Das Ziel der Arbeit war es Transfer im Rahmen von alltäglichen schulischen Lernprozessen zu beschreiben und zu analysieren. Dazu wurde auf theoretischer Ebene zunächst den Fragen nachgegangen, was Transfer bedeutet, welche allgemeinen Erklärungsmodelle es für Transfer beim Mathematiklernen gibt und wie Transfer im Rahmen des schulischen Mathematiklernens konzeptualisiert werden kann.

Da Untersuchungen zum Transfer beim Mathematiklernen häufig mit fortgeschrittenen Lernenden unter Laborbedingungen durchgeführt werden und sich inhaltlich auf den Transfer von eng umgrenzten schematischen Verfahren oder Problemlösungen beschränken, wurde eine Studie vorbereitet und durchgeführt, die auf Grundlage bisheriger Forschungsergebnisse konzipiert wurde und Forschungsdefiziten und -desiderata bisheriger Untersuchungen begegnet. Mit Blick auf das schulische Mathematiklernen wurde im Rahmen der breit erforschten Entwicklung des Bruchzahlbegriffs den Fragen nachgegangen, welche Transferprozesse in der Einführung von Bruchzahlen didaktisch intendiert sind, inwieweit die intendierten Transferprozesse in den individuellen Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler rekonstruiert werden können und inwieweit Defizite in der Entwicklung eines tragfähigen Verständnisses von Bruchzahlen durch ausbleibende oder fehlerhafte Transferprozesse erklärt werden können.

6.1 Ergebnisse der Arbeit

Die Ergebnisse der Arbeit lassen sich in zwei Bereiche gliedern. Zum einen wurde der Forschungsstand zum Transfer beim Lernen aufgearbeitet, im Rahmen mathematikdidaktischer Theorien diskutiert und ein didaktisches Modell für die Analyse von Transferprozessen in der Entwicklung des Bruchzahlbegriffs entwickelt. Zum anderen wurden in der empirischen Studie Bearbeitungsprozesse von Schülerinnen und Schülern analysiert, um Transferprozesse deskriptiv zu beschreiben und Beziehungen zwischen Transferprozessen und der Entwicklung eines tragfähigen Verständnisses von Bruchzahlen aufzudecken.

6.1.1 Ergebnisse des Theorieteils

Im Theorieteil der Arbeit wurden verschiedene theoretische Perspektiven und Modelle zum Transfer aus unterschiedlichen Perspektiven einander gegenüber gestellt und diskutiert. Dabei wurde dargestellt, dass kognitionspsychologische Theorien Transfer auf Grundlage von Modellen der Informationsverarbeitung als Abruf und Anwendung von Wissensstrukturen konzeptualisieren, die in abstrakten Schemata im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Eine zentrale Grundannahme ist, dass der Grad der Abstraktion bzw. der Loslösung vom Lernkontext einen wesentlichen Einfluss auf die Anwendbarkeit einer Wissensstruktur in neuen und unbekannten Sachsituationen hat. Wissen ist zunächst bereichsspezifisch, d. h. an die spezifischen Situationsmerkmale und -eigenschaften der Lernsituation gebunden, sodass es zunächst nur im Rahmen eines nahen Transfers auf Anforderungen übertragen werden kann, die der Lernsituation sehr ähnlich sind. Mit zunehmender Verallgemeinerung und Dekontextualisierung der Anwendungsbedingungen und grundlegender Beziehungsstrukturen wird erwartet, dass diese flexibel im Rahmen von weiten Transferanforderungen angewendet werden können. Ein wichtiger Transfermechanismus in diesem Erklärungsmodell ist die Bildung von Analogien. Das Herausarbeiten von analogen Strukturen verschiedener Situationen soll einerseits die Abstraktion von Handlungswissen fördern und gleichzeitig durch die Identifizierung gemeinsamer Strukturelemente die Anwendung von Wissen auf neue Anforderungssituationen ermöglichen.

Die theoretische Perspektive der Situierten Kognition stellt den Modellen der Kognitionspsychologie entgegen, dass Wissen immer in einem sozialen Kontext in Interaktion zwischen einem Lernenden und seiner Umwelt ausgehandelt wird, und lehnt vor diesem Hintergrund die Annahme der Speicherung abstrakter Wissensstrukturen und der Loslösung einer Wissensstruktur von ihrem Kontext ab. Es wird argumentiert, dass Wissen immer untrennbar an die Gegebenheiten einer Lernsituation gebunden ist. Der abstrakten Repräsentation von Wissen wird ein Modell der dynamischen mentalen Repräsentation von Handlungen gegenüber gestellt. Demnach sind Handlungen bzw. Handlungskonzepte stets in einen Kontext eingebunden, der den Rahmen für die Möglichkeiten und Einschränkungen für die Handlung einer Person definiert. Für die Übertragung einer Handlung auf eine neue Anforderungssituation ist es somit erforderlich diese an die Eigenschaften der neuen Situation anzupassen. Durch diese Transformation verändert sich nicht nur die Handlung selbst, sondern auch die zugrundeliegenden Handlungsrepräsentationen der Lernenden. Transfer bedeutet in diesem Zusammenhang die Anpassung einer Handlung und ihrer mentalen Repräsentation an die situativen Eigenschaften einer neuen Anforderung.

Die Kernaspekte dieser ganzheitlichen und inhaltsübergreifenden Erklärungen von Transfer bilden auch die Grundlage für integrierende Theorien und empirische Modelle zum Transfer beim Mathematiklernen. Auch diese gründen den Transfer von mathematischen Inhalten auf der Entwicklung mentaler Wissensrepräsentationen, die im Gegensatz nicht als symbolisch und schematisch-abstrakt, sondern als bereichs- und situationsspezifisch in Form individueller Erfahrungsbereiche konzeptualisiert werden. Sie gründen sich als Handlungserfahrungen in bestimmten Situationen und bilden zu Beginn zumeist keine abstrakte inhaltliche Struktur ab, sondern subjektiv wahrgenommene Situationseigenschaften. Durch die Aktivierung in verschiedenen Situationen werden individuelle Erfahrungsbereiche koordiniert und miteinander verbunden, wodurch sie ein dynamisches Netzwerk bilden, das einer ständigen Weiterentwicklung unterliegt. Transfer kann vor diesem Hintergrund als Koordinierung von Erfahrungsbereichen beschrieben werden, wodurch bestehende Wissensstrukturen aktiviert und weiterentwickelt werden.

