„Ich will […] nur darauf aufmerksam machen, dass Meinungsbildung heute grundsätzlich anders erfolgt als vor 25 Jahren, dass heute Fake-Seiten, Bots, Trolle Meinungsbilder verfälschen können, dass heute sich selbst regenerierende Meinungsverstärkungen durch bestimmte Algorithmen stattfinden. Wir müssen lernen, uns damit auseinanderzusetzen“ (Angela Merkel, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 23. November 2016).

Der Modus der Integration moderner Gesellschaften heißt ‚Kommunikation‘. Für die generalisierende Verbreitung von Kommunikation sind in großen Teilen die Massenmedien zuständig. Durch diese Quelle der Umweltbeobachtung wird das, was in der Öffentlichkeit kommuniziert werden kann, zentral beeinflusst. Medien reduzieren laufend die Komplexitäten und selektieren die Kommunikationsmöglichkeiten vor.

Insofern erscheint es plausibel, von Veränderungen im (digital-)medialen Bereich auf solche der Öffentlichkeitsverfassung zu schließen. Das geschieht, wenn jüngst vom „Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die Rede ist (Imhof 2011, S. 108–160; vgl. auch neuerlich Habermas 2008, S. 81).

In verschiedenen Disziplinen wird dieser Wandelthese im Zusammenhang mit neuen Medienformen oder neuen medialen Strukturen ausführlich nachgegangen. Weitenteils unberücksichtigt dabei bleibt aber noch, dass die alte Thematik der Auswahl, Aufbereitung, Interpretation und Verbreitung von Informationen unter ganz neuen technikdeterministischen Vorzeichen ins Licht gerückt ist, weil in einer „Search Engine Society“ (Halavais 2009) verstärkt Computeralgorithmen zu Kuratoren werden. Auf Basis der Web-Personalisierung, also im Modus von Ähnlichkeit und Komplementarität, selektieren, filtern und verdichten Algorithmen die Informationen, die ein Individuum erhält (Newsfeed, Social Stream, Suchergebnisse, generierte Empfehlungen). Das bringt mit sich, dass kognitive Dissonanzen tendenziell aussortiert werden: In einer Zustimmungsumgebung werden dem sich informierenden Individuum solche Informationen angezeigt (nämlich auch aus Linearmedien), die sich mit den bisherigen Ansichten und Präferenzen decken. Und indem sich die Spirale der Meinungsvielfaltsexklusion mit jedem Klick weiterdreht, ist die Gefahr einer „Lock-In-Situation“, die Gefahr der digitalen Abschottung gegeben (Weber und Koob 2001, S. 40; vgl. Sunsteins „Echokammer“ oder „Informationskokon“ 2009; Thurmans „Making of ‚The Daily Me‘“ 2011; Parisers „Filterbubble“ 2012; Pasquales „Black Box“ 2015).

Das produzierte „Echo“ im persönlichen Informations-Ökosystem, durch das „wir nichts als Gleichgesinnte hören“ (Eisel 2011, S. 172), könnte weit mehr als ein intraindividuelles Problem von „solipsistc twits“ sein (Weisberg 2011). Das Phänomen der Filterblase ist im Kontext der kommunikativen Basis der Demokratie zu sehen, und die Frage steht an, ob Sortier-Algorithmen durch Verzerrung der individuellen Meinungsbildung ein demokratiegefährdendes Potenzial haben. Weil die Frage nach (wünschenswerten) Formen der Meinungsbildung eng zusammen hängt mit Fragen nach (wünschenswerten) Formen der Meinungsäußerung zu gesellschaftlichen Sachverhalten (publicness) und sonach (wünschenswerten) demokratiepolitischen Formen der gesellschaftlichen Funktionalität öffentlicher Kommunikation (public sphere), geht es pauschal darum, ob „der demokratische Puls moderner Gesellschaften“: die Öffentlichkeit, durch einen solchen „neuen Strukturwandel bedroht ist“ (https://www.soziologie2011.eu).

Der vorliegende Beitrag nimmt sich der Frage nach „the possibility of undermining civic discourse“ (Weisberg 2011, Pariser paraphrasierend) im Zusammenhang mit allfälligen digitalmedialen Informationsdefiziten oder -verzerrungen oder -dominanzen in zwei Schritten an:

  1. 1.

    soll die „Erklärungskraft von Öffentlichkeitstheorien“ (Wallner und Adolf 2011) in Bezug die Frage, ob und wie die neuen Kommunikationsmodi eine Gefahr für die öffentlichen Meinungsbildungsprozesse in ihrer integrativen Funktion darstellen, bemüht werden: Welche grundsätzlichen Momente weisen klassische Öffentlichkeitstheorien als öffentlichkeitsgefährdend bzw., ex negativo, als unabdingbar für eine wie auch immer funktionierende Öffentlichkeit aus?

