2.1 Zum empirischen Material

2.1.1 Vorarbeit: Das Projekt „Denkweisen der Globalisierung“

Das empirische Material, mit dem ich mich in meiner Forschung auseinandersetze, stammt aus einem anderen Forschungsprojekt, das ich gemeinsam mit drei anderen Forschenden durchgeführt habe. Die Ergebnisse des Projekts „Denkweisen der Globalisierung“ – im Folgenden auch Primärstudie genannt – wurden in einigen Artikeln (Fischer et al 2016, 2015b, 2015c, 2014; Kleinschmidt 2016; Kleinschmidt et al 2015) und insbesondere in der Monographie Globalisierung und politische Bildung (Fischer et al 2015a) dokumentiert. Das Projekt wurde zwischen 2012 und 2014 von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Zunächst werde ich die Untersuchungsanlage der Primärstudie vorstellen. Im folgenden Kapitel werde ich mich ausführlicher mit dem Vorgehen im Interview und der Reflexion der Erhebungssituation auseinandersetzen.

Die Primärstudie zielte auf eine didaktisch motivierte Bestandsaufnahme der Schüler_innenvorstellungen über den Prozess der Globalisierung. Die Forschungsperspektive ist von globalisierungskritischen und demokratietheoretischen Theorieansätzen geprägt. Dabei spielte auch eine vergleichende Perspektive eine Rolle. Verglichen wurden die Vorstellungen von Schüler_innen in unterschiedlichen sozialen Lagen. Operationalisiert wurde diese Unterscheidung durch die Wahl der Schultypen Hauptschule und Gymnasium. Dabei wurden jeweils Schulen ausgewählt, die in tendenziell privilegierten bzw. nicht privilegierten Stadtteilen liegen. Untersucht wurden also die Vorstellungen von Schüler_innen der Hauptschule und des Gymnasiums in der 9. Klasse. Die dahinter liegende Hypothese war, dass die Gymnasiast_innen bzw. sozioökonomisch besser gestellte Schüler_innen in der Globalisierung eher Chancen und Erweiterungen der Möglichkeitsräume sehen, während Hauptschüler_innen tendenziell die als bedrohlich wahrgenommenen Seiten der Globalisierung in den Vordergrund stellen. Diese Hypothese konnte so nicht bestätigt werden. Punktuell wurden einige signifikanten Unterschiede festgestellt. Diese werde ich weiter unten in diesem Abschnitt kurz darstellen.

Die Forschungsanlage der Primärstudie basiert auf einer Methodentriangulation. Im ersten Schritt des zweistufigen Erhebungsverfahrens wurden mit offenen Fragebögen die Vorstellungen von 101 Schüler_innen der Hauptschule und 109 Schüler_innen des Gymnasiums untersucht. Die Schüler_innen sollten hier auf drei Fragen antworten, die auf das Verständnis von Globalisierung, die vermuteten Ursachen und die Bewertung abzielten. Die Antworten wurden mittels eines adaptierten Verfahrens der logographischen Analyse ausgewertet (Fischer et al 2015a). Auf diese Weise wurde ein drei Ebenen umfassendes Kategoriensystem entwickelt (ebd.: 29 ff). Die Hauptkategorien – also die Kategorien der ersten Ebene – entsprachen hierbei den genannten ‚Themenbereichen‘ der Schüler_innen, die sie mit dem Begriff Globalisierung assoziierten: Klima, Ökonomie, Politik, technischer Fortschritt, Kultur, Kommunikation. Dabei wurden auch die Besetzungshäufigkeiten der Kategorien ermittelt. Die Aufzählung der Hauptkategorien erfolgte in der Reihenfolge der Häufigkeiten der Nennungen. Die Fragebogenuntersuchung zielte darauf ab, einen Überblick über die Heterogenität der Vorstellungen zu erlangen. Außerdem ermöglichte er es, eine informierte Auswahl der Untersuchungsteilnehmer_innen für den zweiten Erhebungsschritt zu treffen, also diejenigen auszuwählen, mit denen Interviews geführt werden sollten. Die Auswahl erfolgte nach dem Kriterium der inneren Repräsentation, was bedeutet, dass sowohl der Kern des Feldes als auch seine Abweichungen vertreten sein müssen (ebd.: 20).

Der zweite Erhebungsschritt bestand in der Durchführung von insgesamt 44 problemzentrierten Interviews, davon 23 mit Gymnasiast_innen und 21 mit Hauptschüler_innen. Diese Interviews sind das empirische Material meiner Forschung. In den Interviews ging es nicht mehr darum einen Überblick zu gewinnen. Hier wurden die subjektiven Sinnbildungen in verschiedenen mit Globalisierung verknüpften Themenbereichen in ihrer Tiefe in den Blick genommen. Das problemzentrierte Interview zeichnet sich grundsätzlich durch zwei Kommunikationsstrategien aus (Witzel 1985: 247 ff). Ausgangspunkt sind dabei immer erzählgenerierende Techniken, die in jedem Fall zu Beginn des Interviews, aber auch im Wechsel mit der verständnisgenerierenden Technik eingesetzt wird. Die Interviews begannen alle mit der Frage, was sie unter „Globalisierung“ verstehen. Durch an die Antworten anknüpfende Fragen oder die Aufforderung mehr zu erzählen wurde versucht den Schüler_innen möglichst viel Raum zu geben, ihre Sichtweise darzulegen. Der rote Faden war hier das vorgebrachte Narrativ der Schüler_innen. Dabei wurden auch Abschweifungen zugelassen, um den Erzählfluss nicht zu bremsen und auch die über Umwege formulierten Vorstellungen zuzulassen. Ich als Interviewender hielt mich in diesen Phasen des Interviews möglichst mit sinngebenden Impulsen zurück und bestärkte die Schüler_innen durch erzählgenerierende Anregungen.

Die Interviews begannen alle mit einer erzählgenerierenden Sequenz, die je nach Schüler_in und Interviewverlauf oft lange aufrechterhalten werden konnte, manchmal jedoch auch schnell abbrach. Da die Schüler_innen auf die Ausgangsfrage nach dem Begriff der „Globalisierung“ meist einen mit Globalisierung zusammenhängenden Themenbereich besprachen, kam es in allen Interviews dazu, dass ich sie fragte, ob sie auch noch etwas anderes darunter verstehen würden. Manchmal erwähnte ich auch Stichworte anderer Themenbereiche. Diese Impulse führten zu einer weiteren erzählgenerierenden Sequenz zu einem anderen Themenbereich. Die Anregung zu Erzählungen zu anderen Themenbereichen war insbesondere deswegen nötig, da der Startimpuls über den Begriff „Globalisierung“ erfolgte, das Ziel ja aber nicht in erster Linie darin bestand, die Assoziationen mit diesem Wort zu erfassen, sondern die subjektiven Sinnbildungen zu mit diesem Begriff In Verbindung stehenden Themenbereichen zu erheben.

Die verständnisgenerierenden Kommunikationstechniken bestehen in der Zurückspiegelung, klärenden Verständnisfragen und Konfrontation.

„Die am schwierigsten zu handhabende Kommunikationsstrategie der ,spezifischen Sondierung‘ hat eine genuin verständnisgenerierende Funktion. Derartige Interviewereingriffe häufen sich im Laufe des Gesprächs, wenn es gilt, Erzählsequenzen, Darstellungsvarianten und stereotype Wendungen nachvollziehen zu können und ihren Zusammenhang mit verschiedenen Detailäußerungen, die ihrerseits häufig zu klären sind, einer Vorinterpretation zuzuführen. Spezifische Sondierungen bestehen aus Kommunikationsformen der Zurückspiegelung, Verständnisfrage und Konfrontation.“ (Witzel 1985: 247)

Die verständnisgenerierenden Kommunikationstechniken wurden – um den Erzählfluss nicht zu stoppen – zunächst möglichst wenig, im weiteren Verlauf des Interviews dann vermehrt eingesetzt. Die Zurückspiegelung, die Verständnisfrage und die Konfrontation wurden je nach Situation entweder direkt nach der Nennung einer besonders klärungsbedürftigen Äußerung eingesetzt oder aber es wurde später im Interview wiederaufgegriffen. Besonders klärungsbedürftig waren Äußerungen, die entweder dem Interviewenden nicht verständlich waren oder aber eine von den bereits bekannten Vorstellungen abweichende Vorstellung vermuten ließen, in jedem Fall aber für die Forschungsfrage besonders interessant erschienen. Da der Interviewende – also ich – auch zu dieser Zeit schon besonders an dekolonialen Themen interessiert war, sind viele von dieser Perspektive aus erfolgte Impulse zu verzeichnen. Die verständnisgenerierenden Kommunikationstechniken fungierten dann in der Praxis oft auch als Eröffnung weiterer narrativer Sequenzen, in denen die Schüler_innen ihre Vorstellungen entwickelten.

2.1.2 Die Interviews: Reflexionen zur Erhebungssituation

Angestrebt wurde, in den Interviews möglichst umfangreiche narrative Sequenzen zu haben, in denen die Schüler_innen die Möglichkeit haben, ihre „Sicht der Dinge in der von ihnen intendierte Weise zu entwickeln“ (Fischer et al 2015a). Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Erhebungssetting die Artikulation der ‚eigentlichen‘ Vorstellungen der Schüler_innen ermöglicht hätte. ‚Eigentliche‘ Vorstellungen gibt es nicht. Jedes Sprechen, also die Artikulation von Vorstellungen, ist an einen – sozialen, diskursiven und auch räumlichen – Kontext gebunden, der das Sprechen mitstrukturiert. Selbst ein einfarbiger, fensterloser Raum ohne anwesenden Interviewer ist ein Setting, das die Interviewten beeinflusst. Mit jeder Sprechsituation sind Vorstellungen von vermeintlichen Erwartungen verbunden und die subjektive Verortung innerhalb von Machtstrukturen verschiebt sich durch die Veränderung des Kontextes des Sprechens. Es gilt also nicht, diese Dimensionen im Erhebungsprozess möglichst auszuradieren, sondern vielmehr, diese Dimensionen anzuerkennen und reflexiv wieder einzufangen. Im Folgenden möchte ich die Erhebungssituation beschreiben und reflektieren, um sie transparent zu machen und das Gesagte und Nicht-Gesagte auch in Verbindung mit der Erhebungssituation denkbar zu machen. Dies werde ich anhand (1) des Kontext des vermachteten Raums Schule, in dem alle Interviews geführt wurden, und (2) der vermachteten Beziehung vom Interviewenden und Interviewten darlegen.

2.1.2.1 Der Kontext des vermachteten Raums Schule und die Hierarchisierung von Wissen

Der Kontakt zu den Schüler_innen wurde über die Lehrkräfte hergestellt. Der Erstkontakt erfolgte im Zuge der Fragebogenerhebung. Vor dem individuellen Ausfüllen des Fragebogens im Klassenverband hatten wir, also das Forschungsteam, eine kurze Ansprache gehalten, in der wir betont haben, dass es sich nicht um einen Test oder Leistungskontrolle handelt, sondern wir daran interessiert sind, was die Schüler_innen denken, damit zum Beispiel Unterrichtsmaterialien sinnvoller gestaltet werden können. Die ausgefüllten Fragebögen wurden aus rechtlichen Gründen nicht mit den Namen versehen, sondern mit Nummern. Nach der Auswahl der von uns bevorzugten Interviewpartner_innen wurden diese von der Lehrkraft gefragt, ob sie Interesse daran hätten, teilzunehmen. Ein möglicher Anreiz bestand darin, dass das Interview während der Unterrichtszeit stattfinden sollte. Wenn die/der Schüler_in sich bereit erklärt hatte, wurde noch eine schriftliche Erlaubnis der Erziehungsberechtigten eingeholt. Mit Ausnahme der kurzen Ansprache im Zuge der Fragebogenerhebung verlief der Kontakt bis zu Begegnung in der Interviewsituation also fast ausschließlich über die jeweilige Lehrkraft.

Dies stellte sich in einigen Situationen als problematisch für das Interview heraus. An einer Hauptschule befand ich mich im Lehrer_innenzimmer und besprach mit den Lehrkräften die Umsetzung der Auswahl der Interviewpartner_innen. Diese rieten mir, unsere Auswahl zu überdenken. Die von uns ausgewählten Schüler_innen seien nicht in der Lage „auch nur einen ganzen Satz zu formulieren“, sprächen „kaum Deutsch“ und hätten sowieso „überhaupt keine Ahnung von den Themen, erst recht nicht von so einem abstrakten Thema“.Footnote 1 Diese Aussagen wurden von zustimmenden Ausrufen und Lachen anderer anwesender Lehrkräfte begleitet. Diese ‚Ratschläge‘ schlug ich aus und bestand auf der Auswahl. Die am gleichen Tag durchgeführten Interviews mit den drei Hauptschülern dauerten je etwa eine Stunde und waren in Bezug auf mehrere Themenbereiche sehr ergiebig und spannend.

In allen drei Interviews war auffällig, dass sie sehr zäh begannen. Misstrauen war deutlich spürbar. Dieses konnte durch einige auflockernde Kommunikationsformen, die ich allen Interviewten anbot, nach und nach abgebaut werden. Zu diesen zählte neben der mehrfachen Feststellung, dass es sich hier um keinerlei Test oder Leistungskontrolle handelt und ich vielmehr interessiert an der Perspektive der Schüler_innen war, das Anbieten von Keksen, Lachen und das Sprechen über ein – zumindest für die Forschungsfrage – belangloses Thema. Dabei wählte ich oft ein schulisches Thema, wie etwa welches Fach die_der Schüler_in gerade hatte und, ob es als positiv wahrgenommen würde, da nicht hinzumüssen; und auch, wie ich selber zu dem Fach gestanden habe. Hier vermittelte ich meine eigene Distanzierung zur Institution Schule. Ein das Misstrauen oder die Nervosität abbauendes Thema war auch häufig mein Bänderriss – zu der Zeit war ich auf Krücken unterwegs – und das damit verknüpfte Thema Sport. Ich stellte mich mit meinem Vornamen vor und bot das ‚Du‘ an. In der Regel führte dies alles zu einer deutlich ungezwungeneren Stimmung als sie noch wenige Augenblicke zuvor spürbar gewesen war. Dieses Vorgehen war dabei keine aufgesetzte Strategie, sondern spiegelte vielmehr meine aufrichtige Haltung gegenüber den Schüler_innen wider. In den genannten drei Fällen machte ich allerdings meine Distanzierung gegenüber der Institution Schule noch sehr viel stärker deutlich und verortete mich im Laufe des Interviews, indem ich punktuell im Anschluss an ihre Äußerungen deutlich machte, dass ich – in anderen Worten – rassistische Hierarchisierungen äußerst problematisch finde. Dies stellte meiner Beobachtung nach einen Wendepunkt dar, Körperhaltung und der Grad der Zugewandtheit änderte sich merklich zum Positiven. Dies wiederum war kein strategischer Trick, sondern das Einbringen meiner subjektiven Überzeugung in den Erhebungsprozess. Eine Herstellung von Nähe in der Forschungssituation, der einen kurzzeitigen Raum des Vertrauens und der Wertschätzung schafft, wird oft „als erstrebenswert und (erkenntnis-)gewinnbringend“ (Schmidt 2013: 175) angesehen.

Zwei Einwände ließen sich gegen dieses Vorgehen erheben. Zum einen ist es forschungsethisch fragwürdig, ein solches Vorgehen als Strategie zu verwenden, um Wissen über die – sowieso schon am unteren Ende der Hierarchie innerhalb des Machtverhältnisses vom Forschenden und Beforschten angesiedelten – Interviewten zu sammeln, das dann im Zweifelsfall auch noch in einem von ihnen nicht intendierten Sinne verwendet werden kann. Dies gilt natürlich für die meisten Verhältnisse von Forschenden und Beforschten. Eine Nutzung machtkritischer Positionierung als Instrument zur Erlangung eines Einblicks in die Vorstellungen erscheint aus einer solchen Perspektive allerdings besonders perfide. Mein Vorgehen basierte dabei allerdings auf meiner aufrichtigen Haltung und Überzeugung – was allerdings die Machtdimension nicht verschwinden lässt. Forschungsethisch ‚löse‘ ich diese verzwickte Situation keineswegs, indem ich meine ‚Aufrichtigkeit‘ behaupte, allerdings finde ich so möglicherweise einen gangbaren Weg, zu dem auch gehört, dass ich verantwortungsvoll mit den so gewonnenen Einblicken umgehe.

Zum anderen stellt sich die Frage nach der Vergleichbarkeit mit den anderen Interviews, also ob mein Vorgehen hier eine andere Spur gelegt hat, die notwendigerweise zu anderen Ergebnissen führt, als in den anderen Interviews, zum Beispiel, weil sich der Erwartungshorizont dessen, was von den Schüler_innen als sozial erwünscht angenommen wird, verschiebt. Dagegen ist wiederum einzuwenden, dass Forschende nie unsichtbar sind und immer beteiligt an der Herstellung von Ergebnissen; „in Interaktion mit den beteiligten konstruieren sie Wirklichkeit“ (Schmidt 2013: 174). Gerade in dem vermachteten Feld Schule kann dieses Vorgehen vom Standpunkt meiner Forschungsperspektive auch als besonders sinnvoll erscheinen. Durch die Positionierung und die so hergestellte Nähe wurde ein Raum geschaffen, in welchem die Schüler_innen Dinge äußern konnten, für die aus ihrer Sicht sonst im Raum Schule kein Platz ist. Gerade in Bezug zu der Erfahrung im Lehrer_innenzimmer erscheinen nicht bloß die sozialen Beziehungen als hierarchisiert und von Machtbeziehungen durchsetzt, die über die institutionell bedingte Machtbeziehung von Lehrkräften und Schüler_innen hinausgehen, sondern auch das Wissen und der Raum des Sagbaren erscheint durch die sozialen Verhältnisse strukturiert.

Nach den Startschwierigkeiten berichtete beispielsweise Memnun – einer der drei an diesem Tag an dieser Schule Interviewten – von eigenen Diskriminierungserfahrungen durch Lehrer_innen sowie die Beobachtung von Diskriminierung einer Mitschülerin. Aus seiner Sicht wird er häufiger als Unruhestifter angesehen, da er schwarze Haare habe. In Bezug auf seine Mitschülerin berichtete er, wie sie nach den Sommerferien von der Lehrerin darauf angesprochen wurde, warum sie jetzt ein Kopftuch tragen würde, ob ihre Eltern sie gezwungen hätten und, dass sie das nicht zu machen brauche. Dies sah er als eine rassistische Diskriminierung. Dies ist eine Analyse, zu der die Lehrkräfte aus dem Lehrer_innenzimmer höchstwahrscheinlich nicht in der Lage gewesen wären. Ich sehe die hergestellte Nähe in der Interviewsituation als Voraussetzung dafür, dass er das sonst abgewertete Wissen für äußerungswürdig erachtete. Die hergestellte Nähe durch Positionierung verschob so punktuell und momenthaft die Hierarchie des Wissens, die sich im durch Rassismus strukturierten Sozialraum dieser Schule zeigte.

Das Verhältnis zwischen Schüler_innen und Lehrkräften war jedoch keineswegs immer von so wenig Wertschätzung bzw. Abwertung geprägt, wie in diesem Beispiel. Nichtsdestotrotz beobachtete ich andere Konstellationen, in denen mich die Veränderung des Gesagten durch eine Annäherung im Interviewprozess auf – in Bezug auf Positionierung im rassialisierten Feld – eine Hierarchisierung von Wissen im Sozialraum Schule schließen lässt. Beispielsweise räsonierte die Gymnasiastin Lara kritisch über diverse mit Globalisierung zusammenhängende Themen. Erst nach knapp einer Stunde Interview brachte sie ihre persönlichen und familiären Erfahrungen sowie das damit zusammenhängende Wissen als solches ein. Dieses war eng damit verknüpft, dass sie sich als Schwarz bezeichnet und vor dem Hintergrund der Fluchtgeschichte ihrer Mutter und ihren eigenen Rassismuserfahrungen eine klare dekoloniale und rassismuskritische Position einnimmt. In meiner Wahrnehmung erschien es mir wie eine Erleichterung, dass sie das Aussprechen durfte, ohne sich rechtfertigen zu müssen. In meiner Interpretation hängt das Nicht-Aussprechen mit der genannten impliziten Hierarchisierung von Wissen zusammen. Eine Positionierung als Schwarz nimmt ihren Argumenten dabei vermutlich auch Gewicht, da dies dann als ‚positioniertes‘ Sprechen und bloße Erfahrung im Gegensatz zum unmarkierten Sprechort der normalisierten Weißen Position erscheint. Dies sind vermutlich Erfahrungen, die Lara in migrationsgesellschaftlichen Praktiken von Othering und Selfing alltäglich macht.

Diese Thesen kann ich angesichts der Erhebungsinstrumente nicht belegen. Sie bleiben meine ‚bloß‘ empfundene Wahrnehmung. Bestärkt wird diese Interpretation allerdings dadurch, dass eine solche Nähe mit als Weiß markierten Schüler_innen in der Regel unmittelbar gegeben war. Nicht ausschließlich, aber insbesondere im Sprechen über Migration und Migrationsgesellschaft erschien es mir in einigen Fällen so, als würde von vornherein davon ausgegangen, dass ein ‚Wir‘ existierte. In Einzelfällen wurden kleine Anspielungen auf das Anderssein der Anderen mit einer Geste, wie etwa einem Augenzwinkern, begleitet, die klar machen sollte, dass ‚wir‘ uns ja verstünden. Diese Praktik der Verbrüderung unter Weißen korrespondiert mit meiner Wahrnehmung des normalisierten Sprechortes in den von mir besuchten Sozialräumen Schule. Allerdings verweisen die genannten Beispiele nicht zuletzt auch auf eine andere Problematik: meiner Rolle in der Interviewsituation.

2.1.2.2 Gedanken zur Beziehung vom Interviewenden und Interviewten

Im vorhergehenden Abschnitt habe ich bereits einige Vorgehensweisen benannt, die zu einer Nähe und Öffnung der Schüler_innen mir gegenüber beigetragen haben. Trotz dieser punktuellen Durchbrechung der Hierarchisierung von Wissen in der Interviewsituation muss meine Rolle als Interviewender kritisch reflektiert werden. Schließlich sehe ich mich als Teil einer selbstreflexiven Forschungstradition, in der die Rolle der Forschenden immer mitreflektiert werden muss: „Forschende sind nicht unsichtbar, sie sind präsent und beteiligt an der Herstellung von Ergebnissen – in Interaktion mit den Beteiligten konstruieren sie Wirklichkeiten“ (Schmidt 2013: 174). Es ist bereits durch die Schilderung meiner Erfahrungen deutlich geworden, dass ein anders positionierter Interviewender eine andere Interviewsituation und damit auch andere Antworten hervorgerufen hätte. Auch ‚geschickte‘ Interviewführung führt nicht dazu, die ‚eigentlichen‘ Vorstellungen der Schüler_innen zu entlocken. Schließlich sind diese Vorstellungen auch – wie jedes Wissen – situiertes Wissen. Eine zentrale Dimension der Situiertheit der im Interview formulierten Vorstellungen besteht im Verhältnis von mir als männlich, bürgerlich, akademisch und in diesem Zusammenhang vor allem weiß gelesener Interviewender zu ganz unterschiedlich positionierten Schüler_innen. Ein_e als Schwarz oder arabisch oder chinesisch gelesene_r Interviewende_r hätte die Interviewsituation mindestens in Bezug auf migrationsgesellschaftliche oder die Globalisierung betreffende Themen höchst wahrscheinlich dermaßen verändert, dass andere Antworten dabei herausgekommen wären. Doch inwiefern und auf welche Art und Weise sie anders gewesen wären, ist nicht aus diesen verallgemeinernden Überlegungen zu deduzieren. Möglicherweise wäre es einem Schwarz oder als PoC positionierten Interviewenden leichter gefallen, die Hierarchisierung des Wissens im Raum Schule für die Situation des Interviews aufzuweichen. Möglicherweise wären weiße Schüler_innen weniger offen gewesen, über eurozentrische Vorstellungen zu sprechen. Möglicherweise wären auch ganz andere, unvorhersehbare und zu den Differenzkategorien quer liegende Dinge dabei herausgekommen. Die Ergebnisse haben aber aus meiner Sicht in jedem Fall ihren Wert, als Ergebnisse von Interviews, die eben – und das muss miteinbezogen werden – von einem weiß positionierten Interviewenden geführt wurden.

Die Einbeziehung dieser großen Differenzkategorien ist aus meiner Sicht ein notwendiger und zentraler Aspekt der Reflexion der Erhebungssituation, ist aber keinesfalls als hinreichende Analyse akzeptabel. In kritischer Sozialforschung ist es inzwischen gängig die eigene Positionierung anhand dieser Kategorien zu benennen. Manchmal wirkt diese Praktik allerdings gebetsmühlenartig. Eine solche Form der Benennung halte ich aus mindestens zwei Gründen für problematisch. (1) Wenn die Praktik der Selbstpositionierung oberflächlich bleibt, entsteht der Eindruck, als sei die Benennung der Positionierung anhand der Differenzkategorie selbsterklärend. Doch Subjektpositionen sind selten so eindimensional und frei von Ambivalenzen, wie es ein solches Vorgehen suggeriert. Vielmehr werden auf diese Art die Subjektpositionen essenzialisiert, denn, wenn sie eindeutig sind, erscheinen sie auch nicht veränderbar. Neben den ganzen Ambivalenzen innerhalb der Positionierung – wer ist eigentlich weiß, männlich, bürgerlich; es gibt viele Grauzonen und Ambivalenzen – ist auch bedenkenswert, dass das Subjekt ja nicht einfach gesetzt und fixiert ist. Es gibt unzählige Formen, in den durch die Differenzkategorien strukturierten Räumen zu sein. Statt der identitätslogischen Versuchung nachzugeben, die Subjekte durch eine solche Bestimmung an einen Ort zu fesseln, begreife ich Subjekte vielmehr als mehrfach gebrochene, fluide und prekäre Konstruktionen. Dabei gilt es diese performativen Umgangsweisen mit den zugeschriebenen Positionierungen und den daran knüpfenden Ideen und Begehren ebenso miteinzubeziehen wie das Verhalten in konkreten Situationen sozialer Reliabilität. Um Missverständnisse zu vermeiden: Das alles ist kein Plädoyer dafür, die mit den Positionierungen verbundenen Privilegienstrukturen außer Acht zu lassen – ganz im Gegenteil. Es ist ein Plädoyer dafür, die Analyse nicht bei der Reproduktion der identitätslogischen Fesselung der Subjekte stehen zu lassen. Dies führt mich zu meinem zweiten Punkt.

(2) Grundsätzlich halte ich es für einen großen Gewinn, dass es in immer mehr Kreisen die Benennung eigener Privilegien zum ‚guten Ton‘ gehört. Die Gefahr, die ich hier allerdings sehe, ist, dass die Benennungspraktik auch genau zu einem identitätspolitischen Taschenspielertrick wird, mit dem nicht nur die Identitäten zementiert, sondern die gebetsmühlenartige Benennung auch ein Legitimierungs- und Distinktionsmittel wird. Im Sinne von „seht, wie reflektiert ich bin“ können so weiße Akademiker_innen wiederum ihre Sprechposition nicht nur absichern, sondern präsentieren sich dabei anderen weißen und unter Umständen auch nicht-weißen als reflektierter und damit überlegener. Diese Wendung einer kritischen Denkfigur in eine affirmative ist dabei keine Neuheit. Beide bleiben mitunter ununterscheidbar. Angewandt auf mein eigenes Schreiben bewege ich mich nun in unruhigen Gewässern, denn auch diese zusätzliche Schleife in der Denkfigur kann wiederum auf die gleiche Art und Weise gedeutet und dekonstruiert werden; und wer mag nun urteilen, ob zurecht?

