen, sondern stellt mit einem soliden, konzeptionellen und theoretischen Modell, das die Pluralität und Komplexität von Alltags- und Gesundheitssituationen widerspiegelt, auch einen Ansatz dar, der in empirischen Studien einsetzbar ist. Die EC kann mit ihrem Interesse an Aushandlungsprozessen in Koordinierungssituationen besonders einer verkürzten, eindimensionalen Perspektive auf Gesundheit entgegenwirken, indem sie automatisch eine Pluralität von moralischen Interessen annimmt und diese auch aktiv versucht zu untersuchen.

Wie schon in den vorangegangenen Abschnitten erwähnt, ist damit eine Stärke der EC die Dezentralisierung des handelnden Subjekts. Nicht das Individuum allein bildet dann die Analyseeinheit, sondern die Handlungen rund um Gesundheit sind immer das Ergebnis eines Prozesses (Eymard-Duvernay et al. 2011), in dem sich ein Individuum mit seinen sozialen und materiellen Umwelten koordiniert (Diaz-Bone 2018). Lässt man sich auf diese situationsspezifische Perspektive ein, wird Gesundheit zu einer pluralen gesellschaftlichen Institution (Collyer 2015; Batifoulier et al. 2013; Da Silva 2018), die je nach Lebensbereich – Bildung, Arbeit, Wirtschaft (Mämecke 2016; Da Silva 2018; Batifoulier et al. 2011), Ernährung (Zillien et al. 2016), Sexualität, Sozialversicherung (Ewald 1993; Nadai et al. 2018; Meusch 2011), Wohnen, Alter, Konsum, Lebensstil, Körper(politiken), Politik(en) – in ganz unterschiedlichen Formen zutage treten kann und unterschiedliche Qualitäten hervorbringt, die Handlungen, Bewertungen und Rechtfertigungen strukturieren. Auf der Subjektebene kann dies bedeuten, dass derselbe Akteur, je nach Situation, seine Gesundheit auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen mobilisieren kann (Dodier 2011), um in einer komplexen, digitalisierten Welt handlungsfähig und ein Teil der Gesellschaft zu bleiben (vgl. zu diesem Aspekt auch den Beitrag von Cappel in diesem Band).

Aufgrund der angedeuteten Pluralität von Gesundheit sowie den damit verbundenen Digitalisierungsprozessen liegt dem Band bewusst keine Vorab-Definition von Gesundheit und ihren Resonanzbereichen zugrunde, sondern er appelliert gerade an ein weit gefasstes und soziologisches Verständnis von Gesundheit.

1.1.3 Digitalisierung

Allgemein verstanden umfasst Digitalisierung die Umformulierung von objektbezogenen Informationen in digitale Formate und schließt dabei auch die Datafizierung mit ein (Cukier und Mayer-Schoeneberger 2013), d. h. die Verwandlung vieler Aspekte des menschlichen Lebens und der Gesellschaft in computerisierte Daten. Sie kann somit als eine Weiterentwicklung des Informationszeitalters verstanden werden, wobei aus sozialwissenschaftlicher Sicht derzeit vor allem die Kontinuitäten sowie die Brüche, die mit der Digitalisierung einhergehen, zur Debatte stehen. Die Folgen einer solchen konsequent oder je nach Gustus radikal gedachten Digitalisierung aller Lebensbereiche reichen von Fragen der Überwachung, steigender Ungleich- und Ungerechtigkeit bis hin zu deren Folgen für die Demokratie an und für sich. Dies verdeutlicht, dass neue Technologien immer auch der Grund für oder eine Nebenfolge von einer Neuausrichtung der Grundorientierung der Gesellschaft sind. Mit den Digitalisierungsprozessen ist mittlerweile eine Dynamik verbunden, die es kaum noch ermöglicht zu unterscheiden, ob dabei die Unterstützung von Institutionen, Menschen und ihren Praktiken im Fokus steht oder die Weiterentwicklung der Technologie selbst. Ebenso wie im Feld der Gesundheit bilden auch bei gesellschaftlichen Digitalisierungsprozessen sozialpolitische Einbettungskontexte die Grundlage dafür, wie neue Technologien in einer Gesellschaft zum Einsatz kommen können. So haben große Technologieunternehmen wie Google, Facebook, Tencent oder auch Amazon, zunehmend Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse. Sie propagieren ihre neuen Technologien häufig als Lösung für aktuelle gesellschaftliche Problemlagen oder als Anpassungsmechanismen, die dabei helfen sollen, wirtschaftliche und sozialpolitische Umbrüche zu begleiten. So beschreibt beispielsweise Naomi Klein (2020) aktuell einen sogenannten „Screen New Deal“ in Anlehnung an den New Deal der 1930er Jahre. Dabei handelt es sich um einen „Deal“ zwischen der Stadt New York und Google, in dem beide Seiten auf die Covid-19-Pandemie reagieren und in diesem Zuge eine gemeinsame Kommission gründen mit der Vision einer digitalen Post-Covid-Realität. Ziel dieser Realität soll es sein, dauerhaft Technologien in jeden Teil des alltäglichen Lebens zu integrieren (Klein 2020). In einer solchen Zukunftsvision sollen Vernetzung und neue digitale Technologien dann dazu beitragen, den eigenen Wohnraum nicht nur als privaten Rückzugsort zu nutzen, sondern gleichzeitig auch als Teil eines Schulkonzepts, als Sprechstundenzimmer für ärztliche Konsultationen, als Fitnessräume oder sogar auch auf staatlicher Ebene als Form von Gefängnissen, in denen eine dauerhafte ferngesteuerte Überwachung möglich wird. Im Grunde sollen die neuen digitalen Technologien ermöglichen, lokale und digitale Räume in vielfältiger Weise nutzbar zu machen (Klein 2020). Dass solche Wandlungsprozesse mit Zielkonflikten verbunden sind, ist aus der Perspektive der EC zu erwarten. Um genau solche Zielkonflikte und vorhandene Pluralitäten zu untersuchen, eignen sich dann insbesondere die Konzepte der EC.

Angesichts der vielfältigen gegenwärtigen Krisen (Wirtschaftskrise, Klimakrise, Krise des Gesundheitssystems) wird die Digitalisierung häufig als „Lösung“ angesehen. Was dabei aber zu schnell aus dem Fokus gerät, ist die Frage, nach welcher Logik die Digitalisierung von Prozessen und Strukturen gestaltet wird. Denn die Art und der Umgang mit Technologien ist immer auch das Ergebnis von moralischen Entscheidungen und spezifischen Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft. So lassen sich die unterschiedlichen Konventionen der EC gut als analytisches Raster heranziehen, um zu verstehen, nach welchen moralischen Prinzipien die Einführung von digitalen Technologien legitimiert und kritisiert wird. Es lässt sich also untersuchen, wann Digitalisierungsbemühungen vor welchen Argumenten als sinnvoll angesehen werden und mit welcher politisch-moralischen Aufladung Technologien gestaltet werden.

Der vorliegende Band hat deshalb zum Ziel, vor dem Hintergrund dieser (digitalen) Transformationen aufzuzeigen, wie digitale Gesundheit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern mobilisiert wird, aber auch wie Digitalisierungsprozesse im Gesundheitsfeld Koordinationslogiken verändern können. Im Kontext von Gesundheit lassen sich digitale Wandlungsprozesse aktuell besonders gut beobachten, weil damit große Hoffnungen und Visionen für einen besseren und kontrollierten Umgang mit Krankheit und Gesundheit verbunden werden (Wieser 2019). Darüber hinaus ist die Digitalisierung des Gesundheitsmarktes auch mit großen finanziellen Anreizen verbunden. Diese beiden Teilaspekte verdeutlichen bereits, dass sich der digitale Wandel im Feld der Gesundheit auf vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen bewegt. Am häufigsten wird er mit den Schlagwörtern „digitale Gesundheit“ und „eHealth“ (electronic health) in Verbindung gebracht. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn digitale Technologien im Alltag zur Förderung des PatientInnen-Empowerments beitragen sollen und damit gleichzeitig aber auch das solidarische Versicherungsprinzip infrage stellen können. Oder auch dann, wenn sich aufgrund neuer digitaler Technologien heutige institutionelle Arbeitsabläufe ebenso wie private Gesundheitspraktiken und Vorstellungen von Gesundheit verändern. Durch Technologien wie Telemedizin oder auch digitale PatientInnenakten werden beispielsweise Abläufe im Gesundheitssystem neu strukturiert. Zudem kann die alltägliche Quantifizierung eigener Gesundheitspraktiken durch Gesundheits-Apps die Vorstellungen von Körperbildern und gesundheitsbezogenen Praktiken wie Ernährung oder Konsum verändern. Dass sich digitale Gesundheit oder oft auch eHealth von einer Gesundheit unterscheidet, wie wir sie bisher kannten, lässt sich an der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gut ablesen. Die WHO versteht darunter den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien für die Gesundheit. Einbezogen in diese Definition werden dann solche Aktivitäten, die elektronische Mittel verwenden, um gesundheitsbezogene Informationen, Ressourcen und Dienstleistungen bereitzustellen (WHO 2017). Auch die WHO sieht daher elektronische Gesundheitsakten, die Interoperabilität von Daten, mobile Gesundheit (mHealth) über Smartphones und andere mobile Endgeräte, Telemedizin sowie Technologien zur Unterstützung einer integrierten Versorgung als Teil einer digitalen Gesundheit an. All die genannten Technologien sind bereits heute in Europa im Einsatz. Sie bilden insbesondere aufgrund der anfallenden personenbezogenen Datenmengen eine Grundlage für neue wirtschaftliche Märkte und wissenschaftliche Analysen, die unter den Schlagwörtern „health analytics“ und im Rahmen von Big Data-Analysen verhandelt werden (WHO 2017).