  2. 2.

    soll gefragt werden, ob und inwiefern die herausgearbeitete Problematik den Bereich der Politischen Bildung betrifft.

1 Öffentlichkeitstheoretische Grundlegung

1.1 Diskurs- und Delibarationsöffentlichkeitstheorien

Die Modelle, die man unter der Überschrift zusammennehmen kann, vereint, die Öffentlichkeit als einen „holistischen Kommunikationsraum“ deliberativer Foren und als „konsensuale Sphäre“ (Averbeck-Lietz 2014, S. 259) vorzustellen. Auf Basis einer „kommunikativen Rationalität“ (Honneth und Joas 2002, S. 7) würden vernünftige Diskurse möglich, die im Modus des „zwanglosen Zwangs“ des besseren Arguments (Korte 2014, S. 267) in Konsens endeten (so z. B. prototypisch die Theorie kommunikativen Handelns von Habermas 1981).

Die „freie Deliberation“ (Imhof 2011, S. 36) habe das subjektive Abwägen und Überdenken zur Basis (vgl. Lösch 2005, S. 10). Individuell gebildete Urteile beeinflussten die kollektive Meinungs- und Willensbildung und stellten infolge das Korrelat zur Herrschaft dar (so z. B. prototypisch Gutmanns und Thompsons Theorie der Deliberation 2004).

Den Dreh- und Angelpunkt in dieser Theorieperspektive bilden also die „‚zivilgesellschaftliche Akteure‘, die über mediale Resonanz in der Lage sind, die Problemlösungsroutinen des politischen Systems zu unterbrechen“ (Imhof 2003, S. 203). Die Öffentlichkeit konstituiere sich dann ideal, wenn die Menschen angeborene Fähigkeit zum Denken und Handeln zur vollen Entfaltung gebracht werden könnten. Würden die Rationalitätspotentiale des homo politicus’ nicht umfassend genutzt, sei die Öffentlichkeit gefährdet (und gefährdend) (so z. B. prototypisch Kaufmans von der Demokratie her konstruierte partizipatorische Öffentlichkeitstheorie von 1960).

In Abhebung zum Schreckensgespenst der ‚Schwarmintelligenz‘ oder auch zur gesinnungsethischen Volonté générale wird in diesem idealtypischen Theoriestrang auf Rationalität als Zielformel, wenn der Diskurs rationale Ergebnisse hervorbringen soll, und als Startformel, wenn Rationalität bestimmen soll, wie „Subjekte Wissen erwerben und verwenden“ (Habermas 1981, S. I, 28), gesetzt. Intra- und intersubjektive Rationalität bestimmt den Meinungsbildungsprozess (‚erwägen‘), damit den Meinungsaustauschprozess (‚argumentieren‘) und damit dessen Ergebnis (‚beschließen‘).

In Bezug auf die neuen medialen Entwicklungen wäre es nun ein Leichtes, diesem Theoriestrang zu unterstellen, „mit einem der Idee der Moderne entnommenen Ideal […] abweichend von der idealen Beschreibung reale Wirklichkeiten der öffentlichen Kommunikation“ gar nicht in den Blick zu kriegen (Eder und Kantner 2000, S. 326), bzw. wenn, dann, „das Wunschbild diskursiver bzw. deliberativer politischer Öffentlichkeit […] verabsolutierend“, nur im Modus „elitärer Kulturkritik“ (Saxer 2006, S. 64). Aber das ginge an der hier verfolgten Fragestellung vorbei: Wie ist die Filterblasenthematik aus der Perspektive von Diskurs- und Deliberationstheorien zu beurteilen (nicht, wie sind die Theorien zu beurteilen)?