Anknüpfend an den ersten Punkt ist es jedenfalls hilfreich, die Reflexion der Positionierung nicht mit der Nennung der Differenzkategorien abzuschließen, sondern sie damit zu beginnen. So ist es in diesem Fall, dass ich als Interviewender bestimmte Begehren mit in den Forschungsprozess einbringe, die zwar meiner Positionierung in der Privilegienstruktur nicht entsprechen, nichtsdestotrotz aber problematisch erscheinen. Im Versuch die möglicherweise von Rassismus betroffenen Schüler_innen zu ermutigen, auch ihre Diskriminierungserfahrungen erzählen zu können, ist es durchaus möglich, dass hier ein Begehren zu einer ‚Verzerrung‘ von Ergebnissen geführt hat. Ein Begehren, dass sich von meiner weißen Positionierung – in romantisierender Manier – rassismuskritische, migrantische Subjekte herbeisehnt, kann beispielsweise unbewusst dazu geführt haben, dass ich eurozentrische Narrative bei weiß positionierten Schüler_innen weniger schnell durch zurückspiegelnde oder konfrontierende Fragen auf andere Wege gebracht habe, die eher meinem Bild herrschaftskritischen Wissens von Schüler_innen entsprach. Um diese Dimensionen aufzudecken, hätten andere Methoden miteinbezogen werden müssen, wie etwa das stärker reflexive Arbeiten im Team oder partizipative Formen der Datenerhebung und -auswertung. Nichtsdestotrotz versuche ich diese Dimensionen in die Auswertungsschritte miteinzubeziehen. Aus diesen Überlegungen sollte deutlich geworden sein, dass die Interviewsituation nicht ohne weiteres zu entschlüsseln ist und sich mit der Reflexion mehr neue Fragen auftun als sich beantworten lassen. Diese zirkuläre Reflexionsbewegung in Bezug auf die Interviewsituation und das Verhältnis des Interviewenden und Interviewten muss dabei den Auswertungsprozess mit begleiten.

2.2 Methodische Überlegungen: Adaption der qualitativen Inhaltsanalyse und ihre Anwendung als Sekundäranalyse

2.2.1 Adaption der qualitativen Inhaltsanalyse – praktisches Vorgehen und epistemische Einwände

Im Folgenden skizziere ich mein methodisches Vorgehen. Ich führe eine qualitative Inhaltsanalyse durch und orientiere mich dabei an Mayring (2002; 2000), Kuckartz (2012) und Schreier (2012). Außerdem sind für mich natürlich bisherige Adaptionen der qualitativen Inhaltsanalyse für politikdidaktische Perspektiven relevant (Fischer 2013; Fischer et al 2015a). Die Spezifika der politikdidaktischen Forschungsperspektive werde ich im kommenden Abschnitt (2.3) diskutieren. Ich übernehme das inhaltsanalytische Vorgehen, allerdings sehe ich es als notwendig an, einige epistemische Prämissen dieses methodischen Ansatzes kritisch in den Blick zu nehmen. Mayring gilt im deutschsprachigen Raum als Begründer der Tradition der inhaltsanalytischen Forschung. Es gibt inzwischen aber zahlreiche Vertreter_innen dieses methodischen Ansatzes. Ich verwende in meiner Analyse die Instrumente der (1) Strukturierung und der (2) Explikation.

2.2.1.1 Strukturierung

Schreier zufolge zeichnet sich eine Inhaltsanalyse insbesondere durch das kategorienbasierte Vorgehen durch die Strukturierung aus – das Kategoriensystem sei das „Herzstück“ (2014) der qualitativen Inhaltsanalyse. Nach Mayring sei das Ziel der Strukturierung innerhalb der Inhaltsanalyse, „das Material so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben, durch Abstraktion einen überschaubaren Corpus zu schaffen, der immer noch Abbild des Grundmaterials ist.“ (Mayring, 2003: 58)

In dieser Formulierung wird ein Aspekt deutlich, den ich als epistemisches Problem bezeichnen würde. Das Problem besteht darin, dass die unausgesprochene erkenntnistheoretische Prämisse vieler Ansätze qualitativer Inhaltsanalyse zu sein scheint, dass ein ‚Inhalt‘ bereits da ist. Von einem „Abbild“ oder einem der Repräsentation vorgängigen ‚Inhalt‘ zu sprechen, erscheint nach der sogenannten „Krise der Repräsentation“ (Freudenberger 2003: 71) als zu kurz gedacht. Es erscheint als unreflektierte Bezugnahme auf einen „abbildtheoretische[n] Repräsentationsbegriff“, der wiederum einen „metaphysischen Realismus“ voraussetzt: „Um abgebildet werden zu können, muß ein Objekt repräsentationsvorgängig existieren.“ (ebd., kursiv i. O.) Während Freudenberger die Krise der Repräsentation philosophiehistorisch ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt, verorten andere Ansätze das Aufkommen dieser Krise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und stellen sie in einen Zusammenhang mit dekolonialer und poststrukturalistischer Theoriebildung (Ploder 2013: 144). Die grundlegende Kritik an ethnologischer Forschung, wie beispielsweise von Frantz Fanon (1952) oder Edward Said (1978), habe weit über diesen Rahmen hinaus das epistemische Selbstverständnis von Forschungsansätzen verschoben. In diesem Kontext haben beispielsweise auch Michel Foucault und Jacques Derrida die Repräsentationskrise geprägt. Foucault prägte ein Verständnis des Diskurses, der nicht durch eine ihm äußerliche Kraft oder Essenz determiniert ist und irreduzibel mit Macht verwoben ist (Foucault 1976b). Derrida arbeitete heraus, dass Zeichen keinen Kern haben und weder durch den Kontext, durch ein Subjekt oder durch eine Struktur abschließend determiniert würden. Stattdessen entwickelt er den Ansatz der Iterabilität der Zeichen (Derrida 1967). Es ließen sich andere Beispiele anführen, in denen essenzialisierende Repräsentationsverständnisse problematisiert werden.

Worum es hier geht, ist zu zeigen, dass das Verständnis eines Freilegens, einer Reduktion, einer Rekonstruktion oder eines Abbildens eines ‚Inhalts‘ auf problematischen epistemischen Grundannahmen basiert, die innerhalb der Inhaltsanalyse unzureichend reflektiert wurden. Gleichzeitig funktioniert das methodische Vorgehen der qualitativen Inhaltsanalyse auch mit einem anderen epistemischen Verständnis. Ich möchte mich hier auf die Diskussionen um qualitative Sozialforschung als „Ko-Konstruktion“ (Mecheril 2003: 43) beziehen, in denen ein Ansatz entwickelt wurde, der es möglich macht, einen Umgang mit den genannten epistemischen Problemen zu finden. Der in der qualitativen Forschung entstehende Interpretationstext wird dabei eben nicht als eine Reduktion oder Rekonstruktion des ihm vorgängigen Sinngehalts der Konstruktionen der Beforschten angesehen, sondern vielmehr als eigenwillige „Modellierungen“ (ebd.: 40), die neben den untersuchten Artefakten der Beforschten explizit ebenso den Forschenden selbst und seinen Kontext einbezieht. Dadurch wird das „Moment der Reflexivität“ (Rose 2012: 247) zu einem zentralen Baustein der Forschungsperspektive. Das Subjekt der wissenschaftlichen Autorenschaft wird so in seiner Kontingenz selbstreflexiv mit in die wissenschaftliche Analyse einbezogen. Ich werde in den kommenden Abschnitten dieses Kapitels darauf zurückkommen. Trotz dieser Einwände erscheint die Wahl der Inhaltsanalyse für mein Forschungsinteresse angemessen und sinnvoll, da eine Verschiebung oder Erweiterung des Selbstverständnisses dem Vorgehen einer qualitativen Inhaltsanalyse nicht im Wege steht und diese insbesondere vor dem Hintergrund eines großen Datenvolumens funktionale Instrumente zur Verfügung stellt.

Bei der Durchführung der Strukturierung durch Kategorienbildung habe ich mich an Mayrings Vorgehen orientiert. Eine andere Formulierung des Grundanliegens der Inhaltsanalyse scheint mir nicht im Widerspruch zu den repräsentationskritischen epistemischen Ansätzen zu stehen: „Qualitative Inhaltsanalyse will Texte systematisch analysieren, indem sie das Material schrittweise mit theoriegeleitet am Material entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet.“ (2002: 114) Diese Formulierung dient mir als Ausgangspunkt zur Beschreibung meiner Adaption der Inhaltsanalyse. Ein viel diskutiertes Problem ist die Frage des Verhältnis von induktiver und deduktiver Kategorienbildung. Schreier zufolge besteht eine Differenz von Ansätzen darin, dass Mayring (2010) die qualitative Inhaltsanalyse „wesentlich als theoriegeleitetes Verfahren versteht“ (Schreier 2014), während Kuckartz (2012) und Schreier (2012) die Entwicklung der Kategorien am Material stärker einbeziehen wollen. Mayring selbst schlägt jedoch sowohl deduktives als auch induktives Vorgehen vor (Mayring 2010). Unabhängig davon, wem ich hier nun folge, wähle ich für meine Analyse ein deduktiv-induktives Vorgehen, in dem die Rezeption akademischer Theoriebildung und die im Material vorgefundenen Vorstellungen beide in die Kategorienbildung einfließen. Insbesondere die Hauptkategorien wurden dabei eher theoriegeleitet entwickelt, während sich die Entwicklung der Unterkategorien stärker am Material orientierte. In meinem Vorgehen habe ich versucht, einerseits dem Material – also den Spuren der subjektiven Denkweisen der Lernenden in den Interviews – keine Gewalt anzutun, also nicht einfach eine Theorie überzustülpen, sondern dem Text ‚zuzuhören‘ und es in die Kategorienbildung und Analyse einfließen zu lassen. Andererseits erschien es mir wichtig, durch Bezugnahmen auf dekoloniale Theorieansätze das Material kritisch zu reflektieren. Diesen zwei immer wieder in Konflikt geratenen Dimensionen sollten beiden genügend Raum in meiner Analyse gelassen werden. Im Zentrum der Kategorienbildung stand dabei die Perspektive der Dekolonialität, die sich sowohl aus dem empirischen Material – also den Vorstellungen der Schüler_innen – als auch aus der dekolonialen Theorie speiste. Diese Perspektive der Dekolonialität stellt das Zentrum – gleichzeitig Ausgangs- und Zielpunkt – meiner Forschungsperspektive dar.

Zentral für die inhaltsanalytische Strukturierung ist dabei die Konzeption eines Kodierleitfadens. Dieser beinhaltet (1) die Definition der Kategorien, woraus hervorgeht, welche Textteile unter die Kategorie fallen, (2) die Identifikation von Ankerbeispielen und (3) die Festlegung von Kodierregeln, um eindeutige Zuordnungen bei Abgrenzungsproblemen zu anderen Kategorien zu ermöglichen (Mayring 2002: 118). Dabei bin ich iterativ vorgegangen. In dem Trialog vom empirischen Material, wissenschaftlichen Texten und mir als dekolonial motiviertem Forschendem habe ich zunächst modellhaft Kategoriensysteme konstruiert, diese ausprobiert, ganz oder teilweise verworfen und dann diese zirkelhafte Tastbewegung erneut zu beginnen. Kriterien für das Gelingen waren dabei, inwiefern meine Forschungsfragen zureichend beantwortet werden konnten, inwiefern die Kategorien den von mir gesehenen Vorstellungen der Schüler_innen gerecht geworden sind und inwiefern mir das Kategoriensystem schlüssig erschien. Schlüssig bedeutet in diesem Zusammenhang insbesondere, dass die Kategorien klar genug voneinander abzugrenzen waren. Diese zirkelhafte Suchbewegung habe ich mehrfach durchlaufen, wobei teilweise nur eine kleine Anzahl der Interviews, teilweise das ganze Datenmaterial als Grundlage diente. Dabei habe ich mir das Material mehrfach aus verschiedenen Perspektiven neu erschlossen. Das dabei entstandene Kategoriensystem besteht aus drei Hauptkategorien, die sechs, fünf bzw. drei Unterkategorien beherbergen. Die Unterkategorien sind wiederum in fast allen Fällen durch Kategorien der dritten Ebene strukturiert.

Während Schreier (2014) in elf verschiedene Varianten der qualitativen Inhaltsanalyse unterscheidet, die ich hier nicht alle aufzähle, differenziert Kuckartz (2012) drei verschiedene Haupttypen, die wiederum je nach Art der Kategorien unterschiedlich ausfallen können: Die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse, die evaluative qualitative Inhaltsanalyse und die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse. Mayring (2003) unterscheidet hingegen in vier Analysetechniken der Strukturierung: Die formale Strukturierung (85), die inhaltliche Strukturierung (89), die typisierende Strukturierung (90) und die skalierende Strukturierung (92). Ich sehe bei den drei Autor_innen keinen Dissens im Ansatz, sondern vielmehr in der Darstellung, weswegen ich die verschiedenen Darstellungen nicht diskutieren werde. In meiner Auswertung führe ich hauptsächlich eine inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse durch, verwende aber in einigen Subkategorien auch die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse. Bei der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse wird die zu erarbeitende Struktur an „Themen, Inhalte[n], Aspekte[n]“ (Mayring 2003: 89) des Gesamtmaterials ausgerichtet. Ziel der typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse ist es nach Schreier „die untersuchten Fälle auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten und Unterschieden hinsichtlich ausgewählter Merkmale in prägnante Gruppen zu unterteilen und diese Gruppen im Hinblick auf ihre Ausprägungen auf den relevanten Merkmalen genauer zu beschreiben“ (2014: 33). Schreier zufolge handele es sich „bei genauerer Betrachtung“ hier nicht um ein eigenständiges Verfahren, sondern um eine „Kombination zweier Methoden: der qualitativen Inhaltsanalyse und der Typenbildung“ (ebd.).

2.2.1.2 Explikation

Nachdem das gesamte Material codiert wurde, das heißt Sinnabschnitte den jeweiligen Kategorien zugeordnet wurden, beginnt der zweite Schritt der Auswertung: Die Explikation. Nach Mayring besteht hier das Ziel darin, „zu einzelnen fraglichen Textteilen (Begriffen, Sätzen, …) zusätzliches Material heranzutragen, das das Verständnis erweitert, das die Textstelle erläutert, erklärt, ausdeutet.“ (Mayring 2003: 58) Kuckartz weist auf die vielfach vorgetragene Kritik an Mayrings Ansatz hin, da dieser die „Fallebene“ (Kuckartz 2012: 49) kaum berücksichtige. Die „fallorientierte im Vergleich zur kategoriengeleiteten Perspektive [spiele] so gut wie keine Rolle“ (ebd.). Wiederum geht es mir hier nicht darum, welchem Ansatz ich nun folge. Ich stimme jedenfalls mit Schreier überein, wenn sie feststellt: „Statt einer Unterscheidung verschiedener Varianten qualitativer Inhaltsanalyse erscheint das Konzept des Werkzeugkastens angemessener.“ (Schreier 2014) Dementsprechend verwende ich sowohl die Explikation im Sinne der engen und weiten Kontextanalyse im Sinne Mayrings als auch die fallorientierte Perspektive im Sinne von Kuckartz. Bei der engen Kontextanalyse wird lediglich das unmittelbare Textumfeld einer zu erklärenden Textstelle herangezogen. Dabei wird nach Textteilen gesucht, die dabei helfen können, die fragliche Textstelle angemessener zu definieren, zu erklären, auszuschmücken, zu beschreiben, zu korrigieren oder zu modifizieren sowie beispielgebend, durch das Aufführen von Einzelheiten, durch antithetische bzw. das Gegenteil beschreibende Textpassagen das Bild oder Verständnis zu vertiefen (Mayring 2003: 79). Die weite Kontextanalyse bleibt im Gegensatz dazu nicht auf den Urtext als Explikationsquelle beschränkt. Mit ihr kann auf weiterreichende Informationen zum Befragten, der Erhebungssituation oder weiteren das Gespräch beeinflussenden Faktoren eingegangen werden. Nicht zuletzt kann mit der weiten Kontextanalyse auch auf theoretisches Vorverständnis, Motivationen oder das Vorgehen des Forschenden eingegangen werden (Fischer 2013: 55).

Die fallorientierte Perspektive zielt dabei in meinem Vorgehen nicht darauf, das Bild eines kompletten Interviews oder eine Art Gesamtschau eines Befragten zu erstellen, sondern vielmehr in Anlehnung an die Explikation im Sinne Mayrings weitere Aspekte aus dem Interview miteinzubeziehen, die für einen thematischen oder typisierenden Aspekt inhaltlich relevante Ergänzungen darstellen, wie beispielsweise Haltungen oder besondere Sensibilisierungen für Machtverhältnisse, die durch eigene oder familienbiographische Erfahrungen nachvollziehbarer werden.

Die ausführlichen Explikationen erhalten dabei vor dem Hintergrund der didaktischen Zielsetzung der Analyse eine besondere Relevanz. Schließlich gilt es für bildungswissenschaftliche Reflexion die Denkweisen der Schüler_innen auch in ihren Nuancen, spezifischen Logiken und Ambivalenzen nachvollziehen zu können, um daraus angemessene didaktische Schlussfolgerungen zu ziehen. Diese Nuancen drohen in einer einfachen Darstellung der Strukturierung unterzugehen. Die Explikation bekommt durch die didaktische Ausrichtung meiner Forschung neben der Nachvollziehbarkeit der Strukturierung also noch eine weitere Funktion.

2.2.2 Reflexionen zum Untersuchungskonzept (Gütekriterien)

In der qualitativen Forschung macht Steinke (1999) drei Grundpositionen zum Umgang mit Gütekriterien der Forschung aus: (a) Die Anwendung quantitativer Kriterien auf qualitative Forschung, (b) die Suche nach eigenen Gütekriterien und (c) die postmoderne Ablehnung von Beurteilungskriterien. Die „‘klassischen’ Gütekriterien der quantitativen Forschung“ (Wirtz/Petrucci 2007) sind Objektivität, Reliabilität und Validität. Es gibt zahlreiche Versuche diese Kriterien für die qualitative Forschung neu zu konzipieren. Ich stimme hier Flick zu, der feststellt, dass die Qualität qualitativer Forschung nicht durch eine Übernahme dieser Kriterien bestimmt werden sollte, sondern vielmehr durch eine methodenangemessene Aufstellung alternativer Kriterien, da die „klassischen Kriterien an den Charakteristika qualitativer Forschung und Methoden vorbeizielen“ (Flick 2010: 400). Eine Ablehnung der Übernahme dieser Kriterien muss also keineswegs zu einer grundlegenden Ablehnung von Beurteilungskriterien der Qualität von qualitativer Forschung sprechen. Da angesichts des Desiderats der Offenheit qualitativer Forschung die Methodenangemessenheit von zentraler Bedeutung ist (Fischer 2013: 56), ist die Aufstellung allgemeiner, für alle qualitativen Forschungen anzuwendenden Kriterien problematisch. Nichtsdestotrotz haben sich in der Diskussion um Gütekriterien der qualitativen Forschung zahlreiche Instrumente als nützlich herausgestellt, von denen ich im Folgenden einige auf meine Forschung beziehen werde.

2.2.2.1 Offenheit der Forschung, regelgeleitetes Vorgehen und Analyse von abweichenden Fällen

In qualitativen Forschungsprozessen ist es – im Gegensatz zu Überprüfungsverfahren von Hypothesen in der quantitativen Forschung – dringend geboten, eine Offenheit gegenüber dem Material, den Analysekriterien und dem eigenen prozessoralen Vorgehen zu erhalten. Gleichzeitig darf aus dieser Offenheit kein völlig unsystematisches Vorgehen resultieren. In der qualitativen Inhaltsanalyse ist es notwendig, systematisch und regelgeleitet vorzugehen, da insbesondere in der Bearbeitung von großen Datenmengen sonst eine Beliebigkeit entsteht (Mayring 1999: 120). Eine viel diskutierte Form des Umgangs ist die Überprüfung vorläufiger Theorien und Strukturierungen durch die intensive Suche von Ausnahmen und abweichenden Fällen. Während der Blick im Zuge der Konstruktion eines Kategoriensystems auf die Bestimmung gemeinsamer Nenner innerhalb der Aussagen gerichtet ist, werden im Rahmen dieser Überprüfung gefundene Abweichungen und Besonderheiten besonders ernst genommen und entweder durch eine Modifikation der Kategorien integriert oder explizit als Ausnahme thematisiert (Flick 2002: 332 f). Diese Methode trägt zur Umsetzung der Prinzipien der Offenheit und Zirkularität qualitativer Forschung bei. Umgesetzt habe ich dies intensiv im Zuge meines iterativen Vorgehens in der Strukturierung des Materials, das ich bereits im vorhergehenden Abschnitt skizziert habe. Hilfreich war hier auch, dass meine didaktische Perspektive auch aus immanent didaktischen Gründen an Abweichungen und Ausnahmen besonders interessiert war. Am Ende dieser zirkulären Prozesse der Infragestellung und Modifikation von vorläufigen Strukturierungen stand trotz aller Umwege und – produktiven und unproduktiven – ‚Fehlversuche‘ eine systematische und regelgeleitete Strukturierung, die auf das gesamte Material angewendet wurde.

2.2.2.2 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Transparenz und peer debriefing

In der Diskussion um Gütekriterien qualitativer Forschung ist die intersubjektive Nachvollziehbarkeit von zentraler Bedeutung. Ziel sei es, durch die intersubjektive Nachvollziehbarkeit „eine (kritische) Verständigung über eine empirische Studie zwischen Forschern beziehungsweise zwischen Forschern und Lesern“ (Steinke 1999: 207) zu ermöglichen. In Übereinstimmung mit vielen weiteren Autor_innen machen Wirtz und Petrucci hier drei Wege aus, dieses Ziel zu erreichen: (1) Die Dokumentation des Forschungsprozesses, (2) Interpretation in Gruppen und (3) die Anwendung beziehungsweise Entwicklung kodifizierter Verfahren.

(1) Die Dokumentation des Forschungsprozesses im Sinne von Mayring (1999: 119) soll im Rahmen meiner Forschung gewährleistet sein. Ich beanspruche, mein Vorverständnis der Thematiken als Forscher sowie meine Forschungsperspektive in angemessenem Umfang thematisiert und transparent gemacht zu haben. Diese Transparenz des Selbst ist natürlich nie auch nur annähernd abgeschlossen – und kann es auch gar nicht sein, da das Subjekt des Forschers prinzipiell fluide ist, sich mit dem Forschungsprozess verändert, weder – um mit Derrida zu sprechen – Präsenz noch Identität ist und somit weder sich selbst noch anderen transparent sein kann. Weiterhin habe ich die Erhebungsmethoden, den Erhebungskontext, die untersuchte Gruppe und die Auswertungsmethoden ausführlich dargestellt. Ich habe versucht, Probleme, Entscheidungen und Zweifel sowie die damit einhergehende Kontingenz im Rahmen der Explikation und der theoretischen Vorüberlegungen zu dokumentieren.

(2) Die Interpretation in Gruppen hat mich im Verlauf meines Forschungsprozesses ständig begleitet. Sie wird von Steinke als „diskursive Form der Herstellung von Intersubjektivität und Nachvollziehbarkeit durch expliziten Umgang mit Daten und deren Interpretationen“ (Steinke 1999: 214) gefasst. Die von mir verwendete Form wird in der Diskussion um Methoden auch als „peer debriefing“ (Flick 2010: 4001) bezeichnet. Mit peer debriefing sind regelmäßige Besprechungen mit anderen Forschenden zur Aufdeckung übersehener Aspekte, zur intersubjektiven Überprüfung der Angemessenheit von Interpretationen oder zur Infragestellung von möglicherweise vereinseitigenden Perspektiven in der Auswertung gemeint. Während der gesamten Zeit der Durchführung der Inhaltsanalyse habe ich meine vorläufigen Strukturierungen und Ergebnisse regelmäßig in zwei Kolloquien und einer Forschungswerkstatt zur Diskussion gestellt. Mehrfach wurden dabei auch Auszüge des Materials gemeinsam – als Einzelne_r, in der Kleingruppe oder der Gesamtgruppe – bearbeitet und die Angemessenheit bisheriger Interpretationen und Strukturierungen kritisch hinterfragt sowie alternative Deutungsmuster entwickelt.

(3) Die Anwendung beziehungsweise Entwicklung kodifizierter Verfahren ist zentraler Bestandteil meines Forschungsprozesses. Die Kodifizierung erscheint mir durch die Darstellung der Kategorien im dritten Kapitel hinreichend dargestellt. Mit den Vorgehensweisen und methodischen Herausforderungen im Zuge der Kodifizierung und Strukturierung habe ich mich in diesem Kapitel schon an anderen Stellen ausführlich auseinandergesetzt.

2.2.2.3 Reflektierte Subjektivität

Inzwischen gehört es zum Selbstverständnis kritischer qualitativer Sozialforschung, dass die/der Forschende als Bestandteil des Forschungsprozesses angesehen wird und die Subjektivität des Forschenden methodisch einbezogen werden muss. Das Kriterium der reflektierten Subjektivität dient im Sinne Steinkes (1999) zur Beurteilung davon, inwieweit die Subjektivität der Forschenden und deren Rolle bei der Theoriebildung reflektiert wurden. Steinke führt eine Reihe von Aspekten an, die zur Gewährleistung dieses Kriterium überprüft werden sollten (Steinke 1999: 231 f). Dabei geht es um Fragen der Selbstbeobachtung im Forschungsprozess, die Reflexion der persönlichen Voraussetzungen für die Erforschung des Untersuchungsgegenstandes, die gleichwertige Verteilung der Aufmerksamkeit für alle relevanten Phänomene, die Reflexion der Beziehung und der Nähe bzw. Distanz zur untersuchten Gruppe sowie die Reflexion des Einstiegs ins Untersuchungsfeld (ebd.). Die meisten dieser Fragen werden in anderen Abschnitten dieses Kapitel beantwortet.

Wie in anderen Abschnitten deutlich wird, versuche ich mich im Forschungsprozess von dekolonialen und feministischen erkenntnistheoretischen Prämissen inspirieren zu lassen, mit denen eine den Autor unsichtbar werden lassende und auf Wertneutralität und Objektivität zielende Perspektive unmittelbar verdächtig erscheint, Herrschaftsverhältnisse unreflektiert lassen zu wollen. Dabei ist einerseits die Benennung von Subjektpositionen dabei von zentraler Bedeutung, da ich sowohl im Erhebungsprozess als auch in der Auswertung als weißer, nicht abwertend von Rassismus betroffener, männlicher, im Globalen Norden angesiedelter Akademiker andere Wirkungen hervorrufe und einen anderen Habitus verinnerlicht habe, als es anderen ginge. Gleichzeitig sind diese Subjektpositionen nicht als ‚Identitäten‘ zu verstehen, die ein Subjekt darauf beschränken würden. Im Sinne dieser erkenntnistheoretischen Ansätze ist dabei das Subjekt andererseits nichts starres. Dies geht auch mit der Einsicht einher, dass Subjekte – auch in ihrer Form als akademisch Schreibende – sich selbst nicht entkommen können und auch ihr akademisches Schreiben nicht nur von den zugrunde gelegten Theorien, sondern von Vorerfahrungen, eingeübten Denkmustern, Begehren, Hoffnungen und Ängsten begleitet wird. Diese Überzeugungen finden in meinem Text beispielsweise darin Anwendung, dass ich immer wieder das sonst oft geächtete Pronomen Ich verwende, um Entscheidungen über ein Vorgehen transparent zu machen oder eigene Motive transparent zu machen. Ebenso schlägt sich diese Überzeugung in der Konzeption meiner Forschungsperspektive selbst nieder, da ich die dekoloniale Perspektive nicht als eine wertneutrale Systematik oder als Theoriekorpus, sondern in erster Linie als eine Haltung konzipiere. Auch auf die Gefahr hin, mich damit im akademischen Raum angreifbar zu machen, bin ich davon überzeugt, dass ein offensiver Umgang mit der Kontingenz des eigenen Schreibens und Forschens den höchsten Grad an Reflexivität hervorzubringen ermöglicht. Zum anderen sehe ich die Einbeziehung der subjektiven Dimension der_s Forschenden weniger als Problem, sondern als Möglichkeit bzw. Ressource an, den Grad der Differenziertheit und Reflexivität von Forschung zu erhöhen. Die Beurteilung darüber, inwiefern es mir gelungen ist, diese selbstreflexiven Aspekte einzubeziehen und auch transparent werden zu lassen, sei anderen überlassen.

