FormalPara Politischer Paradigmenwechsel: Migrantenselbstorganisationen als zivilgesellschaftliche Akteure

Seit vielen Jahrzehnten gibt es in Deutschland Migrantenselbstorganisationen (im Folgenden kurz: MSO), unter denen mit einer konsensorientierten Definition in der vorliegenden Arbeit Organisationen verstanden werden, die von einst zugewanderten Menschen oder deren Nachfahren gegründet wurden und deren Mitglieder mehrheitlich eine Zuwanderungsgeschichte besitzen. Die Geschichte der MSO in Deutschland beginnt mit der Ankunft der sogenannten „Gastarbeiter“ in den 1950/60er Jahren aufgrund der Abschlüsse von Anwerbeverträgen der Bundesrepublik mit Italien (1955), Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) sowie Jugoslawien (1968) (Seifert 2012: 70). Der Zuzug fand überwiegend aufgrund der aktiven Anwerbung von ArbeitsmigrantenFootnote 1 sowie den Beschäftigungsgesuchen der Vertragsländer statt. Ausländische Arbeitskräfte sollten nicht auf Dauer in Deutschland bleiben und fungierten primär als „Konjunkturpuffer“ (ebd.: 81). Entsprechend haben Menschen mit Zuwanderungshintergrund jahrzehntelang eine unzureichende, überwiegend paternalistische Betreuung erfahren; ihnen und ihren Organisationen wurde keine besondere politische oder im weiteren Sinne öffentliche Aufmerksamkeit zuteil, weder in Form finanzieller und infrastruktureller Förderungen noch in Hinblick auf Einbindung in politische Entscheidungsprozesse (Herbert 2003a; Weiss/Thränhardt 2005b: 15; Oltmer et al. 2012; Puskeppeleit/Thränhardt 1990).

Nach dem Anwerbestopp der Arbeitsmigranten im Jahr 1973 waren die 1970er/80er Jahre von Familiennachzügen bestimmt, während seit den 1990er Jahren neue Formen der Arbeitsmigration sowie verstärkt die Zuwanderung von deutschstämmigen (Spät-)Aussiedlern, Asylsuchenden und Flüchtlingen zu verzeichnen waren (BMI 2011: 25). Insbesondere in den 1980er/90er Jahren verfolgte die Politik mit der Integrationsförderung von dauerhaft in Deutschland bleibenden Ausländern, bei gleichzeitiger Begrenzung des Ausländerzuzugs und einer Rückkehrförderung in sich widersprüchliche migrations- bzw. integrationspolitische Modelle (Seifert 2012: 81 f.). Erst die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts (2000), das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes (2005) und der Nationale Integrationsplan (2007) kennzeichneten sodann einen Paradigmenwechsel in der Festsetzung nationaler Rahmenbedingungen für Integrationspolitik. Die integrationspolitische Neuausrichtung im Sinne einer „nachholenden Integrationsförderung“ (BMI/BAMF 2010: 115; Bade 2007) basierte auf der einvernehmlichen Erkenntnis der „Faktizität der Einwanderung“ (Gissendanner 2011: 39) und der Notwendigkeit, Zugewanderte mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus in Deutschland langfristig umfänglich zu integrieren. Vor diesem Hintergrund werden MSO seit der Jahrtausendwende in zunehmendem Maße als wichtige Akteure der Zivilgesellschaft und unverzichtbare Dialogpartner betrachtet, deren vornehmlich ehrenamtliche Strukturen, Aktivitäten und deren Zusammenarbeit mit Organisationen der Mehrheitsgesellschaft es wahrzunehmen und zu fördern gilt. Die kontinuierlich stärker werdende explizite Thematisierung und v. a. positive Wahrnehmung von MSO sind auch in der Berichterstattung, den Plänen und Programmen der Bundesregierung zur Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nachzuverfolgen. Diesbezüglich zu nennen sind die Ausländerberichte der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung (IntB 2000: 190; IntB 2002: 252; IntB 2005: 170 f.; IntB 2007; IntB 2012), die Nationalen Integrationspläne (BPA 2007, 2008), der Nationale Aktionsplan Integration (BPA 2011) sowie das Bundesweite Integrationsprogramm (BMI/BAMF 2010). Auch in der bundespolitischen Engagementberichterstattung und den einzelnen Engagementstrategien von Bund und Ländern ist diese erhöhte Sensibilität für die Teilhabe von Menschen mit einem Zuwanderungs- und Fluchthintergrund und ihren Selbstorganisationen zu registrierenFootnote 2. Nicht zuletzt sind in diesem Kontext die zahlreichen Publikationen des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) zu erwähnen.Footnote 3 Diese Entwicklungen hatten und haben ein erhöhtes Selbstbewusstsein, (Mit-)Gestaltungs- und Teilhabeansprüche der migrantischen Vereinigungen und insbesondere der islamischen Verbände zur Folge.

Im Folgenden wird skizziert, weshalb die MSO als zivilgesellschaftliche Akteure auf der politischen und forschungsbezogenen Agenda zu prominenten Tagungsordnungspunkten avanciert sind und welche theoretischen und begrifflichen Instrumente zur Erfassung ihrer Eigenschaften dienlich sind. Darüber hinaus werden dem Leser der Ansatz vorliegender Forschungsarbeit sowie die erkenntnisleitenden Fragestellungen wie auch der zu erwartende „Mehrwert“ vor Augen geführt. Nicht zuletzt wird – für eine einführende Orientierung – der Aufbau der Arbeit sowie das in ihr vorzufindende Verhältnis von Theorie und Empirie verdeutlicht.

FormalPara Verzahnung von Integrations- und Engagementpolitik

Angesichts der Frage nach den Möglichkeiten des „Integriert-Seins“ und „Integriert-Werdens“ von unterschiedlichen in Deutschland ansässigen und neu hinzukommenden Gruppen wird das zivilgesellschaftliche Engagement von Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte seit der Jahrtausendwende als Indikator und Katalysator für erfolgreiche Integrationsprozesse betrachtet (BPA 2007: 20, 173; BPA 2011: 18). Einem wissenschaftlich etablierten Verständnis zufolge bezeichnet freiwilliges bzw. zivilgesellschaftliches Engagement eine freiwillige, nicht profit-, vielmehr gemeinwohlorientierte, in der Regel gemeinschaftlich-kooperativ und im öffentlichen Raum ausgeübte konkrete Tätigkeit (Enquete 2002: 38; Simonson et al. 2016a: 27 ff.; BMFSFJ 2017: 68 ff.). Der Engagementbegriff ist unmittelbar mit dem der Zivilgesellschaft verknüpft. In einem bereichslogischen Verständnis handelt es sich bei dieser um einen öffentlichen intermediären Raum („Nonprofit-Sektor“) zwischen Staat, Markt und privatem Bereich (Familie), in dem eine Fülle von Vereinigungen, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen auf einer freiwilligen, nicht gewinnorientierten Basis mit verschiedensten Anliegen und Interessen agieren und sich (gesellschafts-)politisch mehr oder weniger stark einbringen. Die Zivilgesellschaft bildet den Rahmen für unterschiedlich motivierte Formen des Engagements. In einer handlungslogischen normativen Perspektive impliziert das Adjektiv „zivil“ politische, kommunikative, nicht zuletzt ethisch-moralische Standpunkte, die allesamt darauf zielen, dass offene, demokratische, pluralistische Grundhaltungen vertreten und gefördert werden sollen und damit wesentliche Beiträge zur sozialen Kohäsion und Integration einer religiös und ethnisch pluraler werdenden Gesellschaft geleistet werden können.

