1.1 Zur Notwendigkeit einer dekolonialen politischen Bildung

„Weil alle denken: ‚Heute ist alles wieder gut. Es gibt keine Sklaven. Es gibt keine Kolonien mehr. Es ist alles in Ordnung.‘ Aber eigentlich stimmt das ja nicht.“ (Lara, Gym18)

Lara ist eine der 44 Schüler_innen der 9. Klasse an Hauptschulen und Gymnasien, die ich interviewt habe. Ausgehend von diesen Interviews entwickele ich im Rahmen des hier vorliegenden Textes einen Ansatz, den ich dekoloniale politische Bildung nenne. Ich stimme dem zu, was Lara hier sagt. Dies ist ein zentraler Ausgangspunkt des Ansatzes: Heute ist nicht alles gut oder in Ordnung; der historische Kolonialismus in dieser spezifischen Form ist zwar Geschichte, doch die Gegenwart ist maßgeblich durch (a) globale Ungleichheit und die Ungerechtigkeit der internationalen Arbeitsteilung, (b) Grenzregime und (c) rassialisierte Differenzen strukturiert. (a) Lara artikuliert im Interview die als unaushaltbare Ungerechtigkeit empfundene Situation der globalen Ungleichheit und der internationalen Arbeitsteilung anhand von Kinderarbeit in Bangladesch. Kinder arbeiteten dort für „sehr, sehr wenig“ Geld, so dass es „meistens auch gar nicht fürs Leben“ reiche. Sie hätten „nicht so ein gutes Leben, wie wir hier“ und produzierten Waren „für uns“, „von denen sie nichts haben können“. Diese Situation sei aus Laras Sicht „fast schon wie Sklaverei“. (b) Lara thematisiert das Grenzregime und berichtet davon, dass Menschen aus dem Krieg oder Armut nach EUropaFootnote 1 fliehen und hier „meistens direkt wieder zurückgeschickt“ würden. Sie berichtet von einem Fall, in dem Geflüchtete nach einer Zeit „in ein Flugzeug gesteckt“ und „irgendwo mitten in Afrika in der Wüste oder so ausgesetzt [wurden], wo sie verhungert oder verdurstet sind“. (c) Lara erzählt von ihren Auseinandersetzungen mit der rassialisierten Differenz, gegen die sie ankämpfen muss, um als Schwarzes Mädchen ihren Traum realisieren zu können, Schriftstellerin zu werden. So würden alle von Schwarzen erwarten, dass sie im „Bereich Sport, Musik“ seien oder „singen“ sollten. Gleichzeitig sagt auch ihre Mutter ihr, dass sie „gerade weil sie nicht weiß“ sei – und damit „nicht komplett [als] deutsch“ gesehen würde, sollte sie einen „besseren“ oder „so richtig normal[en]“ Job annehmen, da man manchmal „halt bestimmte Jobs nicht“ kriege, „obwohl man qualifizierter ist als andere“. Lara hält aber dagegen und denkt, dass sie das „nicht machen“ muss, also ihre „Träume“ entgegen dieser Vorstellungen realisieren will, und „halt in dem Sinne die Welt beeinflusse“.

Laras Beschreibungen bestätigen sich als alles andere als realitätsfern, wie ein Blick auf Statistiken zeigt. Zahlen und Statistiken sind von der Aura umgeben, objektive, wertneutrale Wahrheiten zu präsentieren. Doch sie sind mit Vorsicht zu genießen. Die sozio-ökonomischen Analysen – auch der Weltbank – sind von fragwürdigen Setzungen und kolonialen Narrativen bestimmt, wie beispielsweise Timothy Mitchel anhand einer postkolonialen Analyse von Studien der Weltbank und USAID über die soziale und ökonomische Situation in Ägypten eindrucksvoll nachweist (Mitchel 2002: 209–243). In Bezug auf globale Ungleichheiten stellt sich darüber hinaus die Frage der Messbarkeit von Armut. In den Studien der Weltbank wird Armut über die Frage des Einkommens gemessen. In den lower-middle-income countries wird beispielsweise die Armutsgrenze bei 3,20 US$ am Tag und in upper-middle-income countries bei 5,50 US$ am Tag angesetzt. Doch die Frage der Armut lässt sich nicht allein in (fehlendem) Geld ausdrücken. Eine monetarisierte Sicht auf die Frage von Armut blendet Perspektiven aus, die das gute Leben (buen vivir) als wesentlich über commons oder Allmende, also nicht kapitalisierte Gemeingüter und Gemeinschaftlichkeit, bestimmt sieht, welche durch eine stetige „Finanzialisierung des Globus“ (Spivak 1999a: 171) zurückgedrängt werden und hart umkämpft sind. Nichtsdestotrotz können diese Statistiken eine Ahnung von der an Absurdität grenzenden gegenwärtigen Ungleichheit der Verteilung von Reichtum vermitteln. Den Berichten der Weltbank zufolge leben 3,4 Mrd. Menschen in Armut – also fast die Hälfte der Weltbevölkerung (World Bank 2018). Der allergrößte Teil dieser Armut ist im Globalen Süden lokalisiert. Laut einer Studie von Oxfam besitzen die 26 reichsten Menschen auf der Welt so viel wie die ärmsten 50 % der Weltbevölkerung (Oxfam 2019).

Die Brutalität des Grenzregimes mit Zahlen aufzuzeigen, hat einen faden Beigeschmack, denn jede quantifizierende Aussage entnennt dabei die gezählten Menschen ihrer Subjektivität und repräsentiert sie als Teil einer Masse, was sich in vielen Diskursen durch die Nutzung naturalisierender Metaphern, wie ‚Wellen‘ und ‚Strömen‘ der Migration, manifestiert und damit sowohl die politischen Umstände als auch die betroffenen Menschen dethematisiert. Nichtsdestotrotz dient sie dazu, sich das Ausmaß der Folgen der Politik des EUropäischen Grenzregimes zu veranschaulichen. Die EUropäische Außengrenze ist die mit Abstand tödlichste der Welt. Zwischen Januar 2014 und Oktober 2019 wurden UN-Angaben zufolge, allein im Mittelmeer 18 892 tote Geflüchtete registriert, die durch die Folgen der EUropäischen Migrationspolitik ihr Leben verloren haben (Pro Asyl 2020). Die Anzahl der nicht registrierten Fälle ist kaum abschätzbar.

Rassialisierte Differenzkonstruktionen sind struktureller Teil der deutschen Gesellschaft. Die rassistischen Morde der rechten Terrorzellen, wie etwa durch den NSU zwischen 2000 und 2007 oder durch einen Attentäter in Hanau 2020, oder durch die Polizei, so wie beispielsweise die Darstellungen durch Protestbewegungen, Familie und wissenschaftlichen Gutachter_innen im Fall des Todes von Oury Jalloh 2005 in einer Dessauer Polizeizelle einen rassistischen Mord und seine systematische Vertuschung durch die Behörden nahelegen (Initiative in Gedenken an Oury Jalloh 2020; Jakob 2019; Bruce-Jones 2017: 175), sind nur die Spitze des Eisbergs. Das rassistische Handeln der Ermittlungsbehörden und der Presse im Anschluss an die Morde des NSU, in denen die Familien der Opfer stigmatisiert und rassistischen Zuschreibungen ausgesetzt wurden (Karakayalı et al. 2017), verweisen darauf, dass Rassismus kein Problem der gesellschaftlichen Ränder darstellt, sondern als Strukturmerkmal dieser Gesellschaft verstanden werden muss. Dafür sprechen beispielsweise auch Statistiken zur Einstellungsforschung, aus denen ich hier einige als repräsentativ geltende Ergebnisse nenne. Laut der Leipziger Autoritarismus-Studie aus dem Jahr 2018 teilen rund 60 % der Befragten die Auffassung, Sinti und Roma neigten zur Kriminalität. 56 % stimmten der Aussage zu, sie hätten Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Gegend aufhalten (Decker/Brähler 2018: 103 f.). In einer von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014) herausgegebenen, repräsentativen Studie zeigte sich, dass 80 % der Befragten vorschlugen, den vermuteten Missbrauch von Sozialleistungen durch Sinti und Roma zu bekämpfen, 50 % meinten, die Einreise für Roma und Sinti sollte beschränkt werden. Die Mitte-Studie von 2019 attestierte rund 54 % der Befragten eine ablehnende Haltung gegenüber Asylsuchende (Zick/Küpper/Berghahn 2019: 79 ff.). Dem Religionsmonitor (2019) der Bertelsmann-Stiftung zufolge empfindet über die Hälfte der Befragten ‚den‘ Islam als Bedrohung, über 40 % hätten etwas dagegen, wenn ein_e Muslim_in in die Familie einheiraten würde (Pickel 2019: 13, 78 ff.).