Im Gegensatz zu den Modellen der kognitiven Psychologie, vermitteln die Perspektiven der Situierten Kognition und integrierender Modelle des Mathematiklernens eine dynamische Sichtweise auf Transfer als Prozess, der einer Entwicklung unterliegt, in einen sozialen Kontext eingebunden ist und in hohem Maße individuell verläuft. Vor diesem Hintergrund wurde ein Transferprozess von einer abgeschlossenen Transferleistung abgegrenzt und als Prozess der Übertragung einer vorhandenen Wissensstruktur auf ein neues Anwendungsgebiet definiert, wobei die Art der Wissensstruktur sowie der Ursprung und das Ziel des Transfers eindeutig identifiziert werden können.

Mit Blick auf die herausgearbeiteten Forschungsdefizite und -desiderata von empirischen Studien zum Transfer von mathematischen Inhalten, wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit die Befunde, die vor allem punktuell in experimentellen Settings unter Laborbedingungen mit Studierenden gewonnen wurden, sich auf den alltäglichen Mathematikunterricht in der Schule und eine längerfristige Begriffsentwicklung übertragen lassen.

Vor diesem Hintergrund wurden die theoretischen Perspektiven und empirischen Befunde der Transferforschung im Rahmen des didaktischen Konzepts der Ausbildung von Grundvorstellungen diskutiert, das aus einer stoffdidaktischen Grundposition den mathematischen Inhalt als Kern didaktischen Handelns in den Vordergrund stellt, und die Integration verschiedener psychologischer und didaktischer Modelle und Perspektiven ermöglicht. Das Ziel der Ausbildung von Grundvorstellungen ist es, vom mathematischen Inhalt ausgehend normative Grundvorstellungen als prototypische mentale Modelle zu entwickeln, die den Kern des mathematischen Inhalts sachadäquat repräsentieren.

Auf Grundlage des Grundvorstellungskonzepts wurde die Definition von Transfer in Hinsicht auf das Mathematiklernen präzisiert:

Ein Transferprozess ist der Prozess der Anwendung oder Übertragung mathematischer Begriffe, Verfahren und Strukturen auf eine neue Anwendungssituation

  • zum Transfer zwischen Sach- und Anwendungskontexten,

  • zum Transfer zwischen verschiedenen Darstellungen und Repräsentationsebenen sowie

  • zum Herstellen und Begründen von mathematischen Zusammenhängen.

Die zentrale Grundannahme ist hierbei, dass die Anwendung oder die Übertragung mathematischer Begriffe, Verfahren und Strukturen die Aktivierung von Grundvorstellungen erfordert, und dadurch wechselseitig zum Aufbau, zur Entwicklung und zur Verknüpfung von Grundvorstellungen beiträgt. Auf Grundlage sachanalytischer Überlegungen ist es möglich einen intendierten Transfer dahingehend zu beschreiben,

  • worin der konzeptuelle Kern als Gegenstand eines Transfers besteht, d.h. welche Begriffsaspekte, Verfahren oder Strukturen übertragen werden sollen,

  • welche Übersetzungen auf Ebene des Sachkontexts und der mit ihnen verbundenen situativen Handlungskonzepte sowie zwischen Darstellungen und Repräsentationsebenen für einen Transfer erforderlich sind und

  • welche möglichen Schwierigkeiten, Übergeneralisierungen und allgemein fehlerhafte Übertragungen zu erwarten sind.

Dieser sachanalytischen Betrachtung von Transferprozessen wird eine deskriptive Ebene der Analyse von Schülerbearbeitungen gegenübergestellt:

  • Welche Transferprozesse sind zur Lösung einer neuen Anforderung erforderlich und welche Grundvorstellungen werden dafür benötigt? (Normativer Aspekt)

  • Welche individuellen Transferprozesse lassen sich in den Bearbeitungen der Lernenden erkennen und welche individuellen Vorstellungen liegen diesen zugrunde? (Deskriptiver Aspekt)

  • Worauf sind etwaige Divergenzen zurückzuführen und wie lassen sich diese beheben? (Konstruktiver Aspekt)

Vor diesem theoretischen Hintergrund wurde eine empirische Studie zur Analyse von Transferprozessen in der Entwicklung elementarer Bruchzahlvorstellungen aufbauend auf aktuellen fachdidaktischen und instruktionspsychologischen Ergebnissen konzipiert und in einer fünften Klasse eines städtischen Gymnasiums durchgeführt. Dieser Inhalt der Studie wurde gewählt, da für die Entwicklung des Bruchzahlbegriffs auf einen umfassenden Forschungsstand zurückgegriffen werden kann und häufige Verständnisschwierigkeiten und Fehlerstrategien in diesem Inhaltsbereich mit dem fehlerhaften Transfer von Struktureigenschaften der natürlichen Zahlen erklärt werden („Natural Number Bias“). Zudem kann die Entwicklung des Bruchzahlbegriffs auf normativer Ebene im Aufbau und der sukzessiven Weiterentwicklung von Grundvorstellungen beschrieben werden, wobei insbesondere der Vernetzung von verschiedenen Bruchzahlaspekten, Anwendungsbezügen sowie Darstellungen und Repräsentationsebenen eine besondere Bedeutung zukommt.