In diesem Kontext wird Zivilgesellschaft als eine integrationspolitische Leitidee konzipiert (BPA 2007: 173) und der Rückgriff auf die in Deutschland vorhandene hohe Diversität von Engagementformen für die Gewährleistung des sozialen Zusammenhalts als notwendig erachtet (ebd.: 29; BPA 2011: 115). So heißt es: „[Z]ivilgesellschaftliche Strukturen sind oft besser als bürokratische Einrichtungen in der Lage, aktive Teilnahme sowie Orientierung zu ermöglichen und damit die Voraussetzungen für gesellschaftliche Integration zu schaffen“ (BPA 2011: 451). Damit setzt der „fördernde und fordernde“ Staat auf Eigeninitiative, Verantwortungsübernahme und eigenverantwortliche Mitgestaltung der Bürger (BPA 2007: 14). Dies betrifft insbesondere auch Personen mit MigrationshintergrundFootnote 4 und deren Selbstorganisationen. Zugewanderte, einschließlich ihrer Kinder und Organisationen, sollen als wichtige Partner unterstützt, ihnen zugleich aber auch Leistungen abverlangt werden: „Dies ist Ausdruck des gleichberechtigten Dialogs von Staat und Migranten und einer partizipativen Integrationspolitik. Migrantenorganisationen übernehmen auf allen Ebenen gesellschaftlichen Handelns neue Verantwortung für Integration“ (BPA 2008: 10). Auch in diesem Kontext ist der Bedeutungszuwachs zivilgesellschaftlicher Akteure und damit auch der Selbstorganisationen von nach Deutschland Zugewanderten bzw. der nachfolgenden Generationen zu verstehen.Footnote 5 Den vielfältigen Möglichkeiten von Engagement – insbesondere den gemeinsam mit Einheimischen vollzogenen – wird eine wichtige sozialintegrative Funktion beigemessen: Aufgrund der Vernetzung der Akteure und der Einbindung der beteiligten Individuen in Beziehungsstrukturen, so die Annahme, würden soziales Vertrauen, Normen der Gegenseitigkeit und Kooperationsbereitschaft – „Sozialkapital“ – aufgebaut und gepflegt.

FormalPara MSO zwischen Integrationsimperativen und herkunfts(land)orientierten Traditionsbezügen

Vor diesem Hintergrund hat in den letzten Jahren die politische Förderung des Engagements auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene stark an Bedeutung gewonnen und ein neues, noch unprofiliertes Politikfeld der „Engagementpolitik“ wird protegiert (Olk et al. 2010; BMFSFJ 2012, 2017). Im Zuge dessen hat die wissenschaftliche Erforschung von förderlichen und hemmenden Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren auf das individuelle und kollektive Engagementverhalten einen zentralen Stellenwert eingenommen und wird seitens der Politik gefördert. So fungieren für die Bundesrepublik die im fünfjährigen Abstand veröffentlichten Freiwilligensurveys als wesentliches Fundament der Sozialberichterstattung zum freiwilligen Engagement in Deutschland. Zum anderen hat das Phänomen des religiösen Wandels, bedingt durch umfängliche Prozesse der Säkularisierung, religiösen Individualisierung und Pluralisierung, dazu geführt, dass die Konsequenzen dieser Prozesse für den sozialen Zusammenhalt und die Generierung von Sozialkapital in modernen Gesellschaften zu einem wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt avanciert sind (Borutta 2005; Baumann/Stolz 2007; Liedhegener/Werkner 2011a; Traunmüller 2012; Pollack et al. 2012; Minkenberg 2012; Arens et al. 2014, 2016, 2017). Damit geht es um die ambivalente Bedeutung von Religion(en) in Verknüpfung mit der Relevanz von spezifischen Herkunftskontexten im Integrationsprozess, die insbesondere den Islam bzw. die Muslime betreffen.

Mit Blick auf den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft und die Bildung von Sozialkapital ist es eine zentrale Frage, ob sich die betreffenden Vereinigungen in erster Linie lediglich um den eigenen Gruppenzusammenhalt kümmern und sich abgrenzen (engl. bonding) oder mit ihren Tätigkeiten auf gesellschaftliche Teilhabe und Integration abzielen und zu anderen Gruppen Brücken bauen (engl. bridging). Sind diese „Brückenschläge“ nicht zu beobachten, wird dies als problematisch betrachtet. Hier gewinnt die Unterscheidung zwischen segregativen versus integrativen Funktionen gesellschaftliche Brisanz. Der Engagementbegriff wird entsprechend dieser Sachlage auf zwei extreme Endpole projiziert: An dem einen Ende steht die auf Deutschland gerichtete Integrationsbezogenheit, am anderen die identitätsbewahrende Herkunftsorientierung und Perpetuierung traditionsbewahrender (meist patriarchalischer) Strukturen. In diesem Zusammenhang lautet die zentrale Frage, ob und inwieweit MSO als (Pro-)Motoren gesellschaftlicher Teilhabe ihrer Mitglieder und damit als Integrationsbrücken fungieren oder ob sie aufgrund der Fokussierung eigengruppenbezogener Interessen eher Integrationsbarrieren darstellen.Footnote 6 Geradezu leitmotivisch zieht sich diese Fragestellung durch wissenschaftliche wie öffentliche Integrationsdiskurse. In der Realität ist davon auszugehen, dass die diversen Formen und Positionen des Engagements zwischen den beiden genannten Extremen liegen (Putnam 2000: 23).

FormalPara Islam- und Sicherheitspolitik seit „9/11“

Aus wissenschaftlicher Sicht werden religiösen und ethnischen Vergemeinschaftungen für das Individuum wichtige identitätsstabilisierende und letztlich auch sozialintegrative Funktionen beigemessen. Da sich zivilgesellschaftliche Aktivitäten auf den öffentlichen Raum beziehen und gesellschaftliche Integrationsprozesse befördern sollen, werden Zusammenschlüsse von Menschen zwecks Bewahrung kultureller Gemeinsamkeiten und Identitäten allerdings auch mit Problembewusstsein und Skepsis betrachtet, und es wird die Frage diskutiert, ob Moscheevereine „die Entstehung religiös und auch ethnisch abgeschotteter sogenannter Parallelgesellschaften fördern“ (Zimmer 2012: 362). Diese Skepsis hat sich v. a. nach den Terroranschlägen auf das Word Trade Center in New York City am 11. September 2001 verschärft. Seit „9/11“ gerieten Personen muslimischen Glaubens unter Generalverdacht und wurden verstärkt auf ihre Religionszugehörigkeit reduziert (Ceylan 2012b: 18). Dies führte zu einer Verstärkung der „Islamisierung öffentlicher Debatten“ (Tiesler 2007) und einer misstrauischen Wahrnehmung muslimischer Religiosität als Sicherheitsrisiko (vgl. Pollack/Müller 2013: 33 f., 38 ff., 56; Hafez/Schmidt 2015). „Islampolitik“ wurde zu einer wichtigen, neu ausgerichteten Aufgabe und zu einem Teil einer Integrationspolitik mit sicherheitspolitisch-präventivem Einschlag (Tezcan 2016: 164). Mit dieser politischen Neuausrichtung verbunden war angesichts der fortdauernden Präsenz von Menschen muslimischen Glaubens und der verschiedenen islamischen (Dach-)Verbände in Deutschland das Anliegen des deutschen Staates, kompetente Ansprechpartner und Repräsentanten der in Deutschland lebenden Muslime zu finden, um langfristig einen Dialog zu institutionalisieren und Zugänge zu muslimischen Gruppen zu erhalten. Dieses Anliegen resultierte in der Einrichtung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) im Jahr 2006, die die Integration der Muslime in Deutschland und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbessern sollte (Azzaoui 2011; Tezcan 2016: 165 f.).