Lara drückt in ihrem Interview eine Haltung aus, mit der die von ihr beschriebenen Zustände als ungerecht und unaushaltbar erscheinen. Sie macht auch deutlich, dass für lernende Subjekte der Gegenwart in Deutschland die Kolonialität ein die Lebenswelt massiv prägendes Strukturelement darstellt. Sie formuliert eine Dringlichkeit, die Verhältnisse zu verändern, Kolonialität infrage zu stellen und die Welt und das Denken zu dekolonisieren. Vor diesem Hintergrund sehe ich in Laras Vorstellungen eine dekoloniale Haltung. Der Begriff der Dekolonisierung verweist dabei nicht auf die Dekolonisation, sondern auf dekoloniale bzw. dekolonisierende Praxen in postkolonialen Kontexten: „Wenn Dekolonisation die formale Unabhängigkeit eines ehemalig kolonisierten Landes bedeutet, so zielt der Begriff der Dekolonisierung auf den andauernden Prozess der Befreiung von einer Herrschaft, die das Denken und Handeln bestimmt.“ (Castro Varela 2015) Die Gegenwart als durch Kolonialität strukturiert zu perspektivieren, bedeutet, die Entstehungsbedingungen dieser Gegenwart in imperialen und kolonialen Vergangenheiten zu suchen und die gegenwärtigen Formen dieser Verwerfungen nicht nur als Nachwehen oder Überbleibsel von Imperialismus und Kolonialismus zu suchen, die entweder teleologisch oder durch Aufklärung der ‚ewig Gestrigen‘ verschwinden werden, sondern die Ungleichheitsstrukturen der Gegenwart als zeitgenössische Formen kolonialer Ungleichheit und Differenz anzusehen.

1.2 De/Kolonialität als Forschungs- und Bildungsperspektive

„Die meisten merken vielleicht nicht, dass Geschichte wirklich passiert ist.“ (Lara, Gym18)

Der hier vorliegende Ansatz einer dekolonialen politischen Bildung zielt also nicht in erster Linie, wie einige vielleicht zunächst denken könnten, auf die historisch-politische Bildung in Bezug auf den historischen Kolonialismus, sondern vielmehr eine politische Bildung, die in die Kolonialität der Gegenwart interveniert bzw. ihr Rechnung trägt. Davon kann dann auch eine solche historisch-politische Bildung ein Teil unter anderen sein. Kolonialität verstehe ich als eine Form des Denkens, der Sprache oder Struktur der Wirklichkeit, denen koloniale Muster zugrunde liegen und die koloniale Differenzen oder Machtstrukturen beinhalten oder reproduzieren. Dekolonialität ist dagegen eine Praxis, die die Kolonialität untergräbt, infrage stellt oder herausfordert. Mit ‚postkolonial‘ bezeichne ich – dabei abweichend von vielen Ansätzen der postcolonial studies – die Situation nach dem Ende des formalen, historischen Kolonialismus, was natürlich eine bestimmte Deutung der Verhältnisse impliziert. Innerhalb dieser postkolonialen Situation schlüssele ich in meiner Analyse der Lernendenvorstellungen Deutungen der Gegenwart zunächst nach einem binären Schema auf: Schließen diese Deutungsmuster in den Vorstellungen der Subjekte an ein koloniales oder dekoloniales Erbe an? Natürlich stellt sich dabei heraus, dass es oft keine einfach Frage von Entweder-Oder, sondern vielmehr ambivalente und widersprüchliche Bezugnahmen und Perspektiven die Vorstellungen prägen. Nichtsdestotrotz erweist sich dieses binäre Schema als Ausgangsbasis der Analyse als sehr produktiv und ergiebig.

Der historische Kolonialismus, auf den ich hier referiere, meint denjenigen Kolonialismus, der Ende des 19. Jahrhunderts „achtzig Prozent der Erdoberfläche“ der Herrschaft der „einen oder anderen europäischen Macht“ (Chakrabarty 2010: 11) unterworfen hatte und eine Kontinuität zum heutigen Neokolonialismus und Imperialismus besitzt. Die heutige Situation, die ich als postkolonial perspektiviere und die insofern eine koloniale Kontinuität besitzt, ist dabei nicht durch den jeweiligen Kolonialismus eines Nationalstaats zu reduzieren. Madina Tlostanova und Walter Mignolo nutzen den Begriff der globalen Kolonialität zur Beschreibung der Machtverhältnisse, die in einer kolonialen Kontinuität zu ‚westlichen‘ imperialen Expansion stehen und nach dem offiziellen Ende der Kolonialreiche wirken (Tlostanova/Mignolo 2012: 7). Der historische Kolonialismus war ein (west-)europäisches Projekt, das die ökonomischen, sozialen, ‚kulturellen‘ und epistemischen Strukturen in den kolonisierenden Ländern ebenso stark – wenn auch auf radikal andere Weise – prägte, wie die der kolonisierten Länder (ebd.). Globale Kolonialität ist dabei auch wirkmächtig in Ländern, die formal nie kolonisiert wurden, wie etwa Thailand oder Äthiopien (Dhawan/Castro Varela 2009), oder selbst nie Kolonien besessen haben, wie etwa die Schweiz. Mit der Nutzung dieser Begrifflichkeiten – postkolonial als Situationsbeschreibung, die sowohl Kolonialität als auch Dekolonialität umfasst – schließe ich an Begrifflichkeiten der vor allem in Lateinamerika verorteten Ansätze der Dekolonialität auf und passe sie für meine Forschungsfrage an. Dies soll keine Abwendung von den postcolonial studies markieren, die für mich gleichermaßen theoretische Referenzpunkte darstellen, vielmehr boten sich diese Begriffe der Operationalisierung und Theoretisierung zur Fassung meiner Forschungsfrage an.

Aus post- oder dekolonialen Perspektiven erscheint das hegemoniale Verständnis von Globalisierung als Beschreibung gegenwärtiger Prozesse der weltweiten Vernetzung und Entgrenzung als problematisch. Der Mythos der Gleichsetzung von Dekolonisation und Dekolonisierung sorgt hier dafür, dass Machtstrukturen und Ungleichheit enthistorisiert, dethematisiert und depolitisiert werden. “It is, however, important to note that the term ‘globalization’ differs from the notion of ‘postcolonialism’ significantly, as the latter explicitly evokes the historical circumstances that created our globalized world in the first place.” (Bojadžijev 2013: 95) Ähnliches gilt für Begriffe wie Entgrenzung, die in Bezug auf Kapital und Warenverkehr zutreffen mögen, im Kontrast dazu aber nicht für Migrant_innen, wie die Goldenen Zitronen in Bezug auf die Gegenwärtigkeit der Grenzregime in ihrem Lied Turnschuh feststellen: „Über euer scheiß Mittelmeer käm’ ich, wenn ich ein Turnschuh wär. Oder als Flachbild-Scheiß – ich hätte wenigstens ein’ Preis.“ (2006) Beispielsweise Manuela Bojadžijev analysiert die EUropäische Migrationspolitik in ihrer Kontinuität zum Kolonialismus: “There is, after all, a strongly structural resemblance between the manner Europe treats its migrants today and the way colonial rule produced privileged citizenship and unprivileged subjects.” (Bojadžijev 2013: 98) Sowohl für die Vorstellung der ‚Globalität‘ als auch der ‚Entgrenzung‘ ist festzustellen, dass die als ‚Globalisierung‘ bezeichneten Prozesse keineswegs zu einer Abschaffung oder Abnahme der nationalstaatlichen Strukturierung führt, sondern Nationalstaaten zu Strukturmerkmalen der globalen Kolonialität gehören. Vor diesem Hintergrund plädiert Spivak dafür, nicht von transnationaler oder globaler, sondern eben von internationaler Arbeitsteilung zu sprechen. Eine dekoloniale Perspektive fokussiert also gleichzeitig auf die globale Dimension als auch auf die nationalstaatliche Strukturierung, die globaler Kolonialität nicht entgegensteht, sondern vielmehr als konstitutiv mit dieser verwoben erscheint:

“It seems to be exactly this post-colonial melancholia that spreads all over Europe today. In a time in which connections between the local and the global are more permeable than ever before, the local or the national are increasingly played off against the global rather than being used to reveal the nation as the result of historical power-relationships that are massively transformed today. Instead of putting the history of colonialism into parentheses, we should perhaps begin to put the history of nation states into parentheses.” (ebd.: 89)

Dekoloniale Perspektiven zielen darauf, sowohl den globalen Kapitalismus als auch die nationalstaatlichen und supranationalen Grenzregime und natio-ethnisch-kulturellen Zugehörigkeitsregime (Mecheril 2003) in ihrer kolonialen Kontinuität zu sehen, um so die Kolonialität der Gegenwart infrage zu stellen. Die genannten (liberalen) Konzepte können mit dem de- oder postkolonialen Konzept der sanktionierten Ignoranz („sanctioned ignorance“, Spivak 2012c: 175) gefasst werden, die als eine hegemonial gebilligte und Herrschaft legitimierende – sanktionierte – und koloniale Machtverhältnisse und eigene Verstricktheit der Privilegierten systematisch ausblendende Ignoranz verstanden werden kann. Dekolonialität markiert hingegen eine – keinesfalls nur akademische – Praxis, die die Kolonialität überhaupt erst als solche sichtbar und damit problematisierbar macht. Aus Sicht der Ansätze der Dekolonialität erscheint Kolonialität dabei als konstitutiv für das Projekt der Moderne selbst. Aus dieser Perspektive gibt es keine Moderne ohne Kolonialität: “Historically, coloniality names the darker side of modernity. Conceptually, coloniality is the hidden side of modernity. By writing modernity/coloniality, we mean that coloniality is constitutive of modernity and there is no modernity without coloniality.” (Tlostanova/Mignolo 2012: 8).