6.1.2 Ergebnisse der empirischen Studie

In der Studie wurden die Partnerarbeiten von heterogen zusammengesetzten Lernendenpaaren aufgezeichnet und in der Durchführung versucht, einen möglichst authentischen schulischen Lernkontext zu erzeugen, der den Partner- und Gruppenarbeiten im regulären Mathematikunterricht so nah wie möglich kommt. Zur Kontrolle der eingesetzten Lernmaterialien wurde den Lernenden und der unterrichtenden Lehrperson ein Arbeitsbuch zur Verfügung gestellt, mit dem über die gesamte Dauer der Unterrichtseinheit unterrichtet und gelernt wurde. Auf Grundlage der Materialien im Arbeitsbuch wurden in den Videodatenerhebungen Arbeitshefte erstellt, in denen die schriftlichen Bearbeitungen der Lernenden festgehalten wurden. Für die Einführung neuer Verfahren wurden interaktive animierte Lösungsbeispiele mit fokussierenden Fragestellungen und zugehörige, nach dem fading-example Prinzip konzipierte, unvollständige Beispiele eingesetzt. Die Wahl dieser Instruktionsmethode erfolgte auf Grundlage der empirischen Ergebnisse der Instruktionspsychologie, dass das Arbeiten mit Lösungsbeispielen als effiziente Methode zum Aufbau robuster und transferfähiger Wissensstrukturen darstellt (vgl. Abschnitt 1.2.2) und im Rahmen der Arbeit in Paaren die Lernenden zu „anspruchsvolle[n] Argumentationsprozessen“ (Salle, 2015, S.  309) anregt, anhand derer die individuellen Bearbeitungsprozesse und Erklärungsmodelle rekonstruiert werden können. Die Analysen der Bearbeitungsprozesse wurden mit rekonstruktiven und interpretativen Methoden durchgeführt und auf mehreren Ebenen vergleichenden Analysen unterzogen. Die zentralen Fragestellungen waren dabei, (i) welche Transferprozesse in den individuellen Bearbeitungsprozessen der Lernenden dokumentiert werden können und welche transferrelevanten individuellen Deutungen und Erklärungsmodelle von Brüchen und dem Umgang mit Brüchen in den Bearbeitungen der Lernenden rekonstruiert werden können, (ii) inwieweit die individuellen Transferprozesse der Lernenden den intendierten Transferprozessen entsprechen und welche Zusammenhänge zwischen den Transferprozessen und den individuellen Deutungs- und Erklärungsmodellen der Lernenden hergestellt werden können sowie (iii) worauf etwaige Divergenzen zwischen den intendierten Transferprozessen und den in den Bearbeitungen der Lernenden dokumentierten Transferprozessen zurückzuführen sind.

In den Analysen konnten in allen Bearbeitungen der Lernenden Transferprozesse rekonstruiert werden. Diese Transferprozesse beschränken sich nicht auf sogenannte „Aha-Effekte“, in denen die Lernenden bewusst inhaltliche Zusammenhänge erkennen und herstellen, sondern bestehen vor allem in der Übertragung von zum Teil unbewusst wirksamen Deutungs- und Erklärungsmodellen. Diese äußern sich insbesondere in anschaulichen Deutungen von rechnerischen Verfahren und Handlungskonzepten, wie dem Bruchherstellungsverfahren, dem Operatorschema zum Berechnen von Anteilen beliebiger Größen sowie dem Kürzen von Brüchen.

Entgegen den intendierten anschaulichen Deutungen wurden verschiedene zum Teil sehr individuelle Bedeutungszuschreibungen rekonstruiert, wie z.B. die Übersetzung der Herstellungsoperatoren eines Bruchs \(\frac{m}{n}\) gemäß der Handlungen mit einem gegenständlichen Repräsentationsobjekt, bei der das „Nehmen“ von Teilen mit einer Subtraktion verbunden wurde.

Im Vergleich der Analysen der Daten aller Erhebungszeitpunkte konnten über die unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkte hinweg drei Muster identifiziert werden, die einen besonderen Einfluss auf den Transfer der behandelten Verfahren sowie auf den Aufbau und die Entwicklung von Grundvorstellungen nehmen:

  • Die Entkopplung von rechnerischen und anschaulichen Handlungskonzepten,

  • die Entwicklung von Fehlkonzepten aufgrund von ausbleibendem und negativem Transfer und

  • der Transfer durch die Aktivierung und Koordinierung von Erfahrungsbereichen und Handlungskonzepten

Die Entkopplung der rechnerischen Verfahren und der anschaulichen Handlungskonzepte äußert sich insbesondere darin, dass der Transfer der rechnerischen Verfahren in nahezu allen Fällen identifiziert werden kann, während der Transfer des entsprechenden anschaulichen Handlungskonzepts in vielen Fällen ausbleibt oder fehlerbehaftet ist. Ein weiteres Merkmal ist in der zunehmenden Fokussierung der Lernenden auf die Anwendung der rechnerischen Verfahren zu sehen. Über den Verlauf der Unterrichtseinheit stellt sich diese Entkopplung als Entwicklung dar, die mit fortschreitendem Verlauf der Unterrichtseinheit deutlicher zum Tragen kommt. Während zu Beginn der Unterrichtseinheit nur in wenigen Fällen eine getrennte Verarbeitung der rechnerischen Verfahren und anschaulichen Handlungskonzepte rekonstruiert wurde, ist dieses Phänomen gegen Ende der Unterrichtseinheit in der Mehrzahl der Bearbeitungen der Lernenden zu erkennen (vgl. z. B. Bearbeitungsmuster „Kürzen und Darstellen“). Im Verlauf der Unterrichtseinheit und mit zunehmender Komplexität der Aufgaben und Abstraktion der Handlungskonzepte sowie beim Transfer auf neue Darstellungen und Sachkontexte führt der fehlende anschauliche Bezug in vielen Fällen zu Fehlern, die in Beziehung zu verschiedenen Fehlkonzepten und Fehlvorstellungen stehen.

Bereits zu Beginn der Unterrichtseinheit konnten fehlerhafte Deutungen und Erklärungsmodelle in den Bearbeitungen der Lernenden identifiziert und ihre Entwicklung nachgezeichnet werden. Dabei stellten sich die unvollständige Ausbildung des Anteilsbegriffs bzw. des Bruchherstellungsverfahrens als eine zentrale Quelle für fehlerhafte Deutungen dar. Insbesondere beim Transfer des Bruchherstellungsverfahrens sowie des Vergröberns einer Einteilung auf die Darstellung von Brüchen an einer Strecke konnte beschrieben werden, dass die unvollständige Ausbildung der Anteilvorstellung die Entwicklung von Fehlkonzepten und Fehlvorstellungen unterstützen kann. Die unvollständige Ausprägung der Anteilvorstellung äußert sich zum Beispiel darin, dass die Lernenden aufgrund der Fokussierung auf die natürlichen Zahlen im Zähler und Nenner eines Bruchs \(\frac{m}{n}\), diesen zwar statisch als Anteil m von n Teilen deuten, jedoch keinen Bezug zu dessen Herstellungshandlung als Teilen des Ganzen in n gleich große Teile und m-faches Vervielfachen eines Teils herstellen.