2.2.2.4 Limitation und Reichweite

Das Kriterium der Limitation fordert die Bestimmung des Geltungsbereichs und der Grenzen der Verallgemeinerbarkeit einer entwickelten Theorie. Die Qualität wird im Rahmen dieses Kriteriums nicht darüber bestimmt, dass der Geltungsbereich besonders weit gefasst sein muss. Es geht vielmehr darum, die Grenzen des Geltungsbereichs zu reflektieren und diese transparent zu machen. Grenzen des Geltungsbereichs lassen sich in mehrerlei Hinsicht abstecken. Zunächst sind die in Bezug auf die Forschungsfrage erwartbaren empirisch vorgefundenen Themenbereiche durch die Zielrichtung der Erhebung beeinflusst. In den Interviews drehte sich alles um die Vorstellungen der Schüler_innen über Globalisierung und über mit Globalisierung in Beziehung stehenden Themen. Einige Themen, die aus dekolonialer Perspektive relevant erscheinen, wurden deswegen nicht oder kaum angesprochen. Die thematische Reichweite der Analyse wird so durch die geäußerten Vorstellungen der Schüler_innen limitiert.

Ein weiterer Aspekt der Grenze der Reichweite ist in qualitativen Studien in der Regel ein komplexes Thema: die Repräsentativität oder der Grad der zulässigen Verallgemeinerung, die sich durch das Sampling der untersuchten Gruppe und der Untersuchungsmethode ergibt. Dies gilt sowohl für groß angelegte als auch für explorative Studien. Aufgrund der Begrenzung der in dieser Forschung untersuchten Gruppe, sind keine repräsentativen Aussagen über durchschnittliche Häufigkeiten bestimmter Vorstellungen möglich. Es erfolgt allerdings eine Verallgemeinerung über die Kategorienbildung. Durch die inhaltsanalytische Kategorienbildung wurden durch die Konstruktion von Gemeinsamkeiten und Differenzen Muster aufgezeigt, die zumindest im Rahmen des Samples zwischen weiter verbreiteten Fällen und Ausnahmen (Extremfällen) zu unterscheiden erlaubt. Da keine Repräsentativität im statistischen Sinne beansprucht noch angestrebt wurde, wird weitgehend auf Zählungen innerhalb des Samples verzichtet, da dies eine solche Repräsentativität suggerieren würde. Hinweise auf die Frage, ob ein Muster eher als weit verbreitet oder als Extremfall zu betrachten ist, erscheinen vor diesem Hintergrund hingegen als sinnvoll.

Die Verwendung der in der Primärstudie verwendeten Methodentriangulation wäre dem Grad der Verallgemeinerung zuträglich gewesen. Dies war aber leider nicht umsetzbar, da die aus einer dekolonialen Forschungsperspektive erzielten Ergebnisse der Analyse der Interviews sich zu wenig in den Daten der rein auf den Globalisierungsbegriff fokussierenden Fragebogenuntersuchung spiegelte. Es ließen sich keine aussagekräftigen Rückschlüsse der in den Interviews vorgefundenen Vorstellungen auf die Fragebogenuntersuchung ziehen. Die Auswahl der untersuchten Gruppe erscheint hingegen als der Verallgemeinerung insofern zuträglich, als dass sie auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten des ungefähren Alters und dem Besuch einer 9. Klasse an einer Schule im Raum Hannover verhältnismäßig arbiträr erfolgte. Die Auswahl wurde nicht vor dem Hintergrund von Teilnahmen an Projekten oder bestimmten Interessen getroffen, sondern erfolgte allein aufgrund der Klassenmitgliedschaft.

Vor diesem Hintergrund komme ich zu der Einschätzung, dass die Forschungsergebnisse als fruchtbarer, explorativer Einblick in das Feld aus dieser Forschungsperspektive angesehen werden sollten. Aufgrund des für eine qualitative Studie dieser Form verhältnismäßig große Sample erscheint sogar ein limitiertes und vorsichtiges Maß der Verallgemeinerung als angemessen. Letzteres trifft dabei zumindest auf Vorstellungen zu, die im empirischen Material weit verbreitet waren. Andere, nur vereinzelt vorkommende Vorstellungen lassen hingegen keine Verallgemeinerung zu. Diese sind aber für die explorative Dimension gleichwohl hochinteressant. In erster Linie liegt das Potenzial meiner Forschung in der Exploration von Spannungsfeldern innerhalb der Vorstellungswelten.

2.2.3 Überlegungen zur Sekundäranalyse

Sekundäranalyse bezeichnet eine Forschungsstrategie, bei der keine neuen Daten erhoben werden, sondern bereits vorliegende Forschungsdaten für die Beantwortung einer Forschungsfrage untersucht werden (Medjedović 2014: 20). Eine Sekundäranalyse ist also keine eigenständige Methode, sondern beschreibt einen Baustein des Forschungsprozesses. Mit Forschungsdaten sind dabei nicht etwa Forschungsergebnisse – wie etwa beispielsweise bei einer Meta-Analyse – gemeint, sondern sogenannte Rohdaten. Mit diesen Rohdaten sind – zumindest in der qualitativen Forschung – Forschungsdaten gemeint, also nicht etwa unabhängig von Erhebungsprozessen entstehende Daten, sondern Daten, die von Forschenden erhoben wurden. Häufig wird in der Literatur zur – insbesondere quantitativen – Sekundäranalyse implizit oder explizit davon ausgegangen, dass Daten sekundär analysiert werden, die von anderen Forschenden erhoben wurden, dass also Erhebung und Analyse durch die Sekundäranalyse nicht nur durch das Verfahren, sondern auch personell entkoppelt würden (ebd.: 23). Seit dem Auftauchen der Konzeptionalisierungen von Sekundäranalysen sind jedoch auch sekundäranalytische Verfahrensweisen fester Bestandteil des Konzepts, die von den Erhebenden selbst durchgeführt werden. So definiert beispielsweise Hyman bereits 1972 die Sekundäranalyse als „‘the extraction of knowledge on topics other than those which were the focus of the original surveys’ – whoever the second analyst maybe“ (Hyman 1972: 36). Da ich an der Datenerhebung maßgeblich beteiligt war, trifft die personelle Entkopplung von Datenerhebung und -analyse auf die hier vorliegende Forschung nicht zu, was allerdings auch unter Berücksichtigung der Diskussion dem Konzept der Sekundäranalyse entspricht.

Es lassen sich drei verschiedene Varianten der Sekundäranalyse beschreiben (Medjedović 2014: 23): (1) Im Rahmen der Supra- oder transzendierende Analyse (supra analysis) erfolgt die Auswertung der Daten unter einer neuen Forschungsperspektive, deren Fragestellung sich theoretisch oder methodologisch von der der Primärstudie unterscheidet. (2) Die ergänzende Analyse (supplementary analysis) unterscheidet sich von der ersten Variante dadurch, dass hier die Forschungsperspektive der Primärstudie prinzipiell beibehalten wird und einzelne Fragen, Themen oder Teile der Daten, die in der Primärstudie nicht erschöpfend behandelt wurden, einer vertiefenden Analyse unterzogen werden. (3) Die Reanalyse hingegen bezeichnet eine Variante der Sekundäranalyse, in der die erneute Analyse der Daten unter der gleichen Fragestellung durchgeführt wird. Ziel der Reanalyse ist es, die Resultate der Primärstudie zu überprüfen bzw. zu verifizieren (ebd.). In der hier vorliegenden Forschung kommt die erste Variante zur Anwendung. Es wird eine andere, alternative Forschungsperspektive angewandt, die sich grundlegend von der Perspektive der Primärstudie unterscheidet. Während in der Primärstudie globalisierungskritische und demokratietheoretische Perspektiven entwickelt wurden, ist die Ausrichtung hier die der Dekolonialität. Es gibt einige Aspekte, wo es punktuelle Überschneidungen gibt, die dann in der Auswertung gekennzeichnet werden. Insgesamt sind die Resultate aber grundlegend andere als in der Primärstudie. Dabei widersprechen sie denen der Primärstudie nicht – dies wäre der Fall, wenn es sich um eine Reanalyse handeln würde. Die Durchführung der Sekundäranalyse macht vielmehr deutlich, dass qualitative Forschung weniger als eine Rekonstruktion von als solchem existierenden Sinn, sondern vielmehr als ein Konstruktionsprozess des Forschenden verstanden werden sollte. Jedes Wissen ist ein situiertes, das davon abhängt, wer sich die Daten anguckt, aber auch davon, was für eine Brille man sich dabei aufsetzt.

In der Primärstudie wurde eine Methodentriangulation angewandt. In der ersten Teilstudie wurde mit Fragebögen nach dem Verständnis der Schüler_innen von Globalisierung gefragt. In der zweiten Teilstudie wurden dann die Interviews durchgeführt. In der Sekundäranalyse beschränke ich mich dabei auf die Interviewstudie. Eine Triangulation erscheint hier nicht sinnvoll, da die Triangulation über den Begriff der Globalisierung hergestellt wurde, der nicht im Zentrum der Betrachtung in dieser Sekundäranalyse liegt. Es wäre fragwürdig, wenn ich versuchen würde, trotzdem Rückschlüsse auf die größere Untersuchungspopulation der ersten Teilstudie zu ziehen, obwohl die für mich oft entscheidenden Aspekte der Interviews in den Fragebögen gar nicht auftauchten. Weiterhin werde ich aus mit dem genannten Argument verwandten Gründen auch den schichtspezifischen Fokus der Analyse der Primärstudie nicht übernehmen. Zum einen wird der Rückschluss auf den eine Schulform betreffenden Teil der beforschten Gruppe ohne die Methodentriangulation methodisch fragwürdig. Zum anderen ist die Fragestellung eine andere. In der Primärstudie ist der schichtspezifische Fokus von der auf globalisierungskritischen Theorien basierenden Hypothese ausgegangen, dass Schüler_innen der weniger privilegierten Schichten den Prozess der Globalisierung eher als Bedrohung empfinden, während die größtenteils aus privilegierteren Schichten stammenden Schüler_innen der Gymnasien diesen eher mit einer Erweiterung von Chancen und Möglichkeiten verbinden. Unabhängig davon, dass sich diese Hypothese nur sehr punktuell und indirekt bestätigt hat, ist eine solche Annahme nicht ohne Weiteres auf den Analyserahmen der Dekolonialität übertragbar.

2.3 Epistemische Überlegungen zur empirischen Vorstellungsforschung in politikdidaktischer Absicht

2.3.1 De-Hierarchisierung des Wissens I: Politikdidaktische Vorstellungsforschung

Ich werde im Folgenden meine erkenntnistheoretischen Ausgangspunkte skizzieren. Dies werde ich anhand von drei Säulen tun, die für mein Modell drei Schritte der De-Hierarchisierung des Wissens darstellen. Sie sind gleichzeitig die drei methodischen Ansätze, an die ich anknüpfe. Die erste Säule ist die politikdidaktische Vorstellungsforschung (2.3.1), die zweite der Forschungsansatz der Inclusive Citizenship Education (2.3.2) und die dritte decolonial heritage (2.3.3). Hierarchisiertes Wissen stellt aus der Perspektive politischer Bildung gleichzeitig ein erkenntnistheoretisches und ein didaktisches Problem dar, also sowohl der Frage eines nicht absolutierten Wissensbegriffs sowie einem demokratischen Verständnis von Wissenden untereinander, hier natürlich insbesondere vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden. Da ich die Hierarchisierungen des Wissens als Problem begreife, stellen die drei Schritte der De-Hierarchisierung einen Versuch der Lösung dieses Problems dar. Anhand dieser werde ich mein Selbstverständnis als Forscher der politischen Bildung diskutieren.

Meine Forschungsperspektive steht in der Tradition der politikdidaktisch motivierten, empirischen Vorstellungsforschung, die mit dem Ansatz Dirk Langes verknüpft ist. Die Genese dieses Ansatzes werde ich kurz skizzieren und im Zuge dessen eine bestimmte Lesart herausarbeiten, die für meine Forschung von Bedeutung ist. Es gibt in der politikdidaktischen Forschung natürlich zahlreiche alternative Ansätze und Perspektiven. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine qualitative Forschungstradition in der Politikdidaktik entwickelt, die sich in zwei große Forschungsfelder unterscheiden lässt: Auf der einen Seite die Erforschung des Unterrichts sowie die Praxis der Lehrenden und auf der anderen Seite die subjektiven Lernvoraussetzungen der Lernenden (Fischer/Lange 2014: 90). Der Ansatz der politikdidaktischen Vorstellungsforschung – oft auch unter dem Titel des Bürgerbewusstseins bekannt – gehört zu zweiterem. Von einigen konservativen, zum Teil einflussreichen Akteur_innen abgesehen hat sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um politische Bildung weitgehend durchgesetzt, politische Bildung nicht einfach als Vermittlungswissenschaft zu verstehen. Eine als Vermittlungswissenschaft verstandene Bildung hat die Aufgabe, die Erkenntnisse der jeweiligen Fachwissenschaften so zu komprimieren oder aufzubereiten, dass Lernende diese möglichst gut übernehmen, reproduzieren und gegebenenfalls anwenden können. Es hat sich jedoch auf mindestens zwei Ebenen ein grundlegend anderes Verständnis durchsetzen können: (a) Das Verhältnis von Fachwissenschaft zu Didaktik wird nicht mehr ausschließlich in einer top-down-Logik verstanden. In einem Selbstverständnis als eigenständige akademische Disziplin macht die politische Bildung das politische Lernen selbst zu ihrem Gegenstand (GPJE 2002). (b) Politische Bildung will die subjektive Dimension und die Lebenswelt der Lernenden als relevante und zu berücksichtigende Dimension in den Blick nehmen. Um aber das politische Lernen und die subjektive Dimension der Lernenden in die Konzeption politischer Bildung einbeziehen zu können, muss man etwas über sie wissen. Hieraus resultiert die fachdidaktische Aufgabe, Wissen über Lernen und die Lernenden zu generieren. Auf diese Problemstellungen bietet der Ansatz von Dirk Lange eine Antwort.

Die politikdidaktisch motivierte Vorstellungsforschung nach Dirk Lange stellt mit dem Bürgerbewusstsein ein heuristisches Instrument in den Mittelpunkt, um subjektive Sinnbilder zu untersuchen. Lernende – gesellschaftliche Subjekte – verwenden Modelle, um sich in der Welt zu Recht zu finden. Die Gesamtheit der mentalen Modellierungen von gesellschaftlichen Wirklichkeiten wird als Bürgerbewusstsein bezeichnet. Gesellschaftliche Strukturen und Prozesse werden durch diese Modelle subjektiv verständlich. Das Bürgerbewusstsein ermöglicht den Subjekten sich in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu orientieren (Lange 2008: 433). „Das Bürgerbewusstsein produziert den subjektiven Sinn, der den Menschen das politische Sehen, das politische Urteilen und das politische Handeln ermöglicht.“ (Kleinschmidt/Lange 2016b: 8)

Indem das Bürgerbewusstsein zum zentralen Gegenstand der politischen Bildungsforschung wird, verschiebt sich sowohl das Verhältnis von den Fachwissenschaften zur Fachdidaktik als auch das Verhältnis von der Didaktik zu den lernenden Subjekten. Die Frage, was als die zentrale fachwissenschaftliche Referenz für die politische Bildung ausgemacht wird – beispielsweise Politikwissenschaft (Massing/Weißeno 1995), die Sozialwissenschaften (vgl. GPJE 2004; Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004) oder die Demokratiewissenschaft (vgl. Himmelmann 2001) – wird mit dem Ansatz des Bürgerbewusstseins zweitrangig. Hier bleiben zwar die fachwissenschaftlichen Vorstellungen relevant, verlieren jedoch ihren Status als Hauptbezugspunkt für Diagnose und Planung von politischen Bildungsprozessen (Kleinschmidt/Lange 2016b: 8). Ausgangspunkt für Gestaltung und Reflexion politischer Bildung werden die Sinnbildungen der lernenden Subjekte.

Die fachlichen Vorstellungen der Lernenden werden von ihnen in die alltägliche politische Bildungspraxis mitgebracht. Mit dem Ansatz von Lange sind die Vorstellungen der Lernenden dabei nicht einfach als Fehl- oder Mangelkonzepte anzusehen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die subjektiven Sinnbildungen im Alltag und der Praxis vielfach erprobte und funktionierende Modellierungen darstellen (Kleinschmidt/Lange 2016: 8). Der Rahmen des Verständnisses darf dabei nicht auf die Lehr-Lern-Situation beschränkt sein, da davon ausgegangen werden kann, dass mentale Modelle ihre Plausibilität erst in alltäglichen Kontexten und lebensweltlichen Situationen entfalten. Die Substanz der Didaktik der Politischen Bildung besteht also nicht in fachwissenschaftlichem Wissen, sondern vielmehr in der Kategorie des Bürgerbewusstseins, den mentalen Modellierungen der lernenden Subjekte. Fachwissenschaftliche Vorstellungen können dabei helfen, Anregungen zur Transformation der fachlichen Vorstellungen der Lernenden zu liefern. Diese Sinnbildungskompetenzen sind es, die sich in (gelingender) politischer Bildungspraxis wandeln (Lange 2011: 12).

Dies kann als eine De-Hierarchisierung von Wissensformen und -akteuren angesehen werden. Anders als in zahlreichen didaktischen Forschungsperspektiven wird hier nicht gefragt, was die Lernenden wissen oder nicht wissen, um über Strategien nachzudenken, an die Stelle des vermeintlichen ‚falschen‘ oder ‚fehlenden‘ Wissens das ‚richtige‘ Wissen zu setzen – mit letzterem sind dann eben die dominierenden Vorstellungen in den Fachdisziplinen gemeint. Stattdessen stehen hier zunächst die fachwissenschaftlichen Vorstellungen und die Vorstellungen der lernenden Subjekte nebeneinander statt übereinander. Umgesetzt wurde dieser Anspruch insbesondere durch die politikdidaktische Adaption des aus den Didaktiken der Naturwissenschaften stammenden Ansatzes der Didaktischen Rekonstruktion. Dieser Ansatz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er die potenziellen Lerngegenstände nicht einfach aus den Fachwissenschaften didaktisch reduziert, transformiert oder filtert, sondern sie durch einen Vergleich der subjektiven und der wissenschaftlichen Vorstellungskulturen gewinnt (Lange 2011: 17). Er besteht aus den vier Aufgaben der Erhebung der Lernendenvorstellungen, der fachlichen Klärung, der normativen Zielklärung und der quer dazu liegenden didaktischen Strukturierung (ebd.: 18). Die fachliche Klärung entspricht dem Stand der fachwissenschaftlichen Forschung. Die Lernendenvorstellungen und die Vorstellungen innerhalb des fachwissenschaftlichen Diskurses werden im Zuge der Durchführung einer qualitativen Inhaltsanalyse – oder potenziell auch anderen methodischen Vorgehensweisen – miteinander in Beziehung gesetzt. Anders als in der Didaktik der Naturwissenschaft drängte es sich in der Politikdidaktik auf, die Dimension der normativen Zielklärung hinzuzufügen, nicht zuletzt da hier die fachwissenschaftlichen Vorstellungen der Gegenstände sehr viel heterogener erscheinen. Dabei ist die Forschung auf die Dimension der didaktischen Strukturierung ausgerichtet, mit der die Konsequenzen der empirischen Forschung für die Gestaltung von Bildungsprozessen gemeint ist.

In der fachdidaktischen Untersuchung des Bürgerbewusstsein kommen jedoch noch vier Aufgaben hinzu, die quer zur politikdidaktischen Rekonstruktion liegen. (1) Ist-Zustand: Unter Einbezug der gesellschaftlichen und institutionellen Kontexte und Positionierungen wird danach gefragt, wie die subjektiven Sinnbilder aussehen und wie sie sich strukturieren (Lange 2008: 437). (2) Soll-Zustand: Die Aufgabe besteht hier darin auszuarbeiten, wie das Bürgerbewusstsein strukturiert sein sollte, wobei Mündigkeit, Autonomie und gleichberechtigte Partizipation die Referenzpunkte darstellen. Während die empirische Aufgabe zunächst darin besteht, die Tatsächlichkeit des Bürgerbewusstseins zu erheben, können im Rahmen dieser normativen Untersuchung subjektive Sinnbildungen durchaus als Fehlkonzepte erscheinen. Sie sollten aber lerntheoretisch keinesfalls einfach als mentale Fehlbildungen abgetan werden, da sie für die Lernenden eine innere Plausibilität besitzen. Auch die sogenannten Fehlkonzepte können wichtige Hinweise für die reflexive Untersuchungsaufgabe enthalten. (3) Kann-Zustand: Die Untersuchung des Kann-Zustandes zielt darauf ab, herauszufinden, welche Lernchancen die gesellschaftliche Wirklichkeit bietet. Zum einen werden die Sinnbildungen der lernenden Subjekte und ihre Lebenswelt daraufhin in den Blick genommen, inwiefern hier Sinnbildungskompetenzen erlernt, geschärft, reflektiert, irritiert oder gewandelt werden können. Auf der anderen Seite werden sozialwissenschaftliche Konzepte daraufhin untersucht, ob sie den lernenden Subjekten in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit helfen können, Mündigkeit und Autonomie praktisch werden zu lassen. (4) Die vierte Aufgabe besteht in der Übertragung der gewonnen Einsichten auf die didaktische Praxis. Im Zuge dieser anwendungsbezogenen Aufgabe werden, Konzepte, Methoden, Leitlinien und Material für die strukturierte Wandlung des Bürgerbewusstseins entwickelt (ebd.: 438).

Dieses oder an diesen Ansatz angelehnte Vorgehen wurden inzwischen in zahlreichen Forschungsprojekten durchgeführt (Kleinschmidt/Lange 2016b). Auch das Projekt „Denkweisen der Globalisierung“, aus dem die hier vorliegende Forschungsarbeit ihr empirisches Material bezieht, arbeitet mit einem an diesen Ansatz angelehnten Konzept. In der praktischen Durchführung wurde deutlich, dass die De-Hierarchisierung des Wissens ihre Grenzen hat. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass in der Gegenüberstellung der alltäglichen, lebensweltlichen Vorstellungen die elaboriert dargestellten Vorstellungen aus den Wissenschaften letztere oft implizit als überlegen und letztlich dominant erscheinen. Die Untersuchung der Lernendenvorstellungen dient so letztlich häufig zwar der Entwicklung einer Strategie der besseren, lebensweltlich orientierten Vermittlung von Lerngegenständen, strukturiert diese aber selbst kaum mit. De facto läuft dieser Ansatz also Gefahr seinem Anspruch nicht gerecht zu werden, die Lernendenvorstellungen nicht nur zum besseren Gelingen von Wissensvermittlung, sondern auch als gleichwertig mit dem fachwissenschaftlichen Wissen zu sehen. Im folgenden Abschnitt werde ich anhand der Forschungsperspektive Inclusive Citizenship Education auch diesem Problem der impliziten Re-Hierarchisierung der Wissensformen und damit zusammenhängenden Problemen nachgehen. Dabei wirft auch insbesondere die Konzeption der normativen Zielklärung bzw. des Soll-Zustandes des Bürgerbewusstseins Probleme auf, da deren Konstruktion oft diffus erscheint.

2.3.2 De-Hierarchisierung des Wissens II: Inclusive Citizenship Education

Inclusive Citizenship bzw. Inclusive Citizenship Education ist eine Forschungsperspektive, die in interdisziplinären Zusammenhängen an der Leibniz Universität Hannover entwickelt wurde. Auf die politische Bildungsforschung bezogen erweitert und transformiert dieser Ansatz das Konzept des Bürgerbewusstseins. Ich werde das Konzept kurz anhand der zwei Begriffen Inclusive und Citizenship skizzieren.Footnote 2 In der Auswahl der Beispiele werde ich einen Fokus auf migrationsgesellschaftliche Aspekte legen. Im Anschluss werde ich herausarbeiten, was das konkret für meine Forschung bedeutet.

2.3.2.1 Inklusion

Zur Begriffsbestimmung von ‚Inklusion‘ bedarf es einer genaueren Erläuterung, auf welche Aspekte ich mich hier beziehe – immerhin ist ‚Inklusion‘ in bildungspolitischen und bildungswissenschaftlichen Kontexten in aller Munde. Dementsprechend viele divergierende Verständnisse florieren hier. Kerstin Hazibar und Paul Mecheril formulieren treffend und polemisch die mit der Omnipräsenz des Begriffs verbundene Gefahr:

„,Inklusion‘ ist mithin eine ganze Menge, beispielsweise: ein leerer, multipel instrumentalisierbarer Signifikant; eine modische Formel, die (wissenschafts-)kulturell mittlerweile in bestimmten Feldern bedient werden muss; ein professionelles Karrierefeld; eine aktuelle Möglichkeit, die eigene (wissenschaftliche) Expertise wirksam und öffentlich werden zu lassen.“ (Hazibar/Mecheril 2013)

Als Label auf einem Markt können als ‚inklusiv‘ bezeichnete Prozesse auch zur Verstetigung von segregativen Praxen und institutionellen Exklusionsmechanismen, also dem Gegenteil des Intendierten, beitragen. Im Rahmen des Ansatzes Inclusive Citizenship bezieht sich der Begriff ‚Inclusive‘ auf einen Paradigmenwechsel, der in mindestens drei wissenschaftlichen Diskussionsfeldern nachvollzogen werden kann: Der Diskussion um Armut, Migrationsgesellschaft und Behinderung. Dabei bleibt er jedoch in der Anwendung keinesfalls auf diese drei Bereiche beschränkt. In diesen drei sehr unterschiedlichen Debatten lassen sich einige Gemeinsamkeiten festhalten. So kann hier Inklusion immer nur im Spannungsfeld zu Exklusion verstanden werden. Dabei werden nicht die Exkludierten als Ursache einer gesellschaftlichen Problemlage angesehen, sondern vielmehr die Exklusion. Migrationsgesellschaftlich schlägt sich dies beispielsweise in der Infragestellung des Integrationsparadigmas nieder, das als assimilatives Imperativ für migrierende und als Migrant_innen markierte Menschen sowie für die Fantasie der normalisierenden Selbstverständlichkeit, nach der Integration als die Bürde des Ertragens der die Homogenität der Aufnahmegesellschaft störenden Ankömmlinge, kritisiert wurde und wird. Inclusive Citizenship versteht solche Normalisierungsprozesse und ihre Kehrseite – die Konstruktion von Devianz als Teil des Problems der Exklusion. Diese Exklusion wird dabei nicht als eine Exklusion aus der Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft verstanden (Kronauer 2013: 22) Ein veranschaulichendes Beispiel dafür wäre eine Insassin eines Abschiebegefängnisses, die nicht außerhalb der Gesellschaft ist, sondern innerhalb, ist sie doch den Regeln einer Institution (dem Abschiebegefängnis) unterworfen und Teil gesellschaftspolitischer Prozesse. Es geht also nicht um einen Ausschluss im engeren Sinne, sondern um machtvolle hierarchisierte Konstruktionen von Gruppen und damit verbundenen (Nicht-)Zugängen und (Nicht-)Zugehörigkeiten. Diese Gruppen sind dabei nicht a priori gegeben. Vielmehr ist ihre Konstruktion, die Konstruktion des Eigenen und des Anderen, als Teil dieser Prozesse zu begreifen und als solche zu analysieren.