Hierzu kann festgehalten werden: Die solcherart konstruierte Öffentlichkeit ist auf Gedeih und Verderb auf Informierung im Modus von Rationalität angewiesen, damit „öffentliche Vernunft“ walte (Kersting 2006). Der Filterblaseneffekt nun kann die rationale und insofern absichtliche und begründete und vergleichende Auswahl und Anwendung von Informationen der diskursiven Öffentlichkeit konterkarieren (so Habermas 2008, S. 155–162 auch ausdrücklich). Das wäre in der Hauptsache dadurch der Fall, als den Individuen zu wenige und zu wenig rationale (nur die gelten bei Vertretern wie Habermas oder Apel als repräsentativeFootnote 1) Informationen dafür, sich konsensual-kommunikativ auseinandersetzen zu können, zur Verfügung stehen könnten. Der viel beschworene (sokratische) ‚Konsensus der Argumente‘ wäre durch die Filterblase gefährdet. Nicht, weil keine Argumente mehr gebildet werden könnten, sondern keine in dem hier vorgestellten vernunftkausalen Sinn.

Zusammengefasst: Wenn dem „vernünftigen Diskurssubjekt“ aufgrund der Filterblase zum Austausch mit anderen solchen Subjekten „der Bezug zu einer gemeinsamen objektiven Welt“ fehle (Steffens 2007, S. 13), erodiere auch die „nur mit Bezugnahme auf das Wissen des Subjekts“ gestiftete prozeduralistische Öffentlichkeit (Habermas 1973, S. 218).Footnote 2

1.2 Theorien der subalternen und agonistischen Öffentlichkeit

Die als zweites zur Analyse stehenden Theorien sind als eine kritische Reaktion auf die eben durchgenommenen Diskurs- und Deliberationsöffentlichkeitskonzepte zu sehen (vgl. z. B. Sheikh 2004). Sie verbindet, nicht von einer hegemonialen Öffentlichkeit, sondern von zahlreichen Öffentlichkeiten auszugehen, die, um hier zunächst das Konzept der „agonistischen Öffentlichkeit“ aufzugreifen (Mouffe 2002), miteinander in permanentem Konflikt stehen. Folgerichtig wird „konfliktualer Konsens“ zur Formel der gesellschaftlichen Integration (Mouffe 2007, S. 158; vgl. auch Klaus 2005; Schwarz 2009), und zwar nicht zwingend im Modus von ‚Rationalität‘, sondern von ‚Anerkennung‘: Anerkennung des Anderen und des andauernden, geregelten Konfliktes zwischen Gegnern.

Das ist keinesfalls als Zugeständnis an Realitäten (alleine) oder gar fatalistisch gedacht; mit der „Bedeutung des Dissens für eine demokratische Öffentlichkeit“ wird, wiederum idealiter, die Hoffnung auf eine radikale macht- und herrschaftskritische Demokratie verbunden (Mouffe 2007, S. 42). Agonismus ist aus der Sicht nicht das Hindernis, sondern die Bedingung, weil er immer wieder Raum für Dissens und damit echte Alternativen für kollektive Identitäten schaffe.

Emanzipationserwartungen an eine Radikaldemokratie kennzeichnen auch die etwas anders gelagerte Perspektive ‚Gegenöffentlichkeiten‘. In dem Begriff ist nicht nur eine empirische Beschreibung der Heterogenität enthalten, sondern auch die Anklage, dass zu einer einzigen, kompakten Öffentlichkeit Mitglieder marginalisierter Gruppen keinen Zugang hätten. In der ‚Gegenöffentlichkeit‘ als einer alternativen Öffentlichkeit würden sich diese aber formieren. Diese „parallelen diskursiven Räume, in denen Angehörige untergeordneter sozialer Gruppen Gegendiskurse erfinden und in Umlauf setzen“ (Fraser 1996, S. 163), kommen, positiv besetzt, als Subkulturen, die gesamtgesellschaftlich hülfen, dass „neue Problemlagen sensitiver wahrgenommen und Selbstverständigungsdiskurse breiter und expressiver geführt werden“ (Donath 2001, S. 94), in den Blick, verfallstheoretisch interpretiert aber als degenerierter „Pseudoraum der Interaktion“ (Benhabib 1997, S. 28).

Beides kann man nun auch auf die Filterblase umlegen. Einmal gewissermaßen „Übungsfeld einer Umgestaltung, die auf breitere Öffentlichkeiten zielt“ (Fraser 1996, S. 164), ist sie ein andermal Segregation par excellence. Wie auch immer man hier gewichten mag, die Frage, wie separatistische Einzelteile gesamtgesellschaftlich integriert werden, ist nicht vom Tisch. Und sie wird durch die Algorithmenproblematik nicht gerade entdramatisiert.