Diese Beobachtung kann als eine weitere Ausprägung der Entkopplung der rechnerischen Verfahren und anschaulichen Handlungskonzepte betrachtet werden. Anhand einer unzureichenden Verbindung von Brüchen als Anteile mit ihrer Herstellungshandlung, der Fokussierung auf die Anwendung der rechnerischen Verfahren sowie vereinzelter fehlerhafter Übertragungen (negativer Transfer), wie zum Beispiel Übergeneralisierungen von Handlungskonzepten des Umgangs mit gegenständlichen Repräsentationsobjekten und fehlerhaften Operationsvorstellungen, konnten nahezu alle Abweichungen von den intendierten Deutungen auf den ausbleibenden Transfer der anschaulichen Handlungskonzepte zurückgeführt werden.

Als dritter wesentlicher Einfluss auf die Transferprozesse der Lernenden kann die Aktivierung und Koordinierung von individuellen Vorwissensstrukturen bzw. Erfahrungsbereichen und Handlungskonzepten herausgestellt werden. In den Bearbeitungen der zum jeweiligen Lösungsbeispiel analogen unvollständigen Beispiele konnte festgestellt werden, dass die Aktivierung von Vorwissen als Grundlage für die Bildung der entsprechenden Analogien vor allem durch die Intensität der Verarbeitung des Lösungsbeispiels, die äußere Gestaltung bzw. Oberflächenmerkmale der unvollständigen Beispiele und Unterschieden auf der Ebene der Darstellung und des Sachkontexts beeinflusst wurde. So führte ein „Überfliegen“ der Lösungsbeispiele, eine Orientierung an den Oberflächenmerkmalen der Aufgaben sowie eine Änderung der Darstellung oder des Sachkontexts in vielen Fällen dazu, dass die Lernenden keine Verbindung zum Lösungsbeispiel hergestellt haben und die Struktur der Aufgabenlösung nicht korrekt übertragen haben.

Beim Repräsentationstransfer zwischen verschiedenen Darstellungen konnte beobachtet werden, dass vor allem die mit den jeweiligen Darstellungen verbundenen Handlungskonzepte eine wesentliche Ursache dafür darstellen können, dass die intendierte Übertragung der anschaulichen Bruchherstellungshandlung sowie des Vergröberns einer Einteilung als Zusammenfassen von Teilen zu einem neuen größeren Teil nicht übertragen werden konnten. In diesem Zusammenhang konnten in fast allen Bearbeitungen der Lernenden Schwierigkeiten bei der Darstellung von Brüchen in einer Kreisdarstellung und beim Transfer von anschaulichen Handlungskonzepten auf die Streckendarstellung rekonstruiert werden. Es kann angenommen werden, dass die Lernenden noch keine hinreichenden Erfahrungen zur Einteilung eines Kreises in gleiche Teile aktivieren können und mit einer Strecke vor allem das Handlungskonzept des Messens von Längeneinheiten verbinden. Bei der Darstellung von Brüchen in einem Kreis wurde besonders bei Brüchen, deren Nenner keine Potenz von 2 ist, beobachtet, dass die Lernenden keine Strategie zur Einteilung hatten und lediglich durch Probieren eine Einteilung vornehmen konnten. Beim Transfer der Verfahren und anschaulichen Handlungskonzepte konnte vermehrt eine Orientierung am Umgang mit natürlichen Zahlen nachgewiesen werden, die in den meisten Fällen damit erklärt werden konnte, dass die Lernenden die Unterteilung einer Strecke als ganzzahlige Vielfache von Längeneinheiten deuten und nicht als Vielfache von Teilen eines Ganzen.

Eine häufige Fehlerquelle beim Transfer zwischen Sachkontexten in den Bearbeitungen der Lernenden war die Wahl der falschen Bezugsgrößen für das Ganze und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten bei der Anteilbildung. Diese Schwierigkeiten und Fehler können in vielen Fällen mit einer unzureichenden Vertrautheit mit Handlungskonzepten erklärt werden, die mit dem Sachkontext verbunden sind. Hierbei konnte festgestellt werden, dass auch eine Aufgabenstruktur oder Struktur eines Lösungswegs für die Lernenden ein zunächst unvertrautes Handlungskonzept darstellt, dass zunächst erschlossen werden muss, bevor bekannte Verfahren übertragen und angewendet werden können.

Insgesamt ist festzustellen, dass in allen Bearbeitungen der Lernenden Transferprozesse verschiedener Art rekonstruiert werden konnten. Obgleich sich im Vergleich der Bearbeitungsprozesse der Lernenden im Verlauf der Unterrichtseinheit bestimmte Muster und Entwicklungen nachzeichnen lassen, sind die Transferprozesse in hohem Maße individuell und abhängig von den individuellen Vorstellungen und Erklärungsmodellen der Lernenden. Der Vergleich der Rekonstruktionen individueller Transferprozesse mit den intendierten Transferprozessen ermöglicht es in vielen Fällen etwaige Divergenzen und ihre Hintergründe zu identifizieren.

Zusammenfassend können Transferprozesse als integrale Bestandteile von Lernprozessen und der Begriffsbildung beschrieben werden, die sehr individuell verlaufen und deren Funktion im Lernprozess sich im Zusammenhang mit langfristigen Lernprozessen erschließt. Transferprozesse sind unmittelbar vom individuellen Vorwissen der Lernenden sowie ihren subjektiven Deutungen der Lern- und Transfersituation abhängig. Sie hängen von der Ausprägung, Vernetzung und Tragfähigkeit (bzw. Anschlussfähigkeit) von Grundvorstellungen ab und nehmen wechselseitig Einfluss auf ihre Entwicklung. Transferprozesse können in differenzierten Detailanalysen von Lernprozessen erfasst und analysiert werden.