FormalPara Themenbezogene Spannungsfelder und ambivalente Phänomene

In den skizzierten Erwartungs- bzw. Bewertungshaltungen, insbesondere gegenüber islamischen MSO, spiegeln sich ambivalente politische Koordinierungs- und Lenkungsmodi, mit denen gesellschaftlich problematisch gewordene Felder des politischen Areals reguliert werden sollen. Konzeptuell gesehen kann dies auf dreierlei Weise geschehen: mit zivilgesellschaftlicher Selbstregelung, mit sicherheitspolitischen (Kontroll-)Maßnahmen sowie im Zusammenwirken von (nicht-)staatlichen Akteuren. Auf diesen drei Ebenen haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Themen und Aspekte aggregiert, die dazu beitragen, dass das Thema MSO in all seinen Facetten ein spannungsgeladenes und kontrovers diskutiertes bleibt. Es geht um Integrationsförderung und damit um politische Erwartungshaltungen. Die MSO erringen im besten Fall den Status zivilgesellschaftlicher Akteure, die die Interessen und Anliegen ihrer Mitglieder in der Mehrheitsgesellschaft repräsentieren und deren Teilhabe außerhalb der Migrantencommunities positiv forcieren können. Eigene und geteilte Migrationserfahrungen, kulturelle Sensibilität und Kompetenzen sowie Bereitschaft zum Engagement lassen die in MSO eingebundenen Personen als besonders geeignete Integrationshelfer mit Zugängen zu schwer erreichbaren Gruppen erscheinen. Dies wurde angesichts des gestiegenen Bedarfs an kultursensibler Flüchtlingshilfe in den letzten Jahren allzu deutlich.

Im Zusammenleben immer hochrelevant sind aber auch gegenseitige Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozesse. Diese können mit Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen sowie als mangelhaft empfundenen Teilhabechancen einhergehen, die wiederum auf eine Abnahme der Deutschlandverbundenheit, eine Verstärkung von Segregationstendenzen und eine erhöhte Anfälligkeit für gesellschaftspolitisch unerwünschte Einflussnahmen hinauslaufen können. Mit letzteren sind v. a. auch (macht-)politische Einflussnahmen und Kontrollen aus dem Ausland angesprochen, die insbesondere die in Deutschland und Nordrhein-Westfalen (NRW) lebenden türkeistämmigen Menschen betreffen. Sie wurden durch die Gründung des Amts für Auslandstürken (Yurtdışı Türkler ve Akraba Topluluklar Başkanlığı) in Ankara im Jahr 2010 und der Verfolgung einer strategischen Minderheitenpolitik der türkischen Regierung in Deutschland forciert (Sauer 2018: 7 ff.). Damit verbunden sind unter den „Deutsch-Türken“ erstarkende nationalistische Orientierungen, mehrfachbedingte bilaterale Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie gegenüber den „Deutsch-Türken“ sowohl seitens der türkischen als auch der deutschen Regierung bestehende Loyalitätseinforderungen. Diese Entwicklungen bleiben nicht ohne Auswirkungen auf türkische MSO und islamische Verbände und den förderpolitischen Umgang mit ihnen. Denn – wie bereits angesprochen – fungieren die islamischen Verbände in gesellschaftspolitischen Debatten und Anliegen als wichtige Interessenvertreter und Ansprechpartner und sind mit ihren Akteursrollen aus der Zivilgesellschaft in Deutschland nicht wegzudenken. Daher werden sie im Rahmen dieser Arbeit bewusst zu den MSO gezählt. Ihr Status als zivilgesellschaftliche Akteure wird bisweilen infrage gestellt, z. B. im Rahmen der Betrachtung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, kurz: DİTİB) als ein Ableger der türkischen Religionsbehörde Diyanet İşleri Başkanlığı (Gorzewski 2015: 45 ff.). Wenngleich im Fall von DİTİB umfangreiche Einflussnahme und Mitspracherechte der türkischen Regierungsbehörde allein durch die Entsendung von Imamen als türkische Beamte nach Deutschland offensichtlich sind, ist zu konstatieren, dass die Zusammenschlüsse der Muslime und der Aufbau von Organisationsstrukturen in Deutschland als solche von unten nach oben, bottom up, erfolgten und komplexen Entwicklungsprozessen unterlagen (u. a. Schiffauer 2004, 2005, 2010; MDI 2018; Lemmen 2017). Zudem stellen einzelne Ortsvereine häufig eigenständige Vereine dar, die ihre Vorstände selbst bestellen und die ihre Angelegenheiten rechtlich selbstständig regeln (Lemmen 2002: 30 f.). Überdies sind es viele in Deutschland sozialisierte Personen ohne eigene Migrationserfahrungen, die sich für Mitgliedschaften und Mitwirkung in der einen oder anderen Vereinigung entscheiden; und nicht zuletzt hat die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte Befragung gezeigt, dass sich die adressierten islamischen Verbände bzw. zugehörigen Vereine selbst als „Migrantenselbstorganisationen“ verstehen.

Nicht übersehen werden kann, dass die Debatte um Status und Rollen der MSO in Deutschland von der Debatte um den Islam und die Rolle der türkischen Vereinigungen und islamischen Verbände mitbestimmt wird. Dies ist auch insofern nachvollziehbar, als die Türkeistämmigen die größte Gruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Minderheitenstatus in Deutschland darstellen (Destatis 2019a; Brinkmann 2016: 151: Haug et al. 2009: 303 f.)Footnote 7 und dem Islam und den (organisierten) Muslimen als größte religiöse Minderheit in Deutschland die höchste Aufmerksamkeit zukommt.

FormalPara Forschungsdesiderate, Pioniercharakter und (inter-)disziplinärer Forschungsansatz der Arbeit

Wenngleich MSO in Deutschland in den letzten Jahren verstärkt das Interesse von Politik und Wissenschaft auf sich gezogen haben, haben viele Beobachtungen und Einschätzungen zu ihren Aktivitäten, Selbstverständnissen und Rollen häufig nur den Charakter anekdotischer Evidenz. Dies betrifft auch konkrete Tätigkeiten, die MSO in der Flüchtlingshilfe übernehmen, und die Frage, inwieweit für sie seit der Flucht vieler Menschen nach Deutschland in puncto Fördermaßnahmen, Kooperationen und Wertschätzung Veränderungen zu verzeichnen sind. Der Mangel an empirischer Evidenz hat ganz wesentlich auch damit zu tun, dass Befragungen dieser Organisationen und die Aufbereitung der Ergebnisse äußerst zeit- und kostenintensiv und ohne Fördergelder nicht zu realisieren sind. Auch deswegen wurden MSO auf der Mesoebene bislang weniger erforscht (Pries/Sezgin 2010b: 7). Ein Schwerpunkt lag bislang auf Studien zu großen, in der Deutschen Islam Konferenz (DIK) vertretenen islamischen Verbänden und GemeindenFootnote 8, die politischerseits gefördert wurden und deren Ergebnisse im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Vergleichsfolie dienen. Darüber hinaus ist festzustellen, dass sozialwissenschaftliche Forschung zu Religion bzw. religiösen Bindungen in ihren Auswirkungen auf zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland im Vergleich zu den USA nicht etabliert ist und insbesondere auf der Mesoebene deutlich weniger Beachtung findet (Liedhegener/Werkner 2011a, b: 30; vgl. auch Petzke/Tyrell 2012: 286 f.).