Traditionell werden im Gesundheitsfeld schon immer größere Mengen personenbezogener Daten verarbeitet. Aber vor allem die steigende Verbreitung von Informationstechnologien wie beispielsweise Wearables oder Smartphone-Anwendungen (sogenannte „Apps“) findet nicht nur in der engeren medizinischen und klinischen Praxis statt, sondern immer stärker auch in Alltagssituationen oder beruflichen Kontexten. Aus diesen neuen Kontexten werden dann personenbezogene Gesundheitsdaten generiert, die sich auf Gesundheitspraktiken wie Fitnesssport, das eigene Wohlergehen, die individuelle Selbstsorge und auch auf politische Steuerungsmaßnahmen beziehen. Aus den gewonnenen Daten und deren Verarbeitungsmöglichkeiten lassen sich beispielsweise neue Geschäftsmodelle wie „health impact bonds“ entwickeln (Rowe und Niamh 2016).Footnote 9 Dadurch hat sich nicht nur die Quantität und Qualität dieser persönlichen Daten verändert, sondern auch deren Weiterverarbeitung, deren Verwendungszwecke, die Kombination verschiedener Daten sowie deren Darstellung und Interpretation (Sharon 2016; van Dijck und Poell 2016; Hogle 2016).

Die Herausforderungen werden dabei nicht nur in der universellen Datafizierung von Körperfunktionen, Alltagspraktiken oder auch Gefühlen gesehen, sondern vor allem auch in der Frage der Bewertung der Daten. Dabei weist sich das digitalisierte Gesundheitsfeld als extrem expansiv auf, da jegliche Daten als „gesundheitsbezogene“ Daten verstanden und verwendet werden können. Denn neben den großen Datensätzen medizinischer relevanter Informationen (beispielsweise biochemische oder genetische Informationen) können auch physische, soziale und kulturelle Faktoren einbezogen werden (Ruckenstein und Schüll 2017). Dies führt zu einem noch nie dagewesenen Wissensstand über jede einzelne Person, der jedoch vermehrt nur in Datendepots großer privater Unternehmen verfügbar ist (vgl. Bächle 2019; Bächle und Wernick 2019). Fragen im Forschungsfeld zu eHealth zielen somit häufig auf den Grad der Personalisierung von Gesundheit und Gesundheitsversorgung ab, sowie deren Folgen für die Autonomie der PatientInnen bzw. deren Rolle im Rahmen von Überwachung und Kontrolle (Andelfinger und Hänisch 2016; Staii 2018). Hier deutet sich bereits die Pluralität moralischer Prinzipien an, die herangezogen werden können, um die Sammlung personalisierter Gesundheitsdaten zu rechtfertigen und zu legitimieren oder auch zu kritisieren. Zielkonflikte im Feld der Gesundheit bilden ein typisches Ergebnis solcher Aushandlungsprozesse moralischer Ordnungen ab.

Die EC-Perspektive zielt wie oben schon dargestellt also auf die Analyse dieser Pluralität von Logiken bei der Umsetzung von digitaler Gesundheit ab. Mit der EC-Perspektive steht die Frage im Raum, nach welchen Logiken sich Akteure koordinieren, wenn sie digitale Gesundheitspraktiken einführen oder mobilisieren möchten. Zielkonflikte und damit auch ethische Konflikte im Feld der Gesundheit bilden daher im Rahmen der EC einen guten Ausgangspunkt für die Analyse. In diesem Zusammenhang hat bereits Tamar Sharon (2016) mit ihrer Arbeit zur „Googlisierung der Gesundheitsforschung“ aufzeigen können, dass die konfliktbeladene Gegenüberstellung von nur einer marktwirtschaftlichen Logik und einer wohlfahrtsstaatlichen Logik nicht ausreicht. Dabei werden die vielfältigen anderen Koordinationsmechanismen, die im Feld der Gesundheit ebenfalls eine Rolle spielen, vernachlässigt. Gerade große Technologieunternehmen, wie Facebook, Google oder Amazon verbinden beispielsweise mit ihrem Vordringen in das Gesundheitsfeld neben monetären Interessen auch politische Visionen und Experimentierfreude für einen neuen Umgang mit Gesundheit. Indem sie mit der EC diese Digitalisierungsprozesse untersucht, kann sie schließlich aufzeigen, dass eine Dichotomie zwischen öffentlichem Nutzen und privatem, unternehmerischem Gewinn alleine gerade im Feld der Gesundheit und der Digitalisierung oft zu kurz greift (Cappel und Kappler 2019, S. 31 f.). Aus Sicht der EC muss also davon ausgegangen werden, dass im Rahmen der Digitalisierung von Gesundheitspraktiken und -strukturen immer eine Pluralität von Koordinationslogiken vorhanden ist. Gelingt es Akteuren dabei nicht, sich auf ein Gemeinwohl zu einigen, ist mit (auch ethischen) Konflikten zu rechnen. Das heißt, für eine gelingende Koordination müssen sich Akteure auf ein Gemeinwohl und die damit verbundene Qualität einigen.

Wie sich beispielsweise eine spezifische Gemeinwohlorientierung im Gesundheitssystem und der Gesundheitspolitik durchsetzen und implementieren konnte, zeigen einige Arbeiten der EC zu den neoliberalen Gesundheitsreformen der letzten vier Jahrzehnte. Diese Reformen haben dazu geführt, dass sich im Gesundheitssystem zunehmend ein marktwirtschaftliches Organisationsprinzip durchsetzen und das wohlfahrtsstaatliche Organisationsprinzip eher verdrängen konnte. Argumentativ wird für diese Wandlungsprozesse ganz allgemein die Verbesserung „der“ Gesundheitsqualität angeführt, konventionentheoretisch wird aber sichtbar, dass es sich hierbei um die Förderung einer ganz spezifischen Qualität von Gesundheit handelt. Die neue Legitimation einer eindimensionalen Ökonomisierung und Rationalisierung von Gesundheit fördert so eine Verschiebung von einer wohlfahrtsstaatlichen Argumentationsbasis zu einer marktwirtschaftlichen Argumentationsbasis (Da Silva 2011; Batifoulier et al. 2018). Diese Ökonomisierung und Rationalisierung des Gesundheitsfeldes zeigt sich vor allem seit den 1980er Jahren durch die Einführung einer evidenz- oder datenbasierten Medizin (Staii 2018, S. 199). Die Form der Datenerhebung zur Generierung von medizinischen Fakten wurde kontinuierlich ausgeweitet, und auf politischer Ebene haben sich dadurch nach und nach Standardisierungsbemühungen verfestigt (Da Silva 2011). Angeführt wurden solche neoliberalen Entwicklungen auf der politischen Ebene insbesondere von der problematischen Annahme, Gesundheitsinstitutionen in erster Linie als Anreizsysteme zu verstehen. Auf diese Weise wurden Akteure von der Mainstream-Wirtschaftstheorie politisch als rationale, berechnende und eigennützige Akteure konzipiert, die ein potenzielles Risiko für Gesundheitskosten darstellen und keiner Gemeinwohlorientierung folgen (Batifoulier et al. 2018). Das Risiko von Krankheiten ließ sich dabei für Krankenkassen und Ärzte nur anhand statistischer Verteilungen erkennen, und die evidenzbasierte Medizin interpretiert den Einzelfall vor dem Hintergrund kollektiver Daten (Staii 2018, S. 200). Die Standardisierungsbemühungen dieser neoliberalen Entwicklungen bilden auch eine wichtige Basis für heutige Digitalisierungsprozesse im Gesundheitsfeld. So lässt sich die mit der Digitalisierung verknüpfte, personalisierte, prädiktive und individualisierte Medizin gut in eine neoliberale Denklogik eingliedern. Eine solche Art der Medizin erlaubt es, Risiken und Verantwortung für Krankheiten verstärkt über individuelle Handlungspraktiken zu mobilisieren, anstatt über das Solidaritätsprinzip. Das heißt, mit der heutigen Datafizierung von Gesundheit scheint sich diese Entwicklung nochmals zu verstärken. Gerade die Entstehung der neuen Dateninfrastrukturen und Vernetzung von neuen (individualisierten) Daten mit alten Gesundheitsdaten befördert eine individualisierte, prädiktive und präventive Medizin. Akteure werden damit als „empowered“ gedacht und als „präventiv“ agierende PatientInnen für ihre Gesundheit zunehmend verantwortlich und mobilisierbar gemacht (Staii 2018, S. 199), gleichzeitig wird aber ihre Gemeinwohlorientierung nicht beachtet (Batifoulier et al. 2011, S. 153; Ruckenstein und Schüll 2017, S. 272). Bei einer individualisierten Medizin ist das Krankheitsrisiko nicht mehr Ausdruck einer statistischen Verteilung mit willkürlichem Schicksal für eine Person. Hingegen mobilisiert die prädiktive Medizin allgemeines und individualisiertes Wissen für eine personalisierte Diagnose und eine direkte Risikozuordnung. Dabei lösen sich die Datensätze nicht ab, sondern ergänzen sich mit dem Ziel, über Messungen und Wissen das Krankheitsrisiko entweder zu beseitigen oder zumindest auf eine individuelle Ebene zuzurechnen (Staii 2018, S. 200).