6.2 Konzeptuelle Reflexion und offene Fragen

Die Schwerpunkte in der Konzeption der empirischen Studie lagen zum einen in der Erfassung möglichst authentischer interaktiver Bearbeitungsprozesse der Lernenden sowie ihrer deskriptiven Analyse. Dadurch wurden einige Einschränkungen bezüglich der Aussagekraft der Ergebnisse in Kauf genommen. Zum anderen wurden aufgrund der Ergebnisse des theoretischen Teils Annahmen getroffen, die einen maßgeblichen Einfluss auf den Fokus der Datenauswertung zur Folge hatten.

Die Konzeption von Transfer als Prozess:

Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurden verschiedene theoretische Modelle und Perspektiven von Transfer diskutiert. Die Modelle der Kognitions- und Instruktionspsychologie konzeptualisieren einen Transfer vor allem im Rahmen der Kompetenz- und Leistungsmessung als Maß des Lernerfolgs und somit als ein Produkt von Lernen. Diese Sicht auf Transfer ist in Hinsicht auf das Ziel der Vergleichbarkeit, Replizierbarkeit und Generalisierbarkeit von Untersuchungsergebnissen unbestritten. Diese Sicht schränkt jedoch den Blick auf den Mathematikunterricht bedeutend ein, da sie lediglich das Ergebnis eines Lernprozesses betrachtet, ohne der Individualität der Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern Rechnung zu tragen. Im Mathematikunterricht lernen Schülerinnen und Schüler nur selten unter Laborbedingungen, sondern in sozialen, kooperativen und interaktiven Settings. Zudem zeichnet sich der Mathematikunterricht dadurch aus, dass Lerninhalte sukzessive weiterentwickelt und miteinander verknüpft werden. Dies gilt vor allem für den Inhaltsbereich der Bruchrechnung. Zu Beginn werden Brüche in alltäglichen Zusammenhängen eingeführt. Diese Alltagserfahrungen mit Brüchen werden im weiteren Verlauf des Unterrichts stetig weiterentwickelt, abstrahiert und mit anderen Konzepten in Beziehung gesetzt: Die Entwicklung des Bruchzahlbegriffs kann in diesem Zusammenhang durch verschiedene Transferprozesse beschrieben werden.

Die Forschungsliteratur zur Bruchrechnung dokumentiert eine Vielzahl von Produkten dieser Entwicklung, insbesondere einer längsschnittlichen Kompetenzentwicklung (vgl.Wartha, 2007) oder der Entwicklung von Fehlkonzepten und Fehlerstrategien (vgl. Ni & Zhou, 2005; Eichelmann, Narciss, Schnaubert & Melis, 2012). Studien zur Wirksamkeit von spezifischen Instruktionsmethoden (vgl. z. B. Reinhold, 2019, S. 293 f.) erlauben nur selten einen Einblick in den natürlichen Unterrichtsalltag einer Lerngruppe und die im Unterricht ablaufenden Prozesse.

Vor diesem Hintergrund eröffnet die Konzeption von Transfer als Transferprozess, der über einen längerfristigen Zeitraum verläuft, eine alternative Sichtweise auf die individuellen Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern. Die Suche richtet sich nicht auf Muster in den Ergebnissen der Bearbeitungsprodukte, sondern auf Muster in den Bearbeitungsprozessen der Lernenden über den Verlauf einer Unterrichtseinheit. Dadurch ergeben sich Erklärungsansätze für Ergebnisse von Leistungsmessungen und Hinweise für Unterstützungsmöglichkeiten im Unterricht.

Vergleich von intendierten und dokumentierten Transferprozessen:

Mit dem Einsatz von Aufgaben im Mathematikunterricht ist in den meisten Fällen ein didaktisches Ziel verbunden. Das didaktische Ziel einer Aufgabe kann auf sachanalytischer Ebene in Form von intendierten Transferprozessen beschrieben werden, die zur Lösung einer Aufgabe erforderlich sind. Dies kann die Anwendung eines bestimmten Verfahrens, das Übersetzen zwischen verschiedenen Darstellungen und Repräsentationsebenen oder das Herstellen von Zusammenhängen sein.

Durch die detaillierten Analysen der deskriptiv rekonstruierten Transferprozesse der Lernenden ist es möglich, die tatsächlichen Transferprozesse der Lernenden mit den intendierten Transferprozessen auf normativer Ebene zu vergleichen. Die dadurch feststellbaren etwaigen Divergenzen liefern Anhaltspunkte für Hintergründe von Schwierigkeiten der Lernenden und somit eine Grundlage für Maßnahmen zur konstruktiven Behebung.

Die Anwendbarkeit bestimmter Verfahren und Handlungskonzepte ist eng an die Ausprägung und Vernetzung individueller Vorstellungen bzw. Erfahrungsbereiche gebunden. Die Analyse einer Anwendungssituation in Hinsicht auf den konzeptuellen Kern des erforderlichen Transfers, die geforderten Übersetzungen zwischen Darstellungen und Analogiebildungen zwischen Sachkontexten sowie die herzustellenden Beziehungen ermöglicht in diesem Zusammenhang eine detaillierte Einschätzung des Anforderungsprofils einer Aufgabe.

Die deskriptiven Analysen im empirischen Teil dieser Arbeit zeigen im Vergleich mit den intendierten Transferprozessen, dass es in allen Bearbeitungen zu einem Transfer kommt, dieser jedoch in vielen Fällen nicht mit den auf normativer Ebene erwarteten Transferprozessen übereinstimmt. Transferprozesse beschränken sich nicht allein auf sogenannte „Aha-Momente“, in denen Lernende grundlegende Zusammenhänge herstellen, sondern sind vielfach in der zum Teil unbewussten Übertragung subjektiver Deutungs- und Erklärungsmodelle zu identifizieren. Die Analyse dieser Transferprozesse eröffnet einen hochauflösenden Blick auf diese sehr individuellen Übertragungen.