1.3 Elite- oder Defizitöffentlichkeitstheorien

Den nachfolgend skizzierten Theorien liegt eine skeptischere Perspektive auf partizipatorische Öffentlichkeit und Basisdemokratie zugrunde. Ausgegangen wird gerade nicht davon, die durch „direkte Partizipation“ (Kaufman 1960, S. 42) konstruierte öffentliche Meinung sei durch Rationalität gekennzeichnet, im Gegenteil: Sie sei irrational, verkürzt, selektiert, manipuliert.Footnote 3 Das legitimiert die Forderung einer Experten- oder Eliteöffentlichkeit – daher ja der Begriff ‚Gatekeeper‘ für Redakteure (oder auch Lehrer) –, die mit einem in Milieus segmentierten Publikum kombiniert werden (eine Blaupause ist Tönnies‘ „Gelehrtenrepublik“ von 1922). Konsequenz ist die Vorstellung einer Instrumentalisierung der Eliten (und nicht eine Instrumentalisierung der Masse durch Eliten), welche einen adäquaten Informationsfluss ermöglichen und gewährleisten sollen. „Weil sonst der typische Bürger wieder auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung (fällt). Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig“ (Schumpeter, 1950 zit. n. Massing und Breit 2002, S. 181).

Sofern die Begründungsmuster für die Skepsis hinsichtlich des Rationalitätsimperativ – die keine Absage an Rationalität darstellen, sondern, im Gegenteil, in Maßnahmen der Rationalisierung des rationalistischen Paradigmas führen soll (vgl. Averbeck-Lietz 2014) – nicht (massen-)psychologischer Provenienz sind, halten sie Aufschlussreiches hinsichtlich der Filterblasenthematik bereit. „Da der Mensch kein Wesen ist, das sich eine vollständige Sicht der Dinge aneignen kann, bleibt ihm nichts, als die Konzentration seiner Vorstellungen auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit, will er zu Urteilen oder Handlungskonzepten kommen“ (Weißmann 2001, S. 13): „Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, wir definieren erst und schauen dann“ (Lippmann 1922/1990, S. 63). Weniger intraanthropologisch ausgerückt: Indem sich Individuen in modernen Gesellschaften ihre Meinung nicht aufgrund direkter unmittelbarer Erfahrung ihrer Lebenswelt, sondern aufgrund öffentlich zugänglicher und diskutierter Informationen bildeten, beeinflussten die Medien die Weltkonstruktionen eklatant (was z. B. nicht berichtet wird, existiert nicht). Durch diesen Filter werden die (be-)herrschenden öffentlichen Stereotypen erzeugt, die, unbesehen aller Probleme dieser ‚Verschlagwortung‘, Unordnung ordnen, sowohl intraindividuell als auch gesamtgesellschaftlich. Selektion als stabilisierende Vereinheitlichung also.

Aus der Eliteperspektive steht und fällt alles mit diesem Informierungsscharnier der Gatekeeper (oder ‚Gatewatcher‘ oder ‚Mediatoren‘ oder ‚Kuratoren‘ etc.). Das ist der heilsame oder wunde – je nach Thematisierung – Punkt. Durch die Filterblase mit ihren Gatekeeper-Algorithmen stellt sich freilich gerade die Frage neu: Wie an der Stellschraube drehen? Wie gewährleisten, dass alle über Mindestinformationen verfügen, die im Großen und Ganzen seriös sind?

Aus Blickrichtung der Elite- und Defizitöffentlichkeitstheorien ist die Antwort einfach: Weil das nicht vollumfänglich gesichert werden könne, brauche es eine Eliteöffentlichkeit als Daueraufgabe (man beachte auch den gleichzeitigen Erziehungsoptimismus und -pessimismus bei Lippmann). Gatekeeper für die Filterblasen sozusagen.

1.4 Liberaldemokratische Öffentlichkeitstheorien

Wie die eben besprochenen Öffentlichkeitstheorien stehen auch die liberaldemokratischen in skeptischer Distanz zu radikal-partizipativen Ansätzen mit dem Imperativ eines omnikompetenten Vernunftsubjekts (wenngleich ohne der anthropologisch-psychologischen Begründung), und wie diese befürworten sie eine demokratische Eliteherrschaft.