1.3 Das schwierige postkoloniale Erbe

„Im Bereich Geschichte zum Beispiel die Geschichte mit den Sklaven und so was in der Art halt. Die dunklen Seiten der Geschichte, sag’ ich mal. Also natürlich möchte man nicht an das Schlechte aus der Vergangenheit irgendwie erinnert werden. Aber ich finde, man sollte vielleicht ein bisschen was lernen dazu, um vielleicht ein bisschen anders zu denken.“ (Lara, Gym18)

Ich werde hier kurz zwei Aspekte skizzieren, in denen ich postkoloniales Erbe als schwieriges verstehe: (1) Zum einen ziele ich mit diesem Begriff auf eine Strategie der Dekolonisierung von hegemonialen Vorstellungen und Epistemen in der ‚Öffentlichkeit‘, Lernendenvorstellungen und dem akademischen Feld der Fachdidaktik der politischen Bildung, in dem ich verortet bin; (2) zum anderen ziele ich mit diesem Begriff auf die Problematisierung meiner eigenen Rolle als Forschender, der als mehrfach Privilegierter eine dekoloniale Perspektive stark zu machen versucht. (1) Der Begriff des schwierigen Erbes geht auf Sharon Macdonald zurück, den ich im Abschnitt Difficult Heritage (2.3.3.2) näher darstelle. Ein Erbe ist in diesem Sinne als schwierig anzusehen, wenn dieser Bezug zur Vergangenheit als bedeutsam für die Gegenwart angesehen wird und dieser Bezug gleichzeitig das positive, selbstaffirmierende Identitätsnarrativ infrage stellt. Im Anschluss an Lara können vor diesem Hintergrund die Sichtbarmachung „der dunklen Seiten der Geschichte“ als eine Strategie gesehen werden, die Kolonialität der Gegenwart herauszufordern und dekoloniale Praxen stark zu machen. Ein Erbe ist jedoch nicht einfach da; Erben entspringt nicht der Vergangenheit, sondern vielmehr einer Praxis in der Gegenwart, die sich durch eine diese konstruierende und aneignende Bezugnahme auf eine Vergangenheit auszeichnet.

Das erste Problem, das sich hier jedoch stellt, besteht darin, dass dieses Erbe im hegemonialen Diskurs gar nicht als bedeutsam angesehen wird. Astrid Messerschmidt fasst dies in Bezug auf die Erinnerungskultur in Deutschland folgendermaßen:

„In der Selbstwahrnehmung der bundesdeutschen Gesellschaft ist ein Geschichtsbild jenseits eines kolonialen Herrschaftszusammenhangs verankert. Hinsichtlich des NS findet eine zeitliche Verlagerung statt – man hat es hinter sich – hinsichtlich des Kolonialismus kommt es zu einer territorialen Verlagerung – das ist ein Problem anderer Teile der Welt. Diese kollektive, den Kolonialismus relativierende Amnesie erklärt die eigene Kolonialgeschichte insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent für unbedeutend.“ (Messerschmidt 2008: 44 f)

Andreas Eckert und Albert Wirz fassen die erinnerungspolitisch vorherrschende Haltung gegenüber dem deutschen Kolonialismus mit dem paradoxen Aphorismus „Wir nicht, die Anderen auch“ (Eckert/Wirz 2002: 372), womit sie auf die weit verbreiteten Abwehrmechanismen zielen, die post- und dekoloniale Perspektiven mit einem Verweis auf das vermeintlich zeitliche und räumliche geringere Ausmaß des deutschen Kolonialismus im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialreichen dethematisieren.

Angesichts der Geschichte des formalen Kolonialreichs, das zwischen 1871 und 1918 unter anderem die Kolonien Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika, Kiautschou, Deutsch-Neuguinea und die Deutschen Samoa-Inseln und damit in Bezug auf die Fläche und die kolonisierten Bevölkerungen zu den größten Kolonialreichen der Welt gehörte, erscheinen die Abwehrmechanismen als unhaltbar bzw. absurd. Noch unhaltbarer wird es, wenn – wie inzwischen in der einschlägigen Forschung anerkannt – ein Kolonialismusverständnis zugrunde gelegt wird, das über das formale Verständnis des Kolonialreichs auch andere koloniale Herrschaftsformen miteinbezieht. Darüber hinaus muss der Kolonialismus als ein inter- und transnationales Projekt West- und Teilen Mitteleuropas begriffen werden, in dem die verschiedenen Kolonialmächte zwar um die Vorherrschaft konkurrierten, diese jedoch letztlich oft international agierten. Ein Beispiel dafür wäre Ruanda, wo mindestens die Kolonialmächte Deutschland, Belgien, Frankreich und die USA als zentrale koloniale Akteur_innen (inter-)agierten. Dies gilt aber umso mehr für die Frage, wie die kolonisierenden Nationen durch den Kolonialismus geprägt wurden. Post- und dekoloniale Studien haben deutlich gemacht, dass die deutsche Gesellschaft eine postkoloniale ist, in der zentrale Strukturmerkmale durch die Geschichte des Kolonialismus und die daraus resultierende Kolonialität gekennzeichnet sind. Diesen Fragen gehe ich im Abschnitt Geteilte Geschichten in einer postkolonialen Welt (4.2.1) ausführlicher nach.

Die Herausforderung besteht vor diesem Hintergrund in Sinne meines Begriffs des schwierigen Erbes darin, dass das postkoloniale Erbe in Deutschland gesamtgesellschaftlich gesehen noch nicht schwierig ist bzw. durch die Kämpfe zahlreicher Initiativen erst angefangen hat, schwierig zu werden. Die Schwierigkeit besteht also darin, dass es bisher nicht schwierig (genug) ist. Es geht darum, die Geschichten von Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus zu einem schwierigen Erbe werden zu lassen, durch das die Kolonialität der Gegenwart infrage gestellt werden kann. Dekoloniale politische Bildung ist dabei nicht auf die Erinnerungspolitik beschränkt. Sie zielt gleichermaßen auf die Anerkennung des postkolonialen Erbes, auf eine Transformation der durch Kolonialismus und Imperialismus hervorgebrachten Kolonialität der Gegenwart und nährt sich von der Hoffnung auf eine nicht oder zumindest nicht in diesem Maße kolonial strukturierte Zukunft.

(2) Ich verwende den Begriff des schwierigen Erbes aber noch für ein zweites Moment. Während das gerade beschriebene Moment darauf zielte, die gesellschaftspolitischen Ziele und die damit in Verbindung stehenden Ziele von dekolonialer Bildung zu umschreiben, zielt das zweite Moment auf die Theoretisierung einer selbstreflexiven Praxis. Wie bestimmt sich, was dekolonial und was kolonial ist? Und auf welcher Grundlage komme ich zur Operationalisierung im Rahmen meiner Auseinandersetzungen? Indem ich den Begriff des dekolonialen Erbes einführe (2.3.3), kann ich mich selber als Erbenden begreifen, der sein Erbe selber konstruiert und gleichzeitig durch es als Subjekt konstituiert wird. Damit trage ich dem Problem Rechnung, dass das Feld de- und postkolonialer Ansätze in einem hohen Maß durch Heterogenität gekennzeichnet ist und nicht beansprucht, ein geschlossenes Theoriegebäude darzustellen. Es ergibt sich also nicht von selbst, was kolonial und was dekolonial ist; ich muss dies kontextualisieren, konstruieren und mir als ein Erbe aneignen. Dabei bestimme ich auch darüber, von wem ich erbe, wen und was ich also als Teil einer dekolonialen Genealogie einschließe und wen oder was nicht. Dies ist ein problematischer und machtvoller Prozess, insbesondere vor dem Hintergrund meiner eigenen Positionierung. Mit einem an Derrida anknüpfenden Verständnis von Erbe (2.3.3.3) kann ich das Verhältnis von mir zum Erbe auf eine Weise theoretisieren, die mir den Raum eröffnet, Fragen an diesen Prozess des Erbens zu stellen. Dabei ist dieser Prozess der Konstruktion eines dekolonialen Erbes nicht einfach meine Auseinandersetzung mit den theoretischen Auseinandersetzungen, sondern stellt sich in der Auseinandersetzung mit den Schüler_innenvorstellungen her, die ich in einem induktiv-deduktiven Prozess analysiert habe und die damit auch Teil des von mir konstruierten Erbes sind.