Einschränkungen und offene Fragen:

Für die deskriptive Analyse der Bearbeitungsprozesse der Lernenden wurden rekonstruktive und interpretative Verfahren angewendet. Die Anwendung dieser Methoden beschränkt die Ergebnisse der Analysen auf die Betrachtung einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Einzelfällen. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse sind als lokale Theorien auf einen kleinen Rahmen beschränkt und erheben keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Dieser Rahmen bezieht sich jedoch nicht nur auf die Anzahl der Fälle, sondern auch auf den zeitlichen Rahmen der Untersuchung, die Beschränkung auf eine Lerngruppe einer bestimmten Jahrgangsstufe und einer bestimmten Schulform. In diesem Zusammenhang ist offen, inwieweit die Ergebnisse der deskriptiven Analysen im empirischen Teil dieser Arbeit auch unter anderen Rahmenbedingungen dokumentiert werden können und welches Potenzial sie für eine Verallgemeinerung bieten.

Aufgrund des Untersuchungsschwerpunkts der Arbeit lagen zuweilen mehrere Unterrichtsstunden zwischen den einzelnen Datenerhebungen. Die Analysen der Transferprozesse der Lernenden zeigen jedoch, dass in nahezu allen Bearbeitungen neuer Aufgaben Transferprozesse zu identifizieren sind, die potenziell auf die Entwicklung von individuellen Vorstellungen und Erklärungsmodellen Einfluss nehmen. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass die Bearbeitungsprozesse der Lernenden durch weitere Einflüsse charakterisiert werden können.

Die Einführung der inhaltlichen Schwerpunkte in den Unterrichtsstunden, in denen Videodaten erhoben wurden, erfolgte anhand von interaktiven animierten Lösungsbeispielen und unvollständigen Beispielen nach dem fading-out Prinzip. Die Forschung zum Mathematiklernen mit Lösungsbeispielen (vgl. Renkl, 2017; Salle, 2015) legt nahe, dass die Effizienz dieser Instruktionsmethode durch ein vorbereitendes Selbsterklärungstraining erhöht werden kann. Die Lernenden in der Untersuchung in dieser Arbeit erhielten kein vorbereitendes Training zum Umgang mit Lösungsbeispielen und es wurde auch nicht kontrolliert über welche Erfahrungen zum Lernen mit Lösungsbeispielen sie grundsätzlich verfügen. Wenngleich Lösungsbeispiele zur Normalität von Schulbüchern gehören, kann vor diesem Hintergrund nicht ausgeschlossen werden, dass der ausbleibende oder fehlerhafte Transfer in einigen Fällen der unzureichenden Verarbeitung der Lösungsbeispiele geschuldet ist.

Die Lernenden wurden während der Bearbeitung nicht zum lauten Denken aufgefordert, sondern lediglich zu Beginn jeder Unterrichtsstunde und in regelmäßigen Abständen dazu aufgefordert mit ihren Partnerinnen und Partnern ihre Lösungen zu besprechen und diese einander zu erklären. In einigen Fällen konnte diesbezüglich beobachtet werden, dass eine eingehende Diskussion der Aufgabenbearbeitungen ausblieb oder eine Person den Großteil der Bearbeitungen übernommen hat, ohne die Ergebnisse mit der Partnerin oder dem Partner zu besprechen. In diesen Fällen konnten nur geringfügige Einblicke in die Bearbeitungsprozesse aufgrund der nicht ausreichenden Daten zur Analyse von Transferprozessen gewonnen werden.

Zuletzt ist anzumerken, dass im begrenzten Rahmen der Darstellung in dieser Arbeit eine Auswahl an Bearbeitungsprozessen getroffen werden musste. Diese Auswahl erfolgte nicht in Hinsicht auf die vollständige Darstellung des Spektrums von Transferprozessen, sondern wurde in Hinsicht auf möglichst kontrastreiche Bearbeitungen von ausgewählten Transferaufgaben getroffen. Es ist daher anzunehmen, dass anhand der vorliegenden und dargestellten Daten, nur ein Teil der charakteristischen Aspekte von Transferprozessen in der Bruchrechnung dokumentiert werden konnte.

6.3 Perspektiven

In diesem Abschnitt werden Perspektiven für die weiterführende Forschung und die Praxis im Mathematikunterricht aufgezeigt, die sich aus der vorliegenden Arbeit ergeben.

6.3.1 Forschungsperspektiven

Auf Grundlage der vorliegenden Arbeit können die folgenden Forschungsperspektiven entwickelt werden.

Transfer von Bruchzahlvorstellung auf das Rechnen mit Brüchen und weiterführende Inhalte:

Die Untersuchung in dieser Arbeit ist weitgehend auf die Entwicklung von Grundvorstellungen zu Brüchen fokussiert. Das Rechnen mit Brüchen wurde nicht betrachtet. Die unzureichende Entwicklung von Grundvorstellungen zu Bruchzahlen (vgl. Wartha, 2007, 2009), Probleme beim Übersetzen zwischen Darstellungsformen (vgl. Wartha & Wittmann, 2009) sowie das vorschnelle Zurücklassen anschaulicher Vorstellungen zugunsten eines kalkülorientierten Handelns (vgl. Prediger, 2009) gelten als Hauptursache für Fehler in der Bruchrechnung und es wird angenommen, dass die „Nichtaktivierung adäquater Grundvorstellungen“ (Wartha, 2007, S. 237) zur Entwicklung robuster Fehlerstrategien beim Rechnen mit Bruchzahlen führt. Die theoretischen und empirischen Ergebnisse dieser Arbeit bieten eine Grundlage zu untersuchen, welche individuellen Vorstellungen und Erklärungsmodelle auf das Rechnen mit Bruchzahlen in Transferprozessen übertragen werden und wie diese zur Entwicklung von Grundvorstellungen zum Rechnen mit Bruchzahlen beitragen oder die Entwicklung von Fehlkonzepten und Fehlerstrategien unterstützen.