2.3.2.2 Citizenship

Der zweite theoretische Referenzrahmen der Forschungsperspektive Inclusive Citizenship ist der Begriff von Citizenship, den ich hier kurz skizziere.Footnote 3 Im Alltag meint der Begriff meist einfach Staatsbürgerschaft. In Nachschlagewerken wird oft auf verschiedene Konzepte und Verständnisse von Citizenship referiert, mit denen der Begriff in formal demokratisch verfassten Gesellschaften das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft beschreibt. Der zentrale Widerspruch wird dort meist zwischen einem republikanischen und einem liberalen Verständnis von Citizenship ausgemacht. Während das republikanische Verständnis auf die Mitwirkung an der politischen Gestaltung einer Gemeinschaft fokussiert, zielt der liberale Begriff von Citizenship auf das Recht der_des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Die Forschungsperspektive Inclusive Citizenship nimmt allerdings zwei ganz andere Bedeutungsdimensionen zum Ausgangspunkt. Ausgehend von Konzepten innerhalb der Citizenship Studies (Turner 2016) wird Citizenship mit dem Ansatz Inclusive Citizenship als schillernd zwischen der Bedeutungsdimension als Status einerseits und als Act andererseits konzipiert. Sowohl Status als auch Act sind dabei weder statisch, noch getrennt voneinander zu begreifen, sondern stehen immer in einem Spannungsverhältnis.

2.3.2.3 Citizenship als Status

Citizenship als Status, Ordnung oder Regime schreibt Positionierungen, (Nicht-)Zugehörigkeiten und (Nicht-)Zugänge zu Ressourcen fest. Als work-in-progress Analysetool können dabei die Felder Ausschluss, Institutionalisierung sozialer Ungleichheit und Normalisierung dienen, die quer zum Spannungsverhältnis von Citizenship als Status und Act liegen. Im Feld von Nationalstaat und Migration ermöglicht Citizenship als Ausschluss die Unterscheidung zwischen nationalen Citizens und ‚ausländischen‘ Non-Citizens bzw. Bürger_innen zweiter Klasse (Balibar 2001). Dazu gehört auch das komplexe System gestaffelter Teilhabe und Rechte bzw. Entrechtung innerhalb der EU von EU-Binnenmigrant_innen und sogenannten Drittstaatler_innen, das auch als Ermöglichungsbedingung für die Stratifikation des Arbeitsmarktes anzusehen ist (Mezzadra/Neilson 2013). Aus der Perspektive des Ansatzes von Global Justice und den Citizenship Studies erscheint das Prinzip der hierarchisierten Rechte aufgrund von Staatsbürgerschaft als ‚Geburtsrechtslotterie‘, in der die geographische Frage des Geburtsortes und der Abstammung quasi feudal die Möglichkeiten und Einschränkungen von Individuen weitgehend determiniert (Shachar 2009). Dabei korreliert die Unterscheidung von Citizens und Non-Citizens auch mit der Unterscheidung von Bürger und Mensch. Citizenship als Ausschluss führt zur Hierarchisierung des Lebens selbst, das im Umgang mit dem durch die EU-Migrationspolitik massenhaft verursachten Tod von Geflüchteten ihren schmerzlichen Ausdruck findet – allein 2016 wurden 5022 Tote im Mittelmeer registriert; 2020 werden Menschen aufgrund der Überschreitung der EU-Außengrenzen erschossen.

Doch die Perspektive von Citizenship als Status geht über die Unterscheidung von Citizens und Non-Citizens hinaus. Citizenship als Status institutionalisiert auch das Spannungsverhältnis von formaler Gleichheit und realer Ungleichheit zwischen den Bürger_innen innerhalb eines Nationalstaats. In sich als demokratisch verstehenden Gesellschaften bedarf es für den Selbstlegitimierungsprozess der Zuschreibung formaler rechtlicher Gleichheit aller Bürger_innen. Diese formale Gleichheit korrespondiert jedoch keinesfalls mit tatsächlicher Gleichheit, vielmehr steht sie im Widerspruch zu der Ausweitung sozialer Ungleichheit und exkludierenden Strukturen. Im Zuge des Aufkommens kapitalistischer Gesellschaften und der Durchsetzung einer proklamierten Gleichheit aller Mitglieder einer Gesellschaft durch Citizenship entstanden eine Vielzahl neuer Formen der Legitimierung von Ungleichheit, wie etwa der moderne Rassismus, die Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit durch Leistung oder der Naturalisierung von Geschlecht, die medizinisch legitimierte Pathologisierung von Behinderten usw. Durch den Beitrag, den das Citizenship-Regime zur Zementierung von Ungleichheit bringt, karikiert sie das ihr selbst inhärente Gleichheitsversprechen. Oder, wie es der Schriftsteller Anatole France in Bezug auf die Klassengesellschaft sehr viel schöner formulierte: „Dafür dürfen sie arbeiten unter der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.“ (France 1894: 116)

Der dritte Aspekt von Citizenship als Status ist die Normalisierung. Mit dem Citizenship-Regime verbinden sich normalisierende Prozesse, die ein implizites Skript hervorbringen. Jenseits von tatsächlicher sozialer Ungleichheit und Ausschlüsse durch Staatsangehörigkeit bringt dieses Script das Normale und das Deviante hervor. Diese Konstruktionen sind wirkmächtig und umkämpft. Eine Dimension ist Rassismus als soziales Verhältnis. Sichtbar wird dies in der alltäglichen Erfahrung von beispielsweise Schwarzen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund, aus der imaginierten nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Ebenso ist die gegenwärtig so zentrale Frage des Verhältnisses vom Islam zum deutschen Zugehörigkeitsregime Ausdruck dieser Logik der machtvollen Einsetzung einer inkludierenden und exkludierenden Norm (El-Tayeb 2015). Die Frage, wer im Rahmen der Verhandlung über das natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsregime als zugehörig gedacht wird, wird dabei nicht statisch und binär beantwortet. Am Beispiel der Auseinandersetzung um Özil, der als Vorzeigebeispiel für gelungene Integration galt und innerhalb kürzester Zeit im öffentlichen Diskurs zum Nicht-Deutschen erklärt wurde, wird die Prekarität der Zugehörigkeit von Menschen mit Rassismuserfahrung deutlich, die scheinbar nie ‚echte‘ Deutsche werden können (Kleinschmidt/Lange 2020). Die Abwertung und potenzielle Exklusion von beispielsweise Behinderten, Erwerbslosen, Muslima und anderen ist Ausdruck dieser normalisierenden Bürgerschaft. Die Forschungsperspektive Inclusive Citizenship stellt diese Exklusionsformen nicht nur additiv nebeneinander, sondern strebt die Analyse ihrer intersektionellen Verschränkung an (Urbanek 2013).

2.3.2.4 Citizenship als Act

In den Citizenship Studies hat sich in den letzten Jahren der Fokus immer weiter von einem klassisch republikanisch-liberalen Verständnis von Citizenship als die Selbstregierung einer Gruppe hin zu Formen von Citizenship verschoben, in denen Gruppen – Citizens und Non-Citizens – um ihre Rechte, um Teilhabe und um Anerkennung kämpfen (Isin 2008: 17). Hier wird unter Citizenship nicht die Beteiligung der formal anerkannten Bürger_innen an staats- oder markttragenden Institutionen verstanden. John Gaventa zufolge wird so ein liberales Verständnis von Bürgerschaft – verstanden als ein vom Staat gewährtes Set an Rechten und Pflichten mit vorgesehenen Orten der Mitbestimmung – grundlegend infrage gestellt. Ihm zufolge sollten Handlungsmacht (agency) und die umkämpfe Frage von Rechten zentral für ein Verständnis von Citizenship sein (Gaventa 2005: xii). Statt eines vertikalen Verständnisses von Citizenship als dem Verhältnis des Staates zu den Bürger_innen plädiert er für ein horizontales Verständnis, das auf die Verhältnisse der Bürger_innen untereinander fokussiert und die Frage der Machtverhältnisse stellt. Im Fokus stehen also sowohl die Exklusionsprozesse als auch die Kämpfe um Ausweitung der Rechte der Rechtlosen: “[…] different mechanics of exclusion which consign certain groups within a society to the status of lesser citizens or of non-citizens, and in the struggles by such groups to redefine, extend and transform ‘given’ ideas about rights, duties and citizenship.” (Kabeer 2005: 1)

Wie ist aber das Verhältnis von Status und Kämpfen zu konzeptualisieren? Zur Herleitung werde ich mich auf die Arbeiten Engin Isins beziehen. Den veränderten Fokus der Citizenship Studies auf struggles und claim-making beschreibt Engin Isin so:

„This is not to say that there has been less emphasis on status but, rather, to suggest that most critical studies on citizenship focus on how status becomes contested by investigating practices through which claims are articulated and subjectivities are formed. The effect of this shift to practices has been the production of studies concerning routines, rituals, customs, norms and habits of the everyday through which subjects becomes citizens.” (Isin 2008: 17)

Der Fokus liegt hier auf der Infragestellung von Status durch die Artikulation von Ansprüchen und neuen Subjektivitäten im Alltag, wobei die Analyse des Status nach wie vor eine große Rolle spielt. Im Rahmen dieser Verschiebung innerhalb der Citizenship Studies entwickelte Engin Isin das Konzept der Acts of Citizenship, das er wie folgt fasst:

„Acts of citizenship are understood as deeds that contain several overlapping and interdependent components. They disrupt habitus, create new possibilities, claim rights and impose obligations in emotionally charged tones; pose their claims in enduring and create expressions; and, most of all, are the actual moments that shift established practices, status and order. Acts of citizenship should be understood in themselves as unique and distinct from citizenship practices in the sense they are also actively answerable events, whereas the latter are institutionally accumulated processes.” (Isin/Nielsen 2008: 10)

Engin Isin zufolge legen kritische Forschungsperspektiven in den Citizenship Studies keinen geringeren Fokus auf Status, Ordnung und Regime. Sie zielten vielmehr darauf, wie diese Ordnungen durch den Kampf um Rechte und die Herausbildung neuer Subjektivitäten herausgefordert wurden. In der Folge dieser Perspektivverschiebung gerieten immer mehr Praxen in den Blick, die sich etwa in alltäglichen Routinen, Bräuchen, Normen und Gewohnheiten niederschlagen, die aus Menschen Bürger_innen (citizens) machen (Isin 2008: 17). Dabei unterscheidet Isin zwischen Praxen und Acts. Während bürgerschaftliche Praxen das Durchlaufen institutionalisierter Prozesse darstellen, sind Acts als diejenigen Praxen zu verstehen, die Gewohnheiten unterbrechen, neue Möglichkeiten schaffen, Rechte beanspruchen und insbesondere herrschende Praxen, (Nicht-)Zugehörigkeiten und Ordnungen verschieben (Isin/Nielsen 2008: 10). Wie hier schon deutlich geworden ist, ist ein Act nur als mit dem Status verschränkt denkbar. Gleiches gilt in dieser Analyseperspektive – vice versa – aber auch für den Status, weswegen es als gegenseitiges Spannungsverhältnis konzeptualisiert wird (Turner 2016).

2.3.2.5 Fruchtbare Exkursionen zu Polizei und Politik

Dieser Ansatz des Spannungsverhältnis von Status und Act steht dabei ideengeschichtlich mit anderen Ansätzen in Beziehung, die nach wie vor fruchtbar für die Theoretisierung von Citizenship sind. Ich werde kurz einige Ideen von Jacques Rancière und Étienne Balibar umreißen, um das Spannungsverhältnis weiter theoretisieren zu können. Rancière stellt die Frage von (Nicht-)Zugehörigkeit ins Zentrum seines Begriffs des Politischen. Der Begriff des Politischen steht dabei ebenso wie der der Demokratie dem der Polizei gegenüber. Für Rancière ist Demokratie keine „Staatsform“ (Rancière 2005: 87), „Regierungsform“ oder „Gesellschaftsform“ (Rancière 2009: 90), wie es im gängigen Verständnis üblich wäre. Für ihn bezeichnen das Politische und Demokratie vielmehr das Durchbrechen der polizeilichen Ordnung, die wiederum gemeinhin als Demokratie bezeichnet wird. Das Feld der postdemokratischen Repräsentation, das in der Regel als die ‚Politik‘ bezeichnet wird, ordnet er dabei der polizeilichen Ordnung zu. Der Begriff Polizei meint dabei nicht – zumindest nicht nur und nicht in erster Linie – die uniformierte Sicherheitsbehörde des Staates, sondern einen Modus der Verwaltung und Zuordnung der Teile und Anteile der Gesellschaft, der den Ausschluss des Politischen betreibt. Dieser Ausschluss scheint aus der Sicht der polizeilichen Logik nötig, denn das Vorhandensein von Politik verweist auf die Kontingenz von Herrschaft, die in keiner Natur der Dinge oder göttlichem Gesetz gegründet ist (Rancière 1995: 28). Das Politische ist die Unterbrechung der polizeilichen Ordnung des Status Quo. Das Politische fängt also da an, wo die scheinbar natürliche Ordnung durch die Logik der Gleichheit unterbrochen wird. Zentral für Rancières Verständnis des Politischen ist dabei der Anteil der Anteillosen:

„Es gibt Politik, wenn es einen Anteil der Anteillosen gibt, einen Teil oder eine Partei der Armen gibt. Es gibt nicht einfach deshalb Politik, weil die Armen den Reichen gegenübertreten oder sich ihnen widersetzen. Man muss eher sagen, dass es die Politik ist – das heißt die Unterbrechung der einfachen Wirkungen der Herrschaft der Reichen –, die die Armen als Entität zum Dasein bringt. [...] Die Politik existiert, wenn die natürliche Ordnung der Herrschaft unterbrochen ist durch die Einrichtung eines Anteils der Anteillosen.“ (Rancière 1995: 24)

Das Subjekt des Politischen ist nach Rancière nicht aus dem Sozialen abzuleiten, da es nicht vor dem Erscheinen des Politischen, vor dem Aufkommen des Streits existiert. Die Frage ist also nicht, wer die Anteillosen sind, sondern, wo die Logik der Gleichheit in Anschlag gebracht wird, um einen Anteil der Anteillosen einzufordern.

So sieht Rancière im Politischen „die Sache der Subjekte oder vielmehr der Subjektivierungsweisen“ (ebd.: 47). Als Subjektivierung versteht er unter anderem eine „Reihe von Handlungen“, die „eine Instanz oder eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren“ (ebd.) und die dadurch diese Erfahrungswelt neu ordnen. Durch die Subjektivierung werden die Identitäten, die einen Platz innerhalb der natürlichen bzw. polizeilichen Ordnung zuweisen und fixieren, zu einem Ort des Streits. „‘Frau’ ist in der Politik das – entnatürlichte, entweiblichte – Subjekt einer Erfahrung, das den Abstand zwischen einem anerkannten Anteil – dem der geschlechtlichen Ergänzung – und der Abwesenheit eines Anteils misst.“ (ebd.: 47 f) Dieser Abstand, der „die Gleichheit nur in der Gestalt des Unrechts bestehen lässt“ (ebd.: 74), ist für Rancière fundamentaler Bestandteil von Politik. Subjektivierung ist dabei immer eine „Ent-Identifizierung, das Losreißen von einem natürlichen Platz, die Eröffnung eines Subjektraums“ (ebd.: 48).

Eine ähnliche Richtung nimmt auch die Argumentation von Étienne Balibar, von dem ich an dieser Stelle nur ein Argument anführe. Er entwickelt einen Begriff von Demokratie als „Differential von Aufstand und Verfassung“ (Balibar 2010: 24). Anhand seines Begriffs der Gleichfreiheit (égaliberté) zeichnet er die konfliktive Geschichte von Demokratie und Citizenship nach. Gleichfreiheit bezeichnet das der Logik von Citizenship eingeschriebene Streben nach Gleichheit und Freiheit. Ebenso wie Rancière stellt er den Streit in den Mittelpunkt: „Der mit dem Prinzip von Gleichfreiheit verbundene aufständische Moment ist nicht nur Begründer, sondern auch Feind von stabilen Institutionen.“ (Balibar 2010: 24)

2.3.2.6 Zum Spannungsverhältnis von Acts und Status

Der Begriff des Differentials, der bei Balibar anstelle des von Inclusive Citizenship Education Spannungsverhältnisses steht, macht noch deutlicher, dass Act und Status nicht in einem einfachen Gegensatz zueinander stehen, sondern das Verhältnis vielmehr als verwoben, widersprüchlich, sich bedingend und ständig ringend verstanden werden muss. In der Begriffsdefinition vom Act als der Infragestellung oder Verschiebung einer Ordnung steckt die Verwobenheit bereits drin. Doch Citizenship als Status – Ordnung oder Regime – stellt selbst schon eine zwar prekäre, aber doch geronnene Form dar, die bei näherer Betrachtung einen Effekt der Acts darstellt. Keine Ordnung ist überhistorisch. Es sind die Acts, die die Ordnung vor sich hertreiben, sie immer wieder zwingt, sich zu transformieren. Das ist eine der Grundideen des Operaismus: Es gibt kein überhistorisches System, das die Unterdrückten wie Spielbälle vor sich hertreibt. Es sind die Exkludierten, Ausgebeuteten, Marginalisierten und Entrechteten die immer wieder Wege suchen und finden, die bestehende Ordnung zu durchbrechen, zu unterlaufen, zu verschieben, sich ihr zu entziehen. Für den Bestand einer Ordnung mit all seinen Hierarchien, Ausschlüssen und Ungleichheiten ist es hingegen zentral, diese Macht unsichtbar werden zu lassen, ein Gefühl von Ohnmacht zu schaffen oder die Macht in postdemokratische Bahnen zu lenken (Rancière 1995). Der Ansatz Inclusive Citizenship zielt darauf ab, das Politische und damit das Spannungsverhältnis von Acts und Status sichtbar und reflektierbar zu machen.

Begriffe wie Act und Unterbrechung der Ordnung bringen Assoziationen zu sozialen Bewegungen, Protest und Revolten nahe. Das ist natürlich auch eine mögliche Form, in denen sich Acts of Citizenship realisieren können. Mit Acts of Citizenship sind aber genauso auch ganz alltägliche und weniger sichtbare Phänomene gemeint. Dieses Problem hat auch Aoileann Ní Mhurchú adressiert. Sie hat das Konzept der „unfamiliar acts of citizenship“ (2016: 156) herausgearbeitet. Sie stellt fest, dass in den Citizenship Studies häufig implizit ein Begriff des Politischen gegenwärtig ist, mit dem diese alltäglichen Phänomene aus dem Blick geraten. Ein Act ist aber dann als solcher zu bezeichnen, wenn durch eine Subjektivierung die herrschende Ordnung durchbrochen wird – unabhängig davon, ob sich dies auf der Bühne der als politisch wahrgenommenen Szenerie oder in ganz alltäglichen Prozessen abspielt. Als Beispiele für weniger sichtbare Acts analysiert Ní Mhurchú Verlan und Hip-Hop in Frankreich als hochpolitische Phänomene, die den mono-linguistischen Anspruch und ethnische Kategorisierungen nationaler Citizenship stören und unterlaufen. In beiden Feldern werden durch hybride Identifikationspraxen das nationalstaatliche Zugehörigkeitsregime subvertiert und Felder der Identifikation und Zugehörigkeit jenseits des Nationalstaats eröffnet. In ihrer Analyse geht sie den Widersprüchlichkeiten des Feldes nicht aus dem Weg und vermeidet einfache Binaritäten und sieht die Spannungen – beispielsweise im französischen Rap zwischen subversivem Potenzial und patriarchalem und kommerziellem Charakter – als Ausdruck der Ambivalenzen innerhalb der Auseinandersetzungen um Citizenship (ebd.: 160). Anwendbar wäre dies Konzept der ungewohnten (unfamiliar) Acts of Citizenship beispielsweise auch auf die kollektiven Erstürmungen der Grenzzäune in Ceuta und Melilla oder allgemeiner die Überwindung bzw. Unterwanderung der europäischen Außengrenze. Auch dies kann als Praxis angesehen werden, die die Frage von (Nicht-)Zugehörigkeit stellt, die Ordnung unterläuft und somit als Abstimmung mit den Füßen gegen neokoloniale Herrschaftsverhältnisse gesehen werden kann.

2.3.2.7 Inclusive Citizenship Education

Aus der Perspektive von Inclusive Citizenship Education ist es aber wichtig, dass auch ganz alltägliche, im sozialen Nahraum der Lernenden stattfindende Prozesse als innerhalb dieses Spannungsfeldes verstanden werden können. Ebenso, wie im vorherigen Abschnitt anhand des Ansatzes der politikdidaktischen Vorstellungsforschung dargestellt, zielt die Perspektive von Inclusive Citizenship Education auf die ganz alltäglichen Sinnbildungsprozesse der Lernenden ab, die nicht als fehlendes oder mangelndes Wissen gesehen werden. Vielmehr sind die Vorstellungen der Lernenden als funktionierende Werkzeuge zu sehen, die die Lernenden in ihrem Alltag verwenden, um sich in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu positionieren, zu orientieren und zu bewegen. Im Gegensatz zur politikdidaktischen Vorstellungsforschung werden mit der Perspektive Inclusive Citizenship Education aber nicht mehr die Vorstellungen der Lernenden den fachwissenschaftlichen Vorstellungen gegenübergestellt. Stattdessen werden beide – Lernendenvorstellungen und Fachwissenschaft – in Bezug auf das Spannungsfeld Status und Act bzw. in Rancières Sinne Polizei und Politik analysiert. Wissenschaftliche Vorstellungen und Lernendenvorstellungen werden trotzdem zusammengeführt, allerdings erlaubt es die Perspektive von Inclusive Citizenship Education die implizite Hierarchisierung des Wissens zu verhindern und prüft beide gleichermaßen auf ihr Potenzial, das Politische sichtbar zu machen. Wissenschaftliche Vorstellungen werden so auf eine Stufe mit den Lernendenvorstellungen geführt. Auch wenn sich die fachwissenschaftlichen Vorstellungen – möglicherweise – durch einen höheren Grad der Systematik auszeichnet, wird es doch wie die Lernendenvorstellungen als situiertes und positioniertes Wissen angesehen. Auf diese Weise werden unter Einbezug der fachwissenschaftlichen Diskussion die Lernendenvorstellungen auf ihr demokratisierendes Potenzial hin untersucht, ohne dabei letztlich der Fachwissenschaft das letzte Wort zu geben. Denn auch mit Inclusive Citizenship stellen die Alltagsvorstellungen der Lernenden Anfangs- und Endpunkt politischer Bildungsprozesse dar.

Für das hier vorliegende Forschungsprojekt werden die Kategorien Status und Act in einen dekolonial inspirierten Rahmen überführt. In diesem entsprechen Acts dekolonialen und Status kolonialen Momenten. Untersucht werden also die Vorstellungen der Schüler_innen dahingehend, ob sie koloniale oder dekoloniale Vorstellungen verwenden, um sich und die Welt zu artikulieren. Allerdings ergibt sich erkenntnistheoretisch aus dem hier vorgestellten Ansatz von Inclusive Citizenship Education ein weiteres Problem. Das Problem der normativen Klärung der politikdidaktischen Vorstellungsforschung ist dadurch nicht gelöst, vielmehr hat sich die Problemlage verschoben: Auf welcher Grundlage entscheidet sich, was Act und was Status, was Politik und was Polizei bzw. was kolonial und was dekolonial ist? Und wer entscheidet das? Und wie stellt sich ein mögliches Subjekt der Entscheidung her?

Hier kann ein Rekurs auf die Kritik der Ideologiekritik helfen, das Problem genauer zu fassen. Eine Bestimmung dessen, was als kolonial und was als dekolonial gilt, ähnelt zunächst einem ideologiekritischen Vorgehen. Im Zentrum der analytischen Perspektive steht die Frage, wie Ideen sich in Bezug auf ein Herrschaftsverhältnis bestimmen. Ideologiekritik analysiert die Wahrnehmung von Wirklichkeit von der Perspektive des Utopischen, der (Un-)Möglichkeit eines ganz anderen, was sie von affirmativen Wissenschaften grundlegend unterscheidet. Michel Foucault hat seine Kritik an der Ideologiekritik 1977 in drei Punkten zusammengefasst. (1) Foucault zufolge steht Ideologie „immer, ob man will oder nicht, in einem virtuellen Gegensatz zu etwas […], das die Wahrheit wäre“ (Foucault 1977: 196 f). (2) Foucault geht außerdem davon aus, dass sich der Begriff der Ideologie auf so etwas wie ein Subjekt bezieht (ebd.: 197). (3) Zum dritten steht nach Foucault „die Ideologie in sekundärer Stellung im Verhältnis zu etwas, das für sie als Basis oder ökonomische, materielle usw. Determinante funktionieren“ (ebd.) müsse. Aus den genannten Gründen lehnt Foucault die Perspektive der Ideologiekritik ab und entwirft neue Formen gesellschaftskritischen Denkens. Auf die prominentesten Ansätze der Ideologiekritik trifft die Kritik Foucaults zu, wie beispielsweise auf die Theorien von Adorno und Horkheimer sowie Louis Althusser. Adorno und Horkheimer verstehen Ideologie als „objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein, als Verschränkung des Wahren und Unwahren“ (Adorno/Horkheimer 1956: 168). Dem ideologischen Verblendungszusammenhang setzen sie eine Wahrheit der Erkenntnis über die gesellschaftliche Totalität entgegen. Althusser entwirft einen Theorierahmen, in dem sich Ideologie materiell in ideologischen Staatsapparaten manifestiert, Subjekte anruft und letztlich das „imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“ (Althusser 1969: 139) hervorbringt. In beiden vollkommen unterschiedlichen Theoremen steckt nachweislich viel Potenzial für gesellschaftskritisches Denken. Nichtsdestotrotz treffen Foucaults fundamentale erkenntnistheoretische Einwände zu; ich lasse hier die Widersprüchlichkeit durch die ihre eigene Theorie infrage stellenden und erweiternden Ansätze in den jeweiligen Spätwerken wie etwa das Denken in Konstellationen und den aleatorischen Materialismus zur besseren Darstellbarkeit außer Acht. Im ideologiekritischen Denken setzen sich Wahrheit, Subjekt und Objektivität in einen höchst problematischen Zusammenhang. Gesellschaft wird hier als ein „genähte[r] Raum“ (Laclau/Mouffe 1985: 130) imaginiert. Es wird ein „Wesen des Sozialen“ (ebd.) unterstellt. Mit dieser Prämisse erscheinen im totalisierenden Denken alle Phänomene nur als Applikation der wesenhaften Gesetze, womit das Soziale geschlossen wird. Laclau spitzt diese Kritik folgendermaßen zusammen: „Die Welt ist am Ende wilder und unvorhersehbarer als die ordentlichen Pläne unseres spießigen Marxisten.“ (Laclau 1996: 134)

Dieses Verständnis von Gesellschaft als Totalität ist Voraussetzung für das Wahrheitsregime und steht in konstitutiver Verbindung zur Frage des erkennenden Subjekts. Den ideologischen Verblendungszusammenhang sowie Ideologie nach Althusser erkennen nur die Professor_innen der Ideologiekritik selbst. Es ermöglicht eine Art Vogelperspektive auf das Wesen der Gesellschaft. Während also die Ideologiekritiker_innen nach Sokrates aus der Höhle gestiegen sind und die Welt im Sonnenlicht wahrnehmen, sitzen die unwissenden Höhlenbewohner_innen noch immer nichts ahnend und nichts verstehend dort und beobachten nur die Schatten und Täuschungen. Als Pendant zur salopp ausgedrückten Spießigkeit der Schließung des Sozialen kann die Konstruktion der hierarchischen Verteilung der Subjektpositionen in dieser epistemischen Konstellation als Arroganz interpretiert werden. Insbesondere didaktisch gewendet erscheint ein ideologiekritisches Selbstverständnis als problematisch, liegt ihm doch historisch das aufklärende Verhältnis der Partei zur Arbeiter_innenklasse am nächsten.