1.4 Wer spricht? Und wer hört?

Indem ich dekoloniale Perspektiven konzipiere, knüpfe ich an Bewegungen, Initiativen, Alltagskämpfe und akademische Diskurse durch unzählige und unzählbare Subjekte an, die auch in Deutschland seit Jahren und Jahrzehnten für eine Dekolonisierung gekämpft haben. Dies ist in einem gesellschaftspolitischen Sinne, aber auch in Bezug auf mein persönliches und politisches soziales Umfeld zutreffend. Die zahlreichen Auseinandersetzungen – zum Teil im Einvernehmen, zum Teil auferzwungenermaßen – haben mir eine solche Perspektive und die (punktuelle) Infragestellung kolonialer Denkmuster überhaupt erst ermöglicht. Ich profitiere damit von diesem Wissen. Diese Kämpfe wurden nicht nur, aber maßgeblich von Migrant_innen, Schwarzen Menschen und People of Color ausgetragen, die bereits dafür gesorgt haben, dass die Dethematisierung und die den Kolonialismus relativierende Amnesie Risse bekommen hat. Sie haben auch maßgeblich die Grundlagen für dekoloniale Perspektiven geschaffen, auf denen meine Gedanken und dieser Text aufbauen. In Bezug auf Deutschland ist häufig – zu Recht – kritisiert worden, dass de- und postkoloniale Perspektiven oft von Nicht-Weißen entwickelt wurden, sie aber erst durch die Aneignung und Re-Artikulation durch weiße Akademiker_innen Anerkennung fanden. Welche Rolle spiele ich als mehrfach Privilegierter – als weiß, sozial abgesichert, cis-männlich positioniert – vor diesem Hintergrund als Konstrukteur eines dekolonialen Erbes? Nutze ich dieses Erbe, um mich im akademischen Feld zu profilieren, mir eine Position der moralischen Überlegenheit oder Distinktion zu schaffen oder setze ich es ein, um zum Projekt der Dekolonisierung – aus einer weiß verorteten Perspektive – beizutragen? Auch wenn diese Frage vielleicht nicht in der Logik von Entweder-Oder beantwortet werden muss, besteht mein Anspruch jedenfalls darin, mit diesem Text zum Projekt der Dekolonisierung beizutragen und die bestehenden Ansätze, auf denen ich aufbaue, zu bereichern oder mich an ihrer weiteren Fundierung im universitären Bereich zu beteiligen.

Dabei bin ich aber der Auffassung, dass es gerade auch vor dem Hintergrund meiner Positionierung meine Verantwortung ist, meine Ressourcen zu nutzen, um dekoloniale Perspektiven zu stärken. Das prekäre Verhältnis des Erbes endet dabei nicht mit der Fertigstellung dieses Textes – der Prozess des Verlernens von Privilegien ist niemals abgeschlossen (4.2.4). Meine soziale Position im vermachteten gesellschaftlichen Feld determiniert zwar nicht meine politische Positionierung, dennoch ist meine Positionierung und Perspektive nicht von meiner Position zu trennen (2.3.3.5). Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, was die Rolle einer weiß positionierten Perspektive in dekolonialen Bildungsperspektiven sein kann und sollte. In Bezug auf meinen Text kommt noch hinzu, dass ich mich in die Position bringe, Konturen für eine dekoloniale politische Bildung vorzuschlagen. Hier könnte der – aus meiner Sicht nachvollziehbare – Einwand erhoben werden, dass dies auf politischer und epistemischer Ebene problematisch und insofern eine Aneignung dekolonialer Perspektiven durch mich als weiß positionierten Menschen anmaßend ist.

Beispielsweise Grada Kilomba versteht unter Dekolonisierung „the undoing of colonialism“ und bezieht sich damit auf eine Befreiung der durch den Kolonialismus Inferiorisierten. Sie schreibt beispielsweise: „Politically, the term describes the achievement of autonomy by those who have been colonized and therefore involves the realization of both independence and self-determination.“ (Kilomba 2008: 138) In ihrer Perspektive sind die Subjekte von dekolonisierenden Prozessen per Definition Nicht-Weiße. Vor dem Hintergrund der kolonialen und rassistischen Strategien der Ent-Menschlichung und Veranderung von Nicht-Weißen erscheint mir eine solche Perspektive, in der Schwarze, People of Color oder migrantisierte Menschen sich zu Subjekten ihrer Befreiung machen, als absolut nachvollziehbar und notwendig. Als weiß positionierter Mensch stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wenn denn von diesen Initiativen gewünscht, wie Allianzen denkbar sind und auf welche Weise diese Prozesse unterstützt werden könnten, beispielsweise durch die Bereitstellung von Ressourcen oder indem die Ignoranz gegenüber den – in Bezug auf den Text von Kilomba – Schwarzen Stimmen und Perspektiven aktiv auch durch Weiße infrage gestellt und problematisiert wird. Darüber hinaus könnte weiß positionierte Handlungsmacht in einem solchen Feld darin bestehen, selbst zuhören zu lernen und ausgehend davon einen Prozess zu beginnen, die eigene Verstricktheit in koloniale Zusammenhänge reflektieren zu lernen.

Ich möchte aber noch einen weiteren Schritt vorschlagen, der an die genannten Überlegungen anschließt. Ich möchte vorschlagen, Dekolonialität als eine Perspektive zu formulieren, an der prinzipiell alle teilhaben können, wenn auch nicht alle auf dieselbe Weise. Aus meiner Perspektive als weiß positioniertem Akademiker und Aktivist erscheint es nötig, das eigene Streben nach einem guten Leben und befreiender Politik als unauflöslich mit einem dekolonialen Imaginären, einer utopischen Hoffnung auf eine weniger und nicht auf diese Weise kolonial strukturierten Welt, verbunden zu sehen. Diese Idee ist von der Hoffnung getragen, dass es möglich ist, einen nicht abschließbaren Bildungsprozess zu realisieren, mit dem ich – um es mit Spivak zu sagen – lernen kann, die eigenen Privilegien als Verlust zu verlernen (4.2.4). Hier geht es nicht darum, die ungleichen Positionierungen zu dethematisieren. Die unterschiedlichen Perspektiven müssen ihren Raum in den Auseinandersetzungen haben. Es geht auch nicht darum, die Selbstorganisierungs- und Empowermentprozesse nicht-weißer Communities zugunsten einer gemeinsamen, die Unterschiede verdeckenden Perspektive infrage zu stellen, auflösen oder disqualifizieren zu wollen. In Bezug auf Bildungsprozesse erscheint mir beispielsweise – je nach Kontext – die Herstellung von getrennten Bildungsräumen als wichtiges methodisches Werkzeug, sodass diese den Subjekten gerecht werden können.

Es geht aber in meinem Vorschlag darum, auch weiß positionierte Menschen als mögliche Subjekte von Dekolonisierungsprozessen anzusehen. Zu Bedenken ist dabei auch, dass die Frage von Privilegiertheit in Bezug auf Kolonialität sich nicht auf die Frage der Rassialisierung beschränkt und eine Position der rassialisierten Deprivilegierung zwar für eine Sensibilisierung für dekoloniale Perspektiven privilegiert, aber nicht automatisch zu einer solchen führt (2.3.3.5). Ich gehe im Folgenden trotzdem der Frage der rassialisierten Differenz nach. Dabei enthebt mich als weiß positioniertem Mensch eine Positionierung gegen koloniale Strukturen oder gegen ein Zugehörigkeitsregime, das überhaupt erst weiße und nicht-weiße Positionierungen hervorbringt, nicht der Verantwortung, die eigene Involviertheit und Verstrickung in koloniale Machtverhältnisse zu reflektieren, die durch eine solche Positionierung eben nicht einfach verschwinden.

Eine weiß positionierte Haltung der Dekolonialität könnte so – für mich gesprochen – beispielsweise zwischen den Polen einer selbstreflexiven, vielleicht auch schambesetzten, sich zurücknehmenden, zuhörenden, lernenden Haltung und einer die kolonialen Verhältnisse als unaushaltbar, interventionistischen, solidarischen Haltung oszillieren. Zentral ist dabei das Verhältnis zu den potenziellen Alliierten zu reflektieren bzw. vielmehr sich selbst als weiß positionierter Mensch als Verbündeter verstehen zu lernen, sensibel für die Grenzen und Bedürfnisse dieser zu sein und vor allem in einem Dialog zu sein, der berücksichtigt, dass sich ein Verhältnis auf Augenhöhe nicht einfach durch deren Behauptung herstellt. Das weiße Begehren, Teil eines Prozesses der Dekolonisierung zu sein, das auch meinem Vorschlag zugrunde liegt, erscheint mir dabei auch als problematisch. Dies kann als Versuch verstanden werden, sich die Positionen von People of Color anzueignen oder die Kontrolle nicht abgeben, sondern vielmehr behalten zu wollen. Auch wenn dies absolut nicht mein Ziel ist, müssen diese Fragen eine Praxis weiß positionierter Menschen durchgehend begleiten.

Die Benennung und Reflexion unterschiedlicher Subjektpositionen erscheint mir vor diesem Hintergrund unbedingt nötig. Gleichzeitig läuft eine Praxis, die die Position mit der Positionierung gleichsetzt, Gefahr, einen statischen und deterministischen Begriff von Gesellschaft zu vertreten, die Differenzkategorien zu verabsolutieren und damit das Politische im Sinne von Rancière zu verunmöglichen (2.3.2; 2.3.3.5). Das Politische in diesem Sinne entsteht genau dann, wenn sich Menschen durch die Infragestellung der ihnen zugewiesenen Plätze und den Streit über die (Nicht-)Zugehörigkeit subjektivieren und die herrschende Ordnung damit herausfordern. Ein solcher Prozess der Subjektivierung des Streits muss nicht auch Weiße umfassen, aber es würde möglicherweise, je nach Kontext, den Wirkungsgrad dekolonialer Interventionen und Praxen erhöhen. Dabei muss eine solche Praxis aus meiner Sicht der Möglichkeit der Unmöglichkeit einer Aufhebung der Differenz und damit einer Begegnung auf Augenhöhe Rechnung tragen und gleichzeitig genau dieses Ziel anstreben.