Angesichts dieser Ausgangslage ist es ein Hauptanliegen der Autorin gewesen, die MSO in ihrer Vielfalt auf der Mesoebene zu befragen, um damit zur Schließung von Forschungslücken beizutragen. Die in dieser Arbeit breit angelegte Definition von MSO impliziert, dass mit ihr ein großes Spektrum an kleinen und großen migrantischen Vereinigungen der verschiedensten Gruppen einzufangen ist. Aufgrund der für Deutschland und die einzelnen Bundesländer äußerst defizitären Datenlage war bzw. ist das Ziehen einer repräsentativen Zufallsstichprobe gar nicht möglich. Ein Abbild dieser Vielfalt zu erhalten, ist damit grundsätzlich ein schwieriges Unterfangen, das eine sehr zeitintensive Recherche von Kontaktdaten voraussetzt. Hinzu kommt die generell existierende Hürde, Zugang zu den MSO zu finden. Trotz dieser Unwägbarkeiten wurde mit dieser Arbeit der Versuch unternommen, im Rahmen einer Vollerhebung in neun nordrhein-westfälischen GroßstädtenFootnote 9 die heterogene Landschaft der MSO ausfindig zu machen, sie nach dem Prinzip von „Trial and Error“ zu erreichen und mit einem standardisierten Fragebogen mehrsprachig zu ihren Aktivitäten und ihrer Situation zu befragen. Eine solche methodische Vorgehensweise hat es in Bezug auf die Erforschung von MSO in Deutschland – zumindest bis zum Start der Studie im Jahr 2018 durch die Autorin – nicht gegeben. Die quantitative Befragung von 257 MSO in der Breite in NRW entsprach somit ursprünglich einer Pilot- und Pionierstudie. Jedoch startete der Forschungsbereich des SVR im Jahr 2019 in den vier Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Bayern, Sachsen und Berlin eine ähnlich angelegte Erhebung, deren Ergebnisse im Dezember 2020 und damit früher veröffentlicht wurden als die Befunde der dieser Arbeit zugrunde liegenden Befragung der MSO in NRW. In der Studie des SVR spielen religiöse MSO allerdings eine untergeordnete Rolle und eine Analyse der Effekte des Faktors Religion auf die zivilgesellschaftlichen Schwerpunkte und Ausrichtungen der religiösen Vereinigungen findet nicht statt. Die Ergebnisse der SVR-Studie Vielfältig engagiert – breit vernetzt – partiell eingebunden? Migrantenorganisationen als gestaltende Kraft in der Gesellschaft (Friedrichs et al. 2020) werden im Kapitel zum Forschungsstand (I. 2.1) sowie punktuell im Rahmen der Präsentation und Diskussion der Untersuchungsergebnisse der Autorin in dieser Arbeit berücksichtigt.

Die vorliegende Arbeit ist ein soziologische: In erster Linie werden organisations-, religions- und migrationssoziologische Perspektiven berücksichtigt. Eingebunden werden darüber hinaus politikwissenschaftliche, historische, sozial- und motivationspsychologische Gesichtspunkte. Um dem Thema in seinen nach vielen Richtungen verzweigten Kontextbedingungen in Deutschland gerecht zu werden, muss eine Weitwinkelperspektive eingenommen werden. Die vom Gesamtkontext her relevanten Aspekte können in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht alle behandelt werden, zum Teil finden sie nur am Rande Erwähnung.

FormalPara Übergeordnete Fragestellung, erkenntnisleitende Interessen und arbeitshypothetische Zugriffe

Die übergeordnete Fragestellung der Arbeit lautet, welche „zivilgesellschaftliche Performanz“ der MSO im Gesamtbild sowie im Vergleich von religiösen mit nicht-religiösen („säkularen“) MSO erkennbar ist. Das zentrale Erkenntnisinteresse besteht somit darin, die Bedeutung des „Faktors Religion“ – d. h. von kollektiven religiösen Bindungen – für die zivilgesellschaftlichen Performanzen der MSO zu ermitteln.

Der Begriff „zivilgesellschaftliche Performanz“ wird im Rahmen dieser Arbeit in einem (organisations-)soziologischen Sinn verstanden als das mess- bzw. erfassbare konkrete Handeln von MSO als Kollektivakteure und ihren zivilgesellschaftlichen Ausrichtungen und Leistungsfähigkeiten, auch im Sinne ihrer Fähigkeit, Ressourcen zu mobilisieren.Footnote 10

Im Interessenfokus steht eine quantitative und in einem kleineren Rahmen auch qualitativ-typisierende Bestandsaufnahme zu zivilgesellschaftlichen Performanzen und handlungstypologischen Profilen, die insbesondere die Ziele, das Aktivitäts- und Kooperationsspektrum sowie die Umweltbeziehungen der MSO umfassen.

Das Agieren und die Position der MSO als zivilgesellschaftliche Akteure basieren – in Anlehnung an die Definition von „zivilgesellschaftlichem Engagement“ – auf ihren Kapazitäten zur Selbstorganisation, zur personellen und finanziellen Ressourcenmobilisierung sowie zur Ausprägung von bestimmten zivilgesellschaftlichen Eigenschaften, Qualitäten und Handlungsweisen. Diese betreffen zum einen den spezifischen Charakter von in den Vereinigungen weitgehend durch Engagierte bzw. Ehrenamtliche unentgeltlich geleisteten, nicht gewinnorientierten Tätigkeiten, wobei die Existenz von vergüteten hauptamtlichen Strukturen (z. B. bei professionellen Trägern) nicht auszuschließen ist. Zum anderen stellt sich in Bezug auf die Ziele, Aktivitäten und Unterstützungsangebote die Frage, ob sie einen Öffentlichkeitsbezug aufweisen, d. h. ob die Tätigkeiten über gruppenbezogene Partikularinteressen hinausgehen oder nicht.

Bei der Erkundung und Prüfung zivilgesellschaftlicher Charakteristika und Performanzen werden interne, externe und relationale Einflussfaktoren berücksichtigt. Interne Faktoren betreffen die organisationsspezifischen Merkmale der MSO (Alter; Zuordnung zu religiöser Tradition; finanzielle und personelle Ressourcenausstattung etc.) sowie ihre zivilgesellschaftlichen Eigenschaften (Ziele; Tätigkeiten; Selbstverständnis; Kooperationsverhalten). Externe Faktoren beziehen sich auf die Umwelt (finanzielle Förderungen; Bedeutung externer Akteure und öffentlicher Diskurse) und relationale Faktoren umfassen die Beziehung zwischen MSO und anderen (Kollektiv-)Akteuren (Kooperation und diesbezüglich wahrgenommene Schwierigkeiten).

