1 Zur Konzeptualisierung von Engagement und Zivilgesellschaft

Einem konsensfähigen Verständnis zufolge bezeichnet freiwilliges, zivilgesellschaftliches oder bürgerschaftliches Engagement eine freiwillige, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtete, in der Regel gemeinschaftlich-kooperativ und mit Gemeinwohlorientierung im öffentlichen Raum ausgeübte konkrete Aufgabe oder Arbeit (Heinze/Olk 2001; Enquete 2002: 38; Alscher et al. 2009: 10; BMFSFJ 2017: 68 ff.).Footnote 1 Damit handelt es sich bei freiwilligem Engagement nicht um gemeinschaftlich ausgeübte Aktivitäten im Sinne eines „Mitmachens“ ohne eine konkrete Aufgabenübernahme, wie es etwa bei der Teilnahme an einem Wettkampf im Rahmen eines Sportfestes der Fall wäre. Ebenso zählt Engagement für Familienmitglieder, Freunde und Bekannte nicht zum freiwilligen Engagement, für das der Bezug auf den öffentlichen Raum der Zivilgesellschaft – jenseits von Staat, Markt und Familie – konstitutiv ist.

Für die Bewältigung gesellschaftspolitischer Herausforderungen, die u. a. Krisen des Sozialstaats, politische Steuerungsverluste, die Folgen von Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen, den demografischen Wandel und dynamische Migrationsprozesse betreffen, wird das freiwillige Engagement der in Deutschland lebenden Menschen seitens der Politik und verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zunehmend für eine essenzielle Ressource gehalten: Engagementbeteiligung – als freiwillige Mitgestaltung und Verantwortungsübernahme – wird in der pluralen Gesellschaft als Gradmesser für Solidarität sowie den sozialen Zusammenhalt aufgefasst (BPA 2007: 20, 29, 173; BPA 2011: 18). Daher erhält die Einbindung der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte seit der Jahrtausendwende in der Integrationspolitik auf allen politischen Ebenen einen großen Stellenwert (BPA 2007: 173; BPA 2008, 2011; BMI/BAMF 2010). Im Ansinnen der Stärkung gleichberechtigter Teilhabe sind zugewanderte Menschen, ihre Nachfahren und Organisationen als wichtige Partner zu unterstützen, zugleich werden ihnen integrative Tätigkeiten abverlangt (BPA 2008: 10). Damit sind die Analyse der Leistungsfähigkeit und zivilgesellschaftlichen Rollen von MSO als Kooperationspartner und bei Prozessen der Integration in den Interessenfokus von Politik und Wissenschaft geraten. Ebenso erhalten religiöse Orientierungen und Motivationen größere und neue Aufmerksamkeit. Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob und inwieweit sich daraus zivilgesellschaftliche Qualitäten entwickeln können. Da sich zivilgesellschaftliche Aktivitäten auf den öffentlichen Raum beziehen und gesellschaftliche Integrationsprozesse befördern sollen, werden demgegenüber Vereine und Organisationen, deren Zweck und Interesse sich ausschließlich auf die Bewahrung kultureller Gemeinsamkeiten, Identitäten und auf damit ggf. gegebene politisch-ideologische Ziele richten, mit Skepsis und aus Problemperspektiven betrachtet (4.1; 4.2).

Aus politikwissenschaftlicher Sicht sind bürgerschaftliche, soziale Orientierungen und Verhaltensmuster wesentliche Bestandteile politischer Kultur und vitaler Zivilgesellschaften. Sie gelten als wichtige Voraussetzungen für die politische Partizipation und damit für die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen (Enquete 2002; Klein 2001, 2011; Klein et al. 2004). Zu bedenken ist dabei, dass Engagementbereitschaft zu großen Teilen davon abhängt, in welcher sozialen Lage sich die Individuen befinden und von welchen zur Verfügung stehenden Ressourcen – materiellen wie nicht materiellen – sie ausgehen können: Menschen mit einem hohen Bildungs- und Einkommensniveau engagieren sich nicht nur sozial, sondern auch politisch stärker als Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau (BMFSFJ 2017: 265; 4.3.3.1). Dies gilt für die Mikro-, aber auch für die Makroebene. So kann auf Basis einer Sekundäranalyse der Daten des European Social Survey (ESS) (2002–2012) im Vergleich der europäischen Länder gezeigt werden, dass in Ländern mit einem hohen Bildungs- und Wohlstandsniveau, wie z. B. in Schweden, sowohl für soziale als auch politische Beteiligungsformen über dem europäischen Durchschnitt liegende hohe Werte festzustellen sind, während z. B. Portugal unterdurchschnittliche Engagementquoten aufweist (Blinkert/Klie 2018). Insofern ist – bezogen auf Deutschland – bei zunehmender sozialer Ungleichheit von disparaten Verfügbarkeiten von Ressourcen, mithin auch von unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu zivilgesellschaftlichen Partizipationsformen auszugehen (Enquete 2002: 48; BMFSFJ 2017: 81, 156 ff.; BMFSFJ 2016: 9; Hradil 2012).

Im Deutschen Freiwilligensurvey, der das zentrale repräsentative Erhebungsinstrument zum freiwilligen Engagement von Personen ab 14 Jahren in Deutschland darstellt, fungiert freiwilliges Engagement als Dachbegriff, dem unterschiedliche Engagementformen subsumiert werden. Diese beziehen sich auf sehr verschiedenartig ausgeprägte Formalisierungsgrade wie EhrenamtFootnote 2, Selbsthilfe oder Tätigkeiten in selbstorganisierten Projekten und Initiativen. Zudem wird im Freiwilligensurvey 2014 zwischen verschiedenen politischen Beteiligungsformen unterschieden.Footnote 3

Andere Formen zivilgesellschaftlichen Handelns, wie z. B. das Spenden von Geld, werden separat erfasst. Dies betrifft auch informelle, unentgeltliche Dienst- und Unterstützungsleistungen von Privatpersonen für Nachbarn, Freunde oder Bekannte. Diese kommen Personen im außerfamiliären sozialen Nahraum, „zu denen persönliche Beziehungen bestehen“, zugute und werden in der Regel in einem weniger formal organisierten Kontext erbracht (Vogel/Tesch-Römer 2016: 251). Sie umfassen instrumentelle praktische Hilfen auf verschiedensten Ebenen, wie die Versorgung von nicht-eigenen Kindern und die Pflege von Personen aus der Nachbarschaft, dem Freundes- oder Bekanntenkreis. Im Unterschied zum freiwilligen Engagement wird ihnen ein eher privater, nicht-öffentlicher Charakter zugeschrieben, wobei Abgrenzungen nicht immer trennscharf vorzunehmen, da die Grenzen fließend sind (Vogel/Tesch-Römer 2016; Simonson et al. 2016a: 28 ff.).

Der für den Engagementbegriff stark betonte, weil als besonders notwendig erachtete Öffentlichkeitsbezug des freiwilligen Engagements, der festlegt, dass die Tätigkeiten über private und Partikularinteressen von Individuen und Gruppen hinausgehen müssen, um als Engagement zu gelten, wird seitens der Wissenschaft und Fachpraxis zunehmend kritisiert. „Denn die starke Betonung von Engagementformen mit sichtbarem Öffentlichkeitsbezug birgt die Gefahr, dass die ‚stillen‘ Formen des Engagements, zum Beispiel in Nachbarschaften und Migranten-Communities, die von den ‚Engagierten‘ selbst nicht unbedingt als Engagement im öffentlichen Raum gewertet werden, nicht wahrgenommen werden“ (BMFSFJ 2016: 44; s. u. a. auch Huth 2006). Insbesondere im Rahmen der Flüchtlingshilfe lassen sich allerdings ein stärkeres politisches und öffentliches Interesse an diesen ‚leisen‘ Engagementformen und deren größere Wertschätzung feststellen.

Engagement kann sich in politiknahen, aber auch in unpolitischen Formen zeigen, z. B. in Bereichen gemeinsamer Geselligkeit, Bildung, Erziehung, Kultur, Religion oder Sport. Um die Vielfalt möglicher Engagementformen konzeptuell zu erfassen und damit den Begriff des Engagements in seinen eigentlichen Ausmaßen zu reflektieren, ist eine Betrachtung von Engagement auf Achsen mit diametralen Endpolen hilfreich. Verschiedenste Formen des Engagements können dann an den jeweiligen Polen bzw. in Zwischenbereichen verortet und bestimmt werden (Evers et al. 2015; BMFSFJ 2017: 68–78).

Es lassen sich sechs Spannungsachsen beschreiben: Engagement als …

  1. (1)

    Freiwilligenarbeit im Sinne praktischer Tätigkeit oder eher in Form (politischer) Für- und Mitsprache;

  2. (2)

    informelles Engagement in lockeren Netzwerken mit unverbindlichen Strukturen oder formell organisiertes Engagement;

  3. (3)

    selbstorganisiertes oder eher professionell organisiertes Handeln;

  4. (4)

    Engagement zur Bewahrung kultureller Muster und Orientierungen oder als Aufbruchs- und Reformbewegung zum Zweck gesellschaftlicher Veränderungen;

  5. (5)

    ein auf Integration und Teilhabe gerichtetes Engagement für Menschen, die von Ausgrenzung bedroht sind („bridging“) oder eher ein sich wesentlich auf die Förderung des Zusammenhalts der eigenen Gruppe beziehendes Engagement („bonding“) (4.2.3);

  6. (6)

    Engagement als Pflege von Kontakten und des sozialen Miteinanders (Geselligkeit) oder eher im Sinne einer bestimmten Zweckorientierung (ebd.).