Darüber hinaus versucht die Wirtschaftspolitik aktiv, gut informierte PatientInnen zu fördern, um ihnen Marktmacht zu geben und das Feld der Gesundheit damit als Markt zugänglich zu machen (Batifoulier et al. 2011). Problematisch bei all diesen Entwicklungen ist die Ignoranz der besonders im Gesundheitssystem gegebenen Pluralität von politischen, ethischen, wirtschaftlichen und professionellen Werten (Batifoulier et al. 2018). Hanrieder (2016) zeigt dies exemplarisch durch die Herausarbeitung vier moralischer Konzeptionen von Gesundheit in der globalen Politik auf. Die Reformen im Gesundheitssystem, gestützt auf die immer gleichen vorgebrachten Legitimationsargumente einer Verbesserung der Versorgungsqualität und der Kostenreduktion, haben sich nicht erfüllt. Sie haben vielmehr zu der Zunahme bestimmter Qualitäten wie einer industriellen Qualität und zu einer Abnahme einer häuslichen und zivilen Qualität geführt (Batifoulier et al. 2018; Da Silva 2018). Diese nicht gesellschaftlich verhandelte Verschiebung von Gemeinwohlorientierungen im Gesundheitssystem führt zu Wettbewerbsdynamiken in Krankenhäusern, unter denen sowohl ÄrztInnen als auch PatientInnen leiden, zu Praxisgebühren, die soziale Ungleichheiten bei dem Zugang zu Gesundheit erzeugen, zu standardisierter menschenunwürdiger Pflege, zu finanzierten medizinischen Eingriffen, die nicht unbedingt dem Wohl der PatientInnen dienen und schließlich zu der Frage nach der Legitimität von Gesundheitsentscheidungen (Batifoulier et al. 2018). Mit der neu entstehenden Datenökonomie im Feld der Gesundheit verschärft sich das Problem der fehlenden offenen Aushandlungsprozesse über gemeinsame Ziele, Werte und Qualitäten rund um Gesundheit daher weiter. Zum einen durch die neuen Akteure und Infrastrukturen im Gesundheitsfeld (Staii 2018, S. 202), zum anderen, weil deren Anliegen durch die Datafizierungsprozesse und Technologien noch stärker verdeckt werden.

Mit der programmatischen Zusammenführung unterschiedlicher konventionstheoretischer Beiträge zu unterschiedlichsten Aspekten im Themenfeld (digitaler) Transformationsprozesse und Gesundheit – quer zu allen Sozialwissenschaften, Bindestrichsoziologien und sonst getrennte Diskussionen verbindend – leistet der Band somit einen ersten Beitrag zur Entwicklung einer integrativen und pragmatischen Theorie der Gesundheit. Gleichzeitig ist es ein Ziel, mit dieser programmatischen Vorgehensweise die Notwendigkeit einer themen- und bereichsspezifischen Bearbeitung digitaler Transformationsprozesse aufzuzeigen.

1.2 Aufbau des Bandes

Die Beiträge des Bandes sind in drei thematische Teile geordnet. Teil 1 mit dem Titel Gesundheit(en): Konstruktionen und Praktiken schlägt den Bogen von der Soziologie der Gesundheit zur EC. In diesem ersten thematischen Teil geht es somit neben einer detaillierten Darstellung der EC und dem aktuellen Forschungsstand der EC im Gesundheitsfeld um die Rolle und Entwicklung der Akteure im Bereich Gesundheit und Digitalisierung aus Sicht der EC. Teil 2 behandelt darauf folgend Sozio-technische Materialitäten im Gesundheitshandeln, wobei spezifisch auf die Rolle von Materialitäten, (intermediären) Objekten und vor allem Plattformen eingegangen wird. Der zweite Teil legt folglich den Schwerpunkt auf soziomaterielle Aspekte, d. h. die Konstellation, Art und Rolle der relevanten Objekte, die in den untersuchten Koordinationssituationen wirken. Teil 3 geht auf die Dynamiken im Gesundheitsfeld: Transformationen, Spannungen und Kritiken ein. Die Beiträge dieses dritten Teils befassen sich mit der Art und Weise, d. h. der Dynamik und der Transformation von Koordinationssituationen. Untersuchungsgegenstand sind dann zum einen die Institutionen, Konventionen oder Regeln, die dazu beitragen, dass sich Koordinationsformen oder Bewertungsmechanismen verändern, zum anderen aber auch die damit zusammenhängenden Aushandlungsprozesse selbst. Der Band schließt mit einer Reflektion zur Covid-19-Pandemie und einem Ausblick.

Teil 1: Gesundheit(en): Konstruktionen und Praktiken

Nimmt man die konventionentheoretische Perspektive ernst, ist es nicht möglich von Gesundheit im Singular zu sprechen. Schon wenn von einer akteursbezogenen Gesundheit ausgegangen wird, können verschiedene Verständnisse, Logiken, Motivationen und Motive von Gesundheit für und am Einzelnen beschrieben werden und die problematische Begrenztheit dieser Konzeption aufzeigen.

Rainer Diaz-Bones Beitrag zu Konventionentheoretische Perspektiven auf die Ökonomie und die Soziologie der Gesundheit zeigt diesbezüglich auf, wie die Konstruktionen und Praktiken von Gesundheit(en) aus einem situativen und pragmatischen Blick heraus untersucht werden können. Dafür gibt er eine überblicksartige Einführung in die Grundlagen der EC und spezifiziert diese im Feld der Soziologie der Gesundheit. Er eröffnet damit eine spezifische konventionentheoretische Perspektive auf Digitalisierungsprozesse im Feld der Gesundheit, im Gesundheitssystem und auf der Ebene der gesundheitsbezogenen Subjektivierung. Dazu rezipiert er insbesondere die konventionentheoretische französische Literatur, die sich schon länger mit der politischen Ökonomie des Gesundheitssystems und der Ökonomisierung von Gesundheit auseinandersetzt. Der Beitrag bietet damit insbesondere eine systematische Einführung an und zeigt das Potenzial der EC als integrierender Ansatz in der Gesundheitsforschung auf, mit dem es gelingen kann, soziologische, ökonomische, rechtliche und mediale Forschungsfragen methodologisch und konzeptionell zu integrieren.

Nach diesem einführenden Beitrag, der sowohl die Grundlagen der EC näherbringt als auch deren spezifischen Ansatz für die Gesundheitssoziologie darstellt, geht Valeska Cappel in ihrem Beitrag Die Pluralität der digitalen Alltagsgesundheit. Das Aufkommen einer neuen Form der Gesundheitskoordination spezifischer auf die Konstruktion und die Auswirkungen einer digitalen Gesundheit ein. Sie analysiert aktuelle Datafizierungsprozesse im Gesundheitsfeld aus einer konventionentheoretischen Perspektive. Sie richtet ihren Blick auf Gesundheitsdaten, die mit neuen Technologien, wie Smartphones, Wearables und Gesundheits-Apps aus routinierten Alltagspraktiken gewonnen werden können. Mit dem Konzept der Forminvestition (Thévenot 1984) analysiert sie, wie Alltagspraktiken als Gesundheitsdaten mobilisiert werden können und problematisiert anhand der statistischen Kette, dass sich die dabei zugrunde liegenden Messkonventionen einem Raum der Rechtfertigung oder Kritik entziehen. Um auch die Wechselwirkungen zwischen dieser kollektiven digitalen Alltagsgesundheit und der individuellen Gesundheit zu erfassen, stützt sich Cappel auf das Konzept der Regime der Engagements und erklärt systematisch, wann diese kollektive Form im Alltag der Akteure relevant werden kann. Im Ergebnis zeigt sie, dass Digitalisierungsprozesse willkürlich Alltagspraktiken als Gesundheitspraktiken mobilisieren und in einer politischen Ökonomie der Gesundheit wertvoll machen können. Gleichzeitig bleibt den betroffenen Akteuren aber nur ein kleiner Spielraum, diesen Prozess aktiv zu beeinflussen oder zu kritisieren.

In die situativen digitalen Gesundheitspraktiken und -konstruktionen sind nicht nur „kranke“ oder „gesunde“ Akteure involviert, sondern auch die EntwicklerInnen der entsprechenden digitalen Anwendungen und Gesundheitsfachkräfte. Diesen widmen sich die beiden letzten Beiträge in diesem Teil. Dafür untersucht Sarah Lenz in ihrem Beitrag Digitale Gesundheit. Legitimationen und Kritik aus der Perspektive von Digital-Health-EntwicklerInnen aus einer konventionentheoretischen Perspektive die normativen Grundlagen, die bei der Einführung von Digital-Health-Technologien zur Legitimation oder Kritik dieser herangezogen werden. Anhand qualitativer Interviews mit privatwirtschaftlichen und medizinischen EntwicklerInnen digitaler Gesundheitstechnologien kann sie aufzeigen, wie sich normative Begründungszusammenhänge im Gesundheitsfeld durch digitale Technologien verschieben, allerdings auch durch kritische Widerstände an Grenzen gebunden scheinen. Sie stellt dann insbesondere die Fragilität und Konfliktanfälligkeit der Entwicklungen digitaler Technologien im Gesundheitsfeld heraus, die sich zuvorderst auf die Dualitäten von Marktorientierung und Marktbegrenzung, Digitalisierung als radikalisierte Industrialisierung und Digitalisierung im Dienste neuer Freiräume und technischer Bevormundung zurückführen lassen.