Ein tragfähiges Verständnis von Brüchen und Bruchzahlen ist grundlegend, um viele weitere elementare mathematische Inhalte zu verstehen (vgl. Padberg & Wartha, 2017, S. 8 f.), wie zum Beispiel das Rechnen mit Dezimalzahlen (vgl. Isotani et al., 2011; Bikner-Ahsbahs, Schäfer & Dygas, 2017), die Prozentrechnung (vgl. Hafner, 2012), lineare Gleichungen und Funktionen sowie relative Häufigkeiten in der Wahrscheinlichkeitsrechnung (vgl. Krauss, Weber, Binder & Bruckmaier, 2020). Die Anwendung des Wissens über Bruchzahlen in diesen Inhaltsbereichen kann als Transfer charakterisiert werden, bei dem vorhandenes Wissen über Bruchzahlen und die Bruchrechnung auf einen neuen inhaltlichen Kontext übertragen und in diesem angewendet werden muss. Die Analyse der Transferprozesse von Lernenden in der Erarbeitung dieser Inhalte könnte Hinweise auf inhaltsspezifische Hürden liefern, die einen Transfer adäquater Grundvorstellungen von Brüchen beeinflussen.

In dieser Arbeit wurden Transferprozesse im Rahmen des didaktischen Konzepts der Ausbildung von Grundvorstellungen konzeptualisiert und im Rahmen von deskriptiven und rekonstruktiven Analysen untersucht, inwieweit die auf normativer Ebene intendierten Transferprozesse sich in den Bearbeitungsprozessen der Lernenden widerspiegeln. In Hinsicht auf die Anwendung in quantitativen Untersuchungen erscheint es hilfreich Transferprozesse in der Bruchrechnung weiter zu typisieren und zu charakterisieren.

Transferverstehen und Transfererwartungen von Lehrkräften:

In Analogie zu den verschiedenen Transferbegriffen in der Pädagogischen Psychologie, die im Wesentlichen mit unterschiedlichen Blickwinkeln und Forschungsschwerpunkten erklärt werden können, kann angenommen werden, dass auch unter Lehrenden verschiedene Verständnisse von Transfer vorherrschen. Individuelle und subjektive Wirksamkeitserwartungen haben einen großen Einfluss auf das didaktische Handeln von Lehrkräften (vgl. Eichler & Erens, 2014; Schulz, 2014). Diese sind in vielen Fällen von persönlichen Erfahrungen sowie der professionellen Ausbildung geprägt (Whitacre, Atabas & Findley, 2019), die sie erfahren haben. Schulz (2014) beschreibt in seiner Arbeit zum fachdidaktischen Wissen von Grundschullehrkräften, dass Lehrende unterschiedliche Perspektiven auf Rechenstörungen und ihre Ursachen haben, die sich auf ihre „handlungsleitende[n] Kognitionen“ (Schulz, 2014, S. 409) auswirken. Es kann angenommen werden, dass Lehrende auch zu Transfer unterschiedliche Verständnisse aufweisen, mit denen unterschiedliche Erwartungshaltungen verbunden sind, die ihr didaktisches Handeln bezüglich der Konzeption von Unterricht, der Bewertung von Schülerleistungen, sowie der Ableitung von Hilfestellungen leiten.

Vor diesem Hintergrund wäre ein weiterführendes Forschungsinteresse zu untersuchen, was Lehrkräfte unter Transfer verstehen, welche Erwartungen an dieses Verständnis geknüpft sind und inwieweit diese ihr didaktisches Handeln beeinflussen.

Untersuchung von Arbeitsverhalten und Interaktionsstrukturen:

In den Analysen der Bearbeitungsprozesse in dieser Arbeit konnte beobachtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler sehr unterschiedlich miteinander gearbeitet haben. Wie in der Untersuchung von Salle (2015) zum selbstgesteuerten Lernen mit Lösungsbeispielen beschrieben, konnten auch in den Interaktionen der Schülerinnen und Schüler in dieser Arbeit unterschiedliche Argumentationsprozesse festgestellt werden. Zudem konnte beobachtet werden, dass die Lernenden sich unterschiedlich in die Partnerarbeiten eingebracht haben.

Auf Grundlage des ICAP Modells (vgl. Chi, 2009; Chi & Wylie, 2014; Chi, & Menekse, 2015) untersuchen verschiedene Studien den Zusammenhang zwischen dem Interaktionsverhalten der Lernenden und ihrem Lernerfolg in Partner- und Gruppenarbeiten. Dabei werden die Interaktionsaktivitäten der Lernenden in vier Kategorien eingeteilt: Passiv, aktiv, konstruktiv und interaktiv. Mit dieser Einteilung ist die Hypothese verbunden, dass die sichtbaren Interaktionsaktivitäten der Lernenden ihre kognitiven Aktivitäten widerspiegeln und in diesem Zusammenhang aktive, konstruktive und interaktive Aktivitäten in Beziehung mit erfolgreichem Lernen und erfolgreichem Transfer stehen. Dabei werden konstruktive und interaktive Aktivitäten dadurch charakterisiert, dass die Lernenden neue Ideen generieren und Zusammenhänge erschließen, die über die im Lernmaterial präsenten Informationen hinausgehen. Im Speziellen wird von diesen Aktivitäten erwartet, dass Lernende ihr Vorwissen aktivieren, im Hinblick auf neue Anforderungssituationen erweitern und umstrukturieren und somit explizit Transferprozesse identifiziert werden können, die bei den Lernenden bereits stattgefunden haben oder in diesen Sequenzen stattfinden. Die verschiedenen Studien, in denen dieses Modell zur quantitativen Analyse des Interaktionsverhaltens der Lernenden eingesetzt wurde, berichten einen deutlichen Einfluss von konstruktiven und interaktiven Interaktionsaktivitäten auf den erfolgreichen Transfer der erarbeiteten Inhalte.

Eine Klassifizierung der Interaktionshandlungen in den Partnerarbeiten bzw. den Daten dieser Arbeit könnte im Rahmen einer quantitativen Interaktionsanalyse Aufschluss über Faktoren erfolgreicher Partnerarbeiten geben und helfen, Verhaltensweisen und Interaktionsmuster zu identifizieren, die Transferprozesse unterstützen.