Die Achsen verdeutlichen, dass eine Person, die sich engagieren will, nicht nur zahlreiche Möglichkeiten hat, wo und wann sie dies tun will bzw. tun kann; auch der Modus ihres Engagements ist Gegenstand einer subjektiven, nach Erfahrung und Beteiligungsbedürfnis bestimmten Auswahl. Diese Auswahl zu treffen machen die Attraktivität, aber auch die Herausforderung des Engagements aus, offenbart aber zugleich auch die Notwendigkeit, dies in freier Selbstbestimmung zu tun, andernfalls kann man sich kaum authentisch für ein Engagement entscheiden.

Zivilgesellschaft: Begriff und Konzept

Die Vielfalt der möglichen Formen von Engagement ist unmittelbar mit Konzept und Begriff der Zivilgesellschaft verknüpft. Der Begriff Zivilgesellschaft meint in der Gegenwart dreierlei: einen bestimmten Bereich der Gesellschaft, eine bestimmte Verhaltens-, Denk- und Handlungsweise sowie etablierte oder noch zu initiierende Selbstorganisationen oder soziale Bewegungen. Das Feld der Zivilgesellschaft betrifft einen gesellschaftlichen Raum zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen sowie privat-familiären Kontexten. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen behaupten sich daneben und dazwischen und können ein neues Feld des Politischen konstituieren. „Zivilgesellschaft“ bezeichnet damit einen inzwischen unverzichtbaren Teilbereich der Gesellschaft, der aber nicht sektoral zu limitieren ist, sondern sich gewissermaßen überall ausdrücken und ansiedeln kann. Die Ausprägung von Zivilgesellschaft ist geschichts-, entwicklungs- und anlassbedingt, freiwillig und akteursbezogen; die Begriffe des Akteurs und des Engagements sind zentral. Denn es sind die Akteure, die sich als situativ Betroffene aufgefordert sehen, sich zu engagieren, eine Initiative zu entwickeln, einen Verein zu gründen, sich mit Protest und Plädoyer einzumischen in Vorgänge und Debatten, die ein Teil des öffentlichen Lebens sind. Dabei ist die Tatsache, dass es die Akteure selbst sind, die sich zu einer Initiative entschließen, ein Zeichen dafür, dass sie von der Berechtigung und Notwendigkeit des Eintretens für ein je spezifisches Anliegen überzeugt und zu handeln bereit sind. In demokratisch verfassten Gesellschaften ist „zivil“gesellschaftliches Verhalten erwünscht und wird als unerlässlich erachtet.

Aus historischer Perspektive wurden mit „Zivilgesellschaft“ sehr unterschiedliche Überlegungen verbunden. Einerseits ging es um (divergierende) Verhältnisbestimmungen zwischen Zivilgesellschaft und Staat bzw. Demokratie; andererseits ging es auch um Entwürfe von zukünftig wünschenswerten Ideal-Zuständen (Adloff 2005: 15). Theoretische Konzeptualisierungen von Zivilgesellschaft fielen aufgrund ihrer Einbettung in verschiedene Welt- und Gesellschaftsbilder variationsreich aus: herrschaftskritisch, reformerisch-progressiv, radikaldemokratisch, kämpferisch oder utopisch (Klein 2001; Jessen et al. 2004; Adloff 2005; Thiery 2011).Footnote 4

Unabhängig von diesen unterschiedlichen Konturierungen ist unübersehbar, dass „Zivilgesellschaft“ in den letzten beiden Jahrzehnten in Politik, Medien und Sozialwissenschaften zu einem neuen Mode- und Signalbegriff mit großem Karrierepotenzial avanciert ist – nicht zuletzt aus Gründen neuer Erwartungen und Rollenverständnisse: Staat und Gesellschaft in ihrer klassischen Verfasstheit scheinen überfordert, die Probleme der Gegenwart zu lösen.

Wenn nun „Zivilgesellschaft“ in verschiedenen Kontexten unterschiedlich aufgefasst und verwendet wird, liegt es nahe, ihre Verbindungen zu den Verortungen des Engagements genauer zu prüfen. Dies soll hier dadurch geschehen, dass zivilgesellschaftliches Handeln ins Verhältnis gesetzt wird

  1. 1.

    zum „Dritten Sektor“ (Organisationen, die weder dem Staat noch dem Markt zugeordnet werden können),

  2. 2.

    zu einer öffentlichen Sphäre und einem intermediären Bereich sowie

  3. 3.

    zu einer „zivilen“ Gesellschaft (BMFSFJ 2017: 79–83).

(1) In bereichsbezogener Herangehensweise wird Zivilgesellschaft als ein gesellschaftlicher Teilbereich verstanden, der zwischen dem Staat, der Wirtschaft und dem privaten Bereich (Familie) zu verorten ist. Dieser Zwischenraum wird häufig auch als „Dritter Sektor“ bezeichnet, der staatlich unabhängige, auf freiwilliger Basis und nicht profitorientiert agierende gesellschaftliche Selbstorganisationen, die sogenannten „Non-Profit“- oder „Nichtregierungsorganisationen“, umfasst (Zimmer 2012: 354). Die auf wirtschaftliche Gewinne ausgerichteten Privatorganisationen des Marktes werden i. d. R. nicht der Zivilgesellschaft zugeordnet. Dies schließt jedoch nicht aus, dass Wirtschaftsunternehmen (wie auch staatliche Einrichtungen) freiwilliges Engagement einbinden und tragen können. Demgegenüber werden die Selbstorganisationen (Assoziationen, Vereinigungen oder Verbände) als zivilgesellschaftliche (Kollektiv-)Akteure bezeichnet. Diese sind durch Pluralismus und Konkurrenz charakterisiert, sie vertreten – und ringen um – unterschiedliche Meinungen, Ideen, Werte, Weltanschauungen und beeinflussen damit das soziale und politische Handeln (Adloff 2005: 8; Gosewinkel 2010) nicht nur ihrer Mitglieder, sondern aller, die als Adressaten infrage kommen. Damit sich solche Organisationen gründen können, sind ermöglichende Rahmenbedingungen, v. a. rechtsstaatliche Garantien wie die Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit sowie Menschen- und Bürgerrechte wichtige Voraussetzungen (ebd.; Enquete 2002: 33; Zimmer 2012: 356; Janoski 1998: 12 ff.). Sind diese Vorbedingungen nicht gegeben, kann sich organisiertes zivilgesellschaftliches Engagement nur schwer entwickeln.

(2) Engagement muss jedoch nicht zwangsläufig nur in Strukturen des Dritten Sektors stattfinden. Es kann sich gewissermaßen auch ungebunden und außerhalb einer festen Organisationsform artikulieren. Soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen oder -rechtsgruppen, Protestaktionen, Petitionen und Boykottmaßnahmen gehören ebenso zur Zivilgesellschaft. Dieser intermediäre öffentliche Bereich – die öffentliche Sphäre – ist schwerer zu fassen, weil die Engagementformen hier weniger eindeutig zu verorten und greifbar sind (BMFSFJ 2017: 80). In dieser Sphäre werden bestimmte Anliegen vorgebracht, Forderungen werden lautverstärkend kundgetan und mit gegnerischen Positionen verhandelt. Solche Auseinandersetzungen entwickeln in Konfrontationen und Diskussionen – diskursiv wie emotional – regelmäßig erstaunliche Dynamiken, die auch in kompletten Zerwürfnissen enden können. Die Relevanz dieser Sphäre zeigt sich gegenwärtig, z. B., in fortwährend stattfindenden Aushandlungsprozessen von Zugehörigkeiten, Anerkennungs- und Teilhabefragen, nicht nur von Zugewanderten und Geflüchteten, aber v. a. dieser. Dabei können Interessen und Identitäten einzelner Gruppen dominieren, mit der Gefahr, dass Dialogbereitschaften vorübergehend oder andauernd beendet werden. Es zeigt sich dabei auch, dass Loyalitäten gegenüber Verfassung und Demokratie nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden können, wie es bei rechtspopulistischen und rechts- wie linksextremistischen Gruppierungen zu beobachten ist (ebd.).

(3) Das „Zivile“ an Engagement und Zivilgesellschaft – ihre „Zivilität“ – führt in einen handlungsbezogenen normativen Bereich mit wertegebundenen Grundsätzen (Kneer 1997; Evers 2009). Zivile Grundhaltungen verkörpern sich in Verhaltensmodi, Werthaltungen und Maßstäben, die allesamt auf eine „gute“ Gesellschaft bezogen sind, in der Merkmale von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Respektierung der Menschenwürde, Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz gegenüber Andersdenken propagiert, eingeübt und realisiert werden (können) (Enquete 2002: 59; Gosewinkel 2010; Zimmer 2012: 354, 356). Auch die Teilhabe möglichst vieler Gesellschaftsmitglieder soll eingelöst werden (Alexander 2006: 31 ff.; Honneth 2013: 294, 296), was in Geschichte und Gegenwart im höchst unterschiedlichen Ausmaß der Fall (gewesen) ist.Footnote 5 In einer plural aufgestellten (Zivil-)Gesellschaft, in der unterschiedliche soziale Interessen und politische Meinungen vertreten werden, ist die Umsetzung von zivilen Umgangs- und Interaktionsformen mit enormen Herausforderungen verbunden, die ohne einen „normativen Basiskonsens“ (Thiery 2011: 704) zum Scheitern verurteilt wäre. Engagement zu qualifizieren bedeutet letztendlich, Gewalt zu delegitimieren, Zivilität zu kultivieren und zu stärken (Enquete 2002: 58 f.).