Michael Gemperle, Mandy Scheermesser, Julia Dratva, Daniela Händler-Schuster, Sibylle Juvalta und Verena Klamroth-Marganska betrachten in ihrem Beitrag mit dem Titel Digitale Heilsversprechen in Gesundheitsberufen Digitalisierungsprozesse auf der Ebene von Gesundheitsberufen. Sie untersuchen dafür die Logiken, nach denen Gesundheitsfachpersonen digitale Technologien positiv bewerten. Sie führen eine quantitative Analyse mit StudentInnen unterschiedlicher Berufsgruppen im Gesundheitsfeld durch, um die Vorteile herauszuarbeiten, die StudentInnen im zukünftigen Einsatz von digitalen Medien in ihrer Berufsarbeit sehen. Aus einer konventionentheoretischen Perspektive können sie dabei herausarbeiten, dass sich die auszubildenden Gesundheitsfachpersonen auf zwei unterschiedliche Grundorientierungen stützen, die mit unterschiedlichen Rechtfertigungsordnungen einhergehen. Diese Grundorientierungen unterscheiden sich darin, dass sie sich entweder auf die Dienstleistungserbringung beziehen oder auf das PatientInnenwohl. Durch die Hinzunahme soziodemografischer Merkmale und die Differenzierung der Berufsgruppen liefern Gemperle et al. auch Ergebnisse zu der Verteilung der Rechtfertigungsordnungen. Sie können aufzeigen, dass die StudentInnen je nach Studiengangszugehörigkeit, sozialer Herkunft und ihrem Alter die Vorteile digitaler Medien mit der Dienstleistungserbringung oder dem PatientInnenwohl assoziieren. Hervorstechend ist dabei das Ergebnis, dass mehr als ein Drittel der Befragten die Vorteile mit der Vorstellung eines effizienteren Gesundheitssystems verbindet. Sie schreiben damit digitalen Technologien in Gesundheitsberufen vor allem eine industrielle Qualität zu, die sich auf die Dienstleistungserbringung bezieht und weniger auf das PatientInnenwohl.

Mit diesen vier Beiträgen im ersten Teil wird ein stärkerer Fokus auf die in den Praktiken und der Konstruktion von digitalisierten und digitalen Gesundheit(en) involvierten Akteure gelegt. Die Beiträge zeigen allerdings deutlich, dass die EC nicht von den Akteuren aus denkt und versucht, deren Logiken, Motive und Handlungen nachzuvollziehen, sondern vielmehr von den Koordinierungssituationen aus, in denen Akteure nur einen Teil darstellen. Seien es die stärker machtpolitisch orientierten (französischen) Studien der Gesundheitsökonomie, die von Diaz-Bone rezipiert werden, die Herausbildung einer digitalen Gesundheit über alltägliche Gesundheitspraktiken bei Cappel, die von Lenz herausgearbeiteten Rechtfertigungs-, Kritik- und Konfliktlinien im Digitalisierungsprozess von Gesundheit oder die unterschiedlich ausgerichteten Grundorientierungen der zukünftigen Gesundheitsfachkräfte bei Gemperle et al. Die konstruierenden und kritikanfälligen Koordinierungs- und Aushandlungsmomente tauchen in allen Beiträgen auf und weisen damit explizit auf den Pluralismus als Ausgangspunkt der spezifischen EC-Analyseperspektive hin.

Teil 2: Sozio-technische Materialitäten im Gesundheitshandeln

Als Zwillingstheorie zur ANT bezieht die EC ganz bewusst Objekte, Intermediäre und Dispositive als konstituierende Prinzipien mit ein, womit beide theoretischen Ansätze für sich beanspruchen, Objekte in neuer Weise „ernst“ zu nehmen (Thévenot 1993, 1994b; Diaz-Bone 2018, S. 389). Bewertungspraktiken, die Zuschreibung von Wert und Koordinationssituationen im Allgemeinen sind ohne Objekte nicht denkbar. Dabei können Objekte mit unterschiedlichen Wirkungsweisen in einer Situation fungieren. Die EC konzeptualisiert diese unterschiedlichen Wirkungsweisen über Intermediäre sowie über das Konzept des Dispositivs. Intermediäre sind dabei als sogenannte „Vermittler“ zwischen unterschiedlichen Bewertungslogiken zu verstehen und auch in der Lage, zwischen unterschiedlichen Konventionen zu übersetzen.

Aufgrund des situativen Ansatzes der EC beschränkt sich das Konzept der Intermediäre nicht nur auf Personen, sondern auch auf Objekte (Bessy 2014; Thévenot 2014) und Organisationen (Bessy 1997a, b, c; Bessy und Larquier 2010; Marchal und Rieucau 2010; Bessy und Chauvin 2011, 2013). Technologien und Dispositive können als Intermediäre fungieren (Bessy und Eymard-Duvernay 1997; Bessy 2017). Entscheidend ist dabei, dass ein Intermediär, ganz unabhängig von seiner Beschaffenheit, als etwas zu verstehen ist, das Informationen, Informationsformate oder auch Sachverhalte mit konstruiert, anstatt diese nur zu vermitteln (Diaz-Bone 2018, S. 109 ff.). Im Feld der Gesundheit und der Digitalisierung können Intermediäre also einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, welche Konventionen im Hinblick auf Gesundheit an Relevanz gewinnen und damit zu einer spezifischen Konstruktion von Gesundheitshandlungen oder -praktiken beitragen. Da Intermediäre einen konstitutiven Teil in einer Koordinationssituation oder bei der Herstellung spezifischer Sachverhalte darstellen, können sie auch ein Dispositiv oder ein Teil eines Dispositivs sein. Der Unterschied ist, dass ein Dispositiv als ein Sachverhalt zu verstehen ist, der für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden kann oder dafür zur Verfügung steht. Es ist demnach als ein Instrument oder ein Werkzeug zu verstehen, mit dem etwas Bestimmtes erreicht werden soll (Diaz-Bone und Hartz 2017, S. 4 f.). Was diese Konzepte verdeutlichen wollen, ist die Instrumentierung von Gesundheitssituationen, ohne die es Gesundheitssysteme, -praktiken oder auch eine Gesundheitskommunikation, so wie wir sie kennen, nicht geben könnte. Erst durch die materielle und immaterielle Ausstattung mit Technologien, Objekten und Materialien wird Gesundheit hergestellt und in bestimmte Formen gebracht. Beispiele für solche materiellen und immateriellen Ausstattungen sind Blutwerte, die über spezifische Apparaturen gewonnen werden, feste Normwerte, die die Grenzen zwischen „krank“ und „gesund“ festlegen, oder auch wissenschaftliche, evidenzbasierte Verfahren, die zur Legitimation von gültigem Gesundheitswissen und Behandlungsmethoden herangezogen werden.

Dieser Teil untersucht diese komplexen materiellen und immateriellen Ausstattungen anhand ganz unterschiedlicher Objekte, Intermediäre oder auch Dispositive. Auch wenn die AutorInnen nicht immer explizit diese Begrifflichkeiten verwenden, so lassen sich doch die grundlegenden Ideen dieser Konzepte in ihren Beiträgen herauslesen. Die Beiträge beleuchten anhand von Beispielen wie Managementstrategien (Gesundheitsmanagement), digitalen Plattformen (Instagram, psychologische Onlineberatung, Medien (Bilder, Graphen, Zahlen, etc.)) und Technologien (Wearables, Smartphones, Selbstvermessungskategorien), wie diese dazu beitragen, eine bestimmte Form von Gesundheitspraktiken und Bewertungsweisen zu konstruieren. Gerade spezifische Bereiche im Feld der Gesundheit wie beispielsweise Digitalisierungsprozesse oder Big Data zeichnen sich nicht einfach nur durch eine zugehörige Konstellation von Instrumentierungen aus, sondern existieren erst durch diese genau in der Weise, wie wir sie kennen.

In ihrem Beitrag zu Ressourcen und Reputation. Wie Unternehmen psychische Gesundheitsprobleme von Beschäftigten bewerten beschreibt Anna Gonon Bewertungspraktiken von psychischer Gesundheit im Unternehmenskontext. Vor diesem Hintergrund befasst sich der Beitrag mit der Frage, nach welchen Logiken die (psychische) Gesundheit bzw. Krankheit der Beschäftigten über das betriebliche Gesundheitsmanagement adressiert wird und welche Personalmaßnahmen mit welcher Rechtfertigung daraus abgeleitet werden. Des Weiteren wird die Rolle softwaregestützter Ansätze beleuchtet, so beispielsweise Systeme des Absenzenmanagements oder die Auswertung von Gesundheitsdaten. Mithilfe von leitfadengestützten Interviews in zwei Versicherungsunternehmen zeigt die Autorin die Pluralität der Logiken, mit denen betriebliche Interventionen in Bezug auf psychische Gesundheitsprobleme im betrieblichen Gesundheitsmanagement begründet werden, auf und erweitert damit die normalerweise zugrunde gelegten rein ökonomischen Kosten-Nutzen-Überlegungen.