Die unterschiedenen internen, externen und relationalen Aspekte liegen dicht beieinander und sind nicht überschneidungsfrei. So wird etwa die finanzielle Ressourcenausstattung (intern) auch von Fördermaßnahmen (extern) beeinflusst. Organisationsspezifische Ziele sowie das je eigene Selbstverständnis einer MSO und ihre Aufgabenfelder wirken sich zweifelsohne auch auf das Kooperationsverhalten (relational) aus.

In Ergänzung der Kennzeichnung der drei Faktoren als wichtige Analyseebenen werden zur inhaltlichen Konkretisierung der Performanzanalyse im Folgenden die relevanten Leitfragen in kleinteilige Fragen und Unterfragen zerlegt. In diesen Fragen finden einige der ebenfalls erhobenen, soeben im Zusammenhang mit den Faktoren genannten Eigenschaften und Ressourcenausstattungen der MSO jedoch keine ErwähnungFootnote 11. Durch die Fragen wird auch deutlich, wie hier der Begriff „Performanz“ verstanden werden soll, nämlich als eine bestimmte Art von Handlungspraxis bzw. Handlungsform, die an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist.

  • In welchen Bereichen liegen Schwerpunkte der Aktivitäten und Dienstleistungen der MSO?

  • Wie ist es um den Öffentlichkeitsbezug, die Gemeinwohlorientierung und die Reichweite der Aktivitäten bestellt?

    • Beziehen sich die Aktivitäten eher auf die eigene Gruppe (Mitglieder) oder auch auf andere Personenkreise außerhalb der Organisation?

    • Welche Personengruppen werden mit den Aktivitäten explizit adressiert?

    • Welche Aktivitätsradien der MSO lassen sich feststellen?

  • Wie werden freiwillig Engagierte erreicht und gewonnen und bestehen Probleme, Freiwillige/Ehrenamtliche zu rekrutieren?

  • Was sind Beweggründe (Motive) der Engagierten für ihr Engagement in einer MSO?

  • Was sind konkret verfolgte Ziele/Interessen der MSO?

    • Richten sie sich primär auf das Leben in Deutschland oder auf das Herkunftsland?

  • Welche Vorstellungen haben die MSO von sich selbst (Selbstverständnis)?

    • Versteht sich die MSO selbst als religiös und verfolgt sie das Ziel, die jeweilige religiöse Tradition/Lehre gemeinsam zu pflegen und nach außen zu verkünden (im Sinne einer „Religionsgemeinschaft“)?

    • Wie offen ist die MSO für Nicht-Mitglieder, Andersgläubige, Menschen unterschiedlicher Herkunft, verschiedenen Alters und Geschlechts?

  • Wie wird das Miteinander innerhalb der MSO eingeschätzt?

  • Arbeitet die MSO mit anderen Organisationen zusammen und wenn ja, mit welchen?

    • Was sind die mit den Kooperationen verfolgten Ziele?

    • Welche Schwierigkeiten werden innerhalb der Kooperationen wahrgenommen?

  • Inwieweit sind im Zusammenhang mit der Flucht vieler Menschen nach Deutschland (seit 2015) für die MSO Veränderungen zu verzeichnen, v. a. in Hinblick auf ihren Stellenwert als Anlaufstelle für Geflüchtete, in ihrer Wertschätzung von außen, in der Zusammenarbeit mit Stadtpolitik und Stadtverwaltung sowie hinsichtlich politischer Fördermaßnahmen?

  • Wie schätzt die MSO ihre eigene Arbeit, Situation sowie Wahrnehmungen durch die Öffentlichkeit ein und inwieweit zeigt dies Problemlagen und Verbesserungsbedarfe an?

FormalPara Dichotomisierter Analysezugriff: Religiöse versus nicht-religiöse MSO

Die Untersuchung der zivilgesellschaftlichen Performanzen in dieser Arbeit betrifft alle MSO in ihrem Gesamtbild sowie zugleich (charakteristische) Unterschiede zwischen religiösen und säkularen Organisationen. Für die Bezeichnung einer Organisation als eine religiöse ist im Rahmen dieser Arbeit deren Zuordnung zu einer bestimmten religiösen Lehre oder Tradition als Kollektivakteur auf der Mesoebene ausschlaggebend. Diese Zuordnung lässt erwarten, dass die betreffenden MSO umfangreiche religiöse Zielsetzungen, institutionalisierte religiöse Praktiken und Aktivitäten verfolgen (vgl. Hero et al. 2008: 19; Pickel 2011: 19). „Religiös“ wird hier in Abgrenzung zu „säkular“ bestimmt. Bei dem in dieser Arbeit relevanten Religionsbegriff ist die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz zentral (Pollack 2018: 26, 39, 43). Dabei bezieht sich religiöse Transzendenz auf ein außerhalb der menschlichen Welt liegendes, nicht verfügbares übernatürliches Glaubenssystem, mit dem im realen Diesseits (Sinn-)Fragen menschlicher Existenz beantwortet werden und dem damit spezifische identitäts- und lebenssinnkonstitutive Bedeutungsfunktionen zukommen. Ein transzendentes Bezugssystem lässt sich – und darauf kommt es bei der hier infrage stehenden Performanz der MSO an – in der Immanenz, d. h. in der weltlichen Lebenspraxis kommunikativ erfahrbar und präsent machen (ebd.: 38 f.). Die Bezugnahme auf die alltägliche Lebenswelt kann in verschiedenen Ausdrucksformen erfolgen, zuvorderst durch Bindung an ein moralisches Wertesystem und die handlungsleitende Kraft verinnerlichter religiöser Werte und Normen; diese stellen für unterschiedliche religiöse Gemeinschaften – als institutionelle Ausprägungsform von Religion in der Gesellschaft – das konstitutive Fundament dar. Dies verweist einerseits auf individuelle Überzeugungen der in den MSO involvierten Personen sowie andererseits auf die lebenspraktische Relevanz von religiösen Praktiken wie Gebeten, Ritualen und Zeremonien innerhalb der Gemeinschaft (Pickel 2011: 18; Pollack 2001: 337). Hierin wird die „Kommunikabilität religiöser Sinnformen“ und die Vermittlungsfunktion von Religionen als „sozial verankerte Symbolsysteme und Praktiken“ (Exc WWU 2018: 16) zwischen Immanenz und Transzendenz deutlich.

Für alle Fragen wird untersucht, welche Bedeutung kollektiven religiösen Bindungen mit Blick auf organisationale Performanzen zukommt. Von besonderem Interesse ist dabei, welche Resultate ein Vergleich zwischen sich explizit einer religiösen Tradition zuordnenden MSO im Verhältnis zu „säkularen“ Vereinigungen hervorbringt und inwieweit demzufolge mit dem Phänomen der Religion assoziierte theoretische Prämissen bzw. antizipierte Erwartungen bestätigt werden oder eher zu verwerfen sind. Neben diesem dichotomisierenden Analysezugriff (religiös vs. säkular) sollen das Tätigkeitsspektrum sowie die messbare Aufgeschlossenheit der MSO gegenüber der Umwelt auch entlang verschiedener Konfessionen, denen sich die MSO zuordnen, analysiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die bereits angesprochene Frage, ob die Organisationen mit ihren Aktivitäten „brückenbauend“ in Erscheinung treten oder solchen Intentionen eher entgegenstehen. Damit ist unmittelbar die Frage nach dem Öffentlichkeitsbezug der organisationalen Performanzen aufgeworfen.