Vor diesem Hintergrund ist herauszustreichen, dass auch Religionsgemeinschaften bzw. religiöse Überzeugungen ihren Platz in der Zivilgesellschaft haben. Deutlich wird dies an kollektiven (zivil-)gesellschaftlich wirksamen Aktivitäten, wie karitativen Dienstleistungen, diakonischen Angeboten, im Rahmen der Flüchtlingshilfe oder politischer Mitgestaltung und dem Eintreten für die Achtung der Menschenrechte.

In einer von Modernisierungsprozessen, Säkularisierung, Pluralisierung, demografischem Wandel und Ausdifferenzierung stark geprägten Gesellschaft positionieren sich Kirchen und Religionsgemeinschaften neu; ihre Akzeptanz und Attraktivität scheinen im 21. Jahrhundert somit insbesondere in ihren zivilgesellschaftlichen Funktionen zu liegen. Relevant sind in diesem Kontext die starke Bedeutung und Wirksamkeit von Religion in der Öffentlichkeit und in den Medien, die den mit der Säkularisierungsthese beanspruchten Bedeutungsverlust von Religion abschwächen und die auf die Rolle von Religion bzw. der Kirchen als zivilgesellschaftliche Akteure in demokratischen Systemen mit politischen Kulturen verweisen (Casanova 1994; Habermas 2001; Habermas/Ratzinger 2005). Religion, religiöse Beweggründe und Erfüllung der eigenen Mission haben die Zivilgesellschaft als Arena; sie entfalten dort ihre öffentliche Geltung: „Religiöse Traditionen können […] ihre Vorstellungen von Gemeinwohl, Gerechtigkeit, Solidarität und gutem Leben in den öffentlichen Diskurs einbringen […] [und] dafür sorgen, dass Wertfragen, Wahrheitsfragen und Themen kultureller Bindung nicht aus den zivilgesellschaftlichen, öffentlichen Diskursen herausgedrängt werden“ (Gabriel 2008: 18; vgl. auch Casanova 1996: 191). Insofern fördern und begleiten sie normative und ethische Grundlagen, von denen die Zivilgesellschaft als solche getragen wird (ebd.: 19; s. auch Böckenförde 2000: 112; Nolte 2009: 10 f.).

Die Zivilgesellschaft ist folglich auch ein Raum, in dem religiöse Traditionen und Organisationen wirken, indem sie (Werte-)Debatten und Veränderungsprozesse anstoßen sowie politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse beeinflussen können. Religion fungiert damit zugleich als Ressource von Zivilgesellschaft und als Quelle von Sozialkapital (4.2.4). Dabei muss diese Aussage jedoch insofern eingeschränkt werden, als sie hochgradig abhängig ist von einem jeweils vorzufindenden und sich im Einzelfall stark unterscheidenden Verhältnis von Religion (Kirche), Zivilgesellschaft und Staat und dessen rechtlicher und politischer Ausgestaltung (Liedhegener/Werkner 2011b: 28).

Für Deutschland bleibt festzuhalten, dass eine vitale Zivilgesellschaft ohne die zivilgesellschaftlichen Qualitäten – das Engagement – von Akteuren mit religiösen Überzeugungen, die Gelegenheiten für Kooperationen und „bürgerschaftliches“ Handeln eröffnen und nutzen, schwer vorstellbar ist. Eine strikte Trennlinie zwischen Religion und Zivilgesellschaft vornehmen zu wollen, wird empirischen Phänomenen daher nicht gerecht (ebd.: 12 f., 28). Die Rolle von Religion in der Öffentlichkeit als „öffentliche Religion“ betrifft in Deutschland v. a. auch die bundesdeutsche Integrationsdebatte, die auch die Frage des Engagements insbesondere von Muslimen und deren Selbstverständnis als zivilgesellschaftlich Handelnde betrifft (Haug et al. 2009; Halm et al. 2012a). In Hinblick auf ihre (Selbst-)Verortung in der Zivilgesellschaft werden (theologische) Selbsteinschätzungen und Entwicklungsprozesse bei einzelnen religiösen Traditionen und ihren Vertretern freilich sehr unterschiedlich ausfallen (Graf Strachwitz 2019).

Einen allgemeinen Konsens über den gesellschaftlichen Wert der in verschiedenen Bereichen stattfindenden Engagementformen herzustellen erscheint unmöglich. Ganz basal rückt in diesem Zusammenhang die Frage nach der „Gemeinwohlorientierung“ in den Blick, die eines der fünf Kriterien der Engagementdefinition ausmacht und die normative Aufladung des Begriffs verdeutlicht. Welche der jeweils praktizierten Engagementformen können als „gemeinwohlorientiert“ gelten? Grundsätzlich wird immer umstritten und zum Teil schwer überprüfbar sein, welche Aktivitäten gemeinwohlbezogen und gemeinschaftsstiftend sind. Daher werden (im Freiwilligensurvey) die Intentionen der handelnden Personen vorausgesetzt bzw. das Selbstverständnis und die Ziele von Organisationen berücksichtigt, und es wird davon ausgegangen, dass persönliche mit gemeinwohlorientierten Interessen einhergehen können (Simonson et al. 2016a: 28; 2016b: 72; III. 7.2.2).

Grundsätzlich ist es schwierig, spezifische Ausrichtungen von Beteiligungsformen in „zivil“ oder „unzivil“ einzuteilen, zumal es fließende Übergänge gibt (Pollack 2004: 31). Weder populistische Kundgebungen noch „Pegida“Footnote 6-Demonstrationen können von vornherein aus der Zivilgesellschaft herausdefiniert und damit ausgeschlossen werden (BMFSFJ 2017: 78). Allerdings bedarf es der Grenzziehungen und der Konturierung eines positiven Verständnisses von Zivilgesellschaft, da einige zivilgesellschaftliche Beteiligungsformen kritisch oder gar als gefahrvoll für demokratische Verfassungen und politische Stabilität zu betrachten sind. Dies ist auch bezüglich politischer Entscheidungen, welches Engagement förderwürdig ist und welches nicht, von Relevanz (BMFSFJ 2017, BR-Stellungnahme: 15 f.). Menschenverachtende Formen zivilgesellschaftlicher Beteiligungen, wie sie etwa in islamistischen oder rechtsextremistischen Gruppierungen zu beobachten sind, sind folgerichtig aus dem normativ-positiv konnotierten Engagementbegriff herauszudefinieren und den unzivilen – „dunklen“, „braunen“ oder „schmutzigen“ – Seiten der Zivilgesellschaft zuzuordnen (Roth 2004; Evers 2009; Bundschuh 2012; Geiges et al. 2015).

Insofern kann die Festlegung von zivilen Verhaltensstandards sowohl für öffentliche als auch private Bereiche Orientierung geben. Gemäß den bereits genannten Kennzeichen einer „guten“ Gesellschaftsordnung betreffen diese handlungsanleitenden Maßstäbe und Merkmale von „zivilen“ im Gegensatz zu „unzivilen“ Verhaltensformen u. a die Achtung der Menschenwürde, der Meinungsfreiheit, der Gleichheit und Gewaltlosigkeit und den Respekt vor pluralen Lebensformen (BMFSFJ 2017: 81 f., 214; Enquete 2002: 59). Diese Prinzipien bzw. Dispositionen werden ermöglicht und sozialisiert durch staatliche Anreizstrukturen und Opportunitätsstrukturen für Engagement, die die Etablierung zivilgesellschaftlicher Strukturen gewährleisten (Pollack 2004: 36). Insofern setzt ein „ziviler“ gesellschaftlicher Handlungsrahmen Anreiz- und Möglichkeitsstrukturen für Engagement, indem sich staatliche Institutionen Grundprinzipien eines demokratischen Gemeinwesens verpflichtet wissen, d. h. dass sie die fundamentale Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit, der Sicherstellung von Grundfreiheiten, Gewaltfreiheit, von Partizipationsmöglichkeiten und „auch Sozialstaatlichkeit für Chancen der Ausbildung gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten, ziviler Orientierungen und entsprechenden Engagements [anerkennen]“ (BMFSFJ 2017: 82; s. auch Enquete 2002: 59). In autoritär regierten Staaten, in denen zivilgesellschaftliche Beteiligungsformen und Einflussnahmen unterdrückt oder verfolgt werden, sind deren Entfaltungsmöglichkeiten prekär, da ein ausbalanciertes Verhältnis der Zivilgesellschaft zum Staat sowie ermöglichende Rahmenbedingungen – die im folgenden Kapitel (3.2) konkretisiert werden – fehlen (Thiery 2011: 704; vgl. Janoski 1998: 12 ff.).