Nachdem Gonon in ihrem Beitrag insbesondere die Rolle immaterieller Instrumentierungen von Gesundheitssituationen aufzeigen konnte, beschäftigen sich die beiden folgenden Beiträge von Karin Scaria-Braunstein und Raffael Hiden sowie von Ramón Reichert, Valeska Cappel und Karolin Kappler mit spezifischen digitalen Plattformen der (Gesundheits-)Kommunikation und können aufzeigen, wie diese als Intermediäre fungieren (Diaz-Bone 2018). Zum einen, weil sie zwischen der bestehenden Pluralität von Konventionen im Gesundheitsfeld vermitteln oder übersetzen können. Zum anderen aber auch, weil sie gerade durch ihre technologischen und formalen Infrastrukturen als Dispositiv verstanden werden können und so eine ganz bestimmte Form von Gesundheit initiieren.Footnote 10 Intermediäre bringen somit eigenständige Sachverhalte hervor. Sieht man Plattformen als Intermediäre an, kann man davon ausgehen, dass diese das Feld, in dem sie agieren, organisieren, rahmen und vermitteln. Solche Plattformen zeichnen sich durch (re-)programmierbare digitale Infrastrukturen aus, die systematisch Daten sammeln, verarbeiten und verwerten. Ihre intermediäre Vermittlungskompetenz besteht dabei darin, dass sie durch die Arbeit mit den Daten personalisierte Interaktionen zwischen den unterschiedlichen NutzerInnengruppen solcher Plattformen herstellen können (Poell et al. 2019, S. 3). Aus Sicht der EC sind es in diesem Fall die technischen Objekte und materiellen Prozeduren, die verschriftlicht oder auch informell als Intermediäre fungieren und diese personalisierten Interaktionen formen (Diaz-Bone 2018, S. 93). Wie dies geschieht, wird auch in den Beiträgen von Karin Scaria-Braunstein und Rafael Hiden, sowie von Ramón Reichert, Valeska Cappel und Karolin Kappler zum Thema gemacht, wenn sie die Rolle der Plattformen als Vermittler und Reorganisatoren von Alltags- und Gesundheitspraktiken untersuchen.

Karin Scaria-Braunstein und Raffael Hiden gehen dieser Frage in ihrem Beitrag „Die beste Version meiner selbst“ – Die Unabschließbarkeit in der psychologischen Onlineberatung nach, in dem sie die Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und (psychischem) Gesundheitsverhalten in einem gemeinsamen plattformisierten Wirkungsfeld untersuchen und anhand der psychologischen Onlineplattform Instahelp exemplarisch erörtern. In ihrer Analyse zeigen sie die Unabschließbarkeit psychologischer Gesundheitspraktiken in der psychologischen Onlineberatung auf, indem sie das Zusammenspiel zwischen einer Gesundheitsplattform und dem individuellen Gesundheitshandeln anhand der EC und der relevanten Konventionen und dem Regime des Engagements von psychischer Gesundheit beleuchten. Dazu analysieren sie einerseits die Rolle der materiellen und immateriellen Instrumentierung der Plattform, indem sie die wirkmächtigen Konventionen innerhalb der Geschäftsbedingungen der Plattform herausarbeiten. Darüber hinaus zeigen sie aber auch durch einen ethnographischen Selbstversuch auf der Plattform auf, wie diese schließlich im praktischen Umgang mit der Plattform wirken. Dabei können sie vor allem durch die konzeptionelle Unterscheidung zwischen Konventionen und Regimen die zentrale Rolle der untersuchten Onlineplattform im Beziehungsnetzwerk Plattform, UserIn und BeraterIn aufzeigen.

Aus einer medientheoretischen Sicht gehen Ramón Reichert, Valeska Cappel und Karolin Kappler der Frage der Reorganisation kultureller Praktiken und Vorstellungen um und durch Plattformen nach und zeigen hierfür nochmals spezifisch die Unterschiede zwischen dem akteurszentrierten, Bourdieuschen Ansatz mit dem situativen Ansatz der EC auf.Footnote 11 Ihr Beitrag Food Pictures. Soziale (De-)Konstruktion von Gesundheit auf Instagram untersucht das Verhältnis von Health Literacy und Selbstinszenierung auf Instagram, indem er die Praktik des „Picturing Food“ als Teil der digitalen Essenskultur betrachtet. Dafür werden Ernährungshandeln und Ernährungsverhalten in online vernetzten Kommunikationsräumen vor dem Hintergrund einer gesundheitssoziologischen Wissensintervention reflektiert und die Frage gestellt, inwieweit die Plattform Instagram als gesundheitspolitisches Steuerungsregulativ fungiert. Sie betrachten dabei die Online-Plattform Instagram als technisch-mediales Dispositiv, das Konventionen ausbildet, die medial auf situative Erfahrungen einwirken und diese prägen. Die Online-Plattform kann somit als Intermediär verstanden werden, der die situativen Erfahrungen im Umgang mit Essen so vermittelt, dass diese Erfahrungen grundsätzlich als medialisiert wahrgenommen werden.

Auch Eryk Noji, Karolin Kappler und Uwe Vormbusch betrachten in ihrem Beitrag mit dem Titel Situierte Konventionen: Transformationen, Ungenauigkeiten und die Grenzen der Messung im Bereich der Selbstvermessung die Wirkmächtigkeit von Objekten und Dispositiven im Feld der Selbstvermessung. Dabei spielen jedoch weniger Plattformen eine Rolle, sondern vielmehr Technologien als Intermediäre und deren spezifische Konfigurationen von Messungen, Objekten, Widerständen und Engagements. Auf der Grundlage empirischer Forschung analysieren die AutorInnen dafür Aspekte der Quantifizierung von Gesundheit in zwei unterschiedlichen Bereichen: Ernährung und Gefühle. Innerhalb dieser Felder investieren die SelbstvermesserInnen in neue Formen und Äquivalenzmaße, indem sie sich mit drei Haupthindernissen auseinandersetzen: der Ungenauigkeit des Messens, der schwerfälligen Materialität von Gegenständen und der alltäglichen Praxis, sowie dem unklaren Verhältnis von alltäglichem Tun und Messen. Diese Forminvestition in intermediäre Objekte im Bereich der Selbstvermessung führt zu einer Überschneidung kollektiver und individueller Koordinationslogiken, womit einerseits Konventionen in den Alltag der Akteure getragen werden, andererseits diese Akteure in ihren unterschiedlichen Engagements unterstützt werden. Diese spezifisch gerahmten Aushandlungsprozesse werden von diesem Beitrag beleuchtet, wodurch die Fragmentierung und Unverfügbarkeit von Gesundheit sowohl für NutzerInnen als auch Gesundheitsorganisationen, -fachkräfte und EntscheidungsträgerInnen dargestellt werden kann.

Alle vier Beiträge in diesem Teil verdeutlichen die elementare Funktion von Objekten, Technologien und vor allem von Intermediären im Zusammenhang mit digitaler Gesundheit. Sie zeigen anhand der Rolle von Plattformen, wie diese als Intermediäre ein bestimmtes Verständnis über die eigene psychologische Gesundheit generieren (Scaria-Braunstein und Hiden) oder auch die Vorstellung prägen, wie gesundes Essen in einer digitalen Öffentlichkeit gestaltet und präsentiert werden muss (Reichert et al.). Dass auch immaterielle Ausstattungen einen zentralen Einfluss auf die Art und Weise nehmen, was als psychisches Gesundheitsproblem anerkannt und legitimiert wird und welche Ein- und Ausschlussmechanismen damit verbunden werden, zeigt der Beitrag von Gonon. Schließlich zeigen auch die Beiträge von Noji et al. und Scaria-Braunstein und Hiden auf, wie es gelingen kann, durch Objekte, Technologien und Intermediäre eine Koordinationssituation rund um Gesundheit so zu verändern, dass sich private und öffentliche Gesundheitshandlungen nicht mehr problemlos und selbstverständlich trennen lassen. Materialitäten, wie Wearables und Gesundheitsplattformen werden dann zum Teil ganz schleichend zu Invasoren eines privaten Gesundheitshandelns im vermeintlich privaten Alltag.

Teil 3: Dynamiken im Gesundheitsfeld: Transformationen, Spannungen und Kritiken

Transformation ist wahrscheinlich nicht erst seit Polanyis „Great Transformation“ (1944) ein beliebtes Konzept, gesellschaftlichen Wandel zu beschreiben. Auch in der Gegenwartsanalyse gibt es unzählige AutorInnen und Werke (unter anderen Schneidewind 2018; Dörre et al. 2019), die versuchen mit unterschiedlichsten Adjektiven der Transformation habhaft zu werden und damit einerseits deren Umfang beziehungsweise Umwandlungskraft zu beschreiben und andererseits die Qualität der entsprechenden Transformation aufzuzeigen. Transformation impliziert jedoch, dass sich etwas verändert. Damit geht häufig ein (implizites) Verständnis einher, dass sich die Gesellschaft oder ein Teilbereich von ihr im Grunde genommen in einer Art stabilem Naturzustand befindet, für dessen Wandel es transformative Kräfte benötigt. Der Titel dieses Teils lässt sich allerdings in einem anderen Sinne lesen.

Die EC geht nämlich genau von der gegensätzlichen Grundannahme aus. Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007) setzen sich gerade von der Bourdieuschen Sichtweise dadurch ab, dass sie von einer „radikalen Unsicherheit“ sozialer Ordnungen ausgehen, die sie als Konstante des sozialen Handelns ansehen. Vagheit, Unsicherheit, Beunruhigung, aber vor allem Unordnung sind somit für Boltanski und Thévenot die zentralen Begrifflichkeiten für die Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Im Sinne einer pragmatischen Soziologie der Kritik folgt dieser Teil somit Boltanskis und Thévenots Verständnis von Transformationsprozessen. Diese sind dann als eine dauerhafte Folge permanenter Aushandlungsprozesse konfligierender Gerechtigkeitskriterien beziehungsweise Rechtfertigungsordnungen zu sehen.

Peter Streckeisen beschreibt hierzu in seinem Beitrag Zwischen Medizin und Ökonomie. Erwerbsbiografische Studien zu Veränderungen im schweizerischen Gesundheitswesen Veränderungen des schweizerischen Sozialstaats und spezifisch das neue Krankenversicherungsgesetz im Rahmen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens aus einer erwerbsbiografischen und konventionentheoretischen Forschungsperspektive. Dabei stellt er die Industrialisierung der Medizin sowie das PatientInnen-Empowerment als zentrale Momente in der Entwicklung des Sozialstaats heraus und leistet somit einen Beitrag nicht nur zur Soziologie der Profession, sondern auch zur Wirtschaftssoziologie.