Der von Rancière inspirierte Ansatz Inclusive Citizenship ist schon als ein Umgang mit mehreren der hier genannten Probleme zu verstehen. Jacques Rancière war ein Schüler und Kollege Althussers. Viele seiner Theorien sind insofern als Produkt der Auseinandersetzung mit ihm zu interpretieren, in dessen Zuge er eine Theorie radikaler Demokratie entwickelt. Aus der Perspektive von Rancière erscheint ein solcher ideologiekritischer Ansatz als Meta-Politik. Meta-Politik sieht er als eine der drei postdemokratischen Formen an. Ebenso wie die Archi-Politik (Rancière 2002: 76 f) und die neoliberale Para-Politik (ebd.: 83 f) bedeutet die Meta-Politik (ebd.: 94 f) das Ende des Politischen. Ohne den Zusammenhang sozialer Ungleichheit mit dem Politischen zu bestreiten, problematisiert Rancière die meta-politische Ableitbarkeit des Politischen vom Sozialen bzw. seine Reduktion darauf. Das Politische stellt für ihn vielmehr die kontingente aber nicht kontextlose „Subjektivierung des Streits“ dar, „durch den es Politik gibt“ (Rancière 2008: 37). Dementsprechend sieht Rancière in der Politik „die Sache der Subjekte oder vielmehr der Subjektivierungsweisen“ (Rancière 2002: 47). Unter Subjektivierung ist nach ihm unter anderem eine „Reihe von Handlungen“ zu verstehen, die „eine Instanz oder eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren“ (ebd.) und die dadurch diese Erfahrungswelt neu ordnen. Die Identitäten, die eigentlich einen Platz innerhalb der ‚natürlichen‘ bzw. polizeilichen Ordnung zuweisen, werden durch die Subjektivierung zu einem Ort des Streits.

Erkenntnistheoretisch bleibt aber weiter ungeklärt, von welchem erkenntnistheoretischen Punkt ein_ Beobachter _in nun das Politische in den Blick nimmt. Auf welche Weise wird die Wahrheit darüber hergestellt, was Polizei und was Politik ist? Auf meine Forschungsfrage hin gewendet: Was ist kolonial und was dekolonial? Das zweite Problem Foucaults, das Problem des Subjekts in der ideologiekritischen Erkenntniskonstellation, hat sich nicht aufgelöst, sondern zunächst nur verschoben: Die/der Forschende verfügt nicht mehr über die Vogelperspektive auf die gesellschaftliche Totalität. Sind nun einfach alle nur die Schatten sehenden Höhlenbewohner_innen? Was ist der erkenntnistheoretische Ort, von dem aus ich forsche? Dieser Frage gehe ich im nächsten Abschnitt nach, bei dem ich unter Bezugnahme auf Critical Heritage Studies und Dekolonialität die Frage des Subjekts der Forschung und seiner Beziehung zum Beforschten diskutiere.

2.3.3 Dehierarchisierung des Wissens III: Decolonial Heritage

In den ersten zwei Abschnitt 2.3.1 und 2.3.2 habe ich das Verhältnis von Lernendenvorstellungen und den fachwissenschaftlichen Vorstellungen in der politikdidaktischen Vorstellungsforschung enthierarchisiert, wobei ich zuletzt die zentrale Unterscheidung von Act und Status als maßgeblich ausgemacht habe. Daraus ergab sich die Frage nach dem Subjekt der Unterscheidung: Wer entscheidet was Polizei und Politik beziehungsweise Kolonialität und Dekolonialität ist und auf welcher Grundlage? Im kommenden Abschnitt geht es dementsprechend um die Frage der Position der Forschenden und dem Verhältnis zum Beforschten. Im Folgenden diskutiere ich diese Fragen unter Rückgriff auf die Critical Heritage Studies und dekoloniale Theorien.

2.3.3.1 Cultural Heritage

Cultural Heritage ist in verschiedenen gesellschaftspolitischen Bereichen in Mode. Schon 2013 stellte Tauschek fest, dass Cultural Heritage „heute in vielfältiger Weise als Ressource interpretiert, entsprechend inszeniert und schließlich auch verwertet“ wird, um „nachhaltiges Wachstum, wirtschaftliche Entwicklung und letztlich über die Sicherung kultureller Vielfalt via Kulturerbe Frieden und Demokratie“ (Tauschek 2013: 187) zu ermöglichen. Dieser Trend hat seitdem noch zugenommen. Beispielsweise können die heritage policies der EU als ein zentrales Instrument zur Bewältigung verschiedener Krisen angesehen werden (Lähdesmäki/Kaasik-Krogerus/Mäkinen 2019). Heritage ist zur Regierungstechnik geworden, die verspricht, soziopolitische Probleme zu lösen, indem durch die Schaffung von auf die Vergangenheit bezogenen Narrativen neue Formen der Identifikation stattfinden. Genealogisch wird der Beginn von Heritage-Praxen meist mit dem Beginn der Nationalstaatsbildung in Verbindung gebracht. In diesen wurde es nötig, ein Volk zu schaffen. Für die dazugehörige Erfindung eines homogenen Volks brauchte es ein Narrativ der Vergangenheit, das die (Nicht-)Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gegenwart bestimmte, ihre Einheit konstruierte sowie auf eine gemeinsame Zukunft verwies. In den ‚klassischen‘ Heritage Studies ging es dementsprechend insbesondere um die ‚Bewahrung‘ und Inszenierung der nationalen Vergangenheit bzw. natürlich vielmehr um die Erschaffung und Inwertsetzung eines spezifischen nationalen Narrativs über die Vergangenheit in der Gegenwart. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde neben den Nationalstaaten die UNESCO die zentrale Akteurin in den Debatten um Cultural Heritage. In beiden Feldern dominierte und dominiert die Frage nach dem institutionalisierten Kulturerbe.

In Abgrenzung dazu entwickelten sich die Critical Heritage Studies, die die genannten Anwendungspraxen als beispielsweise Regierungsform oder ökonomische Ressource kritisch hinterfragten. War zunächst das Verständnis durch die Kämpfe von Akteuren aus ehemals kolonisierten Ländern geweitet worden, die dafür sorgten, dass auch immaterielles Erbe als solches Anerkennung erfuhr, weiteten sich die Implikationen des Begriffs aus. Laurajane Smith formulierte ihr Heritage-Verständnis als Kritik am „Authorized Heritage Discourse“ (Smith 2006: 87). Demnach ist Heritage ein Konfliktfeld, in dem Identitätsfragen, (Nicht-)Zugehörigkeiten und Werte konstruiert und verhandelt werden. Auf der einen Seite zielt Heritage auf die Konstruktion und Durchsetzung einer konsensualen Version der Geschichte durch kulturelle Institutionen und Eliten ab, durch die kulturelle und soziale Spannungen in der Gegenwart reguliert werden können. Auf der anderen Seite sieht sie Heritage als eine mögliche Ressource an, durch die bestehende Werte und Identitätskonstruktionen durch subalterne Gruppen herausgefordert und neu definiert werden können (ebd.: 4). In ähnlicher Richtung argumentieren die Ansätze des Dissonant Heritage, die beispielsweise feststellen, dass Heritage immer einer kulturell konstruierten Gruppe zugeschrieben wird – und logischerweise, andere davon ausgeschlossen sind (Graham/Ashworth/Tunbridge 2000: 24). Dies gilt sowohl für die Fragen von sozialen Klassen, Geschlecht sowie ethnisch konstruierte Gruppen. Ähnlich – auch wenn in einem ganz anderen Kontext – argumentiert Stuart Hall. In seinem Text Whose heritage? (1999) definiert er Heritage als eine diskursive Praxis, mit der ein nationales Narrativ konstruiert wird. Dieses Narrativ ist für ihn das, was Tradition genannt wird. Auf machtvolle Weise zielt die Schaffung dieser Tradition darauf ab, durch die Struktur des Narrativs Vergangenheit, Gemeinschaft und Identität in Verbindung zu setzen (ebd.: 74). Ausgehend von den zwei zentralen Veränderungen in der Konstruktionsweise von Heritage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der ‚Demokratisierung‘ von Heritage, also die Einbeziehung von nicht-herrschaftlichen Momenten, wie etwa der Arbeiter_innenklasse und des Beginns der Dezentrierung westlicher Meta-Narrative durch Dekolonisierungsprozesse (ebd.: 77) – beschreibt er eine veränderte Rolle der Diaspora-Communities, die systematisch aus der Produktion von Heritage ausgeschlossen wurden, sich aber nach und nach Zugang und Sichtbarkeit verschaffen, indem sie eigenes Heritage konstruieren oder sich in die hegemonialen Konstruktionsprozesse einmischen (ebd.: 81).

Heritage als analytischer Begriff beschreibt also nicht die Vergangenheit oder seine Überbleibsel, sondern vielmehr die (1) Konstruktion einer Vergangenheit, die Vergegenwärtigung von Vergangenheit: “It is so customary to think of the historical past in terms of narrative, sequences, dates and chronologies that we are apt to suppose these things attributes of the past itself. But they are not; we ourselves put them there.” (Lowenthal 1985: 219) Heritage umfasst aber mehr als den Konstruktionscharakter von Geschichte als Geschichtsschreibung. Dieses Narrativ der Vergangenheit bringt eine (2) imaginäre Gemeinschaft hervor, eine ‚Identität‘Footnote 4. Es konstruiert und legitimiert Diskurse, Werte, Normen und (Nicht-)Zugehörigkeiten, es bringt Sinn, Sprechpositionen, Wahrnehmungsweisen und Relevanz hervor. Heritage ist somit ein Feld auf dem um (3) gesellschaftliche Hegemonie gerungen wird. Heritage ist also eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit, die die Gegenwart strukturiert und in ihr als Konfliktfeld und Machtressource fungiert. Graham, Ashworth und Tunbridge verstehen unter Heritage „contemporary uses of the past“ (2000: 2) und dementsprechend bringt jede Gegenwart dasjenige Heritage hervor, was es benötigt (require). Dabei muss der Konstruktionscharakter von Heritage in der Praxis unsichtbar bleiben, indem es (4) essenzialisiert wird. Hall stellt beispielsweise fest, dass das Englische als etwas erscheint, an dem sich im Wesentlichen seit 1066 nichts geändert hat (Hall 1999: 74). Heritage-Artefakte referieren symbolisch auf die Essenz des Englischen, das als ‚Kultur‘ und Gemeinschaft die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zu strukturieren scheint. Dabei ist es vielmehr die Heritage-Praxis, die das Englische immer wieder konstruieren und rekonstruieren muss. (5) Heritage wird in den Heritage Studies sehr häufig auf ein Artefakt hin beschrieben – sei es materiell, ein Monument, ein Park, ein Instrument, Kleidungsstücke oder immateriell, ein Tanz, ein Essen, eine Sprache. Dies hängt zum anderen mit den wissenschaftlichen Disziplinen Geschichte und Archäologie zusammen, in denen sich die Heritage Studies entwickelt haben, und zum anderen mit den gesellschaftspolitischen Feldern der Auseinandersetzung, in denen oft die Institutionen wie die UNESCO zentral erscheinen. Die kritischen Konzepte von Heritage funktionieren jedoch artefaktlos. Für Smith ist Heritage eine Mentalität, eine Weise zu wissen und zu sehen (Smith 2006: 43); eine diskursive Konstruktion mit materiellen Konsequenzen, bei der Menschen die Vergangenheit nutzen (ebd.: 11).

2.3.3.2 Difficult Heritage

Neben den oben genannten Ansätzen des Dissonant Heritage bieten sich für die Analyse der Schüler_innenvorstellungen aus dekolonialer Perspektive insbesondere noch das Konzept des Difficult Heritage an. Dieser Begriff wurde von Sharon Macdonald für ihre Untersuchung des gegenwärtigen Umgangs mit dem früheren Reichsparteitagsgelände der NSDAP in Nürnberg entwickelt. Dabei versteht sie ihren Ansatz von Difficult Heritage bescheidener als andere nicht als einen allgemeinen Forschungsansatz („general survey“, Macdonald 2005: 4), sondern vielmehr als eine spezifisch für ihren Kontext fruchtbare Perspektive. Für die hier vorliegende Untersuchung beziehe ich mich nichtsdestotrotz darauf, wenn ich auch im Folgenden einige Punkte für die Übertragung in den hier vorliegenden Kontext problematisieren werde. Sie fasst den Ansatz von Difficult Heritage folgendermaßen zusammen:

„This book explores a particular dimension of this public concern with the past. It looks at what I call ‘difficult heritage’ – that is, a past that is recognized as meaningful in the present but that is also contested and awkward for public reconciliation with a positive, self-affirming contemporary identity. ‘Difficult heritage’ may also be troublesome because it threatens to break through into the present in disruptive ways, opening up social divisions, perhaps by playing into imagined, even nightmarish futures. By looking at heritage that is unsettling and awkward, rather than at that which can be celebrated or at least comfortably acknowledged as part of a nation’s or city’s valued history my aim is to throw into relief some of the dilemmas about its public representation and reception. Doing so highlights and unsettles cultural assumptions about and entanglements between identity and memory, and past, present and future. It also raises question about practices of selection, preservation, cultural comparison and witnessing – practices which are at least partly shared by anthropologists and other researchers of culture and social life.“ (Macdonald 2009: 1)

Dieser Ansatz lässt sich auf den ersten Blick problemlos auf das hier vorliegende Forschungsfeld übertragen. Ist es bei Macdonald die postfaschistische Gesellschaft, die ihr Erbe verhandelt, ist im postkolonialen Kontext der Kolonialismus das Erbe. Im Folgenden werden die Probleme anhand der Begriffe (a) bedeutsam (meaningful), (b) schwierig (difficult) und (c) Öffentlichkeit (public) skizziert, die die Übertragung des Konzepts auf das Postkoloniale mit sich bringen.

(a) Bedeutsam: Zunächst stellt sich beim Postkolonialen die Frage, ob es denn tatsächlich in der ‚Öffentlichkeit‘ als bedeutsam wahrgenommen wird. In den meisten Studien, wie auch in dieser, kann eher davon ausgegangen werden, dass der koloniale Aspekt der Vergangenheit nicht als bedeutsam angesehen wird – zumindest in Bezug auf eigene gesellschaftliche Kontexte – ganz zu schweigen von der Wahrnehmung der Gegenwart der Kolonialität. Es wäre also möglicherweise eher Ziel dekolonialer Praxis in Deutschland als Gegenwartsdiagnose, den historischen Kolonialismus und damit auch die Gegenwart der Kolonialität zum Difficult Heritage zu machen, mit dem sich selbst bestätigende Identitäten der Gegenwart infrage gestellt werden.

(b) Schwierig: Für den postnazistischen Kontext stellt sich die Frage des kritischen Potenzials anders. Zu fragen wäre hier, ob das Nazi-Heritage gegenwärtige Identitätskonstruktionen wirklich infrage stellt, oder ob es nicht spätestens seit der Instrumentalisierung von Auschwitz für den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 1999 in Serbien Teil der Staatsräson wurde. Die rot-grüne Regierung festigte ein verändertes Verhältnis des nationalen Narrativs zur Shoah und dem Nationalsozialismus. Beispielhaft sei hier der Krieg in Serbien erwähnt, den ‚wir‘ – so die damalige Anrufung – nicht trotz, sondern wegen Auschwitz geführt hätten. Auschwitz als Symbol für den Nationalsozialismus und die Shoah erscheint in diesem Narrativ nicht mehr als externalisiert oder herausfordernd, sondern vielmehr konstitutiver Baustein eines neo-nationalen Narrativs. Vielmehr wurde die vermeintlich erreichte Aufarbeitung Teil des Narrativs und es wurde als besondere – überlegene? – Qualität Deutschlands inszeniert. Um gegenwärtige Narrative und Identitätskonstruktionen infrage zu stellen, um also Kolonialität zum schwierigen Erbe werden zu lassen, müsste die die Gegenwart prägende Kolonialität – von postkolonialen globalen Ungleichheiten über Rassismus bis zu eurozentrisch-kolonialen Denkstrukturen – im öffentlichen Bewusstsein in Verbindung mit dem historischen Kolonialismus gesehen werden, statt die Frage auf den abgeschlossenen, externalisierten formalen Kolonialismus zu reduzieren. Verkompliziert wird es eben dadurch, dass die postkoloniale Konstellation gegenwärtige Machtstrukturen auf eine gänzlich andere Weise prägt als es der Nationalismus tut, da der Nationalsozialismus als Staatsform Geschichte im Sinne von vergangen darstellt, während die Kolonialität fundamentaler Bestandteil gegenwärtiger Machtstrukturen ist und seine Verhandlung eine Auseinandersetzung um die Zukunft darstellt. Eine solche Sichtweise ist aber bisher nur in marginalisierten Diskursen vorzufinden und nur fragmentarisch und schlaglichtartig in der ‚Öffentlichkeit‘.

c) Öffentlichkeit: Wer oder was ist eigentlich diese ‚Öffentlichkeit‘, für die und für deren selbst affirmierende Identität das koloniale Erbe heikel (awkward) oder schwierig (difficult) wäre? Das Konzept von Difficult Heritage läuft möglicherweise Gefahr, als Korrektiv für die hegemonialen Narrative nationaler oder supranationaler Heritage-Formationen und der dazugehörigen Identitätskonstruktionen zu dienen und dabei nicht-hegemoniale Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. Es wäre beispielsweise auch zu fragen, ob es nicht gesellschaftliche Gruppen gibt, für die es weniger das Sprechen über das koloniale Heritage als vielmehr das Nicht-Sprechen ist, das als schwierig erscheint. Zu der Problematik der impliziten Subjektposition der ‚Öffentlichkeit‘ kommt hinzu, dass in dem hier diskutierten Forschungsprojekt nicht der ‚öffentliche‘ Raum, sondern vielmehr die subjektiven Sinnbildungen von Schüler_innen im Fokus stehen.

Nicht ungeachtet der hier angeführten Probleme, sondern vielmehr unter Einbezug der genannten Punkte, erscheint der Begriff dennoch sehr nützlich. Ziel einer dekolonialen politischen Bildung wäre es demnach, koloniales Erbe zu einem schwierigen Erbe werden zu lassen, das – im Sinne Sharon Macdonalds – mit einer Infragestellung gegenwärtiger Identitätskonstruktionen und der Anerkennung anderer Perspektiven auf Gegenwart und Geschichte einhergeht.

2.3.3.3 Heritage als Heimsuchung?

“Over the past two decades the ways in which we look at cultural heritage have evolved dramatically from monument and museum collection to encompassing a complex matrix of meaning, values, associations and related concepts. As a result of this conceptual evolution, cultural heritage has gone from being understood as property, an object, to being assessed as a process; passing through several intermediary and frequently simultaneous understandings such as place, product, project, and performance. The outer boundaries of the concept are still subject to experimentation, pushed to test the limits of how far the idea can be expanded before collapsing into an undifferentiated state where ‘everything is heritage’. We are thus now at a moment when it has become necessary to fully (re)engage with the complex theoretical dimensions of cultural heritage and its multifaceted ramifications.” (Viejo-Rose 2015)

Dacia Viejo-Rose stellt hier eine in den Heritage Studies oft aufgeschobene Frage; die Frage nach den theoretischen Implikationen der Forschungsperspektive Cultural Heritage. Sie schlägt vor, seine Potenziale und Grenzen weiter auszuloten. Genau das ist, was ich bisher in Ansätzen und in den folgenden zwei Abschnitten machen werde. In diesem Abschnitt werde ich die Grenzen des Heritage-Ansatzes ausloten, indem ich Heritage als eine Spektrologie – die Lehre der Gespenster – theoretisiere. Damit verfolge ich mindestens zwei miteinander in Zusammenhang stehenden Ziele: (1) Zum einen möchte ich mich der Frage der Gemeinschaft oder Community nähern, welche in den Heritage Studies oft als ontologisch abgesichert und vorausgesetzt erscheinen. (2) Zum anderen erscheint aus der Perspektive der Gespensterlehre das Subjekt der Forschung selbst als Teil von Heritage und wird dabei nicht mehr als souverän und autonom vorausgesetzt. Daraus folgt ein Verhältnis zwischen Subjekt und Heritage, welches mir sowohl für erkenntnistheoretische Überlegungen zur Analyse der Lernendenvorstellungen als auch für die Selbstreflexion meiner Rolle als Forschendem inspirierend erscheint. Beide Probleme werde ich schlaglichtartig skizzieren, um dann zur Gespensterlehre überzugehen.

(1) Stuart Hall problematisiert – im Gegensatz zu vielen Ansätzen innerhalb der Heritage Studies – ebenfalls die Essenzialisierung von Communities. Zum einen der majoritär konstruierten Gemeinschaft, beispielsweise im populären Zitat über die Engländer: „Die Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind.“ (Hall 1989: 93) Es gibt also weder Engländer oder Weiße an sich, vielmehr entsteht das Selbst der Gemeinschaft nur in Relationen zum Nicht-Selbst. Doch erschöpft sich das Argument nicht auf seine Relativität, wie anhand von Halls Darstellung der minoritär konstruierten Gemeinschaften deutlich wird:

„First, we need a better understanding of who the ‚we‘ are in whose name these changes are being articulated. Principally, we have in mind the so called ‘ethnic minority communities’ […]. [Within these distinctively marked communities] Traditions coexist with the emergence of new, hybrid and crossover cultural forms of tremendous vitality and innovation. This is a new kind of difference – the difference which is not binary (either-not) but whose ‘differances’ (as Jacques Derrida has put it) will not be erased or traded.“ (Hall 1999: 79)

Doch was bedeutet das für eine Praxis des Erbens?

(2) In den Heritage Studies wird oft von dem Gebrauch, dem strategischen Einsatz, von Erbe als Ressource gesprochen. Unhinterfragt bleibt aber, wer das Subjekt des Erbes ist, das Erbe gebraucht, strategisch einsetzt oder als Ressource nutzt, und wie sich das Verhältnis vom Subjekt zum Erbe darstellt. Dies gilt insbesondere, wenn die Forschungsperspektive selbst als Teil des Erbes angesehen wird. Das implizit souverän und autonom agierende Subjekt, das mit dem Erbe dieses oder jenes tut, was dann analysiert werden kann, kann mit der Spektrologie infrage gestellt werden.

Ausgehend von diesen beiden Problemen werde ich im Folgenden einige Ideen aus Jacques Derridas Marx’ Gespenster darlegen. Ich werde dabei kursorisch und fragmentarisch bleiben, also keine auf Derrida gestützte Theorie von Heritage formulieren, sondern vielmehr – im Sinne von Viejo-Rose experimentierend – von hier aus eine Reihe von Fragen stellen, die ich für den Umgang mit Heritage und meiner Forschungsperspektive für inspirierend und den Ambivalenzen und Aporien gegenüber sensibilisierend ansehe. In seinem Buch Marx’ Gespenster (1993) setzt sich Jacques Derrida mit der Frage des Erbes auseinander. Dieses Buch löste vielfältige Auseinandersetzungen aus, wie etwa in Ghostly Demarcations (Sprinker 1999) nachvollziehbar. Es setzte auch eine Denkströmung in Gang, die als Spektrologie bezeichnet werden kann, und die Ideen in verschiedenen Fachdisziplinen aufgriff, wie etwa in The Spectralities Reader (del Pilar/Peeren 2013) dargestellt wird. Ausgangspunkt in Marx’ Gespenster ist die Auseinandersetzung mit Marx, konkret mit vier Texten von Marx: Das kommunistische Manifest, die Deutsche Ideologie, der 18. Brumaire des Louis Bonaparte und Das Kapital. Derrida zeigt, wie es in diesen Texten von Gespenstern wimmelt. Alles ist voll von Gespenstern, überall spukt es, Wiedergänger und Phantome werden beschworen und zum Gespräch eingeladen oder gejagt, exorziert und ausgetrieben. Diese Spukgeschichten sind als eine Reflexion auf die Praxis des Erbens – Heritage – anzusehen.

In Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte schreibt Marx:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (Marx 1852: 115)

Dies lässt sich auf den ersten Blick natürlich als eine Form des strategischen Einsatzes von Heritage lesen, indem bestehende Subjekte symbolisch „Namen, Schlachtparolen, Kostüm“ benutzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Derrida sieht hier jedoch bereits den Spuk am Werke, der die Subjekte, die sich des Erbes bedienen, selbst prägt. Die nicht selbst gewählten Umstände implizieren auch die Ressourcen, die den Menschen zur Verfügung stehen, um die Deutung der Welt selbst zu ermöglichen. Für Derrida gibt es kein mit sich selbst identisches Subjekt, das autonom über diese Ressourcen verfügt. Es gibt keine den Kostümen oder Verkleidungen vorgängigen, authentischen Kleidungen, die ‚wirklich‘, unmittelbar bzw. nicht-gespensterhaft wären. Ebenso wenig gibt es eine nicht erborgte – geerbte – Sprache. Nicht nur die Schaffung einer Tradition zur phantasmagorischen Identitätsbildung, sondern auch die Art und Weise wie wir denken, handeln, fühlen – und Wissenschaft betreiben – kann als Erbe verstanden werden. Das Subjekt ist für Derrida keine Präsenz, das von dieser Selbstgewissheit aus die Geister der Vergangenheit und der Gegenwart bändigt. Vielmehr dreht Derrida das Verhältnis zunächst um: Es sind die Gespenster, die das Subjekt hervorbringen.Footnote 5

Derrida setzt den in Marx Texten häufig spukenden Shakespeare ins Gespräch mit seiner Leseweise von Marx.

Hamlet […] Swear.

Ghost (Beneath). Swear.

Hamlet. Rest, rest, perturbed spirit. So, gentleman,

With all my love I do commend me to you:

And what so poor a man as Hamlet is

May do, to express his love and friending to you,

God willing, shall not lack. Let us go in together;

And still your fingers on your lips, I pray.

The time is out of joint; O cursed spite,

That ever I was born to set it right!