Mit meinem Vorschlag versuche ich eine Position einzunehmen, die versucht dem Spannungsfeld Rechnung zu tragen, das sich in meiner Wahrnehmung seit Jahren in die bewegungspolitischen und akademischen Debatten einschreibt. Zur Veranschaulichung beschreibe ich die beiden Pole des Spannungsverhältnisses anhand der zwei exemplarischen Positionen von Critical Whiteness und Kämpfen der Migration. Die Vertreter_innen der Kämpfe der Migration hatten beispielsweise im Anschluss an das NoBorder Camp in Köln 2012 die Kritik formuliert, dass eine bestimmte Praxis von Critical Whiteness zu einer Entpolitisierung und zu einer Zementierung der rassialisierenden Differenzkonstruktionen führe. Anders herum wurde kritisiert, dass eine Ausblendung der unterschiedlichen Subjektpositionen Machtverhältnisse verschleiere und dethematisiere (2.3.3.5). Ich versuche mich in den von mir gemachten Vorschlägen für dekoloniale politische Bildung nicht auf eine der beiden Seiten zu stellen, sondern vielmehr dieses Spannungsverhältnis selbst mit in meine Überlegungen und Vorschläge einzubeziehen. Dies ist ein streitbarer Vorschlag, über dessen Diskussion ich mich freue.

1.5 Dekolonisierung der Fachdidaktik der politischen Bildung?

“The task at hand is to decolonize our disciplinary and pedagogical practices. The crucial question is how we teach about the West and its Others so that education becomes the practice of liberation.” (Mohanty 1990: 191)

Mein Ansatz zielt darauf, dekoloniale Perspektiven im Feld der Fachdidaktik der politischen Bildung im deutschsprachigen Raum zu stärken. Post- und dekolonialen Perspektiven wird häufig unterstellt, eine Modeerscheinung zu sein, die chic ist und sich als akademisches Profilierungsfeld eignet. Julian Go antwortet auf diese Unterstellung in Bezug auf die Soziologie folgendermaßen: „In short, Jacoby’s (1995) claim that the term ‘postcolonial’ had become ‘the latest catchall term to dazzle the academic mind’ cannot be said to apply to sociology.“ (zitiert nach Go 2013: 25) Das gleiche könnte ich für die Fachdidaktik der politischen Bildung in Deutschland sagen, in der ich meine Forschung primär verorte. Hier findet eine Bezugnahme auf dekoloniale Perspektiven – geschweige denn ein Trend – bisher kaum statt. Eine solche Aussage impliziert auch die – problematische – Festschreibung dessen, wer als zugehörig zu diesem Feld begriffen wird und wer nicht. Ich beziehe mich hier auf die von mir wahrgenommenen Sichtbarkeiten in diesem Feld. Über den engen Rahmen der Fachdidaktik hinaus gibt es zahlreiche Akademiker_innen, Initiativen, Vereine, Institute und Bewegungen, die dekoloniale politische Bildung konzipieren und durchführen, auch wenn sie nicht immer unter dem Label der politischen Bildung auftritt. Auf viele dieser Akteure werde ich im vierten Kapitel zurückkommen. Diese werden aber von der Fachdidaktik in der Regel nicht als Teil ihrer Disziplin angesehen.

Innerhalb des Feldes im Sinne eines engen Verständnisses der Fachdidaktik der politischen Bildung sind dekoloniale Perspektiven meiner Wahrnehmung nach bisher kaum angekommen. Eine der wenigen explizit dekolonialen Arbeiten in diesem Feld bezieht sich auf die Entwicklung von Ansätzen dekolonialer politischer Bildung in ehemals kolonisierten Ländern Afrikas, die sehr inspirierend, aber mit ganz anderen Fragestellungen und Problemen konfrontiert ist, als meine Forschung (Barongo-Muweke 2016). Rassismuskritische Perspektiven und damit verbunden auch migrationspolitische Bildung (4.1.2) und die Ansätze von Global Citizenship Education (4.1.1) im Diskursfeld der Fachdidaktik der Politischen Bildung haben begonnen in diesem Feld stärker rezipiert und angeeignet zu werden. Rassismuskritische Perspektiven sehe ich als Teil einer dekolonialen Perspektive an, die möglicherweise durch dekoloniale Perspektiven in Bezug auf die Dimension der globalen Ungleichheit und der internationalen Arbeitsteilung bereichert werden könnten. Neben den außerdisziplinären dekolonialen Ansätzen sehe ich dies als Ausgangspunkte an, eine explizit dekoloniale Perspektive für die Fachdidaktik der politischen Bildung zu erarbeiten.

Innerhalb des Feldes der Global Citizenship Education gibt es bereits zahlreiche Stimmen, die darauf zielen, die Ansätze zu dekolonisieren. Karen Pashby (2012) problematisiert die Verstricktheit und die Machtvergessenheit vieler Ansätze der Global Citizenship Education. Sie kritisiert dabei sowohl den Begriff des Globalen als Ausblendung kolonialer Machtverhältnisse, den Begriff von selbst koloniale Zugehörigkeitsregime institutionalisierende Citizenship und die Verstricktheit von Bildung in der Herstellung kolonialer Differenz. Sie plädiert dafür, dekoloniale Perspektiven zu einem zentralen Ausgangspunkt für Global Citizenship Education zu machen, und stellt dafür die Notwendigkeit heraus, die Verstrickung der eigenen Perspektiven mit der Kolonialität kontinuierlich zu hinterfragen. “In what ways could GCE, in its […] agenda for global awareness, be complicit with a ‘new imperialism’ that, without a careful interrogation of its good intentions, may actually reassert western domination?” (Pashby 2012: 14) Auch in Deutschland wurden ähnliche Ansätze aus dekolonialen Perspektiven kritisiert, insbesondere die Ansätze des Globalen Lernens und der Bildung für nachhaltige Entwicklung (4.1.1; Bönkost/Apraku 2015: 29; Danielzik 2013). Dies ließe sich auch auf das Feld der Fachdisziplin der politischen Bildung übertragen. In diesem Sinne erscheint es nicht als ausreichend, dekoloniale Perspektiven als ein Spezialthema in der Fachdisziplin zu verorten. Es wäre vielmehr notwendig, diese Disziplin zu dekolonisieren bzw. dekoloniale Perspektiven darin zu stärken. Aus einer solchen Perspektive erscheint es mir zielführend, die Geschichte von Bildung, ihren Institutionen und didaktischen Disziplinen in ihrer mit der Kolonialität verstrickten Geschichte aufzuarbeiten (Baker 2012; Castro Varela 2018), was aber den Rahmen meines Textes übersteigen würde.

Karen Pashby führt in Bezug auf Global Citizenship Education mindestens zwei Punkte an, die sie für eine Dekolonisierung der Disziplin für relevant erachtet: (1) Eine Transformation der Bildungspraxen und -inhalte: “The task at hand is to decolonize our disciplinary and pedagogical practices. The crucial question is how we teach about the West and its Others so that education becomes the practice of liberation.” (Mohanty 1990: 191) Dies ist die Kernfrage der Didaktik, der ich den Großteil des vierten Kapitels widme. (2) Eine machtkritische Auseinandersetzung mit der institutionellen Ebene – wer lehrt was für wen?: “Fundamentally, GCE theory must take up explicitly the question of ‘for whom’ is global citizenship and ‘by whom’ will its pedagogy and concepts be determined in order to make overt its positioning within the geopolitical power relations defining the new imperialism.” (Pashby 2012: 22) Dies gilt in gleicher Weise für mich und meine Forschung. Dafür bedarf es der Entwicklung einer die eigene Verstrickung in die kolonialen Asymmetrien anerkennende, selbstreflexive Praxis, sowohl in Bezug auf die Subjekte als auch auf die Bildungstraditionen, in denen wir arbeiten. Ziel einer Dekolonisierung der Fachdidaktik der politischen Bildung müsste aus meiner Sicht beispielsweise darauf zielen, eine dekoloniale Verschiebung der Curricula, der Ausbildung von angehenden Lehrkräften, der Weiterbildung von praktizierenden Lehrkräften, der Konzeption von Lernmaterialien, der Entwicklung von didaktischen Methoden und insgesamt einen epistemischen Wandel im disziplinären Selbstverständnis zu erreichen. Ein solches Programm ist aber nicht Bestandteil meines Textes. Eine solche Verschiebung der Episteme muss Teil eines demokratischen und dialogischen Prozesses sein, an dem maßgeblich auch auf Dekolonialität zielende Selbstorganisationen teilhaben. Ein konkretisierendes Programm einer solchen Verschiebung als Resultat meiner Forschung zu sehen, wäre aus meiner Sicht unumstritten anmaßend.