Angesichts der bereits erwähnten gesellschaftspolitischen Herausforderungen, die u. a. mit politischen Steuerungsverlusten, Krisen des Sozialstaats, der globalisierten Marktwirtschaft und einer wertepluralisierten Gesellschaft in Verbindung stehen, erhält das Verständnis von Zivilgesellschaft als ein normatives (Handlungs-)Konzept für die Weiterentwicklung der Demokratie und die Verbesserung der Gesellschaft großen Zuspruch. Sprachliche Verlautbarungen und Verschriftlichungen erwecken bisweilen den Anschein, dass die mit zivilgesellschaftlichem Engagement verbundenen normativen Maßstäbe und Ansprüche zu einem leitenden Paradigma für die Herstellung von gesellschaftlichem Zusammenhalt und die Verwirklichung einer integrierten deutschen Gesellschaft geworden sind. Die mit dem Konzept von Zivilgesellschaft assoziierten und erhofften sozialen und politischen Phänomene gehen einher mit demokratietheoretischen Vorstellungen, dass eine intakte Zivilgesellschaft eine wichtige Bedingung für die Robustheit und Vitalität von Demokratie und für Problembewältigungen ist (Enquete 2002: 24, 33, passim; Heinze/Olk 2001; s. auch Alscher et al. 2009: 11, 16 f.). Diese Auffassungen scheinen in der Tradition von Tocquevilles (1985/[1840]) Faszination für die (durch ihn idealisierend beschriebene) US-amerikanische Zivilgesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu stehen und auf die Betrachtung von Vereinen als Orte, an denen demokratische Verhaltens- und Verständigungsweisen sowie Bürgertugenden erlernt werden (Zimmer 2007: 78), zurückzugehen. Jedoch sind Annahmen, dass eine vitale Zivilgesellschaft und ein vielfältiges Assoziationswesen automatisch zur Funktionsfähigkeit und Stärke demokratischer Systeme sowie gesellschaftlicher Integrationsprozesse beitragen, leichtgläubig und nicht plausibel und sie sind daher kritisch und differenziert zu betrachten. Skepsis ist geboten, besonders aus historischer Perspektive, wenn man z. B. an die äußerst ideologisch ausgerichteten, exkludierenden und demokratiegefährdenden Vereinigungen der Weimarer Republik denkt (Berman 1997). Für die Konsolidierung und Stabilität von Demokratien scheinen vielmehr harte außerzivilgesellschaftliche Faktoren wie gefestigte demokratische und rechtsstaatliche Institutionen, ein effektives staatliches Gewaltmonopol sowie ein hohes Maß an sozialer und wohlfahrtsstaatlicher Absicherung wichtige Voraussetzungen zu sein (Pollack 2004: 31 f.; Merkel 2000; Blinkert/Klie 2018; Janoski 1998).

Ob die demokratische Praxis der westlichen Gesellschaften, insbesondere ihre Fähigkeit zur Integration, durch Formen des Engagements, wie sie in diesem Kapitel aufgeführt wurden, erweitert und verbessert werden, ist damit nicht allein eine Frage normativer Maßstäbe, sondern der Vitalität vielgestaltiger Prozesse, in denen schon aus Gründen der Pluralität von Einflüssen und Positionen normative wie nicht-normative Maßstäbe eine Rolle spielen.

2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Im Rahmen dieser Arbeit wird die zivilgesellschaftliche Performanz der MSO entlang organisationsinterner, externer und relationaler Aspekte auf der Mesoebene analysiert. Von besonderem Interesse ist dabei, inwieweit zwischen den religiösen und säkularen Vereinigungen Unterschiede festzustellen sind. Wenngleich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Aktivitäten bzw. Selbstorganisierung nicht den Untersuchungsfokus bilden und sie empirisch nur teilweise Berücksichtigung finden, sollen sie zumindest als Theoriegebäude reflektiert werden, in ihrer Komplexität allerdings reduziert und stark zusammengefasst. Denn neben individuellen (4.3.3.1) und organisationsbezogenen Merkmalen – wie Größe, Ressourcenausstattung, Organisationsdemografie, lokale Verankerung der MSO (4.3) – spielen selbstverständlich auch Faktoren auf gesellschaftlicher Ebene eine Rolle, welche die Bereitschaft beeinflussen, sich zu organisieren und sich als Kollektivakteur einzubringen. Für die Relevanz dieser Rahmenbedingungen soll im Folgenden sensibilisiert werden. Denn es sind diese Rahmenbedingungen bzw. makrosozialen Merkmale, die in der Summe zivilgesellschaftliche Aktivitäten, deren Ausrichtungen und Ausmaße mitbestimmen. In Deutschland sind sie auf subnationaler Ebene zum Teil sehr unterschiedlich ausgeprägt und es lassen sich erhebliche regionale und lokale Disparitäten feststellen. Allerdings können aufgrund des komplexen Zusammenspiels der Rahmenfaktoren keine eindeutigen kausalen Wirkmechanismen identifiziert werden: Ihre Effekte auf die zivilgesellschaftlichen Performanzen der MSO sind in verschiedene Richtungen denkbar. Angesichts der Gemengelage von sich in differenten Intensitätsgraden manifestierenden – und durch die Akteure unterschiedlich wahrgenommenen – gesellschaftlichen Bedingungen ergeben sich ermöglichende, anregende oder eher restringierende Handlungsrahmen.

Allgemein lassen sich diese Kontextbedingungen in kulturelle und strukturelle Größen einteilen: Erstere umfassen bestimmte gesellschaftlich vorherrschende, entsprechend propagierte und implizit oder explizit geteilte kulturelle Werte (Schwartz 1994; Hofstede 2001; Inglehart 2003), die sich auf demokratische Prinzipien (Halman 2003), deren Herleitung und Geltungsanspruch beziehen und die mit Vorstellungen darüber verknüpft sind, was eine gute Gesellschaft ausmacht und wie sie sein soll. Strukturelle Faktoren betreffen politische, ökonomische, rechtliche, soziale, demografische und religiöse Kontexte.

Staat und Zivilgesellschaft gehen, historisch gesehen, ganz unterschiedliche Verbindungen ein, je nach Interessenlagen und politischen Abhängigkeiten. Einige Kontextbedingungen sind aktiv durch unterschiedliche Politikfelder gestaltbar bzw. regulierbar. Gesetzgeberische Initiativen, spezifische Fördermaßnahmen vonseiten des Staates, die Verleihung von Privilegien oder kooperative Aktionsfelder, in denen Staat und zivilgesellschaftliche Organisationen gewissermaßen koalieren (z. B. in Integrationsfragen oder im Umweltschutz) können Rollenverständnisse und Politikfelder (neu) begründen bzw. gestalten.

Grundsätzlich können sich vitale Zivilgesellschaften und differenzierte Formen von Engagement – im Sinne praktischen Tuns für gemeinwohlbezogene Belange als auch in Form politischer Für- und Mitsprache – offenbar am besten in Gesellschaften entfalten, die liberal-demokratische Prinzipien sowie materielle und politische Sicherheit gewährleisten (Halman 2003; Pollack 2004; Blinkert/Klie 2018). Allerdings muss die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Elemente nicht zwangsläufig mit dem Vorhandensein demokratischer Strukturen korrespondieren (3.1). Manchmal scheint das Gegenteil der Fall, wie dies beispielsweise der antitotalitäre Kampf der ostmitteleuropäischen Bürgerrechtler und Dissidenten gegen kommunistische Regimes und für kulturell-gesellschaftliche Freiheiten und Handlungsräume in den 1960er/70er Jahren oder die oppositionellen Bürgerrechtsgruppen in den gesellschaftlichen Um- und Aufbrüchen 1989/90 gezeigt haben (Adloff 2005: 10; Klein 2001: 36; Pollack/Wielgohs 2010). Offenbar sind auch politische, ökonomische und soziale Krisen innerhalb erstarrter Gesellschaften ein guter Nährboden für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Kräfte, wenngleich ihre Entfaltungsmöglichkeiten unter restriktiven, nicht demokratischen Bedingungen deutlich eingeschränkt sind.

Vor dem Hintergrund dieser Vorbemerkungen lassen sich im Folgenden sechs zentrale theoretisch und empirisch fundierte Rahmenfaktoren identifizieren, die sich je nach ihren Ausprägungen eher fördernd oder hemmend auf zivilgesellschaftliche Einstellungen und Performanzen auswirken können.

Zu den förderlichen Voraussetzungen zivilgesellschaftlicher Entwicklung gehört ganz zweifelsfrei die Garantie von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltfreiheit und persönlichen Freiheitsrechten (1), wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- oder Religionsfreiheit etc. (Parboteeah et al. 2004; BMFSFJ 2017: 84, 174; Blinkert/Klie 2018). Sie begründen Anreiz- und Opportunitätsstrukturen, d. h. sie ermöglichen und empfehlen ein Verhalten, das nicht von Unterwerfung und Ausschluss bestimmt ist, vielmehr durch Inanspruchnahme von Handlungsprinzipien, deren Unumstößlichkeit zumindest qua Verfassung garantiert ist.

Des Weiteren ist sozioökonomische Sicherheit (2) ein statistisch signifikanter Prädiktor für die Entfaltung, Vitalität und Nachhaltigkeit von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Sie stellt sich je nach ökonomischem Entwicklungsniveau bzw. wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit von Nationalstaaten und Regionen unterschiedlich dar. Sie betrifft auch den Zugang zu sozialen Sicherungssystemen und insgesamt alles, was die Ausgestaltung des WohlfahrtsstaatesFootnote 7 anbelangt. Mit Blick auf die Frage, wer und wie viele sich engagieren, sind auf regionaler bzw. kommunaler Ebene in ökonomischer Hinsicht die Einkommenssituation und Armutsgefährdung (BMFSFJ 2017: 356–362), die Wirtschaftsstruktur und das Niveau der Beschäftigung bedeutsame Kennziffern (ebd.: 363–366).

Wohlstand wirkt sich grundsätzlich positiv auf hohe Engagementraten aus. Ein hoher Risikofaktor für Einkommensarmut ist Arbeitslosigkeit und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit, die Menschen von Beteiligungsformen jeglicher Art fernhält. Folgerichtig sind eine geringe Arbeitslosigkeit bzw. ein starker Arbeitsmarkt und wirtschaftliche Prosperität Förderfaktoren für freiwilliges Engagement und führen zu höheren Engagementquoten (Hameister/Tesch-Römer 2016).