Damit ergänzen seine Ergebnisse die Studien von Nicolas Da Silva, Philippe Batifoulier und anderen zum französischen Gesundheitssystem (Da Silva und Rauly 2016; Da Silva und Gadreau 2015; Da Silva 2017, 2018; Batifoulier et al. 2013, 2018, 2019; Batifoulier und Ginon 2019; vgl. zur genaueren Beschreibung dieser Studien auch den Beitrag von Diaz-Bone in diesem Band). Aber auch der Beitrag von Michael Gemperle et al. in diesem Band zeigt die gleichen Tendenzen einer Rationalisierung, Ökonomisierung und Merkantilisierung durch die Standardisierung und Industrialisierung des Gesundheitswesens auf. Dieses geht auch einher mit einer veränderten Rolle der PatientInnen, sei es im Rahmen von Diskursen zum PatientInnen Empowerment, der Stärkung präventiver Praktiken oder einer stärkeren Einbeziehung von PatientInnen in Gesundheitsprozesse (Lupton 2013; Batifoulier et al. 2011).

Tina Bartelmeß und Jasmin Godemann untersuchen in diesem Zusammenhang in ihrem Beitrag Qualitätskonstruktionen in unternehmerischer Ernährungskommunikation: Gesundheit im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft den diskursiven Bedeutungswandel des Gesundheitsbegriffs in der Ernährungskommunikation. Sie stellen die staatliche Ernährungskommunikation einer neuen digitalen, unternehmerischen Ernährungskommunikation von Lebensmittelherstellern gegenüber, um zwei unterschiedliche Koordinationslogiken herauszuarbeiten, die unterschiedliche Bedeutungen gesunder Ernährung mobilisieren. Methodisch verbinden sie ein diskursanalytisches Vorgehen mit einer konventionentheoretischen Perspektive, wobei sie relevante Konventionen als sprachlich repräsentierte Diskurslogiken in unternehmerischer Ernährungskommunikation untersuchen. Dabei stellen die Autorinnen heraus, dass bei der neuen unternehmerischen Ernährungskommunikation Gesundheit und Nachhaltigkeit verknüpft werden und dadurch eine weitere Bedeutungskonstruktion von gesunder Ernährung entsteht. So werden neben individuellen Ernährungspraktiken auch kollektive Prozesse wie Umwelt- und Sozialverträglichkeit Teil einer gesunden Ernährung. Durch die konventionentheoretische Perspektive eröffnet der Beitrag die Möglichkeit, den diskursiven Imperativ einer gesunden Ernährung aufzubrechen und vor dem Hintergrund einer intervenierenden Ernährungskommunikation situativ auszudifferenzieren.

Diese Spannung zwischen individuellen Gesundheitspraktiken und kollektiven Gesundheitslogiken, die auch schon in den Beiträgen von Cappel im ersten Teil sowie von Noji et al. im zweiten Teil teilweise behandelt wurde, ist zentrales Thema der letzten beiden Beiträge von Ursula Meidert und Mandy Scheermesser sowie von Stefan Selke und Johannes Achatz. Hierbei zeigt sich, dass die Konzepte der Forminvestition, der Pluralität der Konventionen, die Verbindung und Unterscheidung von Konventionen und Regimen des Engagements sowie die damit verbundenen Aushandlungsprozesse gerade im Feld der Selbstvermessung und der eHealth-App-Nutzung gut zur Analyse konfliktträchtiger Situationen herangezogen werden können.

In Normierungsprozesse durch Quantified Self Technologien gehen dafür Ursula Meidert und Mandy Scheermesser auf die Bedeutung verschiedener Gesundheitskonzepte im Rahmen der digitalen Selbstvermessung ein, wobei ihr spezifisch konventionentheoretischer Fokus auf den Konflikten und Unsicherheiten beruht, die beim Aufeinandertreffen verschiedener Konventionen in diesem Feld auftreten. Sie arbeiten in ihrem Beitrag im Bereich der Selbstvermessung Gesundheitskonzepte verschiedener Akteursgruppen heraus und machen dabei auf Konfliktlinien und Unsicherheiten sowie deren Auswirkungen aufmerksam. Denn damit sich die digitale Selbstvermessung im Gesundheitswesen langfristig etablieren kann, müssen diese Konflikte angesprochen, ausgehandelt und Kompromisse gefunden sowie mitunter auch neue Konventionen entwickelt werden. Die Autorinnen legen dabei besonderen Wert auf die Berücksichtigung unterschiedlicher Akteursperspektiven, indem sie mithilfe von Fokusgruppen und ExpertInneninterviews ÄrztInnen, gesunde und kranke SelbstvermesserInnen sowie Gesundheitsfachpersonen einbeziehen. Dabei zeigen die Autorinnen nicht nur konflikthafte Situationen oder Spannungsfelder auf, wenn verschiedene Konventionen und Gesundheitskonzepte unterschiedlicher Akteure aufeinandertreffen, sondern sie weisen auf mögliche Lösungsansätze zur Überwindung dieser Konflikte hin: Verbesserte Kommunikation, Kriterienkataloge, Leitfäden und finanzielle Anreize würden ihrer Meinung nach zu einer Annäherung der verschiedenen Gesundheitskonzepte der Gesundheitsfachpersonen und PatientInnen beitragen, zwischen denen das Hauptkonfliktpotenzial besteht.

Stefan Selke und Johannes Achatz untersuchen hingegen in ihrem Beitrag Der Realität auf die Sprünge helfen. Zum Kontingenzdilemma im Kontext von popularisierten Praktiken digitaler Selbstvermessung von Gesundheitsdaten, wie SelbstvermesserInnen mit entstehenden Kontingenzen im Kontext digitaler Selbstvermessung umgehen. Sie arbeiten ein Spannungsfeld heraus, in welchem sich die Kontingenzreduktion im privaten Lebensalltag und die Reproduktion neuer lebensweltlicher Kontingenzen gegenüberstehen. Anhand von qualitativen Interviews zeigen sie auf, wie Akteure mit diesem Kontingenzdilemma umgehen. Die Selbstvermessungstechnologien unterstützen zwar bei dem Wunsch nach Orientierung und Stabilität im Gesundheitshandeln, erzeugen aber durch ihre starken Normvorgaben idealtypische Gesundheitssituationen, die insbesondere vulnerablen Gruppen nicht gerecht werden. Aus einer konventionentheoretischen Perspektive unterscheiden Selke und Achatz zwischen konventionenbasierter Koordination und solcher, die sich eher im Privaten vollzieht. Sie problematisieren dann insbesondere, dass es vulnerablen Gruppen nur schwer möglich ist, ihre Benachteiligung durch Selbstvermessungstechnologien politisieren zu können, da sie im Privaten agieren und als Handlungsstrategie vermehrt auf Abgrenzungsmechanismen setzen. Diese haben zwar kollektive Effekte, allerdings nicht in der Form, dass die Pluralität der Konventionen und die damit verknüpften Folgen für alle Betroffenen auf einer gemeinsamen politischen Ebene ausgehandelt werden können. Verbunden damit propagieren Achatz und Selke als pathologische Effekte der digitalen Selbstvermessung eine schleichende Responsibilisierung, neue Abhängigkeiten und den Ausschluss von vulnerablen Gruppen.

Sowohl in den stärker gesundheitsökonomisch orientierten als auch in den praxisbezogenen Beiträgen zeigt sich in diesem Teil die Pluralität der Gerechtigkeitskriterien, die im Gesundheitsfeld ausgehandelt werden müssen. Da es hier zudem nicht nur sprichwörtlich „um Leben und Tod geht“ sind die sich daraus ergebenden Zielkonflikte umso bedeutender, nicht nur für das jeweilige (Alltags-)Leben der Menschen, sondern auch für die mehr oder weniger an Solidarität ausgerichteten Bindungen einer Gesellschaft.

Ausgehend von der Annahme einer Pluralität von Wertordnungen ist es gerade das Anliegen und eine große Stärke der EC, mit ihren Konzepten solche Zielkonflikte sichtbar zu machen und analytisch strukturieren zu können. Dies spiegelt sich zum einen in allen Beiträgen des Bandes wider, zum anderen aber auch darin, dass sich bereits benannte Konflikte vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen erneut reflektieren und analysieren lassen. Über die Beiträge des Bandes hinaus wollen wir aus gegebenem Anlass auch diesem zweiten Aspekt einen Platz in diesem Band einräumen. Ursprünglich war der Band in die drei aufgeführten Teile gegliedert. Aber nach der Konzeptionalisierung, dem Zusammentragen und dem Schreiben der einzelnen Beiträge und parallel zur redaktionellen Fertigstellung des Bandes entwickelte sich die Covid-19-Pandemie. Auch wenn es sich hierbei um ein temporäres Ereignis handelt, gibt es uns als WissenschaftlerInnen die einmalige Chance, alte und neu entstehende Aushandlungsprozesse und Zielkonflikte im Feld der Gesundheit unter einem Brennglas sehen und reflektieren zu können. Dieser Umstand hat die Herausgeberinnen und AutorInnen dazu veranlasst, die Konzepte, empirischen Daten, Ergebnisse und Reflektionen, die vornehmlich 2019 also „vor Corona“ entstanden sind, mit den Erfahrungen, Diskussionen und Veränderungen „während Corona“, das heißt im Frühjahr 2020, zu überdenken. Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie wird an vielen Stellen von einer „neuen Normalität“ gesprochen, die sich in neuen Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben wie „social distancing“, der (Nicht-)Akzeptanz von „Corona-Tracing-Apps“ zur Kontrolle und Eindämmung der Pandemie sowie der Rolle von „Gesundheit“ und Schutz für die Gesellschaft zeigt. All dies spiegelt sich in Aushandlungsprozessen und Zielkonflikten im Feld der Gesundheit zwischen gesellschaftlichen Feldern und Zielen in Zeiten der Covid-19-Pandemie wider. Ein nicht zu übersehender Trend ist dabei auch der enorme Schub, den die Digitalisierung beispielsweise durch massives Home-Office oder Home-Schooling erfährt. Diese Reflektionen der Herausgeberinnen und Beitragenden werden schließlich in einem Abschlusskapitel zusammengetragen.