Nay, come, let’s go together. (Exeunt)“

(Hamlet, 1. Aufzug, 5. Szene, zitiert nach Derrida 1993: 15)

Bei Hamlet kommt dessen Vater als Geist wieder. Die langen Dialoge zwischen dem Geist und Hamlet zeigen das ko-konstitutive und konfliktive Verhältnis von Hamlet, dem Subjekt, und dem Geist des Vaters, dem Heritage. Was ist eigentlich ein Gespenst, Geist, Wiedergänger, Phantom? Es ist eine Gestalt, die jenseits von Leben und Tod, die sinnlich-übersinnlich ist und die aus der Vergangenheit zu uns spricht. Anhand dieses Bildes und der Zitate von Shakespeare in Marx Werk zeigt Derrida, wie der Geist der Vorväter beschworen wird, als dessen Erbe sich inszeniert wird. Gleichzeitig zeigt er aber auch, wie das Vatergespenst den Sohn immer wieder heimsucht („Rest, rest, perturbed spirit!“), ihn prägt, ihm Versprechen abverlangt („Swear!“). In diesem Bild ist das Subjekt konstitutiv vom Gespenst der Vergangenheit abhängig. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden.

Ein Subjekt kann nicht mit sich selbst identisch sein, es ist nur als abwesende Präsenz. Wie es kein sich selbst präsentes Subjekt gibt, gibt es auch keine mit sich gleichzeitige Zeit, keine mit sich selbst identische Welt. Jede Deutung der Welt ist abhängig von der Vergangenheit. Auch die Phänomene des Alltags sind nicht einfach da, sondern deutbar erst in Abhängigkeit zur Vergangenheit, „der Tradition aller toten Geschlechter“. Die Welt wird so bevölkert von Geistern, von Untoten, von Wiedergängern. Derrida leitet hiervon eine Theorie der Ungleichzeitigkeit der Gegenwart mit sich selbst ab. Um es mit Hamlet zu sagen: “The time is out of joint.” Die Zeit ist aus den Fugen. In Bezug auf das Verhältnis der Vergangenheit zur Gegenwart bedeutet dies, dass die Gegenwart nie als eine sich selbst präsente Gegenwart, sondern nur als eine abwesende Anwesenheit der Vergangenheit bzw. vielmehr ihrer Gespenster existiert. Als Präsenz erscheint sie nur unter Ausblendung oder Exorzieren ihrer Geister, die sie ermöglichen; als Naturalisierung. In Bezug auf das Verhältnis der Gegenwart zur Zukunft erscheint die Gegenwart nicht-identisch mit sich selbst, denn sie ist keine Totalität, sondern sie erscheint als Gebrochene, Disparate, durchzogen von einem Versprechen, einer gespenstischen Verfügung auf ein Anderes, eine andere Gegenwart oder Gegenwärtigkeit, welche die Bedingung der Möglichkeit der Gerechtigkeit ist. So erscheint „das Unverfugte [als] die Möglichkeit selbst des Anderen“ (Derrida 1993: 40). Sowohl in Bezug auf die Vergangenheit als auch die Zukunft bricht das Denken des Gespenstischen mit einem positivistischen Verständnis des Subjekts und der Präsenz:

„Um es in zwei Worten zu sagen: Das dekonstruktive Denken der Spur, der Iterabilität, der prothetischen Synthese, der Supplementarität usw. führt über diese Opposition, führt über die Ontologie hinaus, die sie voraussetzt. Es schreibt die Möglichkeit des Zurückverwiesenseins auf den anderen oder das andere ein, also die Möglichkeit der radikalen Alterität und Heterogenität, der différance, der Technizität und der Idealität im Ereignis der Präsenz selbst, in der Präsenz der Gegenwart, die es a priori von sich selbst trennt, um sie möglich zu machen [also unmöglich in ihrer Identität oder in ihrer Gleichzeitigkeit mit sich selbst].“ (ebd.: 109)

Es ist aber keineswegs so, dass Derrida das Verhältnis des Subjekts zum Erbe einfach umdreht, das Subjekt also durch das Erbe determiniert wird. Dies würde bedeuten, dass die von Derrida mit Eigenleben ausgestatteten Gespenster das neue Subjekt oder ihre Ursache wären; aber die Sache ist komplizierter. Für Derrida ist ein Heritage immer radikal und notwendigerweise heterogen. Es verlangt nach Interpretation, da es niemals „eines mit sich selbst“ (ebd.: 32) ist. Wenn die Lesbarkeit eines Vermächtnisses „natürlich, transparent, eindeutig“ (ebd.) wäre, gäbe es nichts zu erben. In diesem Fall würde „man […] vom Vermächtnis affiziert wie von einer Ursache – natürlich oder genetisch“ (ebd.). Das Erbe ist kein Subjekt; es ruft die Subjekte an und ist dabei weder an- oder abwesend. Derrida fasst dies im Pronomen des ‚es‘ vom Ausdruck ‚es spukt‘ (ebd.: 77), wie das ‚man‘ bei Heidegger ohne bestimmbares Subjekt. Nach Derrida ist ein Erbe also immer uneindeutig, wobei es einen gleichzeitig lockt, herausfordert, dieses Geheimnis zu entschlüsseln, seine Wahrheit zu entdecken: „Man erbt immer ein Geheimnis – ‚Lies mich!‘ sagt es, ‚Wirst du jemals dazu imstande sein?‘“ (ebd.: 32) Als Einheit kann ein Erbe nur erscheinen, indem man seine „Verfügung“ reaffirmiert, „indem man wählt“ (ebd.). „Man muss, das heißt, man muss filtern, sieben, kritisieren, man muss aussuchen unter den verschiedenen Möglichkeiten, die derselben Verfügung innewohnen. Die ihr auf widersprüchliche Weise innewohnen, um ein Geheimnis herum.“ (ebd.) Das Verhältnis von Subjekt zu Erbe ist also ein ko-konstitutives, wobei sich das Subjekt – als durch das Erbe angerufenes – durch die Wahl der Deutung des Erbes herstellt.

Das Erben als Praxis ist dabei – das ergibt sich aus dem Begriff – genealogisch strukturiert, als Erbfolge von Generationen. Der Vatergeist Hamlets ruft ihn an. Im Zuge dessen problematisiert Derrida die patriarchale Form der Erbfolge. Dies wird schon mit der französischen Übersetzung von Erbe patrimoine mehr als deutlich. Dies gilt sowohl für Marx als auch für den Marxismus. Er zeigt beispielsweise, wie Marx sich als Erbe von Hegel inszeniert. In der Zeit wandte sich Marx gegen unzählige Grüppchen von Junghegelianer; hier tobte ein Kampf um die Frage des echten Erbes von Hegel. Marx betreibt hier gleichzeitig Vatermord als auch Bruderstreit, indem er den anderen abspricht, Hegel verstanden zu haben und gleichzeitig Hegel vorwirft, die Welt nicht verstanden zu haben. Aber auch das Gespenst von Marx im Marxismus, oder vielleicht sogar ganz besonders, ist Teil solcher Kämpfe. Die Deutungskämpfe um den richtigen Erben von Marx in den marxistischen Debatten waren und sind bis heute zum Teil mehr als absurd. Dies wird auch in der Kritik von Derridas Buch deutlich, wie Derrida in Marx & Sons (1999) aufzeigte. Hier wird die Frage nach dem Besitz des Erbes, dem wahren Erben, dem Erstgeborenen – whose heritage? – problematisiert. Das Erbe ist dabei aber immer mehr als eins. Derrida macht deutlich, dass es nicht ein Gespenst von Marx gibt, sondern immer mehr als eins (oder weniger als eins, jedenfalls ohne Identität, nicht zählbar, nicht tauschbar), als Gespenst vervielfältigt sich Marx. Die vielfältigen Gespenster von Marx streiten sich sogar. Und gleiches gilt schon bei Marx selbst; verschiedene Gespenster mit verschiedenen Logiken und Begehren, von verschiedenen Abstammungen, spuken in Marx Werk. Marx ist niemals mit sich selbst identisch gewesen.

Dieses Problem stellt sich auch für die hier vorliegende Fragestellung. Durch die Verwendung post- und dekolonialer – schon bei der Wahl dieser Begriffe fängt es an – Analyseinstrumente schaffe ‚ich‘ selber ein Erbe. ‚Ich‘ konstruiere Heritage, eine Erzählung über die Vergangenheit, eine Erfindung einer Tradition, mit der ich mir eine Sprechposition schaffe. Ein Erbe ‚des‘ ‚Postkolonialen‘. Wessen Erbe ist das? Und von wem erbe ‚ich‘ es? Dekolonialität, das Postkoloniale, de- oder postkoloniale Theorie, von den schon in einem problematischen Prozess des Erbens konstruierten Vorvätern postkolonialer Theorie Edward Said, Homi Bhabha, Gayatri Spivak, der heiligen Trinität? Oder das Erbe der Dekolonialität, mit Walter Mignolo, Aníbal Quijano und Enrique Dussel? Tut diese Reduktion auf diese Köpfe der Ansätze der irreduziblen Vielfalt des Erbes keine Gewalt an? Wie können wir diesem Erbe gerecht werden? Woraus besteht es? Und wer ist jetzt eigentlich dieses ‚ich‘, das diese Entscheidungen treffen soll?

Derrida will die Ontologie durch die „Hantologie“ (Derrida 1993: 77) ersetzen – von französisch hanter, deutsch spuken. Hantologie, nicht die Lehre des Seins, des Wesens und seinen Erscheinungen, sondern die Lehre des Spuks. Ausgesprochen wird beides identisch, wie beim Begriff der différance, der im Gegensatz zu différence mit a geschrieben wird – ohne hier weiter auf den Kontext der Dekonstruktion von Phonozentrismus und Präsenz einzugehen – der eben über einen Begriff von Differenz hinausgeht, indem es die Identitätslogik untergräbt und die Aufhebung der Binarität betreibt. Die Hantologie weitet also die Logik des Erbes als Lehre vom Umgang mit dem Spuk radikal aus. Nicht nur eine Schaffung einer Tradition zur phantasmagorischen Identitätsbildung, sondern auch die Art und Weise wie wir denken, handeln, fühlen, sprechen, Wissenschaft betreiben und als Subjekt angerufen werden, kann als Erbe verstanden werden; als gespenstisches Erbe, denn es ist nie eindeutig, von wem wir Erben; wer das ist, von dem wir erben und wer wir als Erben eigentlich gerade sind.

Ein bestimmter Marx, ich könnte ihn den ontologischen Marx nennen, versucht dabei im Gegensatz zum hantologischen Marx nicht die Gespenster zu beschwören, sondern sie zu exorzieren. In der Deutschen Ideologie jagt er die Gespenster der Idealisten, Jung-Sozialisten und anderer. Dieser Geist von Marx sagt: „Es gibt keine Geister und Gespenster! Seht her, die Wirklichkeit!“ Dies ist das Denken der Ontologie, was Derrida als Metaphysik problematisiert. Die Analyse marxistischen Typs erscheint mit Derrida da „radikal unzureichend“ (ebd.: 100), wo sie „im Namen der lebendigen Präsenz als materieller Wirklichkeit“ (ebd.: 168) ebenfalls gegen das Gespenst kämpft. Neben der im vorherigen Abschnitt diskutierten problematischen Implikationen für eine Theorie der Ideologiekritik, erscheint hier die Frage der Materialität diskussionswürdig. Der ontologisch-marxistische Einwand – von einem ontologischen Gespenst von Marx – gegen Derrida wäre, dass er die realen, wirklichen Lebensbedingungen, die materielle Wirklichkeit, ausblendet. Um Missverständnis zu vermeiden: Derrida stimmt dieser Hinwendung zur Materialität zu, aber nicht dem Verhältnis der Vorstellungen als einseitig abgeleitet aus den materiellen Umständen. Dies wäre das problematische Basis-Überbau-Modell. Derrida bestimmt das Verhältnis zwischen Materiellem und Immateriellem/Geistigem mit Marx – dem hantologischen – anders. Es wird Zeit von einem berühmten Tisch zu sprechen. Berühmt ist er durch seinen Auftritt im ersten Kapitel des ersten Bandes des Kapitals, in dem die Wertform eingeführt wird.

„Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich-übersinnliches Ding. Er steht nicht mehr mit den Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ (Marx 1867: 85)

Wie ein Gespenst ist dieser Tisch ein sinnlich-übersinnliches Ding. Das Gespenst hat einen Leib, ist leiblich, und gleichzeitig immateriell. Aber auch die Produzent_innen der Waren treten sich in der Folge nur noch als Gespenster gegenüber. Anschließend erkennen die Menschen den gesellschaftlichen Charakter ihrer Arbeit nicht und werden selber zu Gespenstern. Derrida zeigt aber, wie diese Vergespenstigung auf der Annahme eines reinen, ungespenstigen Anfangs beruht: dem Gebrauchswert, der dem Tauschwert entgegengesetzt wird. Doch Derrida zufolge kann der Tisch bereits tanzen, bevor er zur Ware wird. Damit leugnet Derrida nicht die analytische Kraft der Gegenüberstellung von Gebrauchswert und Tauschwert; er plädiert dafür, die Theorie des Kapitals zu verkomplizieren (ebd.: 219). Doch zurück zur Argumentation: Der Gebrauchswert des „ordinären sinnlichen Dings“ (Derrida 1993: 218), der hölzerne Tisch, ist durch seine „Form selbst […] der Iterabilität, der Substitution, dem Tausch und dem Wert versprochen und [muss], wie gering auch immer, eine Idealisierung angerissen haben, die es erlaubt, ihn durch mögliche Wiederholungen hindurch als denselben zu identifizieren usw.“ (ebd.: 218) Den reinen, ungespenstigen Gebrauchswert als „reinen Anfang“ (ebd.: 219) braucht das ontologische Gespenst von Marx, um der gespenstigen, ideologischen Welt der warenproduzierenden Gesellschaft eine Wahrheit entgegensetzen zu können. Derrida zufolge ist aber diese Sicherheit nicht vorhanden, auch der Gebrauchswert ist schon ein Wiedergänger, undenkbar ohne Wiederholung; „ursprüngliche Iterabilität, irreduzible Virtualität dieses Raums und dieser Zeit“ (ebd.: 222). Derrida schlussfolgert, dass es die Sicherheit der Ontologie nicht geben kann. Es spukt also in der Welt. Sie ist voller Gespenster. Der Spuk ist jenseits von Leben und Tod, untot und unlebendig und doch die Bedingung des Lebendigen selbst. Die Präsenz, die Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit sich selbst, ist vielleicht das Gespenst, das Derrida austreiben will. Es gibt mit Derrida kein sich selbst-identisches Subjekt, keine universelle Vernunft, keinen phallogozentrischen Geist, sondern vielmehr Geister, Gespenster, Wiedergänger. Und wir sind die Erben dieser Gespenster; unumgänglich.

Derrida plädiert also dafür, die Gespenster nicht zu exorzieren, sondern mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Für Derrida schlägt sich das Gespenstische aber nicht nur in der Phänomenalisierung der Welt, der Welt-Machung, den Vorstellungen, Ideen, Kategorien nieder. Wir erben auch Verantwortungen, Haltungen, Begehren. Hier kommt die Figur des „Messianischen“ (ebd.: 229) „ohne Messianismus“ (ebd.: 107) ins Spiel.

Hamlet […] Swear.

Ghost (Beneath). Swear.

Hamlet. […] The time is out of joint; O cursed spite,

That ever I was born to set it right!

Nay, come, let’s go together. (Exeunt)“

Die Figur des Messianischen ohne Messianismus entwickelte Derrida in Anlehnung an Walter Benjamin. Dieses Messianische ist es, das „jede Gegenwart aus der Gleichzeitigkeit mit sich selbst herausrückt“ (ebd.: 107). Derrida sieht sich als Erbe dieses Messianismus, als „emanzipatorische und messianische Affirmation“ (ebd.: 126) von Marx bzw. einem bestimmten Gespenst von Marx. Die Zeit ist aus den Fugen, da es ein gespenstisches Versprechen auf die Zukunft gibt. Der Begriff zielt dabei darauf, eine „andere Geschichtlichkeit zu denken […], eine andere Eröffnung der Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit“ (ebd.: 109). Diese müsste es ermöglichen, „den Zugang zu einem affirmativen Denken des messianischen und emanzipatorischen Versprechens als Versprechen zu eröffnen: als Versprechen und nicht als onto-theologisches oder teleo-eschatologisches Programm oder Vorhaben“ (ebd., Herv. i. O.). Das Versprechen erscheint hier als „emanzipatorisches Begehren“ (ebd.). Dieses stellt für Derrida „die Bedingung einer Repolitisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politischen dar“ (ebd.).

Als Versprechen auf etwas Anderes schreibt es der Gegenwart die Frage der Gerechtigkeit ein, womit das Verhältnis zur Zeit – „zum Ereignis, zum Kommenden und zum anderen“ (Derrida 2002: 82) – grundlegend verändert wird. Das die Gegenwart zerteilende Messianische ist nach Derrida und seiner Interpretation von Marx kein Aufschub auf unbestimmte Zeit, sondern drängt auf die Veränderung der Gegenwart als Zukunft: „Das Messianische, einschließlich seiner revolutionären Formen (und das Messianische ist immer revolutionär, es muss revolutionär sein), wäre die Dringlichkeit, das unmittelbare Bevorstehen, aber zugleich irreduzibles Paradox – eine Erwartung ohne Erwartungshorizont.“ (Derrida 1993: 229; zur Dringlichkeit vergleiche auch ebd.: 126) Der Horizont dieser Erwartung hat „in gewisser Weise durch das Ereignis einen Sprung bekommen“ (Derrida 2002: 82). Es ist die „Erwartung eines Ereignisses, eines ‚Ankünftigen‘, das, um ‚anzukommen‘, jede bestimmte Antizipation übersteigen und überraschen muss“ (ebd.). Es ist eben ein Versprechen und kein ontologisch ableitbares Programm oder Vorhaben. Die Perspektive eines ontologischen Programms für die Zukunft würde auch für die Perspektiven – die Gespenster – des Anderen und der Anderen in der Gegenwart ignorant machen. „Anders [ohne das nicht determinierte Versprechen] gibt es keine Zukunft, kein Zukünftiges, kein Anderes: kein Ereignis, das diesen Namen verdient, keine Revolution. Keine Gerechtigkeit.“ (ebd.: 82)

Die Lernendenvorstellungen, die fachwissenschaftliche Diskussionen und meine Forschungsperspektive sind mit Derrida als Erbe – heimgesucht von Gespenstern – zu begreifen. In dem das über Heritage verfügende autonome Subjekt dekonstruiert wird, bekommt Heritage eine Art Eigenleben. Das Verhältnis ist kein instrumentelles mehr, sondern ein ko-konstitutives. Das Heritage bringt die Subjekte hervor, spricht zu ihnen, ohne sie zu determinieren. Die Lernendenvorstellungen selbst sind also als eine Heritage-Praxis zu verstehen, in der sie ein Erbe auslassen, während sie ein anderes aufgreifen. Hierfür können bestimmte biographische Aspekte oder gesellschaftliche Positionierungen ausschlaggebend sein, wie etwa die Frage nach den eigenen Rassismuserfahrungen, müssen es aber nicht.

Wenn ich die Lernendenvorstellungen untersuche, erscheinen diese mit Schütz als lebensweltliche Konstruktionen ersten Grades und mein Interpretationstext als Konstruktion zweiten Grades – also Konstruktionen über die lebensweltlichen Konstruktionen der Akteure (Schütz 1971: 7). Meine Analyse ist nicht als Rekonstruktion, sondern vielmehr als „Ko-Konstruktion“ (Mecheril 2003: 43; Rose 2012: 247) zu verstehen, die der Kontingenz der eigenen Forschungsperspektive Rechnung trägt. Dies macht die „Reflexion auf die Voraussetzungen der Auslegung der Interpretationen oder die kontingenten Bedingungen der Deutung der Interpretationen unumgänglich“ (Mecheril/Rose 2012: 118), um durch die eigenwillige „Modellierung“ (Mecheril 2003: 43) des Interpretationstextes über die lebensweltlichen Konstruktionen der Beforschten hinauszugehen. Durch die Reflexivität ist es möglich, auf „der Basis empirischer Daten zu theoretisch angeleiteten, wissenschaftlichen Beschreibungen von Wirklichkeit zu kommen, die die ‚Selbstverständlichkeiten‘ dieser ‚Wirklichkeit‘ nicht (re-)präsentieren, sondern hinterfragen“ (Rose 2012: 247).

Der spektrologische Ansatz von Heritage bietet hierfür ein Instrumentarium. Es stellt sich die Frage, wie die Kontingenz der eigenen Forschungsperspektive zu reflektieren ist. Die genealogische Herleitung eines Forschungsansatzes bietet noch keine Erklärung für sie. Ebenso wenig füllt die Beschreibung der eigenen Subjektposition die durch die Kontingenz der Forschungsperspektive klaffende Lücke. Mit dem hantologischen Ansatz liegt es nahe, in der Bestimmung der eigenen Sprech- bzw. Schreibposition über die Bestimmung einer fixen Subjektposition – weiß, männlich, westeuropäisch, akademisch – hinauszugehen, ohne diese Aspekte außer Acht zu lassen. Ganz im Gegenteil: Während die epistemische Totalisierung der Subjektposition eher zu Sprachlosigkeit führt, kann ihre konsequente Einbeziehung in der Frage des Erbens die Ambivalenzen und Gebrochenheiten des schreibenden Subjektes intelligibel machen. Die eigene Analyse-Brille bekommt eine Geschichte, steht in einer Tradition, die man erbt, aktiv und passiv; kurz: sie wird zu einem Erbe. Durch diesen Prozess des Erbens erscheint das Subjekt als nicht-autonomes wieder auf der Bildfläche. Wie kommt die oder der Forschende als positioniertes, standortgebundenes Subjekt dazu, sich für dieses oder jenes Erbe zu entscheiden? Dieses spannungsreiche Verhältnis von Erben und Subjekt gilt dabei auch für die untersuchten Lernendenvorstellungen, welche eben nicht als abgeleitet von der Subjektposition verstanden werden können, sondern vielmehr als eine widersprüchliche Praxis des Erbens, in der die Lernendensubjekte auf eine ambivalente Weisen mit den Gespenstern ins Gespräch kommen.

Kontingenz der eigenen Forschungsperspektive bedeutet dabei nicht willkürlich, zufällig oder das anything goes der bürgerlichen oder ontologisch-marxistischen Interpretation des Poststrukturalismus. Die Aufgabe besteht darin, die Lernendenvorstellungen und dekoloniale Ansätze ins Gespräch miteinander zu bringen und dabei versuchen, beiden Gehör zu schenken. Maßgeblich und anleitend ist dabei nicht nur die Analyse der Phänomenalisierung der Welt als normativitätsfreie, reine Analyse. Die Episteme sind niemals frei von der Dimension des Normativen. Das dekoloniale Erbe verstehe ich auch als messianisches Versprechen auf eine dekoloniale Zukunft. Ohne das Gespenst einer epistemische Sicherheit suggerierenden Ontologie müssen wir also im Sinne Derridas mit den Gespenstern ins Gespräch kommen und uns positionieren, uns auf bestimmte Gespenster beziehen und auf andere nicht, sie auf eine bestimmte Weise lesen, wiederlesen und gegenlesen. Was bedeutet das für mich, als Erbe der Dekolonialität oder des Postkolonialismus? Als Erbe der Diskurse der von mir interviewten Schüler_innen? Ohne den überbordenden und anmaßenden Anspruch für die Position der Verdammten dieser Erde zu sprechen, nehme ich vielmehr das dekoloniale Erbe als ein Begehren, als ein Versprechen auf, als einen Erwartungshorizont ohne Erwartung, als ein Drängen auf ein Anderes, als eine Frage der Gerechtigkeit auf. Totalisierung gilt es dabei zu vermeiden. Denn: Wer bin ich, wenn ich als weißer, westeuropäischer, männlicher Akademiker und Aktivist das messianische Versprechen einer Dekolonialität erbe? Und wie kann dieses dekoloniale Erbe operationalisiert werden, ohne es dabei zu schließen? Während ich die Fragen zur Reflexion der eigenen Subjektposition im übernächsten Abschnitt weiter diskutiere, versuche ich im folgenden Abschnitt die Operationalisierung der Dekolonialität zu skizzieren.

2.3.3.4 Re-Reading Césaire – Dekolonialität als Option

Im Folgenden werde ich Auszüge aus der Rede über die Négritude von Aimé Césaire wiederlesen, um mich meinem Begriff von dekolonialem Heritage weiter zu nähern. Diese Rede hielt er 1987 bei einer Konferenz in Miami. Hier fasste er die Négritude als ein Erbe.

„Die Négritude ist in meinen Augen keine Philosophie. Die Négritude ist keine Metaphysik. Die Négritude ist keine hochgestochene [prétentieuse] Konzeption des Universums. Sie ist eine Weise, die Geschichte in der Geschichte zu leben: Die Geschichte einer Gemeinschaft, die […] einzigartig scheint, mit ihren Deportationen von Bevölkerungen, der Überführung von Menschen von einem Kontinent zu einem anderen, die Erinnerungen an entfernten Glauben, die Trümmer ermordeter Kulturen. Wie kann man nicht glauben, dass all das ein Erbe [patrimoine] konstituiert? Was braucht es mehr, eine Identität zu gründen?“ (Césaire 1987)Footnote 6

Die Négritude ist für Césaire also keine von den Lebenswelten der nicht-akademisch verorteten Menschen entfernte Philosophie. Sie erscheint vielmehr als eine Haltung, die die geschichtliche Erfahrung der Sklaverei und des Kolonialismus vergegenwärtigt. Zum einen eröffnet das gelebte Erbe in der Gegenwart eine bestimmte Haltung gegenüber der Vergangenheit, es erschafft aber auch die Identität einer Gemeinschaft, die sich genau durch dieses Erbe konstituiert. Die Geschichte in der Geschichte zu leben, scheint genau das zu bedeuten, dass die Geschichte – eine Weise Geschichte in der Gegenwart zu konstruieren, als Négritude – eine Gemeinschaft hervorbringt, die sich so auf eine bestimmte Weise in der Gegenwart verortet.

Césaire stützt sich hier auf einen Begriff von Identität. Er nimmt zur Kenntnis, dass es Kritik daran gibt, weist diese aber zurück und hält an dem Begriff fest. Anders als beispielsweise die von mir formulierte Kritik scheint er vor allem kritische Stimmen wahrzunehmen, die den Identitätsbegriff zugunsten des Begriffs Ethnizität (ebd.: 90) oder aber im Sinne von Léopold Senghor zugunsten eines Begriffs des Universellen (ebd.: 91) aufgeben wollen. Césaire hält aber am Identitätsbegriff fest, da er Identität – als ein Zusammenspiel von Erbe und Gemeinschaft – als notwendig erachtet, um eine Kraft zu entwickeln, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft radikal anders zu gestalten. Eine Identität – oder vielmehr in diesem Fall die mit der Négritude verbundene Identität – erscheint dabei als erkenntnistheoretische und politische Voraussetzung zugleich.