In Deutschland sind v. a. ostdeutsche Regionen mit strukturellen Defiziten, Arbeitsmarktproblemen, Arbeitslosigkeit und einer schlechteren sozioökonomischen Lage der Bevölkerung konfrontiert. Aber auch in Westdeutschland gibt es strukturschwächere Gegenden mit einer niedrigeren Wirtschaftskraft, wie z. B. im Ruhrgebiet und einzelnen Ruhrgebietsstädten (BMFSFJ 2017: 359 ff.). Für Westdeutschland ist mit 45 Prozent im Vergleich zu Ostdeutschland (mit 39 %) insgesamt eine höhere Engagementquote festzustellen. Nordrhein-Westfalen ist mit einer Quote von 41 Prozent im Gesamtbild der 16 Bundesländer im Mittelbereich einzuordnen (Kausmann/Simonson 2016).

Neben der sozialen Lage ist auch die Zusammensetzung der Bevölkerungsstruktur von Bedeutung (BMFSFJ 2017: 366–376). Die in Deutschland existierenden ungleichen Lebensbedingungen werden durch den demografischen Wandel (3) verstärkt; Dynamiken demografischer Entwicklungen fallen auf regionaler und kommunaler Ebene disparat aus. Die Diskrepanzen ergeben sich aus regional unterschiedlich ausgeprägten Geburten- und Sterblichkeitsraten, Zu- und Abwanderungen sowie der jeweiligen Altersstruktur der Bevölkerung. Im Gesamtbild ist von wenigen wachsenden, allerdings von vielen schrumpfenden bzw. stagnierenden Regionen zu sprechen. Für die ostdeutschen Länder, die seit der deutschen Wiedervereinigung immer noch die Folgen des sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses zu bewältigen haben, zeigen sich im Wesentlichen ungünstige Trends: Aufgrund von zukünftig anhaltenden Bevölkerungsverlusten, der demografischen Alterung und geringeren Beschäftigungsquoten für junge Menschen sind die ostdeutschen Bundesländer gegenüber dem demografischen Wandel insgesamt besonders anfällig. Mit solchen Einbrüchen in Bevölkerungsstruktur und Beschäftigungsquoten ist in der Regel auch eine Dezimierung sozialer Netzwerke verbunden. Hinzu kommen die bereits erwähnten ökonomischen FaktorenFootnote 8 sowie deutliche Differenzen in der sozioökonomischen Lage der Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund ist nachzuvollziehen, dass die Engagementbeteiligung in den neuen Ländern gering(er) ist. Zudem fallen auch kulturelle Aspekte ins Gewicht, die eine geringere Vereinsdichte sowie das äußerst niedrig ausgeprägte Niveau von Religiosität bzw. fehlende religiöse Verankerungen und kirchliche Bindungen betreffen (Kausmann/Simonson 2016).

Hingegen ist die Bevölkerungszahl Nordrhein-Westfalens, als das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland, aufgrund eines positiven Wanderungssaldo in den letzten Jahren angestiegen. Nordrhein-Westfalen stellt historisch sowohl im deutschen als auch im europäischen Kontext eine wichtige Einwanderungsregion dar, die innerhalb Deutschlands die höchste Anzahl von Menschen mit Migrationshintergrund beheimatet (Destatis 2019a). In NRW hat jeder vierte Einwohner einen Migrationshintergrund, wobei sich die Personen mit einer Zuwanderungsgeschichte regional sehr unterschiedlich verteilt haben (MKFFI NRW 2017: 10 ff.). Städte, Bezirke und Kreise haben mit Zuwanderung und ihrer politischen wie sozialen Bewältigung ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass regionale und lokale Migrations- und Integrationsgeschichten sowie die Entwicklung von Konzepten für Integration und Engagementbeteiligung insbesondere abhängig sind von jeweiligen Migrantenanteilen (Gesemann et al. 2012: 38) sowie sozialen Problemlagen, die nicht ausschließlich migrationsbedingt sind.

Auch der durch demografische Veränderungen herausgeforderte gesellschaftliche Zusammenhalt („soziales Kapital“) begünstigt gesellschaftliche Beteiligung. Seine Herstellung setzt Vertrauen in Mitmenschen und Institutionen sowie intakte soziale Beziehungen voraus. Er ist am ehesten in wohlhabenden Regionen mit gemeinwohlorientierter Bevölkerung und v. a. in Süddeutschland vorzufinden; Nordrhein-Westfallen bildet unter den 16 Bundesländern die Mittelgruppe. Die ostdeutschen Bundesländer weisen hingegen die niedrigsten Indexwerte auf (Dragolov et al. 2014: 30 ff.; Arant et al. 2017: 48 ff.).

Ob sich ein höherer oder niedrigerer Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte sowie das Ausmaß religiöser Diversität in den unterschiedlichen Regionen Deutschlands positiv oder negativ auf soziale Kohäsionskräfte auswirken, ist nur eingeschränkt ermittelbar und diesbezügliche Untersuchungsergebnisse werden unterschiedlich ausfallen. Befunde, dass ein hoher Migrationsanteil dem sozialen Zusammenhalt nicht entgegensteht (Arant et al. 2017: 12 f., 66 f.) bzw. dass ein positiver signifikanter Zusammenhang zwischen dem Anteil von Ausländern und dem Zusammenhalt zu verzeichnen ist (Dragolov et al. 2014: 59 f.), scheinen die KontakthypotheseFootnote 9 zu bestätigen. Umgekehrt können mangelnde Erfahrungen mit und Kontakte zu Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und v. a. Muslimen insbesondere auch in strukturschwachen und von Abwanderung gekennzeichneten Räumen zusammen mit subjektiv wahrgenommenen Benachteiligungen als Erklärungsfolie für Abwehrreaktionen, eine fehlende Willkommenskultur und rechtsextremistische Einstellungen der einheimischen deutschen Bevölkerung herangezogen werden (u. a. Zick et al. 2019b: 30; Küpper et al. 2019: 271, 277 ff.; Küpper et al. 2016: 87; in Bezug auf Muslime: Yendell 2014: 62 ff.).

Religion bzw. Religiosität ist insofern relevant, als in Deutschland gegenüber religiöser Vielfalt zum einen Abwehrhaltungen bestehen (Pollack et al. 2014b: 230); zum anderen besitzt Religion in der Minderheitensituation häufig eine andere, zumeist größere Bedeutung als für einheimische Deutsche (Bruce 2002: 30 ff.; Baumann 2004; Fuhse 2006; Pollack 2009: 40, 104; Nagel 2015a; Nagel 2018a). Sie fungiert z. B. als identitätsstabilisierende Ressource, als Ort des Rückzugs und der Vergemeinschaftung. Dies kann hohe Mobilisierungspotenziale und vitale religiöse Engagements implizieren, die sowohl mit Abgrenzungstendenzen als auch mit zivilgesellschaftlichen Qualitäten einhergehen können (4.2.3). Dort, wo viele Menschen mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen leben, wie in Nordrhein-Westfalen (Hero et al. 2008), spielt Religion als Kontextfaktor eine bedeutende Rolle.Footnote 10

Daraus ergibt sich das Erfordernis, religionspolitische Rahmenbedingungen (4) zu berücksichtigen, insofern sie mit integrationspolitischen Belangen längst verquickt sind. Zentrale Bereiche des religiösen Feldes in Deutschland werden durch politische Beschlüsse und Prozesse geregelt, die die individuelle religiöse Praxis, kollektive religiöse Ausdrucksformen sowie den öffentlichen Status von Religionsgemeinschaften inklusive deren religiösen Praktiken und Symbole betreffen (Willems 2018a: 682). Deren Handhabung und Ausgestaltung beeinflussen Herausbildung und Entfaltungsmöglichkeiten von religiös motivierten Engagements, von Kooperationen, Beziehungsnetzwerken und sozialem Vertrauen (Sozialkapital).

In Deutschland zeichnet sich – das sei zum Kontextfaktor der Verortung von Religionen gesagt – das Verhältnis von Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften durch das Modell der Religionsfreundlichkeit aus, das positive Neutralität und staatliches Wohlwollen gegenüber Glaubensgemeinschaften impliziert (SVR 2016: 16, 18). Das Grundgesetz garantiert Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 und verbietet religiöse Diskriminierung bzw. Privilegierung in Art. 3 Abs. 3. Gegenüber Religionen von zugewanderten Menschen aus anderen Kulturkreisen herrscht somit prinzipiell Offenheit und für nichtchristliche Religionen sind kollektive Entfaltungsmöglichkeiten sichergestellt. De facto ist das Verhältnis von Staat und Religionen in Deutschland historisch jedoch durch eine enge Kooperation zwischen dem Staat und den beiden christlichen Großkirchen geprägt. Dies hat zur Folge, dass letztere bevorzugt werden und nicht alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen im Blick der Religionspolitik sind, was eine Ungleichbehandlung der in Deutschland beheimateten Religionsgruppen impliziert (Willems 2018b: 44 ff.). Diesbezüglich relevant ist neben rechtlichen Regelungen auch die Verleihung von Privilegien, etwa durch die Einräumung von Steuerbegünstigungen und finanziellen Unterstützungsleistungen, die die Ressourcenausstattung und folglich auch die Handlungsfähigkeit der Religionsgemeinschaften mitbestimmen. Zu nennen ist ferner das religionspolitische Agenda-Setting, bei dem v. a. die islamischen Verbände mit ihren Gleichheitsansprüchen („parity claims“) eine dominante Rolle spielen. Im Zentrum der Paritätsforderungen steht u. a. die Erlangung des Körperschaftsstatus, mit dem ein den christlichen Kirchen zustehendes Recht reklamiert wird und mit dessen Erlangung spezifische Sonderrechte verliehen werden, wie etwa das Recht auf Steuereinzug unter Mitgliedern. Darüber hinaus stellen auch die Etablierung islamischer Wohlfahrtsverbände und die Einrichtung bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichtes als ordentliches Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen gewichtige Themen dar (SVR 2016: 119 ff.). Derlei islambezogene Themen werden auch im Rahmen der 2006 auf Bundesebene eingerichteten Deutschen Islam Konferenz (DIK) als eine institutionalisierte Dialogveranstaltung mit den islamischen Verbänden und darüber hinaus im Kontext von entsprechenden auf Länderebene sukzessive eingerichteten Initiativen diskutiert (Willems 2018b: 60).Footnote 11 Die Ausführungen verdeutlichen, dass religionspolitische Fragen insbesondere die Institutionalisierung des Islam in Deutschland fokussieren.