1.3 Digitalisierung und Gesundheit aus Sicht der Soziologie der Konventionen – eine Synthese

Die Themen der Beiträge zeigen, dass der Band sowohl Fragestellungen aus der Gesundheitssoziologie als auch der Soziologie der Gesundheit miteinander vereint und dabei soziologische, ökonomische, ethische sowie medientheoretische Forschungsfragen konzeptionell und methodologisch integriert. Neben dieser integrierenden Funktion der EC im Bereich der Gesundheitsforschung wollen wir als Synthese des Sammelbandes drei Schwerpunkte hervorheben, die sich jeweils durch einige der Beiträge ziehen.

1.3.1 Analyse von Zielkonflikten

Eine zentrale Stärke der Soziologie der Konventionen ist die Analyse von Zielkonflikten. Diese Analyse beleuchtet die damit verbundenen Aushandlungsprozesse, aber auch auftretenden Konflikte und ist zentrales Thema in einer Reihe von Beiträgen in diesem Band (vgl. unter anderem Lenz, Gonon, Bartelmeß und Godemann sowie Meidert und Scheermesser).

Die industrielle Koordinationslogik mit ihrer Ausrichtung an Effizienz zeigt sich hier sowohl im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements (vgl. Gonon in diesem Band), in der Entwicklung von Health-Apps (vgl. Lenz in diesem Band) als auch vor allem in Bezug auf die Institutionalisierung von Gesundheit, sei es im Bereich der Gesundheitsberufe (vgl. Meidert und Scheermesser, Streckeisen sowie Gemperle et al. in diesem Band) oder in den entsprechenden Abläufen im Gesundheitssystem beziehungsweise in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (vgl. Streckeisen in diesem Band). Aber spätestens wenn kranke, aber auch gesunde Menschen mit der häufig dominierenden industriellen Qualitätskonvention konfrontiert werden, kann es zu Konflikten kommen, da diese Personen selbst weitere Qualitätskonventionen ins Spiel bringen können (vgl. unter anderem Meidert und Scheermesser, Noji et al. und Achatz und Selke in diesem Band). Für die daraus entstehenden Aushandlungsprozesse und Konfliktsituationen müssen dann Kompromisse gefunden werden.

Manche Beiträge sprechen auch direkt oder indirekt eine „Gesundheitskonvention“ an, die möglicherweise im Entstehen ist. Dabei beziehen sich einige auf Tamar Sharon (2016) und der von ihr beschriebenen „gesunden“ oder „vitalen“ Konvention. Wie die Entwicklung der Qualitätskonventionen gezeigt hat, ist der ursprüngliche „Kanon“ von sechs Qualitätskonventionen (Boltanski und Thévenot 2007) nach und nach durch zwei weitere Qualitätskonventionen, die Projektkonvention (Boltanski und Chiapello 2006) sowie die grüne Konvention (Lafaye und Thévenot 1993; Lafaye et al. 2011) erweitert worden. Inwieweit Fragen der Gesundheit, des Lebens, der Vitalität und der Selbstsorge unter Umständen analog zu sehen sein können mit der Entstehung einer grünen Konvention um die zentralen Begriffe des Umweltschutzes, des (Umwelt-)Aktivismus, der Nachhaltigkeit sowie der Natur kann hier nicht abschließend betrachtet werden, da keiner der Beiträge dieser Frage dezidiert nachgeht. Der Fokus dieses Bandes liegt vielmehr darauf, die Rolle der Regime des Engagements im Gesundheitsfeld sowie die Koordinierungslogiken der anderen Qualitätskonventionen zu untersuchen. Auf Basis dieser Erkenntnisse wäre nun weitergehend zu klären, ob das Moment der Selbstsorge und Vitalität sich nicht nur in individuellen Alltagspraktiken, sondern Sharon folgend auch institutionell soweit verbreitet, dass damit eine „neue“ Rechtfertigungsordnung entsteht.

Die EC hat sich somit als theoretisch und empirisch hilfreich erwiesen, situative Handlungslogiken, die unterschiedliche Grade an Institutionalisierung und Kollektivierung aufweisen, zu untersuchen. Einige der Beiträge schauen sich beispielsweise Plattformen oder andere digitale Technologien an und untersuchen die darin getätigte Forminvestition, deren Einfluss auf und Einbindung in Alltagspraktiken und Qualitätskonventionen (vgl. Cappel in diesem Band). Aber dadurch werden immer nur Machtaspekte in der jeweils ausgewählten spezifischen Situation betrachtet, was den Blick auf weiterführende Zusammenhänge aber auch ansonsten klassische soziologische Fragen der Ein- bzw. Ausgrenzung, zu Schließungsprozessen oder Ungerechtigkeit schwer anschlussfähig macht. Diese Anschlüsse zwischen der situativen Soziologie der Konventionen und stärker struktur- und akteurszentrierten Ansätzen sind jedoch wichtig, um Perspektivwechsel zwischen Machtaspekten und situativer Koordination zu ermöglichen. Am Beitrag von Reichert et al. wird dieser Versuch zumindest teilweise unternommen, um somit den Mehrwert der EC für die Medientheorie darzustellen.

1.3.2 Für eine (Wieder-)Entdeckung der Regime des Engagements

Der Band weist eine erstaunliche methodische Vielfalt auf, die sowohl quantitative Studien als auch qualitative Ansätze wie Interviews, Fokusgruppen oder ethnographische Selbstbeobachtungen einschließt. Dies lässt sich insbesondere durch die spezifische, methodologische Position der EC erklären. Aufgrund ihrer Entwicklungsgeschichte und den damit verbundenen Einflüssen des strukturalistischen Denkens und des pragmatic turns in den französischen Sozialwissenschaften, nimmt die EC einen spezifischen, methodologischen Standpunkt ein. Als methodischer Holismus kann sie als eine vermittelnde Position zwischen einem methodologischen Individualismus (MI) und einem methodologischen Holismus (MH) verstanden werden (Diaz-Bone 2018, S. 367 f.). Von diesem Standpunkt aus sind weder Strukturen noch Akteure und deren Handlungsentscheidungen das Ziel der Analyse. Vielmehr rückt die Logik der Koordination von realen Situationen in den Fokus und damit sowohl strukturierende als auch situative Elemente. So soll versucht werden die Situation „von innen heraus“, also aus Sicht der beteiligten Akteure, zu verstehen und gleichzeitig die dabei wirkenden Strukturierungsprinzipien zu erkennen (Diaz-Bone 2018, S. 374). Denn die Koordinationsbemühungen der Akteure sind auf die Strukturierung der Situation angelegt und die Akteure sind auch erfolgreich darin. Allerdings heißt dies nicht, dass sie in ihren Koordinationsbemühungen auch vor Kritik „gefeit“ sind (Knoll 2015, 2017). Konventionen können sich nämlich in Situationen wiedersprechen und stellen damit jeweils auch füreinander eine potenzielle Kritik dar. Die Objekte und Institutionen einer Situation sind dann auch in der Lage die Gültigkeit oder Kritik bestimmter Konventionen zu stützen (Knoll 2015, S. 11 ff.). So bilden einerseits Konventionen als Koordinationslogiken sowie Objekte und Formen strukturbildende Elemente in einer Situation. Andererseits wird Akteuren aber auch die Fähigkeit zugesprochen, solche strukturgebenden Elemente erkennen und flexibel und situativ mit ihnen umgehen zu können. Nimmt man nun diese methodologische Position eines methodischen HolismusFootnote 12 ernst, hat dies Konsequenzen für den Forschungsprozess. So müssen ForscherInnen ihre empirischen Forschungsstrategien auch an diesen ontologischen Annahmen über die Beschaffenheit der Welt ausrichten und ihre Forschungsinstrumente kohärent dazu auswählen. Hier wird dann deutlich, dass es insbesondere der gemeinsam geteilte, methodologische Standpunkt ist, der die Forschungsarbeiten der EC auszeichnet (Diaz-Bone 2018, S. 369). Die angewendeten Forschungsinstrumente wie Interviews, Fokusgruppen oder ethnographische Selbstbeobachtungen können daher je nach Fragestellung und Fokussetzung der Analyse stark variieren. Im Sinne dieses methodischen Holismus versucht der vorliegende Band also vor allem die Kohärenz zwischen den theoretischen Annahmen der EC, unterschiedlichen empirischen Forschungsstrategien zur Untersuchung sozialer Praktiken und Strukturen sowie verschiedenen Forschungsinstrumenten der Datenerhebung und Datenanalyse herzustellen (Diaz-Bone 2018, S. 369).