Die Elite, das sei Dahrendorf gemäß die aktive Öffentlichkeit – sie umfasse gerademal zwischen 1 und 10 % der erwachsenen Bevölkerung, und die Zahl sei auch nicht zu steigern –, die sich regelmäßig mit eigenen Ideen in das politische Geschehen einbringt. Daneben gebe es noch die latente Öffentlichkeit der Nichtteilnehmenden und die passive Öffentlichkeit der sporadisch Teilnehmenden (Dahrendorf 1967/1993, S. 45). Diese Aufteilung sei innerhalb gewisser Grenzen tragbar, ja sogar wünschenswert: schließlich kontrolliere die passive Gruppe die aktive. An ihrer Reaktion misst sich die Zufriedenheit mit der Arbeit der aktiven (vgl. ausführlich Pfetsch 1998). Wichtig allerdings sei, dass – neben dem, dass ein Wechseln zwischen den Gruppen stets möglich sein muss – ein kontinuierlicher Austausch zwischen den Gruppen stattfindet.

In diesem hochgradig an ‚Demokratie‘ explizierten, nicht harmonisierenden Öffentlichkeitmodell, erscheint also nicht als Bedrohung, dass es bloß eine kleine aktive und eine große passive oder nur latente Öffentlichkeit gibt, sondern die Frage, ob „Informationsfluss und Wissensteilung“ (Fleischmann 2006) garantieren, dass jeder jederzeit alles wissen und sich beteiligen könnte (Donath 2001, S. 76). Klar ist, dass „der Fluss der Informationen“ (Deutsch, 1963 zit. n. Dahrendorf 1967/1993, S. 50) zwischen den Aktiven und Passiven zum zentralen Kriterium wird. „An wenigen Punkten ist die Aufgabe der Massenmedien so unentbehrlich für eine freie Gesellschaft wie an den Gelenken von aktiver und passiver Öffentlichkeit“ (Dahrendorf 1967/1993, S. 50).

Wenn der Liberalismus grundlegend in der Abwesenheit von Zwängen und der Abwesenheit von Mängeln besteht, wird die Filterblase mit ihrem latenten Problem, eingeschränktes Wissen zu generieren/transportieren, drastischer als in den anderen Theoriesträngen zur Existenzfrage der liberalen Öffentlichkeit. Mängelverursachte Unfreiheit bewirkt Zukunftsschwund.Footnote 4

1.5 Empirische und deskriptive Öffentlichkeitstheorien

Ein erster empirischer Zugang zu Prozessen und Funktionen von Öffentlichkeit geht von sozialpsychologisch fundierten Aussagen über das Kommunikationsverhalten von Individuen aus.Footnote 5 Die Öffentlichkeit gründe dementsprechend „auf das unbewusste Bestreben von in einem Verband lebenden Menschen, zu einem gemeinsamen Urteil zu gelangen, zu einer Übereinstimmung, wie sie erforderlich ist, um handeln und wenn notwendig entscheiden zu können“ (Noelle-Neumann 2002, S. 393).Footnote 6

Dabei sei folgender Mechanismus beobachtbar: Verstärkt werde in dem Prozedere die Tendenz, dass ein Individuum entweder in eine „Schweigespirale“ – es sieht, dass seine Meinung kaum geteilt wird oder an Boden verliert und verfällt in Schweigen – oder, im umgekehrten Fall, in eine „Redespirale“ gerät (vgl. Noelle-Neumann 2001). Ein Meinungsklima komme also dadurch zustande, dass die „wachsende Häufigkeit (Sichtbarkeit) einer Stellungnahme in der Öffentlichkeit sehr oft die Voraussetzung für eine weitere Zunahme (Verbreitung) eben dieser Stellungnahme und umgekehrt“ bilde (Lamp 2008, S. 205, vgl. historisch schon James oder Parker).

In dieser Perspektive der gesellschaftlichen Integration als weder beabsichtigt noch bewusst, ist der „shift from the wisdom of crowds to wisdom of friends“ (Sheryl Sandberg, COO von Facebook), wie er sich in der Filterblase manifestiere, nicht sonderlich irritierend; vages und wirres Meinen und Raunen der Vielen da wie dort.

Das ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Der radikalisierte Tunnelblick in Filterblasen entzieht sich insofern dem Konsonanz-/Dissonanz- oder Billigungs-/Missbilligungs-Pattern, als in den Netznischen kein Anpassungsdruck mehr virulent ist (oder ein ganz anderer) bzw. der Bestätigungsmodus ja gerade überwiegt. Das ist zwar an sich nichts Neues; die Umwelt wird hier wie im sozialen Kontext des Freundeskreises z. B. virulent (und die Umweltbeobachtung im erweiterten sozialen Umfeld: Sportclub, Einkauf, Straßenbahn…, fällt ja nicht weg). Die zweite entscheidende Quelle der Umweltbeobachtung ist allerdings stark determiniert: die der massenmedial relativ einheitlich und flächendeckend vermittelten Ansicht dazu, was öffentlich gerade wie gedacht wird.