Mit der demografischen Entwicklung und Zuwanderung verknüpft ist ein weiterer zentraler Kontextfaktor, der oben bereits angerissen wurde: Dieser betrifft die konkrete Ausgestaltung der Migrations- und Integrationspolitik (5) auf allen föderalen Ebenen in Deutschland. Politische Institutionen und Kontexte stellen wichtige Größen für die Herausbildung von Engagement und Sozialkapital dar, da sie das Handeln von Individuen und Kollektivakteuren strukturieren. Der politische Umgang mit Einwanderung bzw. migrationsbedingter Diversität ist – jenseits messbarer Realitäten – in jedem Land durch dessen historische Erfahrungen mit Zuwanderung bzw. Nicht-Zuwanderung bestimmt. Gleiches gilt für das kulturnationale Selbstverständnis, eine entsprechende Offenheit bzw. Nichtoffenheit, das Konzept von Staatsbürgerschaft sowie (partei-)politisch dominierende AkteurskonstellationenFootnote 12 (Pries 2010a: 22 ff.). Auch bi- oder multilaterale Beziehungen zwischen Deutschland sowie den Herkunftsländern der zugewanderten Menschen und deren Nachfahren sind von Bedeutung.

Für den veränderten Stellenwert von MSO ist es wichtig herauszustellen, dass es bis bis Anfang der 2000er Jahre äußerst strittig war, ob sich die Bundesrepublik als Einwanderungsgesellschaft verstehen soll (vgl. I. 1); entsprechend wurde eine systematische und konzeptgeleitete Integrationspolitik nicht für notwendig erachtet (Seifert 2012; Oltmer 2018). Bis zur Jahrtausendwende war daher eine unentschiedene, meist nur kompensatorische und defizitorientierte Integrations- bzw. „Ausländerpolitik“ auszumachen, die einen gleichberechtigten Mitgliedschaftsstatus verwehrte (Bade 2007). Erst mit der Reformierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes (2000) sowie der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes (2005) erfolgte mit einer systematischen Entwicklung der Migrations- bzw. Integrationspolitik ein Paradigmenwechsel (Gesemann/Roth 2009: 12). In der Folge veränderte sich auch der politische Umgang mit MSO, die im Rahmen „einer partizipativen Integrationspolitik“ bzw. „nachholenden Integrationsförderung“ (BMI/BAMF 2010: 115; BPA 2011: 289) sowie der Verfolgung des sogenannten Dialogprinzips (BPA 2008: 10) zunehmend als wichtige zivilgesellschaftliche Akteure betrachtet, konsultiert, in Entscheidungsprozesse eingebunden und gefördert werden sollen. Die Aufwertung der MSO als zivilgesellschaftliche Akteure spiegelt sich in ihrer direkten Einbindung bei der Entwicklung bundesweiter und kommunaler Integrationskonzepte und der expliziten Thematisierung ihrer konkreten Rollen in diesen wider (BPA 2007; BMI/BAMF 2010; BPA 2011).

Die Anerkennung und Stärkung der MSO als wichtige und gleichberechtigte Partner fußen auf der Ansicht, dass Integration nicht die alleinige Aufgabe des Staates ist, sondern eine „aktive Bürgergesellschaft [erfordert], in der möglichst viele Menschen Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative entwickeln“ (BPA 2007: 14), denn: Bürgerschaftliches Engagement beruhe auf „freiwilliger Selbstverpflichtung, öffentlicher Verantwortungsübernahme und Vernetzung“ (ebd.: 29). Zudem wird auf den Tatbestand hingewiesen, dass sich „[in] einer Zeit zunehmender Ressourcenprobleme der öffentlichen Hand […] die Notwendigkeit [ergibt], ehrenamtliche, auch als Selbsthilfe und Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten konstituierende Integrationsarbeit als willkommene Konsolidierungshilfe zu aktivieren und zu nutzen“ (BPA 2008: 212). Vor diesem Hintergrund verpflichtet sich die Bundesregierung u. a., „die zivilgesellschaftliche Integration in Kontexten bürgerschaftlichen Engagements zu einem „programmübergreifenden Fokus [der] Förderpolitik des Bundes zu entwickeln“ (BPA 2007: 175, Herv. i. Orig.).Footnote 13 Angesichts der – explizit erwähnten – öffentlichen Ressourcenprobleme ist diese Neuausrichtung anhaltend einer Instrumentalisierung v. a. der migrantischen Selbstorganisationen verdächtig.

Die obigen Ausführungen entsprechen dem Reformkonzept des „Aktivierenden (Sozial-)Staates“ mit der Kernidee der Neugestaltung des Rollenverhältnisses zwischen Staat, Markt und (Zivil-)Gesellschaft im Sinne einer neuen Aufgaben- und Verantwortungsteilung. Der Topos vom „Fördern und Fordern“Footnote 14 zielt auf Dialog und partnerschaftliche Koproduktion, insbesondere auf die soziale Aktivierung der einzelnen Bürger und ihres zivilgesellschaftlichen Engagements im Rahmen der Etablierung einer „neue[n] Kultur der Selbstständigkeit und der geteilten Verantwortung“ (Schröder 2002: 60B, Herv. i. Orig.). Der versorgende und vorsorgende, dominant steuernde und leistungserbringende Staat wird zu einem aktivierenden „Gewährleistungsstaat“ („enabling state“), der gemeinwohlsichernde und -fördernde Regelungsstrukturen bereitzustellen hat (Benz 2007; Schuppert 1997; Hoffmann-Riem 2005). In diesem politischen Kontext haben Begriff und Konzept der „Governance“ enorme Konjunktur erfahren. Governance umfasst neue Formen der Regulierung, Koordinierung und Steuerung von Kollektivinteressen und interdependenten Handlungen (nicht-)staatlicher Akteure (Mayntz 2004: 66) – ein „Interdependenzmanagement“ (ebd.: 72) –, das aufgrund zunehmend komplexer werdender gesellschaftlicher Verflechtungen und Abhängigkeiten erforderlich geworden ist. Hierarchiebasierte politische Steuerung (‚Government‘) weicht Formen der Kooperation zwischen unterschiedlichen Akteuren, da nur so Probleme gelöst werden können, die „vielfach Kompetenzgrenzen der Regierungs- und Verwaltungseinheiten überschreiten, [und da] Formen der autoritativen Steuerung angesichts der Komplexität öffentlicher Aufgaben häufig versagen“ (Benz/Dose 2010: 26). Dies macht die Einbindung von gesellschaftlichen Akteuren in die Problembewältigung erforderlich. Die neuen Ziele lauten folglich: „Stärkung von sozialer, politischer und administrativer Kohäsion, von politischer und gesellschaftlicher Beteiligung, von bürgerschaftlichem und politischem Engagement“ (Jann/Wegrich 2010: 184). Entscheidungsfindung erfolgt v. a. durch Beratung und Verhandlung; der die Grundrechte gewährleistenden Staat behält dabei die Systemverantwortung und Gewährleistungsverpflichtung (Mayntz 2004: 72). Auch in Governance-Systemen ist die Frage nach wirkenden Exklusionsmechanismen bedeutsam, d. h. der Nicht-Beteiligung von mit wenig Ressourcen ausgestatteten und schlecht oder nicht organisierten Gruppen mit weniger Zugangschancen zur Politik. Deren Überwindung stellt eine langfristige Aufgabe dar (Walk 2009: 25).Footnote 15

Insgesamt bezieht sich die deutsche Integrationspolitik auf zahlreiche Handlungsfelder und fast alle gesellschaftlichen Bereiche. Das Politikfeld besitzt damit Querschnittscharakter. Mit Blick auf den Forschungsgegenstand dieser Arbeit wird Integrationspolitik im Folgenden ausschnitthaft thematisiert, besonders hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten von Personen mit Zuwanderungsgeschichte zum politischen System und damit einhergehenden Mechanismen von Inklusion und Exklusion. Im Anschluss wird detaillierter auf kommunalpolitische Rahmenfaktoren eingegangen, da diese für Integrationsprozesse im lokalen Nahraum – „vor Ort“ – bedeutsam sind.