„Ich denke an eine nicht archaisierende, nicht sich selbst verschlingende, sondern die Welt begierig in sich aufsaugende Identität, das heißt eine Identität, die sich der gesamten Gegenwart bemächtigt, um die Vergangenheit neu und besser zu bewerten, und mehr noch, die Zukunft zu gestalten. Denn wie soll man sonst den zurückgelegten Weg beurteilen, wenn man weder weiß, wo man herkommt, noch wo man hinwill.“ (Césaire 1987: 90)Footnote 7

Dabei sind in seinem Text – mindestens – zwei Arten und Weisen sichtbar, wie Erbe und Gemeinschaft konzeptionalisiert werden. Mit der Re-Lektüre von Marx durch Derrida im Hinterkopf können diese als ontologisch und hantologisch verstanden werden. Während Begriffe wie „Archetypen“ und die Betonung der Wiederverwurzelung der eigenen Kultur auf ein essenzialistisches Verständnis von Erbe und Identität zu verweisen scheinen, kommt in Césaires Text auch der Konstruktionscharakter sehr stark zum Tragen. Diese Frage verweist unwiderruflich auf die Kritik Fanons an der Négritude. In Schwarze Haut, weiße Masken kritisiert Fanon die Négritude und insbesondere auch Aimé Césaire dafür, eine Identitätspolitik zu verfolgen, die ihre Zukunft nur in der Essenzialisierung der Vergangenheit sieht und keinen – wenn auch noch zu dekolonisierenden – universellen Humanismus mehr zulässt. Fanon schreibt als Kritik beispielsweise Folgendes:

„Wenn ich entdecke, dass es im 15. Jahrhundert eine Negerzivilisation gegeben hat, verleiht mir das noch lange kein Patent auf Menschlichkeit. [...] Ihre Entfremdung aufheben werden diejenigen nègres und Weiße, die sich geweigert haben, sich in den substantialisierten Turm der Vergangenheit sperren zu lassen. [...] Auf keinen Fall darf ich aus der Vergangenheit der Völker meiner Hautfarbe meine ursprüngliche Berufung herleiten. [...] Der nègre ist nicht. Ebensowenig der Weiße.“ (Fanon 1954: 160)Footnote 8

Die rassialisierten Gruppen sind konstruiert. Eine Essenzialisierung dieser problematisiert Fanon ebenso wie die Essenzialisierung einer Vergangenheit, die so die Zukunft als eine Erfüllung einer auf den Ursprung reduzierten Identität festschreibt. Diese Kritik halte ich zwar für richtig, doch sie geht an diesem Text von Césaire vorbei. Césaire – in jedem Fall das hantologischen Gespenst von ihm – lässt Erbe und Identität in seinem konstruierenden Aneignungscharakter erscheinen. Das Erbe der Négritude basiert bei ihm explizit nicht auf einer „archaisierenden Nostalgie“ – wie es ihm in Bezug auf andere Texte beispielsweise durch Frantz Fanon vorgeworfen wurde –, sondern auf einer „Reaktivierung der Vergangenheit mit dem Ziel ihrer Überwindung“ (Césaire 1987: 87)Footnote 9. Dabei reduziert er das Erbe auch nicht auf die Erfahrung von bloßem Leid bzw. das Erleiden des Kolonialismus.

„Aber die Négritude ist nicht nur passiv. Ihre Ordnung ist nicht die von Leiden und Kummer. […] Die Négritude entspringt aus einer aktiven Haltung und einem offensiven Geist. […] Sie ist Verweigerung, ich möchte sagen, Verweigerung der Unterdrückung. Sie ist Kampf, das heißt Kampf gegen Ungleichheit. Sie ist auch Revolte. Aber, […] Revolte gegen was? […] Wenn ich entscheide, das zu sagen, vergesse ich dabei keineswegs, dass ich hier bei einem Kulturkongress bin, der hier in Miami stattfindet. Ich glaube, dass man – auf eine allgemeine Weise – sagen kann, dass die Négritude historisch gesehen vor allem eine Form der Revolte gegen das globale System derjenigen Kultur war, die sich im Zuge der letzten Jahrhunderte konstituiert hat und die sich durch eine Reihe von Vorurteilen und Vorannahmen kennzeichnet, die zu einer strikten Hierarchie führen sollten. In anderen Worten war die Négritude eine Revolte gegen das, was ich den europäischen Reduktionismus nennen würde.“ (Césaire 1987: 84)Footnote 10

Hier stellt Césaire die Négritude als ein Erbe dar, das weder ontologisch noch essenzialistisch operiert. Sein Begriff des Erbes besteht hier vielmehr in einer Haltung des Widerstands, als eine aktiven Haltung der Revolte in der Gegenwart. In die Sprache des Ansatzes der Dekolonialität übersetzt bedeutet dies, dass sich das dekoloniale Erbe nicht in erster Linie durch eine Subjektposition definiert, sondern durch die Haltung, die den Umgang mit der Kolonialität der Gegenwart bestimmt. Kolonialität der Gegenwart verstanden als koloniale und neokoloniale Ungleichheitsverhältnisse sowie einer Kultur, die sich durch Episteme auszeichnet, die Césaire hier als europäischen Reduktionismus bezeichnet.

In meinen Begrifflichkeiten ist also in der postkolonialen Situation, in der wir uns befinden, eine Wahl zwischen dem kolonialen Erbe und dem dekolonialen Erbe zu treffen, das mit einer Haltung gegenüber den Ungleichheiten und den Epistemen einhergeht. Es geht also nicht unbedingt um das Erinnern an den historischen Kolonialismus; dieser kann, muss aber nicht Ausgangspunkt einer dekolonialen Identität sein. Für Césaire geht es um die Haltung in der Gegenwart, in der eine Wahl zu treffen ist: „Du musst wählen [opter]. Du musst aussuchen [choisir]. […] Du kannst auf das Erbe [patrimoine] verzichten. Du kannst das Erbe [l’héritage] ausschlagen, sicher. Aber hast du das Recht, den Kampf auszuschlagen?“Footnote 11 (Césaire 1987: 90) Dies erinnert unweigerlich an das Konzept von Madina Tlostanova und Walter Mignolo, die Dekolonialität als Option konzipieren, nicht als ableitbar oder unumgänglich, sondern als aktive Verweigerung der Reproduktion kolonialer Episteme und Ungleichheitsverhältnisse (Tlostanova/Mignolo 2012: 12). Césaire bestimmt diese Haltung dabei aber nicht als im freien Raum entstehend, sondern eben als Erbe. So benennt er beispielsweise die Vorkämpfer_innen der antikolonialen und antirassistischen Bewegungen als diejenigen, dessen Erbe wir antreten: „Diesen Menschen gegenüber stehen wir in der der Schuld, die wir anerkennen müssen, die wir erinnern müssen, die wir verkünden müssen.“ (Césaire 1987: 89)Footnote 12 Gleichzeitig muss diese Haltung nicht ein bestimmtes Erbe annehmen; es kann, muss aber nicht das Erbe der großen antikolonialen, antineokolonialen, antiimperialen, antirassistischen Bewegungen sein; es muss auch nicht das Erbe der akademischen Tradition der Dekolonialität sein; die dekoloniale Haltung kann sich in den unzähligen – oder besser unzählbaren – Alltagspraxen von Menschen verkörpern, die durch diese die Kolonialität der Macht untergraben oder herausfordern; diese Alltagspraxen umfassen natürlich auch Lernendenvorstellungen. Die Bezugs- und Ausgangspunkte der dekolonialen Haltung sind vielfältig und unzählbar. Das dekoloniale Erbe kann im Anschluss an Césaire als eine Haltung in und gegenüber der Gegenwart verstanden werden, die die Kolonialität der Macht infrage stellt und dabei den Blick auf die Vergangenheit verändert und eine andere Zukunft anvisiert.

2.3.3.5 Dekolonialität, situiertes Wissen und verortetes Sprechen

Wie verhält sich nun ein solches dekoloniales Erbe zur Positionalität des Forschenden und andersherum? Zur Diskussion dieser Frage werde ich einige Ideen aus dekolonialen und rassismuskritischen Theorien zur Situiertheit des Wissens darstellen. Meine Argumentation wird drei Schritte durchlaufen: (1) Die Situiertheit des Wissens allgemein erkenntnistheoretisch darstellen, (2) die Frage nach meiner Position und Positionierung insbesondere anhand meiner Position als weiß positionierter Mensch im Globalen Norden reflektieren und (3) die Grenzen und Ambivalenzen dieser Konzepte diskutieren.

Das implizite Subjekt der eurozentrischen Wissenschaften führt Enrique Dussel auf das cartesianische Subjekt zurück. Descartes begründete das Subjekt aus sich selbst heraus, aus der Fähigkeit des Individuums sich selbst als Denkendes zu erkennen; cogito ergo sum. Enrique Dussel setzt die Entwicklung dieses Egos in den Kontext der kolonialen Erfahrung.

„Dem modernen ego cogito ging mehr als ein Jahrhundert des ego conquiro (Ich erobere) voraus, durchgeführt von den spanisch-portugiesischen Mächten, die ihren Willen (der erste moderne ‚Wille-zur-Macht‘) den amerikanischen Indígenas aufzwangen. Die Eroberung Mexikos war der erste Raum des modernen ego.“ (Dussel 1995: 48)Footnote 13

Die Kolonisierung wird als Bedingung für die Entwicklung einer Wissenschaftstradition gesehen, in der es dem wissenden Subjekt gelingt, einen universellen Platz einzunehmen, indem es von einem objektiven Nicht-Ort aus spricht. In den Worten Ramón Grosfoguels:

„The social, economic, political and historical conditions of possibility for a subject to assume the arrogance of becoming God-like and put himself as the foundation of all Truthful knowledge was the Imperial Being, that is, the subjectivity of those who are at the center of the world because they have already conquered it.“ (Grosfoguel 2011: 7)

Den Mythos des entkörperlichten, nicht-situierten Subjekts geht einher mit dem wissenschaftlichen Gebot der Neutralität und der Objektivität: „The disembodied and unlocated neutrality and objectivity of the ego-politics of knowledge is a Western myth.“ (Grosfoguel 2011: 6) Der Versuch, in den Geisteswissenschaften eine wertneutrale oder objektive Subjektposition in der Wissensproduktion einzunehmen, führt dazu, implizit immer (a) einen Sprechort zu verschleiern und (b) das Bestehende bzw. das Hegemoniale und Normalisierte zu privilegieren.

Ähnlich formuliert auch Donna Haraway in ihrem Text Situiertes Wissen (1988) das Problem aus einer feministischen Perspektive. Für sie gelten auch im Wissenschaftsbetrieb Feministinnen als die „verkörperten Anderen, […] denen es nicht erlaubt ist, keinen Körper zu haben, keine begrenzte Perspektive und damit auch keinen unausweichlich disqualifizierenden und belastenden Bias in ernstzunehmenden Diskussionen außerhalb unserer eigenen kleinen Zirkel“ (ebd.: 73, Herv. i. O.). Durch dieses Othering kann sich ein Sprechort der Wissenschaft konstituieren, den sie als „selbstidentisch, unmarkiert, entkörpert, unvermittelt, transzendent“ (ebd.: 87) beschreibt. Sie problematisiert den Prozess, der einerseits Sprechpositionen mit einem „erobernden Blick von nirgendwo“ und der „unmarkierten Kategorie der Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen“ (ebd.: 80) ausstattet. Dieser Blick bezeichnet Haraway zufolge die „unmarkierte Position des Mannes und des Weißen“ (ebd.). Andererseits schreibt er sich auf „mythische Weise in alle markierten Körper ein“ (ebd.). Diesem Verständnis setzt sie ihr Konzept des situierten Wissens entgegen, in dem „feministische Objektivität“ in „situiertem Wissen“ (ebd.) bestehen würde: „Die Moral ist einfach: Nur eine partiale Perspektive verspricht einen objektiven Blick.“ (ebd.: 82) Dafür müssten beispielsweise Darstellungen einer „‚wirklichen‘ Welt“ aufhören, von einer „Logik der ‚Entdeckung‘“ (ebd.: 94) bestimmt zu werden. Stattdessen müssten sie als „machtgeladene soziale Beziehungen der ‚Konversation‘“ (ebd.) verstanden werden. Schließlich spricht „die Welt […] weder selbst, noch verschwindet sie zugunsten eines Meister-Dekodierers.“ (ebd.) Der Meister-Dekodierer müsste dabei über die Fähigkeit verfügen, den „göttlichen Trick“ (ebd.: 80) anzuwenden, der darin besteht, alles von nirgendwo sehen zu können.

Doch es stellt sich die Frage, wie sich dieses situierte Wissen konstituiert. Dafür schlägt Haraway eine Art Wissen von unten, eine Perspektive aus der Position der weniger Mächtigen, vor: „Es gibt gute Gründe für die Überzeugung, dass die Sicht von unten besser ist als die von den strahlenden Weltraumplattformen der Mächtigen herab.“ (ebd.: 83) Allerdings sind die Perspektiven von unten keine „,unschuldigen‘ Positionen“ (ebd.: 84). Für Haraway besitzen sie zwar den großen Vorsprung dadurch, dass sie prinzipiell weniger anfällig sind für eine „Leugnung des kritischen und interpretativen Kerns allen Wissens“ (ebd.): „Die Unterworfenen haben eine passable Chance, dem göttlichen Trick mit seinen blendenden – und deshalb blindmachenden – Illuminationen auf die Schliche zu kommen.“ (ebd.) Allerdings ergibt sich keinesfalls einfach eine Sicht aus einer Subjektposition – aus einem „Molekül“ „Frau“, „kolonisierte Person“, „ArbeiterIn“ (ebd.) –, auch weil sich ein Subjekt nie unmittelbar präsent ist. Eine solche Perspektive der Romantisierung des Wissens der Unterdrückten würde in einen Relativismus münden, der nach Haraway aber das „perfekte Spiegelbild der Totalisierung“ (ebd.) der Objektivitätsideologien darstellt: „Beide leugnen die Relevanz von Verortung, Verkörperung und partialer Perspektive, beide verhindern eine gute Sicht.“ (ebd.) Unterwerfung kann schließlich keine Grundlage für kritisches Wissen darstellen, allenfalls ein „sichtbarer Anhaltspunkt“ (ebd.: 86). Haraway plädiert dafür, nicht nach der „Subjektposition der Identität“ zu suchen, sondern die der „Objektivität, d. h. der partialen Verbindung“ (ebd.):

„Das erkennende Subjekt ist in all seinen Gestalten partial und niemals abgeschlossen, ganz, einfach oder ursprünglich, es ist immer konstruiert und unvollständig zusammengeflickt, und deshalb fähig zur Verbindung mit anderen und zu einer gemeinsamen Sichtweise ohne den Anspruch jemand anders zu sein.“ (ebd.)

Ein Begriff von Objektivität, der durch ein unmarkiertes entkörpertes Subjekt gesetzt wird, wird inzwischen teilweise in der qualitativen Sozialforschung infrage gestellt. In vielen Forschungszusammenhängen ist es inzwischen üblich, das forschende Subjekt als Dimension der Forschung miteinzubeziehen. Oft tritt dann an die Stelle der Objektivität die intersubjektive Nachvollziehbarkeit. Daraus folgt der Anspruch der Transparenz, der dann als Maß der Wissenschaftlichkeit gilt. Und dennoch wird es sich für viele komisch anhören, wenn ich schreibe, dass mein Ansatz weder objektiv noch wertneutral ist; und doch trifft diese Aussage zu. Oft wird auch der Anspruch des Einbezugs des Forschungssubjekts in die Forschungsperspektive zwar benannt, aber nicht eingelöst – dies kann natürlich auch diesem Text widerfahren.

Das methodische Ziel muss nicht abstrakte Objektivität, also Auslöschung der subjektiven Dimension im Forschungsprozess sein, sondern vielmehr die Anerkennung dieser. Ähnliches, wie ich es bereits bezüglich des Einflusses meiner Subjektposition auf die Erhebungssituation dargelegt habe, gilt in ebenso starkem Maße für die Auswertung und Theoretisierung. Dafür gilt es, die eigenen Denkvoraussetzungen als auch Begehren zu reflektieren. In den Diskussionen um erkenntnistheoretische Probleme in der postkolonialen Theorie und dem Feminismus wird oft von Begehren gesprochen, um die affektive, kontextuelle und subjektive Dimension vermeintlich neutraler Wissenschaft hervorzuheben. In Diskussionen von anderen Ansätzen wird das Problem wohl oft unter Forschungsinteresse subsummiert. Ich gehe dabei davon aus, dass der gesamte Auswertungsprozess von meinen Interessen und Begehren gelenkt wird; dass also die unzähligen offenen und impliziten Entscheidungen damit zusammenhängen. Dabei ist das Ziel nicht, diese Begehren so weit wie möglich unsichtbar werden zu lassen, sondern vielmehr, diese explizit und damit transparent zu machen. Zum einen kann so gewährleistet bleiben, dass andere – die Leser_innen dieses Textes – das Vorgehen im Fall einer gelungenen Analyse als nachvollziehbar ansehen; zum anderen erlaubt mir das explizit machen meiner Begehren die Reflexion meines Vorgehens. Die Instrumente dieser Reflexion unterliegen nun natürlich derselben Bedingtheit meines situierten Wissens. Klassische Erkenntnistheoretiker_innen würden hier einen infiniten Regress erkennen, also die Notwendigkeit die Reflexion des Reflektierten wiederum zu reflektieren, was wiederum zu reflektieren wäre usw. ohne jemals an etwas Festem anzukommen. Dies könnte als das Schicksal aller von postfundationalistischen Ansätzen überzeugten Wissensproduzent_innen angesehen werden.

„Selbstverständlich muss auch das ‚Ich‘, das hier schreibt, selbst als ein ‚artikuliertes‘ gedacht werden. Wir alle haben einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen. Was wir sagen, steht immer ´in einem Kontext´ und ist positioniert.“ (Hall 1990: 26)

Dieses ‚Ich‘ wird sich im Prozess der Selbstreflexion nicht selbst präsent oder bewusst, vielmehr kann es sich durch Selbstreflexion artikulieren, das heißt eine Erzählung über sich selbst erfinden. Der in der dekolonialen und feministischen Perspektive formulierte Anspruch reicht dabei über die Benennung der subjektiven Dimension hinaus. Das Sprechen bzw. Schreiben erscheint nicht nur allgemein als durch das Subjekt geprägt, beeinflusst oder begrenzt. Statt auf den bürgerlichen Subjektivismus reduziert zu bleiben, mit dem Subjekt als beliebiges in der Welt gedacht wird, gilt es, in der Artikulation Instrumentarien zu verwenden, mit denen das ‚Ich‘ sich als spezifisch – als Partikulares – in den gesellschaftlichen Verhältnissen – im Allgemeinen – verortet artikulieren kann. Ich schlage hier vor, diese Verortung als eine gespaltene zu denken, in der die Nicht-Neutralität zum einen im Sinne einer (1) Subjektposition und zum anderen im Sinne einer (2) Subjektpositionierung gedacht wird.

(1) Subjektposition

Mit Subjektposition meine ich die passive Dimension der Verortung des Subjekts. Die Partialität der Perspektive besteht nicht nur darin, dass die Perspektive beschränkt ist, sondern auch darin, dass sie geprägt ist durch eine bestimmte Subjektposition. Diese lässt sich beispielsweise durch die großen Differenzkategorien race, class, gender beschreiben, die aus meiner Sicht zentral und unerlässlich und gleichzeitig mit Vorsicht zu genießen sind. In der Auflistung dieser drei Kategorien wird sehr häufig ein ‚etc.‘ angefügt, das Judith Butler als „embarrased etc.“ (Butler 1990: 143) bezeichnet. Ausgehend von diesem ‚etc.‘ warnt Judith Butler vor der Essenzialisierung und Universalisierung dieser Kategorien (Castro Varela/Dhawan 2010: 314). Sie kritisiert eine auf diesen Kategorien fußende Perspektive, in der diese Kategorien eine Logik in Gang setzen, die makellose und kohärente Positionen und Sprechorte erschafft (ebd.). Inzwischen gibt es in feministischen und dekolonialen Kreisen den Anspruch einer Selbstverortung der Sprechposition. Allzu oft erstreckt sich die Selbstverortung weißer Akademiker_innen aber darauf, diese Kategorien gebetsmühlenartig runterzubeten. Dies birgt die Gefahr, dass der Effekt sich verschiebt. Statt einen Mehrwert für die Erkenntnis zu haben, kann ein Statement – wie ‚ich bin weiß, cis-männlich, aus bürgerlichen Verhältnissen mit akademischem Bildungshintergrund, verfüge über einen starken Pass, etc.‘ – zwar Privilegien und Hierarchien transparent machen, gleichzeitig aber auch als Distinktionsmittel dienen, um sich als besonders reflektiert zu präsentieren. Nichtsdestotrotz stellen diese Kategorien aus meiner Sicht aber entscheidende und unumgängliche Instrumentarien dar, um gesellschaftliche Verortung zu denken.

Als besonders relevant für das Themenfeld der Dekolonialität und meine Forschung erscheinen mir meine Verortung im Globalen Norden und meines Weißseins. Zunächst zum Weißsein: Weißsein ist eine Kategorie, die in rassismuskritischen und dekolonialen Diskursen dafür sorgt, den universellen Sprechort eines vermeintlich neutralen Subjekts der Dominanzkultur zu markieren und damit zu unterhöhlen. Während People of Color und Schwarze Menschen im hegemonialen Diskurs in der Regel mit einem ethnisierten Sprechort ausgestattet sind – sie scheinen etwas zu sagen, weil sie beispielsweise Schwarz sind –, erscheinen weiße Autor_innen von einem unbestimmten, transparenten Ort aus zu sehen, zu sprechen und zu schreiben. Dies schlägt sich beispielsweise auch in der Farbmetaphorik in der Kunstwelt nieder, wie Hito Steyerl in ihrem Artikel White Cube und Black Box. Die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs (2005) nachzeichnet. In der Ausstellungspraxis werden weiße Wände als zentrales Moment der hegemonialen Form des White Cubes „als Nicht-Orte und gleichzeitig als perfekte Orte gedacht – als selbstauslöschendes Vakuum, als neutraler Hintergrund, tabula rasa und als ästhetische Abgrenzung zum farblich ambivalenten Durcheinander der profanen Außenwelt“ (ebd.: 135). Die Farbmetapher des Weiß suggeriert Reinheit und Fokussiertheit und dient gleichzeitig als „ästhetische Richtlinie“, durch dessen „Aura […] letztendlich definiert“ wird, „was Kunst ist“ (ebd.). Der White Cube wurde in Deutschland in den 1930er Jahren – unter der Herrschaft des Nationalsozialismus – erstmals zur hegemonialen Ausstellungsform und wurde dann in Frankreich, Großbritannien und den USA seit den 1940ern ebenfalls zur vorherrschenden Ausstellungsform (Maak/Klonk/Demand 2011). Weiß und der White Cube wurden dabei in den kunstwissenschaftlichen Diskursen als zivilisatorisch überlegen inszeniert und fungiert als „Auge der Wahrheit“ (Steyerl 2005: 138). Diese Darstellung der Farbmetaphorik aus der Kunstwelt gilt auch ähnlich für die eurozentrischen Wissenschaften und ihre Subjekte.

Obwohl Weißsein oder whiteness erst seit den 1990ern in den – auch rassismuskritischen – Wissenschaften angekommen zu sein scheint, wurde whiteness schon lange in der Rassismuskritik als eine Kategorie verwendet, mit der der rassialisierende Blick umgedreht wurde. So schrieb W.E.B. Du Bois 1920:

„HIGH in the tower, where I sit above the loud complaining of the human sea, I know many souls that toss and whirl and pass, but none there are that intrigue me more than the Souls of White Folk. Of them I am singularly clairvoyant. I see in and through them. I view them from unusual points of vantage. Not as a foreigner do I come, for I am native, not foreign, bone of their thought and flesh of their language. Mine is not the knowledge of the traveller or the colonial composite of dear memories, words and wonder. Not yet is my knowledge that which servants have masters, or mass of class, or capitalist of artisan. Rather I see these souls undressed and from the back and side. I see the working of their entrails. I know their thoughts and they know that I know. This knowledge makes them now embarrassed, now furious! They deny my right to live and be and call me misbirth! My word is to them mere bitterness and my soul, pessimism. And yet as they preach and strut and shout and threaten, crouching as they clutch at rags of facts and fancies to hide their nakedness, they go twisting, flying by my tired eyes and I see them ever stripped, – ugly, human.“ (Du Bois 1920: 17)

Auch wenn im gesellschaftlichen Kontext von Du Bois ‚weiß‘ eine gängige und aggressive Selbstbezeichnung war, wird hier deutlich, wie die Umdrehung des Blicks die Herrschaft der unmarkierten Norm untergräbt und ihre diskursive Gewalt infrage stellt.

Die Kategorie weiß in den Diskussionen um white privilege, critical whiteness oder Weiß-seins-Studien referiert nicht auf eine überhistorische, biologistische Beschreibung einer Pigmentierung. Vielmehr ist es eine Subjektposition, die durch die Rassismus hervorgebracht wird. Genau wie es keinen überhistorischen, universalen Rassismus gibt (Bojadžijev 2005), gibt es auch kein allgemeines Verständnis von Weißsein. So galten bis ins 19. Jahrhundert beispielsweise in die USA eingewanderte Ir_innen als Schwarz. Susan Arndt zufolge geht es bei den Whiteness Studies nicht darum, „ontologisierend oder essentialisierend die Existenz des ‚weißen Menschen‘ oder einer ‚weißen Kultur‘ zu postulieren, vielmehr ist Weißsein als eine Konstruktion des Rassismus zu lesen, die kollektive Wahrnehmungs-, Wissens- und Handlungsmuster konstituiert hat“ (Arndt 2005: 343). Weißsein ist demzufolge eine „symbolische und soziale Position, die mit Macht und Privilegien einhergeht und sich auch unabhängig von Selbstwahrnehmungen und jenseits offizieller Institutionen individuell wie kollektiv manifestiert“ (ebd.). Critical Whiteness Studies zielen darauf ab, die unmarkierte Norm in rassistisch strukturierten Gesellschaften sichtbar zu machen.

„Genauso, wie alle rassistisch markierten Menschen, die jederzeit wahrnehmen, wo sie offensichtlich oder subtil ausgeschlossen und ‚verandert‘ werden, nehmen auch diejenigen, die im Rassismus bisher de-markiert waren – die als neutral und normal galten – wahr, in welcher Weise sie durch ihr Weißsein* ermächtigt und Nicht-Weiße diskriminiert werden.“ (Tißberger 2016: 26)

Tißberger unterscheidet dabei zwischen whiteness und Weißsein, auch wenn die zwei Begriffe in den deutschen Diskussionen oft synonym gebraucht werden. Ähnlich wie Weiblichkeit nicht gleich Frau-sein bedeutet, versteht Tißberger whiteness als „strukturierendes Moment einer Herrschaftsdimension – einer rassistischen Matrix“ (ebd.: 29). Whiteness wird so zur unbenannten, unsichtbaren und dethematisierten Norm, an der „Subjekte einer Gesellschaft gemessen, markiert und positioniert werden“ (ebd.).

„Whiteness ist Signifikant für Fortschrittlichkeit‚ Bewusstsein, ‚Intelligenz‘ bzw. Intellektualität oder Geistigkeit, Säkularisiertsein, Überlegenheit und eben alles, was die abendländische Moderne zum Ideal erklärt hat, dem gegenüber die ‚dunkleren Anderen‘ mit allen gegenteiligen Merkmalen ausgestattet sind: Zurückgebliebenheit, Einfalt und Religiosität, die mit mangelndem Bewusstsein und geringer Intellektualität etc. einher gehen.“ (ebd.)

‚Weißsein‘ stellt demgegenüber eine als weiß anerkannte – markiert oder unmarkiert – Subjektposition dar. Weißsein stellt einen Effekt des Rassismus dar, nicht seinen Ursprung. Es ist keine ontologische Subjektposition, sondern vielmehr eine prekäre, wenngleich wirkmächtige Subjektposition.