6.3.2 Perspektiven für die Unterrichtspraxis

Die Ergebnisse des theoretischen und empirischen Teils dieser Arbeit ergeben verschiedene Hinweise für die Förderung von Transferprozessen in der Entwicklung des Bruchzahlbegriffs sowie im allgemeinen Mathematikunterricht:

Begriffsbildung planen und analysieren:

In dieser Arbeit wurde auf theoretischer und empirischer Ebene argumentiert, dass Transferprozesse unmittelbar von den Vorstellungen und Erklärungsmodellen der Lernenden abhängen. Vor diesem Hintergrund wurde in dieser Arbeit ein Rahmen zur normativen Analyse von Transferprozessen dargelegt. Die didaktisch intendierten Transferprozesse treten selten spontan auf, sondern sind das Ergebnis der Ausbildung sachadäquater und tragfähiger Handlungskonzepte von mathematischen Inhalten. Aus diesem Grund ist es wichtig, Transferprozesse in der Erarbeitung neuer Begriffe und der Begriffsentwicklung mitzudenken, um so einerseits Transferprozesse in der Unterrichtsplanung zu strukturieren und vorzubereiten (vgl. Frohn, 2020; Salle & vom Hofe, 2020) und andererseits auf Ebene der Unterrichtsbeobachtungen zu analysieren, um konstruktive Unterstützungsmaßnahmen abzuleiten.

Vernetzungen zwischen rechnerischen und anschaulichen Handlungskonzepten fördern:

Die Ergebnisse der empirischen Studie in dieser Arbeit zeigen auf, dass eine häufige Ursache für ausbleibende oder negative Transferprozesse die getrennte Betrachtung von Rechenverfahren und ihren anschaulichen Deutungen ist. Vor diesem Hintergrund sollte im Unterricht stets der Schwerpunkt auf die Vernetzung rechnerischer und anschaulicher Handlungskonzepte gelegt werden. Auch mit zunehmendem Übergang auf die symbolische Ebene sollten immer Bezüge zu den anschaulichen Handlungskonzepten hergestellt werden, sodass Lernende robuste Vorstellungen zu diesen aufbauen können. Die Ergebnisse der Analysen der Bearbeitungsprozesse in dieser Arbeit weisen darauf hin, dass die Lernenden in vielen Fällen ohne Schwierigkeiten die rechnerischen Verfahren auf neue Aufgaben übertragen können, ohne dabei einen anschaulichen Handlungsbezug herzustellen. Beim Transfer der Verfahren auf komplexe Sachkontexte oder mehrschrittige Aufgabensituationen führt diese Dominanz der rechnerischen Verfahren jedoch häufig zu Fehlern in der Wahl der Bezugsgrößen und Schwierigkeiten bei der Strukturierung der Anforderungssituation. Aus diesem Grund sollte stets ein anschaulicher Handlungsbezug hergestellt und gefördert werden, um einer Entkopplung der rechnerischen und anschaulichen Handlungskonzepte frühzeitig entgegen zu wirken.

Transfer explizit machen und Verallgemeinerungen thematisieren:

Eine zentrale Funktion von Transfer ist die Verallgemeinerung und das Herausarbeiten von Kernideen und -konzepten, insbesondere durch das Erarbeiten und Vergleichen unterschiedlicher Anwendungssituationen. In vielen Fällen ist jedoch nicht zu erwarten, dass Lernende selbstständig die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Anwendungssituationen erkennen und entsprechende Verallgemeinerungen und Abstraktionen vornehmen. Daher ist es hilfreich, diesen Prozess durch leitende und fokussierende Aufgaben- und Hilfestellungen zu unterstützen (vgl. Salle & Frohn, 2020).

Analogiebildung begleiten und unterstützen:

In vielen Fällen erfordern Transferprozesse die Bildung von Analogien bzw. das Erkennen von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Aufgaben, um bekannte Lösungsstrategien und Denkmuster zu übertragen. Die Bildung von Analogien besteht in der Abbildung mathematischer Strukturen und Operationen zwischen unterschiedlichen Anforderungssituationen. Diese Abbildungsprozesse können durch geeignete Arbeitsaufträge angeregt und als Aufbau von Analogiebildungsfähigkeiten im Unterricht trainiert werden (vgl. Ruppert, 2020).

Wie anschaulich und hilfreich sind intendierte anschauliche Hilfen?

Die Divergenzen zwischen den intendierten und den in den Bearbeitungsprozessen der Lernenden rekonstruierten Transferprozessen können Hinweise geben, inwieweit sich anschauliche Hilfen bewähren oder zusätzliche Belastungen für den Lernprozess darstellen. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Schwierigkeiten der Lernenden beim Darstellen von Brüchen in einer Kreisrepräsentation, der häufigen Wahl der falschen Rechenoperation bei der Berechnung von Anteilen im Pfeilschema und der zahlreichen Fehlinterpretationen zum Vergröbern einer Einteilung können diese intendierten anschaulichen Hilfen in Frage gestellt werden. Während das Einteilen von Kreisen in gleichgroße Kreissegmente die Lernenden in vielen Fällen vor technische Schwierigkeiten stellt und das Pfeilschema zur Anteilberechnung eine Änderung der Darstellungsform erfordert, scheint die Vorstellung vom Vergröbern einer Einteilung als anschauliche Deutung des Kürzens von Brüchen zu komplex zu sein, als dass sie zum Verständnis des rechnerischen Verfahrens beiträgt. Für das Vergröbern einer Einteilung müssen sowohl das Ganze als auch der Anteil betrachtet und gleichermaßen verändert werden. Zudem ist die Vorstellung, dass ein Verändern der Einteilung den Wert eines Bruchs nicht verändert, vor allem zu Beginn der Begriffsentwicklung mit einer grundlegenden Anpassung der zuvor aufgebauten Vorstellungen verbunden und bedarf einer intensiven Thematisierung. In diesem Sinne sollte der Einsatz von anschaulichen Hilfen stets eingehend reflektiert werden, da diese das Potenzial haben, Lernprozesse zu verkomplizieren anstatt sie wie intendiert zugänglicher zu gestalten.