Damit präsentiert sich die Filterblase als die Öffentlichkeit insofern gefährdend, indem sie die menschliche Furcht vor sozialer Missbilligung, die für einen Mindestbestand an gesellschaftlicher Übereinstimmung sorgt und so das Gesellschaftsganze wie mit einer „sozialen Haut“ überzieht, anders kanalisiert (Noelle-Neumann 2001; vgl. historisch schon Smiths Moralphilosophie).

Die zweite theoretische Stoßrichtung nun, die normativ ohne Anspruch ist, ist die system- oder differenzierungstheoretische. Geht es den meisten weiter oben beschriebenen Modellen darum, Öffentlichkeit maßgeblich als etwas Herzustellendes zu beschreiben, das infolge, den allgemeinen Volkswillen repräsentierend, dem Herrscher vorschreibe, „wie er herrschen solle“ (Luhmann 1975, S. 25), verzichtet der systemtheoretische Zugang auf zielgerichtete Explikationen der Bedingungen der Möglichkeit einer rationalen gesellschaftlichen Ordnung (z. B. habermas’scher Provenienz).

Die Öffentlichkeit wird hingegen, das Begriffsarsenal rund um Deliberation und Responsivität und Partizipation und Latenz etc. unbenutzt gelassen, in ihrer Funktion zu erfassen gesucht. Zunächst sei sie Resultat von Kommunikationen und zugleich Voraussetzung für weitere. Die Funktion in diesem „gemeinsamen Sichbeziehen auf identischen Sinn“ (Luhmann 1975, S. 13) liege aber nicht in der Richtigkeit der Meinungen, sondern „in der Unsicherheit absorbierenden, Struktur gebenden Leistung von Themen“ (Luhmann 1975, S. 15). Die Aufmerksamkeit werde jeweils auf gemeinsame Themen konzentriert.

Hand in Hand mit dieser Funktion von Öffentlichkeit, komplexitätsreduzierende, anschlussfähige Kommunikation zu ermöglichen, gehe die der Selbstbeobachtung einer Gesellschaft bzw. einzelner Teilsysteme. Öffentlichkeit diene als Reflexionsmedium. In der Öffentlichkeit sehe sich z. B. das Politiksystem wie in einem Spiegel, bzw. kann ein einzelnes Teilsystem beobachten, wie es von anderen beobachtet wird. Kurz: „Öffentlichkeit ermöglicht das Beobachten von Beobachtungen und transportiert Themen, die fortlaufend Kommunikation stimulieren“ (Frey 2007, S. 30).

Für beide Funktionen spielten die Massenmedien eine zentrale Rolle: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 1996, S. 9). Einzig mittels Massenmedien sei es möglich, in der/für die Gesellschaft einen großflächigen Deutungsrahmen aufzuspannen. Diese selektierten und fokussierten Themen und begrenzten so die erfahrbare Realität, reduzierten also Komplexität und Kontingenz.Footnote 7

In systemtheoretischer Perspektive ist in dieser Selektivität des knappen Guts Aufmerksamkeit kein wertthematisches Problem auszumachen. Es zeige sich lediglich „die Paradoxie des ‚Informationszeitalters‘ […] im Antagonismus von universellem Öffentlichkeitsanspruch und chronisch knapper Aufmerksamkeit“ (Merten und Westerbarkey 1994, S. 199).

In Bezug auf die Filterblasenfrage ist als erstes aufzugreifen, dass Öffentlichkeit nur durch temporäre Ignoranz der meisten Informationsangebote zu realisieren sei. „Es kann nicht darum gehen, gegenüber allen Geräuschen in der Umwelt empfindsam zu sein. Jedes System ist darauf angewiesen, nach außen Grenzen zu setzen und gegenüber vielerlei indifferent zu bleiben“ (Gerhards 1998, S. 273). So betrachtet ist nicht nur „die Weiterentwicklung massenmedialer Verbreitungstechnologien“, sondern auch die von Realitätseinschränkungstechnologien wie den Algorithmen eine „ausschlaggebende Errungenschaft“, weil sie gar die Funktion der Fokussierung perfektionierten, indem sie diese weiter fokussieren (Wixforth 2014, S. 86). Hauptsache sei ja, man „kann bei jeder Kommunikation bestimmte Rationalitätsannahmen voraussetzen, ohne sie eigens in die Kommunikation einführen oder begründen zu müssen“ (Luhmann 2004, S. 83). Und dafür ist es zunächst faktisch gleich, ob das qua der Figur des (rationalen) publizistischen Gatekeepers oder qua Rechenoperationen gedacht wird.Footnote 8