Es stellt sich die Frage, ob whiteness, das als Theorieimport aus den USA betrachtet werden kann – für den deutschen Kontext die angemessene Bezeichnung darstellt. Die Geschichte des rassistischen Otherings und Selfings in den USA verlief anders als in Deutschland. Im 4. Kapitel werde ich den Ansatz vor dem Hintergrund meiner empirischen Ergebnisse kritisch diskutieren und mögliche Fallstrike und Alternativen ausloten. An dieser Stelle genügen meine Ausführungen, um mein Eingebundensein in rassistische Strukturen des Wissens und seiner Subjekte zu diskutieren.

(2) Subjektpositionierung

Als Subjektpositionierung verstehe ich – im Gegensatz zu Subjektposition – die Weise, wie sich ein Subjekt, ‚ich‘, in den gesellschaftlichen Verhältnissen aktiv positioniert. In der auf die Auseinandersetzungen beim NoBorder-Camp 2012 in Köln folgenden bundesweiten Diskussionen um den Ansatz von Critical Whiteness wurde die Auslegung dort als essenzialistisch kritisiert (Ha 2014). Besonders scharfe Kritik kam von einer Autor_innengruppe, die in mehreren Interventionen auf die Gefahren eines essenzialistischen Verständnisses von Subjektpositionen in der Rezeption der Critical Whiteness Studies aufmerksam machten. Ein determinierendes Verhältnis von Subjektposition zu Subjektpositionierung problematisierten sie wie folgt:

„Eine politische Position ist nicht die logische Folge spezifischer persönlicher Erfahrungen, sondern entwickelt sich durch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Auch Subjektivität resultiert nicht einfach aus der ‚Position‘ die ich vermeintlich aufgrund von Hautfarbe oder Geschlecht im Raster gesellschaftlicher Machtverhältnisse einnehme. Zu behaupten, dass eine politische Haltung unveränderbar an die ‚Position‘ innerhalb der Gesellschaft gebunden ist, bedeutet, einen statischen Begriff von Gesellschaft zu vertreten, der die Möglichkeit politischer Veränderung letztlich ausschließt.“ (Karakayalı /Tsianos/Karakayalı 2013)

Kurz: Die Subjektposition determiniert nicht die Subjektpositionierung. Hier möchte ich mich teilweise anschließen. Es gibt keine Politik mehr, es gibt kein Politisches mehr, wenn die Subjektpositionen und die Subjektpositionierungen zusammenfallen. Die Subjektpositionierung ist immer kontingent, was aber keinesfalls synonym mit zufällig zu setzen ist. Die Kontingenz der Subjektpositionierung zu behaupten, heißt nicht, dass die Subjektposition diese nicht mit strukturieren würde. Gleichzeitig gilt es essenzialierende und determinierende Konzepte von Subjektpositionen und Subjektpositionierungen zu vermeiden. Aus verortetem Sprechen folgt keine Identitätspolitik.

Ich selbst – durch mein spezifisches Verhältnis zur hegemonialen whiteness, kurz: meines Weißsein – musste nie die Erfahrung machen, negativ von Rassismus betroffen zu sein; nicht die alltägliche Erfahrung, dass meine Argumente ständig in Diskussionen überhört werden, bis die gleichen Argumente von jemanden anders positionierten gesagt wurden; nicht die alltägliche Erfahrung, aufgrund meiner Herkunft keine Wohnung zu kriegen; nicht die alltägliche Erfahrung, dass meine Argumente nur als Ausdruck meiner sozialen Position, ‚Kultur‘ oder Herkunft gesehen wurden und nicht einfach meiner Überzeugung; nicht die alltägliche Erfahrungen, dass mein Wissen als partikulares abgetan, sondern als potenziell universalisierbar angesehen würde. Auch wenn ich diese Erfahrungen nicht selber gemacht habe, versuche ich diese zu sehen bzw. zu hören und daraus Konsequenzen für mein Handeln zu ziehen. Diese geteilten Erfahrungen beziehe ich dabei von Freund_innen, Kolleg_innen, Nachbar_innen, Lebenspartnerin, Genoss_innen, mit denen mich antirassistische Träume verbinden, oder anderen Wissenschaftler_innen, von denen ich dieses Wissen erbe. Das erkenntnistheoretische Problem des infiniten Regresses der Selbstreflexion löst sich auf in der Einsicht in die konstitutive Abhängigkeit des Subjekts von den anderen. Wenngleich sich so eine rassismuskritische Subjektposition konstituieren kann, ist diese doch keine Identität und keine sichere Ausgangslage; es konstituiert sich kein ‚antirassistisches‘ Subjekt. Subjekte sind im Sinne von Laclau und Mouffe (1985: 97ff) immer überdeterminiert. Das heißt ihre Konstitution ist nie abgeschlossen, sondern vielmehr ist eine Subjektposition ein Effekt vielfältiger Ursachen, ein Knotenpunkt mannigfaltiger Signifikatsionsysteme; dadurch mehrdeutig, changierend und jede hegemonialisierte Eindeutigkeit nur temporär. Es ist also unmöglich dem Rassismus zu entkommen; jede Subjektposition bleibt mit ihm verwoben, wenn auch von unterschiedlichen Positionen und Positionierungen her. Meine rassismuskritische und dekoloniale Positionierung zielt also nicht darauf, sich von meinem Privilegien bringenden Verhältnis zu Whiteness oder meinem Status als Inhaber einer Staatsbürgerschaft im Globalen Norden zu lösen, es hinter mir zu lassen, denn meine Subjektposition wird immer – ob ich will oder nicht – dadurch geprägt sein, sondern vielmehr in dem ständigen Versuch, meine Subjektpositionierung so zu füllen, dass sie dies anerkennt und reflektiert.

Meine Subjektposition oder im besten Fall das durch meine Subjektpositionierung vermittelte Verhältnis zu meiner Subjektposition sowie meine Subjektpositionierung strukturieren mein Vorgehen dahingehend, welches Erbe ich antrete; wie ich also die Lernendenvorstellungen interpretiere und auf welche Theorien ich mich auf welche Art beziehe. Insbesondere aufgrund der Verwobenheit der Subjektposition und der Subjektpositionierung ist eine selbstreflexive Haltung durchgehend notwendig. Als Erbe dekolonialer Perspektiven stellt sich die Frage, worauf ich mich beziehe, wen oder was ich als das Erbe sehe und wie ich mich dadurch als Erben konstruiere. Mein Ziel ist es, Lernendenvorstellungen und fachwissenschaftliche Diskurse in einen Dialog zu setzen. Das heißt, nicht erst einen Theorierahmen dekolonialer Perspektiven zu entwickeln, zu fixieren und diesen dann anzuwenden. Ziel ist es, den Lernendenvorstellungen offener gegenüberzutreten, und die theoretischen Bezugsrahmen daran anzupassen, welche Fragen sich hier ergeben. Dabei muss ich mir die Frage stellen, was der Kanon oder das Archiv des Erbes ist, aus dem ich mir im Laufe der Auseinandersetzungen mit den Lernendenvorstellungen die theoretischen Ansätze heraussuche.

Ein postkolonialer Erbe?

Das Feld der Diskussion um Dekolonialität und postkoloniale Theorie ist unüberschaubar, in vielen Disziplinen verortet und alles andere als homogen. Im deutschsprachigen Raum sind eine Reihe von Einführungen und Überblicksbänden entstanden, die für mich sehr wertvolle Überblicke und Genealogien vorgelegt haben. Am bekanntesten ist wohl die Einführung in die postkoloniale Theorie von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2005), die um die Problematik der Schaffung eines Kanons wissen und sich dennoch dafür entscheiden, in ihrer sehr differenzierten Darstellung auf die „drei prominentesten Figuren – Edward W. Said, Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhabha“ (ebd.: 8) zu fokussieren. Damit reproduzieren sie die in den Postcolonial Studies verbreitete Rezeptionsweise bzw. Erbweise, die sie selbst in Bezug auf Youngs Ausdruck der „Holy Trinity“ (Young 1995: 163) als „Heilige Dreifaltigkeit“ (Castro Varela/Dhawan 2005: 25) bezeichnen. Ina Kerner (2012) legt in ihrer Darstellung postkolonialer Theorien einen stärkeren Fokus auf Frantz Fanon, Stuart Hall sowie lateinamerikanische Genealogien der postkolonialen Theorien wie etwa Walter Mignolo. In ihrem Sammelband Schlüsselwerken der Postcolonial Studies legen Julia Reuther und Alexandra Karentzos (2012) eine breit angelegten Überblick über zahlreiche Konzepte, Autor_innen und ihre Rezeption in verschiedenen akademischen Disziplinen vor. Überblicksbände für die fachdisziplinäre Rezeption gibt es inzwischen für die Geschichts- und Kulturwissenschaften (Conrad/Randeria 2002), die Soziologie (Reuter/Villa 2010) und die Politikwissenschaft (Ziai 2016a). Interdisziplinär mit einem Fokus auf migrationsgesellschaftliche Machtverhältnisse aus explizit postkolonialer Perspektive sind außerdem mehrere Bände erschienen, von denen ich hier nur Spricht die Subalterne deutsch? (Steyerl/Rodríguez 2003) und re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Ha/al-Samarai/Mysorekar 2007a) nenne.

In diesen Beiträgen wird immer das Problem der Genealogie postkolonialer Studien angesprochen. In den angloamerikanischen und britischen Diskussionen gibt es zwar ähnlich ausgerichtete Einführungen und Überblicksdarstellungen, zu den am meisten rezipierten gehören unter anderem wohl The Postcolonial-Studies Reader (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1995), Colonialism/Postcolonialism (Loomba 1998) und Postcolonial Theory: A Critical Introduction (Ghandi 1998), allerdings gestaltet sich die Diskussion um die Genealogie dabei deutlich antagonistischer. So wurde die häufig aufgegriffene literaturwissenschaftliche Genealogie postkolonialer Theorie heftig kritisiert (Ahmad 1995), die die Commonwealth Literary Studies als zentralen Vorläufer postkolonialer Theorien ausmachen, wie etwa in The Empire Writes Back, wo es beispielsweise heißt, „post-colonial theory was an invention of literary studies“ (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989: 209). Damit korrespondiert ein Verständnis der postkolonialen Theorien, das auf koloniale Diskursanalyse verengt erscheint, während beispielsweise Aijaz Ahmad (1995) oder Fernando Coronil (2004) für einen weiteren Begriff plädieren, der die Gegenwärtigkeit neokolonialer und imperialer Herrschaft und den Widerstand dagegen als Ausgangspunkt postkolonialer Theoriebildung ausmacht. An der Verengung der postkolonialen Theorien auf Diskursanalyse erscheinen aus dieser Perspektive mindestens zwei Punkte als problematisch: (1) Das Koloniale in der postkolonialen Gegenwart wird als Reminiszenz einer abgeschlossenen Vergangenheit des Kolonialismus betrachtet. (2) Koloniale Dominanz in der Gegenwart ist nicht ausschließlich ein Problem der Repräsentation. Stattdessen ist es notwendig, gegenwärtige Strukturen in Bezug auf sozioökonomische Ungleichheiten und internationale Arbeitsteilungen, politische Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse und insgesamt die Reproduktion kolonialer und imperialer Ungleichheit als Ausdruck der gegenwärtigen Machtverhältnisse zu verstehen.

Der Ansatz der Dekolonialität in Lateinamerika plädiert für einen Begriff des Dekolonialen, der nicht auf Literatur und Humanwissenschaften reduziert ist, sondern der nicht-akademische und akademische, künstlerische und sozioökonomische Wissen- und Praxisformen umfasst, während postkoloniale Kritik beispielsweise bei Said eher auf den akademischen Intellektuellen beschränkt zu sein scheint (Young 1990: 171 ff). Robert Young schreibt in Postcolonialism eine Genealogie der antikolonialen und antiimperialen Bewegungen, die für eine Dekolonisierung der postkolonialen Gegenwart zentral erscheinen – von nationalen Befreiungsbewegungen, Aufständen und Revolutionen über die trikontinentalen Vernetzung wie die Bandung-Konferenz 1955 und die Havana-Konferenz 1966. Auch wenn seine klare dialektische Aufteilung im folgenden Zitat etwas zu undifferenziert erscheint, wird hier doch sein Punkt klar, der postkoloniale Theorien als Effekt antikolonialer Bewegungen darstellt:

“If colonial history, particularly in the nineteenth century, was the history of the imperial appropriation of the world, the history of the twentieth century has witnessed the peoples of the world taking power and control back for themselves. Postcolonial theory is itself a product of that dialectical process.” (Young 2001: 4; siehe dazu auch Young 2003)

Als Ausgangspunkt der Entstehung postkolonialer Theorie – oder auch „Gründungsdokument“ (Castro Varela/Dhawan 2005: 31) – wird häufig Edward Saids Publikation von Orientalismus (1978) benannt. Ohne die Leistung Saids schmälern zu wollen, erscheint es hier angebracht, kurz auf die Vorwegnahme einiger zentraler Thesen durch Anouar Abdel-Malek beispielsweise in Orientalism in Crisis (1963) zu verweisen, um die Problematik des Denkens des Erbens und die Suche nach einem Ursprung aufzuzeigen. Gleiches gilt für die Autoren der Négritude oder Frantz Fanon. Ebenso wird die Subaltern Studies Group im Indien der frühen 1980er Jahren als möglicher Ursprungsort der postkolonialen Theorien angeführt; diese Gruppe Historiker_innen versuchte eine Geschichte Indiens vom Standpunkt der subalternen Klassen zu schreiben und fand mittlerweile Nachahmer_innen in Lateinamerika, der Karibik und Südafrika (Kerner 2012: 150). Ebenso kann hier auf Schwarze Befreiungsbewegung in den USA verwiesen werden und beispielsweise einen ihrer bekannten frühen Autoren W.E.B. Du Bois. Der aus Lateinamerika stammende Ansatz benennt seine Wurzeln fast immer in lateinamerikanischen Kritikern der Kolonialität, wie etwa Juan Carlos Maríategui (1894–1930) oder José Martí (1853–1895) und nicht-lateinamerikanischen Autor_innen und sozialen Bewegungen (Mignolo 2007a: 34) oder auch den Alltagsverständnissen aus Vergangenheit und Gegenwart (Antunes Prado 2004). Dies ist keinesfalls eine vollständige Liste, sondern vielmehr ein kurzer Überblick über die als mögliche Ursprünge post- oder dekolonialer Theorien angesehenen Aspekte. Ich sage hier nichts Neues, wenn ich feststelle, dass es einen solchen Ursprung nicht gibt.

Als eine mögliche Heuristik schlagen beispielsweise Sabine Broeck und Carsten Juncker vor, das Feld mit den drei Begriffen „Postcoloniality – Decoloniality – Black Critique“ (2014) zu ordnen. Dabei ist aber klar, dass dies nur eine provisorische und problematische Aufteilung des Feldes ist. ‚Postcoloniality‘ bezieht sich dabei auf das im englischsprachigen Raum verbreitete Diskursfeld, insbesondere die Theorieproduktion in den USA, Großbritannien und Indien sowie beispielsweise auch Nigeria, Kenia oder Südafrika. ‚Decoloniality‘ bezieht sich auf die Theorieproduktion, die insbesondere im spanischsprachigen Raum oder mit Bezug auf diesen stattfindet, insbesondere Lateinamerika. Allerdings findet ein nicht unerheblicher Teil der akademischen Theorieproduktion in den USA statt; diese Dominanz und die sich daraus ergebenden Widersprüche haben beispielsweise letztlich auch zur Auflösung der Latin American Subaltern Studies Group geführt. Der Ansatz findet aber beispielsweise auch vermehrt Anwendung in Staaten in der früheren Einflusszone der Sowjetunion. ‚Black Critique‘ verweist dabei insbesondere auf Schwarze Autor_innen und Bewegungen in den USA, Großbritannien, der Karibik, Nigeria, Kenia, Südafrika, Ghana und der europäischen Diaspora. Eine solche Heuristik ist eingeschränkt nützlich, wenn auch ihre Begrenztheit deutlich ins Auge springt. Hier halte ich es mit Sabine Broeck und Carsten Juncker, die feststellen, dass es für eine dekoloniale Kritik wenig zielführend ist, die verschiedenen Ansätze durch ihre regionale Verortung oder ihre akademische Disziplin voneinander zu trennen (ebd.: 10). In diesem Sinne plädiere ich dafür, ohne Ausblendung der Unterschiede oder der Kontexte die Gemeinsamkeiten zu sehen, insofern sie für eine Analyse der postkolonialen Gegenwart hilfreich erscheinen. Hinzukommt – was die Sache zusätzlich verkompliziert –, dass dekoloniale Perspektiven keinesfalls das Lable postkolonial oder dekolonial tragen müssen, um für mich wertvolle Perspektiven einer dekolonialen Analyse zu bieten. Beispielsweise wäre hier das Feld der kritischen Migrations- und Rassismusforschung zu nennen, wie etwa der Ansatz der Autonomie der Migration (Bojadžijev, Mezzadra et al) oder der Migrationspädagogik (Mecheril et al), die für mich zentrale Ideengeber_innen darstellen.

Postkoloniale Theorien erscheinen in Deutschland oft als Import, als Transfer von Theorieelementen aus insbesondere dem englischsprachigen Raum in den Kontext der BRD. Aus meiner Perspektive ist diese Wahrnehmung richtig und falsch zugleich. Falsch ist sie, da es auch in Deutschland eine lange Tradition dekolonialen Denkens gibt. Dekoloniale Bewegungen lassen sich in Deutschland mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen und sind beispielsweise für die Zeit der Weimarer Republik teilweise aufgearbeitet, wenn auch kaum bekannt (Bojadžijev 2013). Dies trifft ebenso auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu, in der migrantische und nicht-migrantische Gruppen koloniale und imperiale Machtverhältnisse kritisierten. Dazu zählen beispielsweise auch die Diskurse organisierter Gruppen Schwarzer Menschen, die insbesondere seit den frühen 1980er Jahren dekoloniale Perspektiven in Deutschland stark machten, wie beispielsweise im einschlägigen Buch Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz von 1986 dokumentiert. Diese Tradition und dieses Wissen dekolonialer Stimmen aus Deutschland werden in akademischen Diskussionen oft ausgeblendet oder abgewertet. Dekoloniale Ideen als reines Importprodukt aus dem englischsprachigen Raum erscheinen zu lassen, setzt also voraus, die Stimmen verschweigen zu lassen, die schon früh den Finger in die postkolonialen Wunden in Deutschland gelegt haben.

Fatima El-Tayeb beobachtet eine Traditionslinie in Europa und Deutschland, die auch in den gesellschaftskritischen und den Holocaust und sogar Kolonialismus zu zentralen Themen erhebenden Diskursen anzutreffen sei, die sie im Anschluss an Stuart Hall als „internalistische[s] Narrativ“ (El-Tayeb 2016: 19) bezeichnet. Die hier stattfindende „hegemoniale Selbstkritik“ geht von der Annahme aus, „dass die europäische intellektuelle Tradition genug Handhabe biete, das System von innen heraus zu korrigieren, wenn nötig“ (ebd.). Dieses internalistische Narrativ versteht sie als eine „narzisstische Geschichtsauffassung, in der komplexe historische Interaktionen einem insularen Modell untergeordnet werden, in dem ein essenzialistisch definiertes, weißes, christliches Europa immer und zwangsläufig die Norm bleibt“ (ebd.). Kritik üben dürften wiederum „nur die, die zumindest annähernd der Norm entsprechen“ (ebd.). Sie berichtet von den Erfahrungen, die sie im Zuge einer Einladung zu einer Konferenz zum Thema der Geschichte des Rassebegriffs in Deutschland gemacht hatte. Außer ihr waren ausschließlich weiße und fast ausschließlich männliche Wissenschaftler als Referenten vorgesehen. Aus der Auseinandersetzung mit den Organisatoren darüber schloss El-Tayeb, dass hier sowohl die implizite Annahme vorausgesetzt wurde, dass „rassifizierte Menschen“ keine Analyse, sondern vielmehr „Betroffenheit“ produzieren könnten, als auch, dass „weiße, heteronormative Wissenschaft nicht politisch und subjektiv sei“ (ebd.: 22). Schwarze Menschen oder People of Color kommen hier also entweder nur als Objekte vor und damit nicht zur Sprache oder ihre Analysen werden als Erfahrungen von Betroffenheit disqualifiziert. Die Ideen und Theoreme rassismuskritischer und dekolonialer Perspektiven werden in den Diskursen der weiß dominierten Zusammenhänge so oft erst dann als wissenschaftlich qualifiziert angesehen, wenn sie „als Thesen mehrheitsdeutscher Autor_innen präsentiert“ (ebd.: 41) werden; dies gilt insbesondere für rassifizierte Autor_innen in Deutschland, obwohl es genau diese waren, die in Deutschland dafür gesorgt haben, dass dekoloniale Perspektiven hegemoniale Diskurse infrage gestellt haben.

Von wem erbe ich? Trotz meiner Bezüge auf transnationale Diskussionen um Dekolonialität schulde ich die Mehrheit der Ideen dieses Buches migrantischen, kanakischen, Schwarzen oder People of Color-Perspektiven, die in Deutschland seit Jahrzehnten durch wissenschaftliche Praxis gegen neokoloniale Ungleichheiten kämpfen. Es sollten sich also alle Leser_innen, die die Ansätze rassismuskritischer oder dekolonialer Perspektiven im Allgemeinen oder im Rahmen dieses Buches für ganz neu halten, kurz innehalten und sich die Frage stellen, wie es kommt, dass die zahlreichen Stimmen im deutschen Kontext bisher nicht zu ihnen durchgedrungen sind.

Gleichzeitig trifft die Wahrnehmung zu, dass viele Elemente postkolonialer Theorien in Deutschland insbesondere aus dem englischsprachigen Raum importiert wurden. Dieser Import muss als Transfer, als Rekontextualisierung verstanden werden. Bei dieser Rekontextualisierung – bei diesem Erbe – wird man dem Original nicht dadurch gerecht möglichst nah am Original, möglichst authentisch zu sein. Vielmehr liegt das dem Erbe innewohnende einzulösende Versprechen in der Übersetzung – im Sinne Spivaks (2008a) – in den anderen Kontext. Wenn wir davon ausgehen, dass sich die Kolonialität und der Rassismus immer wieder neu konfigurieren (müssen – durch die ständige Reibung mit dekolonisierenden Subjekten), wenn es also keinen universellen, überhistorischen Rassismus und Kolonialität, sondern spezifische, räumlich und zeitliche (Re-)Konfigurationen von Kräfteverhältnissen gibt (Bojadžijev 2008: 277), dann ist die Frage der Kontextualisierung für dekoloniale Perspektiven auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zentral. Die Reduktion der kolonialen Vergangenheit Deutschlands auf den formalen Kolonialismus in Übersee unter Ausblendung beispielsweise des kolonialen Verhältnisses zu Osteuropa wäre hier ebenso zu diskutieren, wie die Reduktion des Rassismus auf das Denken in Schwarz-Weiß. Ich werde darauf an anderer Stelle zurückkommen. (4.2) Doch was ist hier eigentlich der Kontext? Nicht reduzierbar auf den nationalstaatlichen Container bestimme ich den Kontext als die für die gesellschaftliche Verortung der Lernenden und des Forschenden relevanten Felder.

Das Scheitern meiner klaren Bestimmung dessen, was ich als Kanon der dekolonialen Theorien begreife, von dem aus ich die Lernendenvorstellungen analysiere, ist offensichtlich. Dekolonialität als die Perspektive meiner Forschung bestimmt sich mit Césaire dabei vielmehr als das Erbe einer Haltung. Welche theoretischen Ansätze dann von welchen Autor_innen herangezogen werden, bestimmt sich kontingent durch die von mir verfolgten Diskussionszusammenhänge ebenso wie iterativ in der Auseinandersetzung mit den Lernendenvorstellungen.

2.4 Zusammenfassung meiner Analyseperspektive

Im Folgenden werde ich kurz meine Analyseperspektive zusammenfassen – auch für all jene denen die letzten 70 Seiten zu Methoden- und Theorielastig waren: Ich führe eine Sekundäranalyse durch, die sich nicht durch die Methode im engeren Sinne, der qualitative Inhaltsanalyse, sondern durch seine explizit dekoloniale Perspektive von der Primärstudie unterscheidet. Meine epistemologischen Überlegungen gehen dabei von drei Aspekten der Dehierarchisierung des Wissens aus. Ausgehend von dem Konzept von Dirk Lange geht es mir nicht darum, die Lernendenvorstellungen als falsch oder defizitär zu begreifen, sondern sie zunächst als prinzipiell gleichwertiges, den Alltag der Lernenden ermöglichendes Wissen zu begreifen. Mit der Perspektive Inclusive Citizenship steht nicht mehr die Gegenüberstellung von Lernendenvorstellungen und fachwissenschaftlichen Vorstellungen an zentraler Stelle, sondern das Spannungsverhältnis von Act und Status bzw. mit Jacques Rancière von Politik und Polizei. Ausgehend von einem Begriff von decolonial heritage begreife ich mich als Forschenden selber als Teil des ‚Problems‘, versuche das Subjekt der Forschung als konstituierend und konstituiert durch das (de/koloniale) Erbe zu begreifen und mit dekolonialen Werkzeugen die irreduzible Daueraufgabe der Selbstreflexivität zu begründen.

Zur Beantwortung meiner Forschungsfrage, wie die Schüler_innen mit dem postkolonialen Erbe umgehen, ergibt sich daraus eine binäre Perspektive, wobei diese Binarität nicht als ontologisch, sondern vielmehr als fragile Heuristik begriffen werden muss. Die Denkweisen der Schüler_innen sind keine geschlossenen Ideologien; ich jage vielmehr „Spuren“ (Spivak 2008a) hinterher; Spuren, die nicht auf ein dahinter liegendes, geschlossenes Bedeutungssystem verweisen. Es geht mir dabei keinesfalls darum, die Schüler_innen in koloniale und dekoloniale aufzuteilen; es geht um die Vorstellungen oder die Spuren in ihren Denkweisen. So verkompliziert sich der Analyserahmen, der zunächst nach folgendem übersimplifizierenden, binären Code funktioniert: Erben die Schüler_innen koloniale oder dekoloniale Vorstellungen in ihrer Beschreibung gesellschaftlicher Zusammenhänge? Reproduzieren sie koloniale bzw. neokoloniale Vorstellungen oder verschieben, unterlaufen oder umgehen sie diese, stellen sie diese infrage, widersprechen sie ihnen, ‚dekolonisieren‘ sie sie? Dieser binäre Code zieht sich durch alle Kategorien meines Kategoriensystems. Im Rahmen der Explikation werde ich jede Kategorie zunächst überblicksartig darstellen, um dann in Fallanalysen zum einen detaillierter Argumentationen und Bilder untersuchen und zu illustrieren sowie zum anderen Verknüpfungen, Ambivalenzen oder Widersprüchen in den jeweiligen kolonialen oder dekolonialen Vorstellungen nachzuspüren. Die Binarität ist dementsprechend nicht als Widerspruch zu denken, sondern vielmehr als Spannungsverhältnis, dessen Ausbuchstabierung zentrales Ziel der Analyse ist. Spannungsverhältnisse und Ambivalenzen erscheinen insbesondere aus einer didaktischen Perspektive interessant, da diese als Ausgangspunkt für didaktische Irritationen von hegemonialen Denkweisen dienen können. Letztlich zielt die Analyse schließlich darauf, didaktische und bildungswissenschaftliche Perspektiven zu entwickeln, die dekoloniale Ansätze in der politischen Bildung unterstützen können.