Eine Schwierigkeit beziehungsweise Gefahr, die sich in der Begutachtung und Überarbeitung einiger Beiträge dargestellt hat, ist dabei ein rein metaphorischer Umgang mit Konventionen als analytische Hilfskonstrukte im Sinne einfacher sozialer Normen. Denn um den methodischen Holismus ernst zu nehmen, müssen dann auch die vielschichtigen theoretischen Grundlagen, die den Konventionen in der EC zugrunde liegen, beachtet werden. Das Konzept der Konventionen lässt sich demnach nur kohärent anwenden, wenn es auch in Übereinstimmung mit der dahinterliegenden Ontologie, als Teil einer Situation aufgefasst wird und diese das Ziel der Analyse ist. Nur so schließt sich dann der oben genannte Kreis zwischen Theorie, Ontologie der sozialen Welt, empirischen Forschungsstrategien, sozialen Praktiken und Forschungsinstrumenten. Diese Wechselwirkung zwischen Empirie, Reflektion und Theorie ist gerade für die EC von zentraler Bedeutung, da sie sich eben gerade nicht auf gegebene und stabile soziale Strukturen oder Gruppen erklärend stützt (Diaz-Bone 2018, S. 380).

Dieses anspruchsvolle aber bereichernde Wechselspiel zwischen Theorie, Empirie und Praxis kann in dem hier vorliegenden Band besonders gut an der Weiterentwicklung des Konzepts der Regime des Engagements gesehen werden, das in einer Reihe von Beiträgen empirisch und theoretisch diskutiert wird (vgl. Diaz-Bone, Cappel, Noji et al., Scaria und Hiden, Achatz und Selke). Diese von Laurent Thévenot beschriebenen Regime des Engagements sollen die Qualitätskonventionen ergänzen, um auch Praxisformen erfassen zu können, die nicht rechtfertigungsmöglich oder rechtfertigungsfähig sind (Thévenot 2011a, b, 2014; vgl. Diaz-Bone in diesem Band). Mit Blick auf den methodologischen Standpunkt der EC richtet diese Konzeption der Regime dann den Fokus etwas stärker auf die Rolle der Akteure in einer Situation. Trotzdem werden auch diese methodologisch und forschungsstrategisch nie isoliert von der zu analysierenden Situation und damit auch von strukturierenden Qualitätskonventionen betrachtet. Derzeit sind sie jedoch sowohl theoretisch als auch empirisch weit weniger ausgearbeitet und „beforscht“ als die Qualitätskonventionen. Dieser Band leistet dahingehend einen wichtigen Beitrag, gerade diese Regime und auch die bisher wenig betrachteten Übergänge zwischen ihnen und Qualitätskonventionen darzustellen. Es geht dabei gerade nicht um eine Gegenüberstellung von angeblich „öffentlichen“ Qualitätskonventionen mit „privaten“ Regimen des Engagements. Fragen der Gesundheit, des Körpers oder der Ernährung erfordern vielmehr Aushandlungsprozesse und Praktiken, die die Vielschichtigkeit aus Konventionen und Regimen einschließen und somit auf unterschiedlichen Ebenen sowohl Kontingenzen reduzieren als auch (re-)produzieren können (vgl. Achatz und Selke in diesem Band).

Dabei scheint auch die Digitalisierung die Regime des Engagements als situative Praxisformen stärker hervortreten zu lassen, als dies in bisherigen Forschungsfeldern der EC der Fall war. Denn digitale Technologien in ihrer Funktion als intermediäre Objekte (vgl. Noji et al. und Cappel in diesem Band) scheinen sowohl Qualitätskonventionen zu transportieren (vgl. Lenz in diesem Band) als auch eine Distanzierung von öffentlichen Rechtfertigungen zu ermöglichen durch die Inkorporierung der digitalen Intermediäre in die Regime des Engagements (vgl. Diaz-Bone, Cappel sowie Noji et al. in diesem Band).

Der Band knüpft damit auch an einer wachsenden Anzahl empirischer Arbeiten an, die das Konzept der Regime des Engagements anwenden. Mit diesem Konzept ergeben sich durchaus neue Möglichkeiten, die Fragen (mit-)beantworten zu können, weshalb digitale Technologien weniger angenommen werden oder auch warum manche Praktiken widerständig(er) gegenüber der Digitalisierung sind. Der Band möchte deshalb hier auch einen dezidiert theoretischen und empirischen Beitrag leisten, das Konzept der Regime des Engagements detaillierter zu beschreiben und als feste Größe in der EC wahr und ernst zu nehmen.

1.3.3 Digitalisierung als Untersuchungsfeld der EC

Die Beiträge des Bandes behandeln Digitalisierung auf unterschiedliche Art und Weise. So stellt Lenz digitale Gesundheit als eine „radikalisierte Industrialisierung und Digitalisierung im Dienste neuer Freiräume und technischer Bevormundung“ (vgl. Lenz in diesem Band) vor. Gemperle et al. weisen in dieselbe Richtung, wenn sie eine „Assoziation von digitalen Medien mit der Effizienzlogik“ (Gemperle et al. in diesem Band) in ihren Daten finden. Cappel hingegen beschreibt, wie durch die Digitalisierungsprozesse sowohl auf einer individuellen als auch auf einer kollektiven Ebene eine neue Koordinationsform der digitalen Alltagsgesundheit eingeführt wird (vgl. Cappel in diesem Band). Mit Bezug auf Qualitätskonventionen und den Regimen des Engagements macht sie dabei aber systematisch deutlich, wann eine digitale Alltagsgesundheit relevant werden kann und wann sich Akteure dieser widersetzen. Achatz und Selke sprechen in ähnlicher Weise von einem Kontingenzdilemma, geprägt durch die „Reduktion individueller Handlungskontingenz und (die) (Re-)Produktion lebensweltlicher Kontingenz“ (vgl. Achatz und Selke in diesem Band). Noji et al. untersuchen indessen die spezifische Forminvestition digitaler Selbstvermessungstechnologien und deren Rolle als intermediäre Objekte, ähnlich der Untersuchungen digitaler Plattformen in den Beiträgen von Reichert et al. und Gonon.

Vereinfachend gehen damit alle der Frage nach, welche Rolle digitale Technologien und Prozesse für die Gültigkeit und Relevanz von Qualitätskonventionen und Regime des Engagements spielen und wie neue Forminvestitionen das Gefüge von Qualitätskonventionen verändern können. Ergeben sich dadurch neue Aushandlungsprozesse oder werden schon existierende Konflikte bestärkt bzw. abgeschwächt?

Digitalisierung kann nicht als ein einheitlicher Prozess gesehen werden, aber ihre Verbindung mit und somit Stärkung der industriellen Konvention zeigt sich beispielsweise in einer Reihe von Beiträgen. In den Beiträgen von Achatz und Selke, bei Lenz und auch bei Cappel wurde insbesondere die Intransparenz von Konventionen in neuen Technologien beschrieben und problematisiert. Gerade die Intransparenz von relevanten Konventionen kann schließlich dazu führen, dass es einerseits zu Widerständen und Brüchen bei der Nutzung digitaler Technologien kommen kann (vgl. Noji et al. und Cappel in diesem Band), andererseits aber auch zur digitalen Benachteiligung vulnerabler Gruppen (Selke und Achatz in diesem Band). Es scheint folglich, dass die Digitalisierung im Feld der Gesundheit stark im Sinne der industriellen Konvention wirkt. Zu fragen bleibt aber dennoch, wie dominierend diese standardisierende und effizienzsteigernde Form der Digitalisierung tatsächlich ist und sein muss. Kann sie somit bereits als Dispositiv, Forminvestition oder Intermediär in einer industriellen Logik wirken oder bilden vielmehr auch weitere Koordinationslogiken relevante Begründungszusammenhänge für Digitalisierungsprozesse? Diese Spannung zwischen einer unter Umständen miss- und zu eng verstandenen Koordinations- und Rechtfertigungslogik der Digitalisierung und der Offenheit und Kontingenz gesellschaftlicher Probleme und Situationen, die sich eben nicht auf eine einzige Rechtfertigungsordnung reduzieren lassen, spricht Manuel Castells im folgenden Zitat an:

Die Frage ist nicht die Technologie, sondern sie betrifft die Organisationen, Unternehmen und Institutionen, die die Technologie in der Praxis möglich machen. Wie können wir an eine virtuelle/reale Schule denken, wenn wir Internet im Klassenzimmer kaum nutzen? Wie können wir von einem virtuellen Operationssaal träumen angesichts der Wartelisten, die wir haben? Wie können wir uns eine Kultur vorstellen, die keine Ware ist, egal wie viel 5G wir einsetzen? Jeder technologische Fortschritt offenbart noch mehr unsere soziale Rückständigkeit. (Castells 2019, Übersetzung durch AutorInnen)

Castells folgend betrifft die Frage also weniger das „Was“ der Digitalisierung, sondern vielmehr das „Wie“ und „Wofür“. Dieser Band schlägt hierfür eine pragmatische Analyse von Digitalisierung und Gesundheit vor und führt somit eine neue grundlegende Perspektive in die Gesundheitssoziologie und Soziologie der Gesundheit zumindest im deutschsprachigen Raum ein, die sowohl über zeitdiagnostische Theorien als auch über kausal-theoretische Erklärungen hinausgeht. Die EC bietet als allgemeine sozialwissenschaftliche Theorie konsistent miteinander verbundene pragmatische Konzepte zur soziologischen Analyse von sozialen Institutionen, sozialer Kognition, Handlungen, Interaktions- und Koordinationsprozessen, sozialen Konstruktionen von Sachverhalten sowie sozialen Entitäten und ihren Qualitäten (Diaz-Bone 2018). Diese Konzepte ermöglichen es, den Prozess der Digitalisierung und seiner Auswirkung auf Gesundheit aufzubrechen, greifbar und systematisch analysierbar zu machen. Durch ihren Fokus auf Aushandlungsprozesse und Zielkonflikte rückt die EC somit das „Wie“ und „Wofür“ in das Zentrum der Gesundheitsforschung.