Allerdings werden große, gesellschaftsweit halbwegs homogen verbreitete Informationsreservoirs auch hier als notwendig erachtet. Gerade aufgrund von Heterogenität und Pluralisierung ist eine offene Gesellschaft auf allerorts geteilte Erfahrungen angewiesen. Wenn nicht mehr verlässlich „ohne weitere Überprüfung davon auszugehen ist, dass jedermann weiß (oder zumindest: unbestimmbar viele wissen), was mitgeteilt worden ist“ (Luhmann 2000, S. 310), wäre die Funktion der gesamthaften Selbstbeobachtung der Gesellschaft in der Öffentlichkeit determiniert und die Integration einer Gesellschaft erschwert. Die Filterblasenfrage lässt sich also auch in der Theorierichtung als Problem der Fragmentierung oder Polarisierung von Information kennzeichnen.

Dann aber kommt selbst hier in den Blick, „dass genau darin ihre Funktion (die der Öffentlichkeit, Anm.) gegenüber dem Reduktionismus und den Versteinerungen institutionalisierter Strukturen und Programme liegen kann. Öffentlichkeit erinnert auch an das, was die Institutionen ausschließen, und ist insofern Impulsgeber für gesellschaftliches Lernen“ (Gerhards und Neidhardt 1990, S. 32; für die systemtheoretische Perspektive vgl. hierzu den Begriff der „Irritation“ der eingespielten Programme und Entscheidungsroutinen etwa des politischen Systems z. B. bei Luhmann 1996, S. 149–150, 174).

1.6 Zusammenfassung

Gleich, ob in diskursethischer, deliberativer, konstruktionistischer, repräsentativ- oder partizipatorisch-liberalistischer, sozialpsychologischer oder strukturfunktionalistischer Perspektive, über alle Theoriedifferenzen hinweg lassen sich die Filter- und Selektionsalgorithmen als problematisch für die Öffentlichkeit(-sbildung) identifizieren, weil der Verlust einer gemeinsamen Agenda drohen könnte. Analysiert man das Filterblasenphänomen abstrakt in öffentlichkeitstheoretischer Perspektive – empirisch gesättigte Aussagen zu konkreten Wirkungen und Handlungsdringlichkeiten sind damit natürlich keine verbunden –, zeigt sich die „vielfache Vertreibung aus dem Paradies“ (Gerhards und Neidhardt 1990, S. 32).

2 Reaktionen seitens bzw. Aufgaben der Politischen Bildung

Auch bisherige pädagogische Praxen und Theorien müssten, so die naheliegende Annahme, ins Rutschen geraten. Bildungspraxen müssten angesichts der Tatsache, dass „Kommunikation und Handlung […] im Medium unsichtbarer Maschinen verrechnet [und] der Mensch selbst in einen Impuls, der nur noch an wenigen Stellen der Maschinerie die Chance hat, einen Schalter umzulegen, um etwas zu bewirken, oder ein Ergebnis abzulesen, mit dem er etwas anfangen kann“, verwandelt wird (Baecker 2016, o. S.), wohl nur schwer an ihrer bisher stets und für alles in Anschlag gebrachten Zauberformel ‚Medienmündigkeit‘ festhalten können, praxisorientierte Leitkategorien wie ‚informationelle Selbstbestimmung‘ oder ‚quellenkritische Alternativabwägung‘ müssten an Plausibilität verlieren. Und erziehungswissenschaftliche Theoriebildungen dürften angesichts der möglichen Erosion von bisherigen Öffentlichkeitsmodi nur mehr schwer in einem automatisierten Bezug auf klassische civic education funktionieren (vgl. für die „pädagogische Theoriebildung am Öffentlichkeitstopos“ Binder 2015).