Angesichts der übergeordneten bzw. querschnittlich relevanten Frage, ob sich die religiösen und säkularen MSO hinsichtlich ihrer Performanzen unterscheiden, impliziert der hier praktizierte Forschungsansatz die allgemeine Hypothese, dass sich religiöse und säkulare MSO hinsichtlich der zivilgesellschaftlichen Performanzen signifikant unterscheiden. Insofern werden im Rahmen der Studie nicht konsequent theoretisch verankerte Hypothesen formuliert; dies wäre angesichts des diesbezüglich kaum elaborierten Theoriestands zum einen nicht möglich bzw. würde Überkonstruktionen zur Folge haben und zum anderen den Rahmen der Arbeit sprengen. Folglich gilt es, organisationale Charakteristika herauszuarbeiten und die religiösen und säkularen MSO zueinander ins Verhältnis zu setzen.

Im Rahmen der Bestandsaufnahme zu zivilgesellschaftlichen Performanzen der MSO sind vor dem Hintergrund des bereits Dargelegten folgende Analysefragen herauszustellen:

  • Welche Ausmaße und Ausrichtungen des organisationalen Handelns der MSO sind zu ermitteln und inwieweit lassen sich auf den Faktor Religion zurückzuführende Demarkationslinien feststellen?

  • Welche spezifischen Muster (Regelmäßigkeiten), Unterschiede und Zusammenhänge lassen sich in Bezug auf bestimmte Eigenschaften und zivilgesellschaftliche Profile der MSO – insbesondere im Vergleich der religiösen mit den nicht-religiösen Vereinigungen – identifizieren?

  • Welche Sozialkapital-Typen lassen sich bei einer Kategorisierung der Aktivitäten, Kooperationen, Mitgliedschaftsvoraussetzungen und Zielgruppen der MSO hinsichtlich ihrer brückenbildenden („bridging“) und gruppenbindenden („bonding“) Ausrichtungen identifizieren und inwiefern lassen sich diese mit spezifischen (religiösen) Eigenschaften der MSO erklären?

Ein Erkenntnisinteresse besteht also ebenfalls in der Prüfung, ob zwischen einzelnen der erhobenen Aspekte statistisch signifikante Zusammenhänge („Bestimmungsgründe“) festzustellen sind. Dies betrifft beispielsweise die Frage der finanziellen und personellen Ressourcenausstattungen als Voraussetzung für ein breites Spektrum an Aktivitäten und Kooperationspartnern, die Frage des Einflusses der Wahrnehmung von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung auf das Kooperationsverhalten der MSO oder die zu eruierende Causa, unter welchen Bedingungen MSO abgrenzendes Bonding-Verhalten an den Tag legen.

An dieser Stelle ist zu betonen, dass die quantitative Erhebung auf der Mesoebene über die Befragung von einzelnen Funktionsträgern bzw. Personen, die die adressierten Organisationen sehr gut kennen, erfolgte. Damit handelt es sich bei den gegebenen Auskünften jeweils um persönliche Einschätzungen von Funktionsträgern, die für die Organisation bzw. für die Mitglieder und Engagierten geantwortet haben. Auch die Beurteilung von externen und relationalen Verhältnissen beruht auf den Antworten und persönlichen Wahrnehmungen der Funktionsträger; gleichwohl werden ihre Aussagen zu den MSO als gültige Angaben veranschlagt. Eine Befragung von Mitgliedern war aus finanziellen, logistischen und zeitlichen Gründen für die Autorin schlichtweg nicht zu realisieren.

FormalPara Zum Aufbau dieser Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei große Blöcke. Diese umfassen den Forschungsstand (I.), den Stand der Theorie (II.) sowie die Empirie (III.).

Der Forschungsstand (I.) ist in zwei Kapitel unterteilt. Im ersten (2.1) geht es um eine quantitative Bestandsaufnahme zu den MSO hinsichtlich in jüngster und vor längerer Zeit ermittelter Daten zu ihrer Anzahl in Deutschland und einzelnen Bundesländern, zu ihren Tätigkeitsbereichen, Ausrichtungen und der durch sie vertretenen Nationalitäten. Im zweiten Kapitel (2.2) werden Inhalte und Ergebnisse von Studien zu MSO seit den 1980er Jahren mit einem Fokus auf türkisch-islamische Vereinigungen thematisiert.

Im ersten Kapitel des Theorieteils (II.) geht es um konzeptuelle wie theoretische Konturierungen von „freiwilligem Engagement“ und „Zivilgesellschaft“. Hier wird dargestellt, was unter diesen populären Begriffen in der gesellschaftspolitischen und fachwissenschaftlichen Debatte eigentlich verstanden wird und auf Basis welcher Überlegungen handhabbare Zugänge und bestimmte inhaltliche Akzentsetzungen festzustellen sind (3.1). Des Weiteren sind in diesem Zusammenhang bestimmte Rahmenfaktoren zu beleuchten, die auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene bestehen. Sie schaffen Gelegenheiten, sich zu organisieren und gesellschaftlich einzubringen und können in ihrer jeweiligen Ausgestaltung die Entfaltung des zivilgesellschaftlichen Engagements insbesondere von Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte und ihren Organisationen fördern oder hemmen (3.2).

Ein zweiter Teil des Theorieabschnitts befasst sich mit der Möglichkeit, den Untersuchungsgegenstand in zwei zentralen theoretischen Diskursen zu verorten (4.). Hier werden zunächst die in der einschlägigen Literatur herausgestellten Rollen und Funktionen der MSO zwischen Binnenorientierung und Vergesellschaftung thematisiert (4.1). Einen zentralen Ausgangspunkt stellt dabei die sogenannte „Esser-Elwert“-Kontroverse dar, die diametral entgegengesetzte Positionen in Bezug setzte und die Frage aufwarf, inwieweit MSO mit ihren Aktivitäten eher integrative oder segregierende Wirkungsrichtungen aufweisen, wobei prinzipiell auch ambivalente Entwicklungsmöglichkeiten eingeräumt werden. In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der „ethnischen Kolonie“ von Friedrich Heckmann zu erläutern.

Vor diesem Hintergrund wird in einem anschließenden Kapitel das populäre Konzept des Sozialkapitals mit seinen theoretischen und (zivil-)gesellschaftlichen Implikationen für den Forschungsgegenstand der MSO dargelegt (4.2). Näher erläutert werden die Grundannahmen der Sozialkapitaltheorie (4.2.1) mit der Kernkategorie des sozialen Vertrauens (4.2.2) sowie die zwei einschlägigen Ausprägungsformen von Sozialkapital – das brückenbildende („bridging“) und das gruppenintern bindende („bonding“) Sozialkapital –, die in der Debatte um (des-)integrative Leistungen insbesondere von religiösen und ethnischen Vereinen bedeutsam sind (4.2.3). Des Weiteren sind Hypothesen zum religiösen bzw. glaubensbasierten Sozialkapital und seinen Erscheinungsformen in unterschiedlichen Konfessionen, v. a. im Islam und Christentum, darzulegen (4.2.4). Abschließend werden die den religiösen Gemeinschaften und Organisationen inhärente Ambivalenz und Janusköpfigkeit hinsichtlich ihrer positiven wie negativen Eigenschaften und daraus resultierende integrationspolitisch erwünschte und abgelehnte Sozialkapitalformen beleuchtet (4.2.5). Das Kapitel zum Sozialkapital nimmt innerhalb der vorliegenden Arbeit eine zentrale Stellung ein: Auf Basis des theoretischen Rahmens werden insbesondere mit Blick auf Bridging- und Bonding-Ausrichtungen von Vereinigungen am Ende des Kapitels Fragen formuliert, die es anhand der dazu erhobenen Daten in einem separaten Kapitel im empirischen Teil dieser Arbeit sorgfältig zu beantworten gilt (III. 7.2).