1.6 Ziele und Fragestellung

Ausgangs- und Zielpunkt meiner Forschung stellt also kein abgeschlossenes Konzept einer dekolonialen Bildung dar. Meine Forschung zielt vielmehr darauf, Vorstellungen von Schüler_innen aus einer dekolonialen Perspektive zu Kokonstruieren. Diese setze ich mit bestehenden dekolonialen Perspektiven in Beziehung. Ausgehend von den Schüler_innenvorstellungen werde ich Impulse und Hinweise für eine dekoloniale Verschiebung der Konzepte und Selbstverständnisse der Fachdidaktik der politischen Bildung entwickeln. Mein Ansatz zielt dabei darauf, zu der Entwicklung dekolonialer politischen Bildung beizutragen, also sowohl bestehende Ansätze durch die hier vorliegenden Ausarbeitungen zu unterstützen als auch an diese anschließend Konturen einer eigenständigen Perspektive dekolonialer politischer Bildung (weiter)zuentwickeln. Ich gehe dabei von einem Verständnis von Didaktik aus, das sich nicht als Vermittlungskunst versteht, also das vorgeblich nicht oder mangelhafte Wissen der lernenden Subjekte durch das richtige fachwissenschaftliche ersetzen will. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Lernenden über Vorstellungen verfügen, die es ihnen erlauben, sich – zumindest in einem gewissen Sinne – erfolgreich in den gesellschaftlichen – in diesem Falle vor allem globalisierten und migrationsgesellschaftlichen – Verhältnissen zu bewegen, zu orientieren, zu positionieren und zu handeln. Die Vorstellungen der Lernenden werden mit einem solchen Verständnis zum Ausgangs- und Zielpunkt didaktischer Reflexion und Praxis. Dabei kann sich in der Analyse herausstellen, dass einige dieser Vorstellungen problematisiert oder irritiert werden sollten, während andere als Anknüpfungspunkt dienen können, von denen auch die didaktischen Diskurse lernen können und sollten (2.3.1; Lange 2008). Wenn ich also im Folgenden von Lernenden schreibe und damit die Schüler_innen meine, impliziert das nicht, dass es ihnen entgegengesetzt Lehrende gäbe, die keine Lernenden sind.

Vor diesem Hintergrund kann das Anliegen auf zwei Forschungsfragen reduziert werden: Wie gehen Lernende – also die befragten Schüler_innen – mit dem postkolonialen Erbe um? Welche Konsequenzen leiten sich daraus für eine dekolonial orientierte politische Bildung ab? Die Analyse des postkolonialen Erbes operationalisiere ich dafür zunächst nach einem binären Code, der quer zu den entwickelten Kategorien liegt. Ich frage danach, ob die subjektiven Sinnbildungen als kolonial oder dekolonial zu klassifizieren sind: Erben die Schüler_innen koloniale oder dekoloniale Vorstellungen in ihren sich und die Welt beschreibenden Vorstellungen? Reproduzieren sie koloniale bzw. neokoloniale Vorstellungen oder verschieben, unterlaufen oder umgehen sie diese, stellen sie diese infrage, widersprechen sie ihnen, ‚dekolonisieren‘ sie sie? Für die Didaktik schließen sich die folgenden, daraus abgeleiteten Fragen an: Welche Vorstellungen erscheint also aus der Perspektive einer dekolonialen Didaktik als problematisch, die es zu irritieren gilt? Beziehungsweise, von welchen Vorstellungen kann eine dekoloniale Didaktik lernen, wie sich Dekolonialität als Bildung realisieren kann, sowohl auf analytischer, programmatischer als auch auf praktisch-didaktischer Ebene? Dieser binäre Code ist dabei offensichtlich übersimplifizierend und keinesfalls ausreichend, um eine differenzierte Analyse zu gewährleisten. Nichtsdestotrotz bietet er eine für meine Analyse produktive Orientierung, von der ausgehend ich dann den widersprüchlichen, ambivalenten und komplexen Argumentationen und Narrativen der Schüler_innen folge.

Durch die von mir mittels der qualitativen Inhaltsanalyse untersuchten 44 Interviews mit Schüler_innen der 9. Klasse an verschiedenen Hauptschulen und Gymnasien bekomme ich Einblicke in die Vorstellungen. Die ist die Grundlage dafür, empirisch fundierte und von den Lernendenvorstellungen ausgehende Vorschläge zu erarbeiten, wie dekoloniale politische Bildung ausgestaltet werden könnte. Das empirische Ziel ist also eine Analyse von Lernendenvorstellungen aus einer dekolonialen Perspektive. Das didaktische Ziel würde ich als die Entwicklung einer möglichen Kontur einer möglichen Programmatik für eine dekoloniale politische Bildung bezeichnen bzw. einen empirisch fundierten Diskussionsbeitrag zu einer solchen Programmatik.

1.7 Struktur des Textes: Eine Gebrauchsanleitung zum Lesen

Vor dem Hintergrund des Volumens und der vielfältigen unterschiedlichen von mir verfolgten Spuren, kann ich nur allen Lesenden empfehlen, die keine Zeit oder Geduld haben, den ganzen hier vorliegenden Text zu lesen, einfach das herauszupicken, was sie für ihre (dekoloniale) Praxis oder Theorie brauchen. Nichtsdestotrotz werde ich im Folgenden etwas Werbung für den roten Faden des Gesamttextes und für die jeweiligen Abschnitte machen. Möglicherweise kann sich ein_e Praktiker_in der politischen Bildung – ob in der Schule oder außerhalb davon – im zweiten Kapitel langweilen, in dem ich verschiedene methodische und epistemische Probleme diskutiere, deren Diskussion mir als notwendige Voraussetzung oder zumindest als geboten erscheinen, um die empirische Analyse durchzuführen. Gleichzeitig verhandele ich dort aber auch epistemische Fragen, die sich als irreduzibel verbunden mit Fragen des Verständnisses von Bildung und Didaktik erweisen. Anhand von drei Referenzrahmen – politikdidaktische Vorstellungsforschung (2.3.1), Inclusive Citizenship Education (2.3.2) und decolonial heritage (2.3.3) – diskutiere ich das didaktische und epistemische Verhältnis von Wissen und den Subjekten des Wissens. Diese drei Formen der Dehierarchisierung des Wissens (2.3) reflektieren auf Bildungsverhältnisse und damit gleichzeitig auf die Frage des Verhältnisses von Forschenden zu Beforschten. Hier liegt auch die Vorstellung zugrunde, dass Didaktik nicht als eine Vermittlung von ‚richtigem‘, fachwissenschaftlichem Wissen an als unwissend imaginierte Lernende verstanden wird, sondern vielmehr die sowohl didaktische als auch epistemische Hierarchie abgebaut wird. Es sind die daraus resultierenden Fragestellungen, die ich in diesem Abschnitt anhand der Ansätze von Inclusive Citizenship und decolonial heritage – in der die Perspektive der Critical Heritage Studies und dekolonialer Theorien zusammenkommen – diskutiere.

Darüber hinaus enthält das Kapitel – gerahmt von den methodischen Erläuterungen zur Adaption der qualitativen Inhaltsanalyse (2.2) oder der Darstellung des Verhältnisses der hier vorliegenden Sekundärstudie zur Primärstudie (2.1) – auch für die politische Bildungspraxis relevante Aspekte. In der Reflexion der Erhebungssituation, also der Durchführung der Interviews, konnte ich aus meiner Sicht wichtige Aspekte beobachten, wie Subjekte und Wissen bereits durch die Institution Schule durch die koloniale Differenz geprägt werden (2.1.2). Die Ausführlichkeit einiger Unterpunkte des zweiten Kapitels ist mit Sicherheit der Tatsache geschuldet, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema bei mir immer wieder Gefühle der Verunsicherung hervorbringt. Diese Verunsicherung versuche ich beispielsweise als ein Spannungsverhältnis zwischen meiner Subjektposition und meiner Subjektpositionierung zu fassen (2.2.3.5). Zum einen bin ich durch meine Subjektposition verhältnismäßig privilegiert – sowohl im globalen als auch im nationalen Kontext; in Bezug auf Gender, sexuelle Ausrichtung, Behinderung, Bildungschancen und in diesem Zusammenhang möglicherweise besonders relevant Nationalität, Verortung in der internationalen Arbeitsteilung und Zuschreibung in der rassifizierenden Ordnung. Dies steht nicht in einem Widerspruch, aber doch öfter in einem komplexen Verhältnis zu meiner Subjektpositionierung, die durch das Begehren getragen wird, zu Prozessen der Dekolonisierung beizutragen. Dieses Verhältnis ist für mich schwer zu fassen, was mich dazu treibt, es an verschiedensten Stellen meines Textes wiederaufzugreifen – auch um meinem Anspruch einer selbstreflexiven Praxis nachzukommen.

Im dritten Kapitel stelle ich die Ergebnisse meiner Analyse der Lernendenvorstellungen vor. Die Kapitel entsprechen dabei jeweils einer Kategorie der qualitativen Inhaltsanalyse. Zum Beginn jedes Kapitels der drei Hauptkategorien Eurozentrismus (3.2), Selfing/Othering (3.3) und Agency/Subalternität (3.4) skizziere ich kurz die theoretischen Bezüge, die meinem Verständnis der Kategorie zugrunde liegen. Jede Unterkategorie beziehungsweise Kategorie der zweiten Ebene wird mit der Definition und der Kodierregel der Kategorie sowie einem Überblick über die Ergebnisse eingeleitet. Daran schließt sich eine ausführlichere Darstellung von Fällen an. Diese Fälle sind keine Darstellungen eines ganzen Interviews, sondern stellen die Vorstellungen einzelner Lernender in Bezug auf diese Kategorie dar und rahmen sie teilweise in den narrativen und argumentativen Kontext des Interviews ein. Dies trägt dazu bei, die Vorstellungen der Lernenden zum einen differenzierter und zum anderen aber auch in ihrer Ambivalenz sehen zu können. So können – und dies ist eher die Regel als die Ausnahme – koloniale Vorstellungen durchaus mit der vehementen Forderung nach der Realisierung des Gleichheitsanspruchs aller Menschen einhergehen; und, vice versa, dekoloniale Vorstellungen durch koloniale Vorstellungen gerahmt werden. Ebenso werden auf diese Weise auch Auslassungen sichtbar, die wiederum zu einer kolonialen bzw. dekolonialen Interpretation führen können.