Politische Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte werden durch Gesetze definiert, die im Wesentlichen im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) expliziert und durch das Staatsbürgerschaftsrecht bestimmt sind.Footnote 16 Die Bürgerrechte der Versammlungs- (Art. 8 GG) und Vereinsfreiheit (Art. 9 GG) gelten für deutsche Staatsangehörige, sind Ausländern aber nicht grundsätzlich untersagt. Ausländer besitzen weder das aktive noch das passive Wahlrecht; allerdings verfügen in Deutschland lebende EU-Bürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit bei Kommunalwahlen über das aktive und passive Wahlrecht. Darüber hinaus werden politische Beteiligung und Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund auch von ihrer Aufenthaltsdauer in Deutschland, ihren Deutschkenntnissen und der politischen Prägung des Herkunftslandes beeinflusst (Müssig/Worbs 2012; vgl. auch BMFSFJ 2017: 206 ff.). Neben den in Abhängigkeit vom Staatsangehörigkeitsgesetz geltenden politischen Rechten ist politisches Engagement immer auch abhängig von sozioökonomischen Individualmerkmalen (v. a. dem Bildungs- und Einkommensniveau) (4.3.3.1).

Für die konkrete Ausgestaltung und Ermöglichung integrativer Prozesse ist besonders relevant, ob und inwiefern institutionelle und diskursive gemeinschaftsrepräsentierende wie gemeinschaftsbildende Gelegenheits- und Anreizstrukturen bereitgestellt werden, die sogenannten „Political Opportunity Structures“ (u. a. Kortmann 2011: 31 ff.; Kriesi 2001, 2004). Bei diesen handelt es sich um „konsistente – jedoch nicht notwendig formale oder dauerhafte – Parameter für soziale oder politische Akteure, die ihre Aktionen entweder ermutigen oder entmutigen“ (Tarrow 1991: 651). Es geht um politische Umweltbedingungen, die vorteilhaft oder unvorteilhaft, offen oder geschlossen für neue Anliegen sind, die Zugang ermöglichen oder verhindern und damit mobilisierungsfördernd oder eher immobilisierend wirken. Nur dort, wo politische Mitspracherechte, Opportunitätsstrukturen und die Beeinflussung politischer Strukturen zugelassen und ermöglicht werden, bestehen Anreize für politisch motivierte Engagements (Pollack 2004: 37). Diese sind auch für politische Vereine und Verbände bedeutsam, die sich auf Grundlage vereinsrechtlicher Bestimmungen gründen können.

Damit ist ein weiterer integrationspolitisch relevanter und regulierender Aspekt angesprochen: Neben gesetzgeberischen Maßnahmen (Vorschriften) sowie der Einräumung von Sonderstellungen und -rechten können auch das Eingehen von Kooperationen sowie finanzielle Subventionen, z. B. im Rahmen von Förderprogrammen auf bundes-, landes- und kommunaler EbeneFootnote 17, relevant sein hinsichtlich der Festlegung, welche Organisationen in die Integrationspolitik aktiv eingebunden werden sollen und welche nicht. Auf Landesebene sind als zentrale förderliche gesetzgeberische Maßnahmen und Rahmenbedingungen die ab 2010 in den drei Bundesländern Berlin (2010), Nordrhein-Westfalen (2012) und Baden-Württemberg (2015) erlassenen Teilhabe-Gesetze zu nennen (IntB Berlin 2010; Regierung BW 2015; Landesregierung NRW 2012). Im nordrhein-westfälischen Teilhabe- und Integrationsgesetz wurde am deutlichsten formuliert, dass „die Organisationen der Menschen mit Migrationshintergrund in demokratische Strukturen und Prozesse einzubinden und sie zu fördern“ sind (Landesregierung NRW 2012, § 1 Ziele, Abs. 6Footnote 18).

In Deutschland fallen die MSO betreffende Förderschwerpunkte und -strategien folglich keinesfalls einheitlich aus, sondern haben sich auf Landes- und kommunaler Ebene sehr unterschiedlich oder kaum entwickelt (Gissendanner 2011). Von den Fördergeldern profitieren in erster Linie ressourcenstarke, bundes- oder landesweit agierende Dachverbände und Tandemprojekte. Karin Weiss konstatiert, dass die unterschiedlichen Förderprogramme und Strategien zeigen, „dass das Verhältnis zwischen Staat und migrantischer Zivilgesellschaft sehr unterschiedlich und ungeklärt ist und keine klaren Strukturen gegeben sind“ (Weiss 2013: 23).

Anhand der obigen Ausführungen wird die innerhalb des soziopolitischen Institutionensystems existente staatliche Steuerungsmacht des Handelns nicht nur von Individuen mit Zuwanderungsgeschichte, sondern auch deren Organisationen deutlich. Mit der politischen Lenkung gehen Inklusions- und Exklusionsdynamiken einher. Zugleich entzünden sich kontroverse Debatten um gelungene bzw. misslungene Integration. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich Integrationspartner und politische Akteure hintergangen und in ihrer Autorität nicht ernst genommen fühlen. Inwieweit sind beispielsweise Abhängigkeiten türkisch-islamischer MSO von der Politik der Türkei tolerierbar, wenn diese Abhängigkeiten sich direkt als Einflussnahme auf das Verhalten ihrer Mitglieder und damit auf deren Integrationsbereitschaft auswirken? Diesbezüglich sind phasenweise schwankende Sanktionsmaßnahmen, kontroverse Debatten und Verhältnisbestimmungen gegenüber türkisch-islamischen MSO zu registrieren. Exemplarisch genannt sei in diesem Zusammenhang die sogenannte DİTİB-Spitzelaffäre 2016/17Footnote 19. In deren Folge wurden die bis dato seitens der Bundesministerien gewährten Fördergelder für die DİTİB-Zentrale und die Gemeinden massiv gekürzt (BT 2017) und für die Jahre 2018 und 2019 komplett eingestellt (MDI 2018: 12). Es bleibt abzuwarten, wie sich der politische Umgang mit DİTİB, insbesondere angesichts anhaltend bestehender bilateraler Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland, zukünftig entwickeln wird.

Vor dem Hintergrund der bereits skizzierten Rahmenfaktoren ist im Folgenden die kommunale Ebene – die Integration vor Ort – zu betrachten.Footnote 20 Die Kommunen sind politisch, wirtschaftlich, demografisch, kulturell und institutionell sehr unterschiedlich aufgestellt. Auch hinsichtlich der Einbindung und Aktivierung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und ihren Organisationen sind sie unterschiedlich sensibilisiert und ambitioniert.Footnote 21 Allerdings wurde mit dem nordrhein-westfälischen „Teilhabe- und Integrationsgesetz“ (2012) die Förderung der MSO und eine flächendeckende Subventionierung von Kommunalen Integrationszentren in allen Kreisen und kreisfreien Städten in NRW gesetzlich verankert. Das Gesetz soll in ganz NRW eine aktivierende Integrationspolitik forcieren, weshalb von nicht völlig disparaten kommunalen Ausgangssituationen auszugehen ist (III. 5.2).

Gleichwohl sind Traditionen einer (politischen) Beteiligungs- und Vereinskultur relevant (BMFSFJ 2017: 380). Eingeübte Praktiken und ein gewisses Know-how im Umgang mit entsprechenden Konfliktfeldern sowie gewachsene Strukturen und Vertrautheit wirken sich positiv auf den Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten aus. Idealerweise entwickeln die verantwortlichen Akteure und Institutionen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kompetenzen und Ressourcen effektive, aufeinander abgestimmte Konzepte oder Leitbilder, die strategische Ziele umfassen. Kommunale Gesamtstrategien zur Beteiligung und Aktivierung von Menschen mit Migrationshintergrund und ihren Organisationen können einen entscheidenden Einflussfaktor darstellen. Sie erfordern den Aufbau und die Entwicklung von Koordinatoren- und Beratungsstellen, Netzwerkstrukturen, Kooperationen, Informations-, Austausch- und Qualifizierungsangeboten sowie die Durchführung und Begleitung von (Modell-)Projekten (Filsinger 2018; Farrokhzad/Kluß 2019; Gesemann/Roth 2018; BMFSFJ 2017: 324 ff.). Die Herstellung solcher Strukturen stellt ein anspruchsvolles und voraussetzungsreiches Unterfangen dar. Darüber hinaus ist die konkrete Implementierung bzw. Wirkung von Fördermaßnahmen auf kommunaler Ebene relevant. Als ein zentrales Problem werden dabei die zeitlich befristeten Projektfinanzierungen ausgemacht, die Planungs- und Finanzierungssicherheiten entgegenstehen (BMFSFJ 2017: 213, 217, 330, 343), weshalb mit Nachdruck strukturelle und längerfristige Förderungen auch seitens der MSO eingefordert werden (vgl. u. a. Rossi et al. 2019).

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang ein weiterer, keinesfalls zu unterschätzender Wirkfaktor: Bei der Entwicklung einer effektiven Beteiligungskultur können persönliche Einstellungen von einflussreichen Einzel- oder Schlüsselpersonen von zentraler Bedeutung sein (u. a. Farrokhzad/Kluß 2019: 206, 210). Zu nennen wären hier etwa charismatische, begeisterungs- und mobilisierungsfähige Bürgermeister, Integrationsbeauftragte, Initiativen und Organisationen. Sind solche vorhanden, kann es durchaus sein, dass sich aufgrund bestimmter hinter den Beteiligungsanliegen stehenden Personen(-gruppen) auch in Städten mit strukturellen Defiziten, die mit einem hohen Ausmaß an Herausforderungen konfrontiert sind, vitale zivilgesellschaftliche Strukturen entwickeln (Hameister/Tesch-Römer 2016: 541).