In einem weiteren Kapitel (4.3) wird sodann ein organisationssoziologischer Fokus eingenommen. Im Mittelpunkt stehen fünf Kernelemente, die zusammen die Basis für das tatsächliche Geschehen in einer Organisation darstellen. Zu ihnen gehören die Organisationsziele (4.3.1), die Ressourcenausstattung (4.3.2), die Mitglieder (4.3.3), die formale Struktur (interner Aufbau, offizielle Abläufe etc.) (4.3.4) sowie – als eine externe Größe – Substanz und Reichweite von Umweltfaktoren (4.3.5). Bei der Konturierung der fünf Basiskomponenten ist in Sonderheit auf in der Theorie vernachlässigte Charakteristika von freiwilligen, migrantischen und religiösen Vereinigungen einzugehen. Die blinden Flecken sowie die vorhandene Theoriepluralität, die der existierenden Vielfalt von Organisationstypen nicht adäquat im Sinne eines one-fits-all gerecht werden kann, begründen die eklektische, diskursive theoretische Beleuchtung der fünf Kernelemente.

Im Anschluss an die Thematisierung der organisationssoziologischen Basiselemente geht es in einem weiteren Kapitel (4.4) um anreiztheoretische Konzepte, die beanspruchen, die zentrale Frage zu beantworten, warum Menschen bereit sind, sich freiwillig und v. a. ohne Bezahlung mit ihren Leistungen in eine Organisation einzubringen. Anreiztheoretische Ansätze gehen davon aus, dass alle Arten von Organisationen den Individuen bestimmte Stimuli offerieren und diese aufrechterhalten müssen. Im Fokus des Kapitels stehen zunächst die Kernargumente des Anreiz-Beitrags-Modells der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie, das von einer Variationsbreite von Anreizen ausgeht und sich gegenüber einer vorherrschenden Wirksamkeit ökonomischer und rationaler Kosten-Nutzen-Kalkulationen kritisch zeigt. Im selben Kapitel erfolgt eine Konturierung möglicher Anreize sowie eine Erläuterung von für die Einbindung der Individuen in den Organisationskontext relevanten Mittel und Mechanismen (4.4.1). Auf diesen anreiztheoretischen Grundstock aufsetzend werden religionssoziologische Blickwinkel dargelegt, die vorteilhaftere Bedingungen für die Rekrutierung von Freiwilligen in religiösen Organisationen erwägen und erörtern. Abschließend erfolgt eine kritische Reflexion der Annahme, dass religiöse im Verhältnis zu nicht-religiösen Zusammenschlüssen (im Migrations- und Aufnahmekontext) über Vorteile der Engagementmobilisierung verfügen (4.4.2) und zwei diesbezügliche Hypothesen werden formuliert.

Nach der Darlegung zentraler anreiztheoretischer Überlegungen folgt schließlich ein Kapitel zum soziologischen Neoinstitutionalismus (NI) (4.5). Auf dessen zentrale Konzepte wurde in den letzten Jahren – die Analyse des Handelns und Auftretens von MSO betreffend – verstärkt zurückgegriffen. Es werden die Grundannahmen des NI mit seinen gesellschaftstheoretischen, makrosoziologischen Perspektiven skizziert und seine Kernkategorien erläutert. Diese gehen von verhaltensregulierenden Wirkungen von Institutionen als in der Gesellschaft verankerten Erwartungsstrukturen aus, arbeiten deren Einfluss auf Organisationen heraus und lassen diese in erster Linie als Produkte der gesellschaftlichen Umwelt(en) erscheinen. Auf Basis der Diskussion und Erweiterung zentraler Annahmen des NI werden vier im empirischen Teil der Arbeit zu überprüfende Hypothesen formuliert.

Der umfangreiche Theorieteil (II.) endet mit einem Kapitel, in dem die Quintessenzen der im Einzelnen fokussierten theoretischen Zugänge zusammengetragen werden (4.6). Ein Anliegen der Autorin dieser Arbeit war es, die einzelnen Kapitel so zu konzipieren, dass sie ohne die Kenntnis vorausgegangener Kapitel nachzuvollziehen sind und nicht „in medias res“ beginnen. Daher werden die in einem jeweiligen Kapitel zu erwartenden Inhalte des Öfteren am Anfang eines Kapitels skizziert und in das Gesamtgefüge eingeordnet.

Der dritte große Block zur Erhebung und Auswertung (III.) beginnt mit drei Kapiteln, die Informationen zu den für die Ermittlung der Bruttostichprobe herangezogenen Datensätzen (5.1), zu den Kriterien der Kommunenauswahl (5.2) sowie den Feldzugängen und der Ausschöpfungsquote (5.3) beinhalten. Danach folgen zwei Kapitel zur Operationalisierung des Forschungsanliegens im Fragebogen (6.1) sowie der Erläuterung der im Rahmen der Datenauswertung im Wesentlichen verwendeten statistischen Tests und Analyseverfahren. Zudem werden Hinweise zur blockweisen Ergebnisdarstellung im darauffolgenden umfangreichen Auswertungsteil gegeben (6.2).

Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass die Darstellung der einzelnen thematisch verorteten Befunde im Ergebnisteil (7.1) jeweils direkt zusammen mit einer Interpretation und Einordnung der Befunde in den Stand von Theorie und Forschung erfolgt. Dies ist für die Nachvollziehbarkeit unbedingt erforderlich. Innerhalb des langen Auswertungsteils werden wesentliche Ergebnisse in typografisch hervorgehobenen „sprechenden Überschriften“ kondensiert und blockweise themenbezogene Zwischenbilanzen gezogen. Dies betrifft insbesondere auch das separat gehaltene Auswertungskapitel „MSO zwischen bonding und bridging“ (7.2). Dieses endet mit einem eigenen Fazit, in dem die Ergebnisse in die Sozialkapital-Debatte eingeordnet und kritisch reflektiert werden (7.2.6). Von diesem sozialkapitaltheoretisch fokussierten Fazit unabhängig werden in einem die gesamte Arbeit abschließenden Kapitel (7.3) die zentralen Ergebnisse der Auswertung (7.1) zusammengetragen und unter Berücksichtigung der Befunde zum Sozialkapital in ihrer Bedeutung für die (theoretische) Unterscheidung von religiösen und nicht-religiösen Vereinigungen bzw. deren Performanzen zugespitzt.

FormalPara Zum Verhältnis von Theorie und Empirie in dieser Arbeit

Der Begriff der Organisation als solcher rekurriert auf die Existenz eines eigenständigen sozialen Systems, das von dem Gesellschaftssystem und einzelnen Interaktionssystemen zu unterscheiden ist. Organisationen beruhen auf dem „Prinzip der Grenzziehung und Selbstselektion“ (Luhmann 2005a/[1975a]: 12). Sie werden von Menschen gegründet und aufrechterhalten: In ihnen wird kommuniziert, entschieden, gehandelt und es werden gemeinsam Leistungen erbracht. Als Sozialgebilde besitzen Organisationen bestimmte Funktionen und Zwecke sowie ordnungsschaffenden und lenkenden Charakter. Innerhalb der auf menschlichen Kooperationen beruhenden Organisationen stellt sich die Frage, wie menschliches Handeln auf übergeordnete Organisationziele hin ausgerichtet und koordiniert werden kann und welche Mittel sich für die gemeinsame Leitungserbringung als opportun erweisen.

Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, bei der Analyse der Performanzen von Organisationen das Verhalten von Personen in Organisationen – d. h. das organisationale Verhalten (engl. organizational behavior) (Weibler 2007: 9) – ebenfalls mitzureflektieren.Footnote 12 Denn das Handeln von Organisationen bzw. die organisationale Produktivität ist nicht ohne das individuelle Verhalten der Mitglieder in Organisationen zu verstehen; die Perspektive der in den MSO involvierten Individuen kann hinsichtlich des koordinierten Zusammenwirkens daher nicht völlig ausgeblendet werden. Konstituierung und fortdauernder Bestand von Organisationen sind nur aufgrund der sich mit eigenen Interessen, Zielen und Bedürfnissen einbringenden Individuen möglich, die organisationale Rollen übernehmen und deren Anliegen Raum zu geben ist. Umgekehrt stellen die MSO für die einzelnen Personen soziokulturelle Realisierungsmöglichkeiten („Gelegenheitsstrukturen“) und Handlungsrahmen für (un-)bezahlte Tätigkeiten sowie die Entfaltung individueller Interessen dar. Insofern ist bei der Beschreibung des Theorie- und des Forschungsstands neben der Kollektiv- auch die Individualebene zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass neben dem organisationstheoretischen Fokus auf z. B. Ziele und Funktionsweisen von Organisationen auch Aspekte subjektiven Handelns sowie individuelle Verhaltensweisen in Gruppen bzw. Organisationen zu reflektieren sind. Dabei stellen sowohl intra- als auch extraorganisationale Kontexte den Referenzrahmen für das menschliche Verhalten dar. Diese Tatsache wird in den beiden Unterkapiteln zu den Mitgliedern herausgearbeitet, die die Relevanz sozialstruktureller Personenmerkmale und individueller Netzwerke (4.3.3.1) sowie subjektiver Motive (4.3.3.2) für freiwilliges Engagement (im Organisationskontext) beleuchten. Insbesondere in Hinblick auf die in dieser Arbeit fokussierten nicht profitorientierten Organisationen und die Perspektive auf deren Mitglieder sind deren Rolle als einzelne Akteure und ihre Handlungsrahmen zu thematisieren.Footnote 13 Ein damit verknüpftes wichtiges Anliegen der Autorin ist es, die Existenz disparater – ungleicher – Voraussetzungen und Bedingungen für zivilgesellschaftliche Beteiligung sowohl auf der Individual- als auch auf der Mesoebene herauszustellen bzw. für diese zu sensibilisieren.

Überdies ist von Belang, wie das Verhalten von Personen durch strukturelle, prozessuale und soziale Bedingungen innerhalb der Organisationen beeinflusst und gesteuert werden kann. Die verschiedenen Rollen als Individuen, Gruppen- und Organisationsmitglieder lassen sich dabei nicht trennscharf voneinander abgrenzen, sondern gehen ineinander über. Die theoretischen Horizonte dienen in den betreffenden Kapiteln damit auch der Erläuterung von wichtigen verhaltenssteuernden, ordnungsstiftenden Regelungen und gruppensoziologischen Prozessen innerhalb von Organisationen.

Der Untersuchungsfokus dieser Arbeit liegt jedoch auf der Mesoebene. Es geht um das Handeln von migrantischen Organisationen als Kollektivakteure. Mit der Verwendung der Termini „Handeln“ und „Verhalten“ ist eine Adaption von Begriffen angezeigt, die sich ursprünglich auf lebendige Organismen bzw. Menschen beziehen und die als solche in ihrem Bedeutungsgehalt wiederum voneinander zu unterscheiden sindFootnote 14 (Esser 1999a: 177 f.; Heckhausen 1989: 13 ff.). Dieser Hinweis ist erforderlich, um im Rahmen dieser Arbeit nicht für begriffliche Verwirrungen zu sorgen. Da der Terminus des „organisationalen Verhaltens“ im Kontext der Organizational Behavior-Forschung Anwendung findet, wird in dieser Arbeit in Bezug auf die auf die Organisationsebene bezogene Analyse abwechselnd und synonym von „organisationalem Handeln“ und „organisationaler Performanz“ gesprochen.Footnote 15 Diese Performanz ist messbar, sie soll anhand der dazu erhobenen Daten beschrieben, interpretiert und erklärt werden. Damit steht der Leistungsaspekt der Organisationen in ihrer Gesamtheit im Vordergrund.

Insgesamt wird mit den Theoriekapiteln ein Blick „hinter die Kulissen“ von Organisationen geworfen. Damit soll ein substanzieller Beitrag zur theoretischen Profilbildung des Forschungsgegenstandes geleistet werden. Eine Inbezugsetzung von Theorie und Empirie kann – das sei zur Orientierung vorab gesagt und mag dem Leser bereits aufgefallen sein – nur in Teilen erfolgen. Denn angesichts der komplexen Theorien als abstrakte, wissenschaftlich begründete Erklärungen bestimmter Prozesse und Mechanismen können im Rahmen dieser Arbeit nur in Teilen empirische Ergründungen erfolgen. Da das Erkenntnisinteresse in für die adressierten Funktionsträger beantwortbare Fragen zu übersetzen war, sind die Grenzen des Erhebungsdesigns offensichtlich. Insofern sind angesichts der theoretischen Ausführungen Bruchstellen zwischen Theorie und Empirie bzw. ein Überhang an Theorie zu konstatieren. Den Theoriekapiteln kommt somit ein „autonomer“ Stellenwert und eine dreifache Funktion zu: Sie dienen 1.) der Konturierung der zentralen das Organisationshandeln charakterisierenden Größen, 2.) der Einordnung des Forschungsgegenstands in den Stand der Theorie sowie 3.) als Basis für die Operationalisierung der Forschungsfragen.

Neben einer deskriptiven Bestandsaufnahme der organisationalen Performanzen stellt die Prüfung von im Rahmen einzelner Theoriekapitel hergeleiteten Hypothesen ein weiteres forschungsleitendes Ziel dar. Mit den Hypothesen werden wissenschaftlich fundierte Vermutungen über Sachverhalte und Zusammenhänge aufgestellt und sie beinhalten damit gesichertes Wissen und unbestätigte Annahmen zugleich (Pollack 2014a: 405).Footnote 16

In der Summe ist es der Anspruch dieser Arbeit, in theoretischer und empirischer Hinsicht zu einem besseren Verständnis der Eigenschaften und zivilgesellschaftlichen Verortung migrantischer Vereinigungen beizutragen. Unter den methodischen Bedingungen der in dieser Arbeit vollzogenen theoretischen Konstruktionen sind Erkenntnisgrenzen offensichtlich. Anhand der Theorie und Empirie kann „das Wesen“ der MSO nicht erschöpfend erfasst werden. Gleichwohl schärfen die Ergebnisse gerichtete Orientierungen zur Beurteilung der zivilgesellschaftlichen Bedeutung der MSO und sind zusammen mit der Darlegung und Prüfung theoretischer Prämissen in der Summe als eine notwendige Weiterentwicklung der Forschung zu migrantischen Selbstorganisationen in Deutschland zu betrachten.