Diese Ambivalenzen erscheinen mir dabei in Bezug auf eine Reflexion der Möglichkeiten dekolonialer Bildungsprozesse entscheidender zu sein, als die bloße (kategoriale) Feststellung, dass ein_e Lernende_r dieses oder jenes koloniale oder dekoloniale Moment in eigenen Sinnbildungen reproduziert. Während die einen, die diesen Text lesen, diesen Teil wohl als Herzstück ansehen werden, könnten andere vielmehr die Ausführlichkeit der Darstellung als anstrengend empfinden. Obwohl ich ersteren dazu sagen kann, dass aus meiner Sicht die gewonnenen Einblicke wirklich sehr ergiebig sind – sowohl für Didaktik als auch für die weitere Kalibrierung dekolonialer Perspektiven in Deutschland –, könnten in dekolonialen Theorien geschulten Menschen durchaus einige Aspekte, wenn auch keinesfalls alle, als erwartbar erscheinen. In diesem Kapitel geht es aber nicht nur um die Herleitung und Quantifizierung der herausgearbeiteten Kategorien. Für die Einsicht darin, dass es Eurozentrismus oder Otheringprozesse in den Vorstellungen der Schüler_innen gibt, hätte ich diese Forschung nicht durchführen müssen. Es geht mir hier auch nicht um eine Quantifizierung, die eine nicht haltbare Repräsentativität suggeriert. Vor diesem Hintergrund verzichte ich weitgehend auf die Nennung von Zählungen, die ich durchaus durchgeführt habe, und nenne stattdessen ungefähre Relationen, die durchaus als relevant erscheinen. Die Stärke meiner Analyse – so hoffe ich – liegt aber vielmehr in den Nuancen und Ambivalenzen, die ich im Rahmen der jeweiligen Unterkategorien herausarbeite. In jedem Fall werde ich – um auch der Lesepraxis einer weniger zeitintensiven Lektüre gerecht zu werden – einzelne Aspekte der empirischen Analyse auch im vierten Kapitel wieder aufgreifen.

Das vierte Kapitel stellt den Versuch dar, mögliche Konturen einer dekolonialen politischen Bildung zu entwerfen. Dabei schlägt sich die doppelte Intention meines Ansatzes in diesem Abschnitt besonders nieder. Zum einen wird hier ausgehend von der Analyse der Lernendenvorstellungen entwickelt, was diese für Hinweise oder Implikationen für eine dekoloniale politische Bildung enthalten. Zum anderen gibt es auch Aspekte, die mit den in den Lernendenvorstellungen vorgefundenen Implikationen zwar zu tun haben, jedoch über diese hinausgehen. Dafür werde ich auf dekoloniale Theorien zurückgreifen. Die Ressourcen und Ausgangspunkte für die Herausarbeitung von Aspekten einer dekolonialen politischen Bildung sind also gleichermaßen die Lernendenvorstellungen und dekoloniale Theorien. Zunächst skizziere ich die Verortung einer dekolonialen Bildung in Bezug auf Global Citizenship Education (4.1.1) und rassismuskritische Bildung bzw. migrationspolitische Bildung (4.1.2). Beide Bereiche enthalten bereits viele Aspekte und Perspektiven, die auch für eine dekoloniale politische Bildung relevant sind – und dennoch lässt sie sich nicht auf diese reduzieren.

Das vierte Kapitel ist in vier Teile gegliedert. Der Abschnitt Geteilte Geschichten in einer postkolonialen Welt (4.2.1) zielt auf eine dekolonial ausgerichtete historisch-politische Bildung, in der sowohl die Kolonialgeschichte als auch postkoloniale Erinnerungspolitik zu wesentlichen Bestandteilen didaktischer Konzepte gemacht werden. Über den Ansatz des Entanglements wird dabei deutlich, dass es nicht nur um die Ergänzung oder den Ausbau des Lerngegenstands des historischen Kolonialismus geht, sondern vielmehr historisch-politische Didaktik insofern zu dekolonisieren ist, als dass die Verwobenheit der im herrschenden Verständnis meist nationalen Narrative mit dem imperialen Kontext herausgearbeitet werden muss. Als national verstandene Geschichtsschreibungen – ob in Bezug auf die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung, der bürgerlichen Revolutionen, des Faschismus, der Literatur, des nation buildings selbst – greifen zu kurz und blenden so entscheidende Aspekte aus. Dabei wird herausgestellt, dass eine dekoloniale historisch-politische Bildung hier an die Arbeit zahlreicher erinnerungspolitischer Initiativen anknüpfen kann (4.2.1.2). Dabei wird das Verhältnis zur Erinnerungspolitik in Bezug auf den Nationalsozialismus und die Shoah diskutiert, das in diesem Abschnitt als nicht kompetitiv und dennoch herausfordernd dargestellt wird (4.2.1.3). Dabei stellt sich für eine dekoloniale politische Bildung die Frage danach, was eigentlich als Kolonialismus verstanden wird. Im Anschluss an die Kritik des Salzwassermodells diskutiere ich die (Streit-)Frage der innereuropäischen Kolonien, die aus meiner Sicht im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialländern nicht nur, aber insbesondere auch für Deutschland eine entscheidende Rolle gespielt haben (4.2.1.4).

Im Abschnitt Geteilte Gegenwart(en) in einer neokolonialen Welt (4.2.2) bette ich die Vorstellungen der Schüler_innen in Bezug auf das Verhältnis des Globalen Südens und Globalen Nordens theoretisch ein. Dabei untersuche ich, wie die Logiken globaler Verbundenheit über Wertschöpfungsketten (4.2.2.1), das Entwicklungsparadigma der kolonialen Raum-Zeit-Matrix (4.2.2.2), die über Citizenship hergestellte bürgerliche Feudalität als Geburtsrechtslotterie (4.2.2.3) und die koloniale Differenz in der Form der Ungleichwertigkeit des Lebens (4.2.2.4) von Ansätzen globaler sozialer Gerechtigkeit, transnationaler Solidarität und herrschaftskritisch informiertem Gleichheitsanspruch infrage gestellt werden können und wo mögliche Fallstricke einer solchen kritischen Praxis liegen.

Im Abschnitt Geteilte Zugehörigkeiten in einer migrationsgesellschaftlichen Welt (4.2.3) verfolge ich zunächst (4.2.3.1) den Aspekt aus der Analyse der Schüler_innenvorstellungen weiter, demzufolge von Rassismus diskriminierte Schüler_innen von ihren Rassismuserfahrungen berichten und rassismuskritische Perspektiven in den Interviews artikulieren, während die von rassistischen Strukturen Privilegierten Rassismus dethematisieren, indem sie ihn zeitlich oder räumlich externalisieren und gleichzeitig einen ‚farbenblinden‘ Ansatz vertreten. In diesem Abschnitt geht es darum, wie Bildungsräume geschaffen werden können, die ein Sprechen über Rassismus und rassismuskritische (Bildungs-)Prozesse ermöglichen. Im folgenden Abschnitt geht es um Konstruktionen von natio-ethno-kulturell kodierten (Nicht-)Zugehörigkeiten in der postmigrantischen Gesellschaft (4.2.3.2), die nicht nur in einer Entweder-Oder-Logik, sondern vielmehr als Formen der differenziellen Inklusion und prekären Zugehörigkeit erscheinen und als solche durch dekoloniale Vorstellungen der Schüler_innen herausgefordert werden. Der dritte Abschnitt ist ein Exkurs (4.2.3.3), der zwar von den Lernendenvorstellungen ausgeht, dabei aber auf eine gewisse Weise quer zur Analyse liegt. Die Lernendenvorstellungen enthalten verschiedene Differenzmarker der (Nicht-)Zugehörigkeit, die ich im Zuge der Analyse anderer Unterkategorien von Selfing/Othering analysiert habe. Um diese in einen größeren Kontext zu stellen, ihre Verwobenheit mit der Entwicklung der bürgerlichen Demokratie herauszuarbeiten und einen bestimmten Bias innerhalb rassismuskritischer Genealogien herauszufordern, der eine Entwicklung vom biologistischen zum kulturalistischen Rassismus zeichnet, entwickle ich hier die Differenzmarker der nationalen Gemeinschaft je an einem Autor der Aufklärung: Kant für ‚Rasse‘, Fichte für Sprache, Herder für ‚Kultur‘, Renan für Werte und Sieyès für Leistung.