Worauf es beim Aufbau und der Etablierung solcher Strukturen ankommt und wie Maßnahmen am besten implementiert werden können, ist Thema zahlreicher Handbücher, Praxisleitfäden und wissenschaftlicher Gutachten zur lokalen Engagementförderung, die zum Teil unterschiedliche Handlungsfelder – wie z. B. Sozialraumorientierung, Quartiersmanagement, interkulturelle Öffnungsprozesse – in den Mittelpunkt stellen.Footnote 22 Werden solche Handlungsfelder erfolgreich gestaltet, geht es zwecks Verallgemeinerung und Übertragung um die Identifizierung von „Good“ oder „Best Practice“. Beispiele für gute Praxis liefern jedoch keine strikt zu befolgenden Handlungsrezepte, sondern eher Anregungen, da die Bedingungen vor Ort vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ausgangslagen lokalspezifische Anpassungen erforderlich machen (BMFSFJ 2017: 317).

Nicht zuletzt kommt der Medienberichterstattung sowie öffentlichen Diskursen (6) im Zusammenhang mit den hier zur Debatte stehenden Rahmenbedingungen eine sehr einflussreiche, einstellungs- und meinungsprägende Rolle zu. Die Medien wählen aus, über welche Themen sie wann und auf welche Art berichten und sie informieren insbesondere über Missstände („Bad news are good news“). Durch dieses Agenda-Setting und „Framing“ bestimmen sie, welche Ereignisse als Probleme wahrzunehmen sind (Bonfadelli/Friemel 2011). Dadurch verstärken sie Wahrnehmungsmuster, beeinflussen die öffentliche Meinungsbildung sowie die gesellschaftliche Konstruktion der Realität (Jäckel et al. 2019: 2). Die selektive Verfügbarkeit von Nachrichten und die häufig wochenlangen Berichterstattungen über unerfreuliche, erschütternde Vorfälle lassen den Eindruck von Ereignisketten entstehen, die de facto gar nicht stattgefunden haben, was dazu führt, dass die menschliche Psyche die Realität düsterer wahrnimmt als sie wirklich ist. Dadurch werden Gefühle von Unsicherheit und Misstrauen befördert (Drösser/Spiewak 2013).

Die beschriebenen Mechanismen sind insbesondere in Bezug auf die selektiv-negative Darstellung des Islam in Verbindung mit Terrorismus, Gewaltbereitschaft und Konflikten sowohl auf der nationalen als auch lokalen Ebene relevant (Hafez/Richter 2008; Hafez 2009; Ceylan 2012b: 22; SVR 2013; Pollack 2013). Aufgrund mangelnder Primärkontakte zu Muslimen sind die medial vermittelten Sekundärerfahrungen – die „Framing“-Effekte – besonders einflussreich: „Entscheidend für die Einstellung gegenüber einer Religion ist zunächst das Bild, das von ihr in den Medien verbreitet wird“ (Pollack/Müller 2013: 38). Wissen über Religionen wird vornehmlich über Kanäle der Massenmedien erworben (Stolz et al. 2014: 166). Die Konstruktion reduktionistischer und verzerrter Bilder vom Islam dürfte spezifische Denkraster und Stereotype produzieren, die letztlich dazu führen, dass insbesondere Muslime als Außenseiter stigmatisiert werden, was sich im alltäglichen Zusammenleben negativ auswirkt.

Vor diesem Hintergrund weisen jüngere Studien folgerichtig nach, dass die Haltung v. a. gegenüber Muslimen in der Bevölkerung Deutschlands mehrheitlich negativ ausfällt (Pollack 2014b: 34). Viele Deutsche nehmen den Islam als eine Bedrohung und etwas Fremdartiges wahr (Pollack/Müller 2013: 43, 56; s. auch Zick et al. 2019a), assoziieren mit ihm Terrorismus, Gewaltbereitschaft, Fanatismus, gesellschaftliche Konflikte und die Ungleichwertigkeit der Frau (Pollack 2014b: 21, 32 f.). Dies geht einher mit einer niedrigen Bereitschaft, den Muslimen Gleichberechtigung einzuräumen (Pollack et al. 2014b: 230). Darüber hinaus sind die Deutschen auch gegenüber dem Phänomen der wachsenden religiösen Pluralität, die insbesondere die Muslime betrifft, „deutlich kritischer eingestellt“ als die Bürger in anderen Ländern (Pollack 2014b: 16). Insbesondere bei den Deutschen rufe sichtbar und alltagsweltlich gelebte religiöse Pluralität „vielfach abwehrende Reflexe hervor“ (Pollack et al. 2014b: 230).

Diese Abwehrhaltungen, Etikettierungsprozesse und die Wahrnehmung des Islam als Sicherheitsrisiko, Integrationshindernis, demokratieunverträglich und Ursache von gesellschaftlichen Konflikten bleiben nicht ohne Folgen. Denn das Handeln von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und ihren Organisationen wird ganz wesentlich mitbestimmt durch die Art ihrer Wahrnehmung öffentlicher Diskurse und ihre Behandlung durch die gesellschaftliche Umwelt (Pries 2013a: 5; Pries 2010a: 20). Diskriminierungserfahrungen und Negativ-Diskurse unterminieren die Identifikation mit der deutschen Gesellschaft und es ist daher anzunehmen, dass sie zivilgesellschaftliche Beteiligungsbereitschaft gefährden und Rückzugs- und Abgrenzungstendenzen forcieren können (Uslucan 2011; Sauer 2018).

Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die bereits thematisierten qualitativen Fallstudien zu Moscheegemeinden und ethnoreligiösen Gruppen in Nordrhein-Westfalen (Nagel 2015a; I. 2.2). Deren Analyseergebnissen zufolge steht dem „Gefährdungsdiskurs“, der sich auf Muslime bezieht, ein „Exotisierungsdiskurs“ gegenüber, der insbesondere „asiatische Religionen“ (thailändische Buddhisten, tamilische Hindus) betrifft (Nagel 2015b: 31; Nagel/Plessentin 2015: 256). Dieser gehe mit einer positiven Wahrnehmung fernöstlicher Glaubensgemeinschaften, mit Faszination und wohlwollendem Interesse an deren religiösen (Meditations-)Praktiken oder Tempelfesten einher (ebd.; Wolf 2015: 73 f.). Christliche Migrantengemeinden, denen eine „prinzipielle Ähnlichkeit und Übereinstimmung“ mit den in Deutschland vertretenen Werten nachgesagt werde, sähen sich hingegen eher mit einem „Affinitätsdiskurs“ konfrontiert (Nagel 2015b: 31; s. auch Nagel/Plessentin 2015: 255 ff.).

Den Analysen zufolge bleiben alle drei Diskursarten nicht ohne Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinden und ihre Mitglieder. Sie könnten sowohl lähmende als auch aktivierende Effekte auf die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und das Kooperationsverhalten haben, wobei sich immer wieder auch paradoxe Reaktionen zeigten und keine eindeutigen kausalen Folgewirkungen auszumachen oder vorherzusagen seien (Nagel/Plessentin 2015: 264). Die Fallstudien verdeutlichen, dass Gefährdungsdiskurse aufseiten der Betroffenen nicht zwangsläufig Resignation und Abgrenzungen zur Folge hätten, sondern sie auch „als Herausforderung zu Aufklärung und Positionierung empfunden werden“ (ebd.) sowie inter- und außerreligiöse Vernetzungen und Interessenvertretung begünstigen könnten. Andersherum führe die „Kultivierung positiver Fremdbilder“ gegenüber den Buddhisten nicht automatisch zu deren symbolischen Ermächtigung (ebd.).

An den Ausführungen zeigt sich, dass medial vermittelte Diskurse bei der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements von MSO in Deutschland als zentrale Rahmenbedingungen mitzudenken sind.

Anhand der in diesem Kapitel vorgebrachten Gesichtspunkte sollte deutlich geworden sein, dass zivilgesellschaftliche Performanzen in gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Kontextbedingungen eingebettet sind. Sie zeigen den Individuen und Organisationen Handlungsrahmen auf, innerhalb derer sie agieren können und die zugleich Größen sind, die ihr Handeln in ermöglichender oder restringierender Form moderieren und konditionieren. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten sind also durch vielfältige Voraussetzungen bedingt: „Ressourcenausstattungen müssen mit situativen und gesellschaftlichen Anreizen, Gelegenheitsstrukturen sowie einem gesellschaftlichen Bedarf zusammentreffen, und wirksam wird die Koinzidenz dieser äußeren und inneren Voraussetzungen nur dann sein, wenn das handelnde Individuum die äußeren Konstellationen auch als förderlich für die Umsetzung seiner politischen [und unpolitischen] Intentionen interpretiert“ (Pollack 2004: 37; Herv.: d. Verf.; 4.3.3.2).

Zivilgesellschaftliche Performanzen sind damit auch als Reaktionen auf diese spezifischen gesellschaftlichen Kontexte zu interpretieren und können verschiedene Formen von Engagement befördern. Wenn förderliche Strukturen fehlen, können zivilgesellschaftliche Handlungsformen hingegen unterminiert werden, was dann auch der Reproduktion begünstigender Strukturen entgegensteht (Blinkert/Klie 2018: 418; vgl. Giddens 1997; Elias 1997/[1939, 1949]). Folglich sind Engagementbereitschaften und statistisch messbare Niveaus von Engagement durch spezifische gesellschaftliche Kontexte und regionale Kennziffern bedingt, was allerdings nicht bedeutet, dass sie prädeterminiert sind, da zivilgesellschaftliche Aktivitäten – wie oben bereits erwähnt – auch die keinesfalls statischen Rahmenbedingungen mitgestalten und wandeln können (Neufeind et al. 2015: 278). Vor diesem Hintergrund sind integrations- und engagementpolitische Maßnahmen immer mit strukturpolitischen, religionspolitischen und Maßnahmen anderer Politikfelder in ihren Auswirkungen auf Engagementbeteiligung zusammenzudenken.