Im vierten Abschnitt Geteilte Episteme in einer zu dekolonisierenden Welt (4.2.4) gehe ich der Frage eines mit dem Projekt der Dekolonialität verbundenen epistemischen Wandels nach. Dabei referiere ich auf mehrere Ansätze aus dekolonialen Theorien, wie etwa epistemischen Ungehorsam, Delinking als der Schaffung neuer, nicht kolonialer Bezüge, und dem entgegenstehend der affirmativen Sabotage als Strategie der Umschreibung der hegemonialen Konzepte oder Pluriversalität als spezifische Verbindung von Pluralität und Universalität. Möglicherweise besonders motiviert durch die Verunsicherung mit meiner Auseinandersetzung eines Privilegierten, der sich gegen die Exklusivität dieser zu richten versucht, setze ich mich in diesem Abschnitt besonders mit dem Ansatz von Spivak auseinander, der darauf abzielt, die eigenen Privilegien als Verlust zu verlernen. Dies stellt eine Praxis dar, die Infragestellung dieser Privilegienstruktur nicht mehr als einen Akt der Wohltätigkeit oder der möglicherweise Handlungsfähigkeit verhindernden Scham anzusehen. Aus einer ähnlichen Fragestellung heraus frage ich mich anschließend, worauf ein solcher dekolonialer epistemischer Wandel eigentlich zielt? Ist es die Verunsicherung kolonialer Ordnungen und Selbstverhältnisse oder vielmehr die Einsetzung des Politischen, die mit der Entstehung eines utopischen Moments einhergeht, an dessen Horizont sich eine weniger koloniale Welt abzuzeichnen beginnt? Ohne eindeutige Antworten zu erhalten stelle ich jedenfalls fest, dass in der letzten Frage das ‚Oder‘ die falsche Konjunktion darstellt. Im Anschluss skizziere ich einen dekolonialen ethisch-epistemischen Entwurf, mit dem Spivak das Globale durch das Planetarische überschreiben will.

1.8 Begrifflichkeiten und Schreibweisen

„Die vier Himmelsrichtungen sind die folgenden drei: Norden und Süden.“ (Vicente Huidobro)

Ich versuche in meinem Text eine gendersensible Sprache zu verwenden. Wenn ich also nur ein Geschlecht umfassende Begrifflichkeiten verwende, so sollen auch nur diese gemeint sein. Ich setze ebenfalls aus dekolonialer Perspektive als hochproblematisch erscheinende Begriffe in einfache Anführungszeichen, wie etwa ‚Kultur‘, ‚Westen‘‚ ‚Integration‘ oder ‚Entwicklung‘, um auf die ihnen eingeschriebene Kolonialität zu aufmerksam zu machen. Diese Logik ist dabei nicht stringent, denn je nach Kontext können beispielsweise auch Begriffe wie Demokratie, Gleichheit oder Freiheit die koloniale Differenz markieren, die ich aber trotzdem nicht hervorheben werde. Kursiv setze ich Titel von Texten sowie Ausdrücke in anderen Sprachen als deutsch, die nicht im Zitat erscheinen.

Mein Text ist auf Deutsch verfasst. Einige Zitate sind auf Englisch. Ich setz also diese beiden Sprachen voraus – welch Ironie für eine dekoloniale Forschung. Zitate aus anderen Sprachen habe ich ins Deutsche übersetzt und das Original in der Fußnote hinterlegt, sodass zum einen die Übersetzung transparent ist und zum anderen die Bedeutungsdimensionen des Ursprungszitats, die durch die Übersetzung verloren gingen, miteinbezogen werden können. Ich schreibe Schwarz groß, wenn es sich auf Menschen bezieht. Schwarze Menschen in Deutschland haben dies eingefordert, um darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nicht um eine natürliche oder unpolitische ‚Eigenschaft‘ handelt, sondern um eine Positionierung innerhalb einer rassialisierten Ordnung, die sich durch Schwarze Menschen politisch angeeignet wurde. Oft wird dann das Quasi-Pendant ‚weiß‘ klein und kursiv geschrieben, um ebenfalls auf den Konstruktionscharakter, aber gleichzeitig auch auf das fehlende Widerstandspotenzial dieser Kategorie hinzuweisen. Ich habe mich dazu entschieden, weiß nicht hervorzuheben, da es neben so vielen Kategorien steht, die vor diesem Hintergrund ebenfalls hervorgehoben werden müssten, wie europäisch, deutsch, männlich. Nur weiß hervorzuheben erscheint mir als eine Schieflage. Ich schreibe oft EUropa, um auf die Differenz zwischen geopolitischer und geographischer Bedeutung aufmerksam zu machen, in der große, geographisch in Europa liegende Teile nicht Teil des westeuropäisch dominierten Projekts sowie der imaginären Identitätskonstruktion sind, die sich unter anderem auch auf dem Othering Ost- und Südosteuropas aufbaut (4.2.1.4).

Ich verwende die Begriffe Globaler Norden und Globaler Süden, auf die ich kurz näher eingehe, zum einen, weil sie zentral für viele Aspekte meines Textes sind, was aber auch für andere Begriffe gilt, zum anderen, weil ich an ihnen exemplarisch ein Dilemma darstelle. Das Dilemma besteht darin, dass die Begriffe eine durch Herrschaft konstruierte Differenz bezeichnen und diese dadurch benennbar machen, diese Benennung aber immer auch die reproduzierende Festschreibung dieser Differenz beinhaltet. Die Begriffe Globaler Süden und Globaler Norden gelten inzwischen als der politisch korrektere Ersatz für Begriffe, wie ‚Dritte-Welt-Länder‘, ‚Entwicklungsländer‘, ‚unterentwickelte Länder‘ oder ‚Trikont‘. Aufgrund des fehlenden Bezugs zum kolonialen Konzept von ‚Entwicklung‘ oder einer impliziten, nummerierenden Hierarchisierung erscheinen diese Begriffe als weniger diskriminierend. Ähnlich wie bei Begriffen wie ‚Westen‘ oder ‚Orient‘ verweisen ‚Süden‘ und ‚Norden‘ hier nur sehr eingeschränkt auf geographische Lagen. So werden auch Nationalstaaten, die auf der Südhalbkugel des Planeten liegen, wie etwa Neuseeland und Australien zum Globalen Norden gerechnet, während, wie Amilcar Packer feststellt, die Mehrheit der Staaten des Globalen Südens auf der Nordhalbkugel liegen (2020). Die Paradoxie dieser pseudo-geographischen Begriffe wird treffend vom chilenischen Dichter Vicente Huidobro formuliert: „Die vier Himmelsrichtungen sind die folgenden drei: Norden und Süden.“ (zitiert nach Packer 2020) Ebenfalls nicht zutreffend wären die Begriffe ehemals kolonisierte und kolonisierende Länder zu verwenden, auch wenn ein direkter Zusammenhang der Geschichte des Kolonialismus und der gegenwärtigen Asymmetrie der Welt besteht. So würden Irland, Zypern und die USA als ehemals kolonisierte Länder zum Globalen Süden zählen, während Thailand oder Iran zum Globalen Norden zählen würden.

Die Begriffe Globaler Süden und Globaler Norden müssen vor diesem Hintergrund als geopolitische Kategorien verstanden werden, die insbesondere auf die Positionierung innerhalb eines „postkolonialen Kapitalismus“ (Mezzadra 2012) sowie der „internationalen Arbeitsteilung“ und des „Neokolonialismus“ (Spivak 1988a) verweisen. Trotz ihrer kritischen Bedeutung als geopolitische Theorie bleiben sie problematisch, da sie eine nicht vorhandene Homogenität auf beiden Seiten des geopolitischen Äquators suggerieren und insofern die oft widersprüchlichen Aspekte der Klassengesellschaften nicht erfassen können, in denen Eliten in Staaten des Globalen Südens ebenso aus dem Blick geraten, wie die Prekarisierten des Globalen Nordens. Vor diesem Hintergrund ersetze ich diese Begriffe in meinem Text oft, aber nicht immer, durch andere.

Die mit den Begriffen Globaler Süden und Globaler Norden beschreibbar werdenden Ungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnisse sind aber auch deswegen so wichtig benennbar zu machen, da häufig in ‚westlicher‘ Gesellschaftskritik, auch in rassismuskritischen Diskursen, der Globale Süden ausgeblendet wird, wie Spivak im ersten Kapitel ihres berühmten Aufsatzes Can the Subaltern Speak? anhand der Kritik von Foucault und Deleuze aufzeigt (Spivak 1988a). Spivak warnt davor, „den gegenwärtigen Neokolonialismus im Wesentlichen über die Kolonisierung der postkolonialen Migrierten innerhalb der Metropolen zu betrachten, da dadurch die Frage der internationalen Arbeitsteilung ausgeblendet wird“ (Dhawan 2008: 26). Spivak macht immer wieder stark, dass es weder die color-line, noch die Arbeitsfrage ist, die aus ihrer Sicht das zentralste Moment der gegenwärtigen Ungleichheitsstrukturen und der Situation der Subalternen darstellen. Dabei bezieht sie sich auf W. E. B. Dubois, der zunächst die „color-line“ (Dubois 1903: 13) und später die diese color-line gleichzeitig verschleiernde und implementierende „Arbeitsfrage“ (Dhawan 2008: 26) als das größte Problem des zwanzigsten Jahrhunderts ausmachte. Spivak hingegen stellt ausgehend hiervon die „Geschlechtergrenze“ als „das größte Problem des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ (ebd.) dar, die ebenfalls durch die Begriffe Globaler Süden und Globaler Norden tendenziell unsichtbar gemacht wird. Der Hauptgrund warum ich trotz aller Schieflagen auch diese Begriffe nutze, um bestehende neokoloniale Ungleichheits- und Machtstrukturen zu benennen, besteht dabei nicht zuletzt darin, dass auch viele für eine Dekolonisierung kämpfenden Akteure des Globalen Südens diese Begriffe nutzen.