Überschaut man einmal die aktuelle Diskurslage der Politischen Bildung, zeigt sich folgendes Bild:

  1. a)

    Zunächst macht sich tatsächlich Irritation breit: „Nothing is true – Everything is possible. Demokratische Erziehung, Verschwörungstheorien und die Krisen des Liberalismus“ (Drerup 2018). Alsdann drehen sich Debatten um die zeitdiagnostische Frage, wie es um Demokratieerziehung angesichts massiver Umwälzungen gegenwärtig steht (vgl. z. B. Oelkers 2018).

  2. b)

    Aller Irritation zum Trotz hält sich in der Debatte eine Jetzt-erst-recht-Position (vgl. Moegling 2018). Gepocht wird auf eine Art der klassischen Konzeption der Demokratieerziehung zum politischen, emanzipatorisch-kritischen Bürger, der aktiv das öffentliche Leben mitgestaltet (vgl. beherzt Hufer 2017; Schiele 2017). Aktuelle Veränderungen im Kontext von Filterblasen, z. B. das Erstarken „rechtspopulistischer Narrative“ (Andresen 2018), sind in dieser Perspektive keine Absage an herkömmliche Politische Bildung, sondern, optimistisch, eine Bestätigung und Chance (vgl. Diendorfer et al. 2017; Bünger et al. 2018).

  3. c)

    Allerdings mischen sich vermehrt Stimmen in die Debatte, die weniger die soziopolitischen Entwicklungen selbst befragen als solche pädagogische Reaktion darauf (vgl. Geiss und Reichenbach 2018).Footnote 9

Das heißt letztlich, dass im Kontext von Politischer Bildung eine mittlerweile vertraute, stabilisierte Figuration bestehen bleibt: ‚Alte‘ und ‚neue‘ Vertreter des Fachs debattieren binnenperspektivisch vor allem ihre pädagogischen Konzepte (vgl. Caruso und Schatz 2018). Befunde in Bezug auf die „Search Engine Society“ (Halavais 2009), erstellen oder debattieren sie nicht eingehend. In dem wuchtigen Umfang, wie sie Diskurse, Systeme und Öffentlichkeiten anderswo durchziehen, sind die gegenwärtigen Umwälzungen wahrlich nicht in den polit-pädagogischen Debatten angekommen. Die jüngsten großen Kompendien zum Themenfeld Digitalisierung, Demokratie und Politische Bildung (z. B. Hauk 2015; Ladel et al. 2018 oder der Digitalisierungsschwerpunkt des Hefts POLIS 3/2016) kommen ohne umfassende Eigendiagnosen und Problematisierungen der Filterblaseneffekte (i. w. S.) aus.

Das mag auf den ersten Blick defizitär und rückständig wirken; doch dafür gibt es – neben szientifisch-sozialen und disziplinpolitischen etc. – durchaus gute bildungstheoretische Gründe.

2.1 It’s the Allgemeinbildung, stupid

Das Phänomen der Filterblase konfrontiert nicht in erster Linie Politische Bildung, wohl nicht mal ein Medienbildung, sondern in erster Linie den Bereich Grundbildung. Es ist ein Thema allgemeiner Bildung, nicht der speziellen Bildung von (politischen) Experten, und dieses Allgemeinbildungsthema stellt sich zuvorderst in der Perspektive der Individuen dar, nicht der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten. Derart hat es die Allgemeinbildung in diesem Kontext mit der basalen bildungstheoretischen Frage zu tun, welche Prämissen für die Teilhabe an Kommunikation in Gesellschaften wie unseren generalisiert werden. Das heißt die grundlegende Bildungsaufgabe jenseits aller wertthematischen Emphase stellt sich nüchtern im Blick auf die Kompetenz in den Kulturtechniken und in den basalen Modi des Weltzugangs (vgl. Tenorth 1994). Die gesellschaftstheoretisch begründete Referenz auf Kommunikation in dieser Bestimmung des Bildungsproblems stiftet auch, ganz zwanglos, den Bezug auf die historisch jeweils präsente Medienstruktur, der „Gutenberg-Galaxis“ (McLuhan) früher, der digitalisierten Kommunikation heute, konkret des Filterblasen-Problems. Allgemeinbildnerische Praxis findet hier ihr neues Thema. „Medienkompetenz“Footnote 10 soll nun, das sagt so die Kultusministerkonferenz, neben Lesen, Schreiben und Rechnen zu den aktuell notwendigen „Kulturtechniken“ gerechnet werden (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland [KMK] 2012). Diese sei, vor aller weiteren Theoretisierung, curricularen Organisation und Didaktisierung, wie sie die Beobachter fordern und die Praktiker schon präsentieren, in einem elementaren Sinne unentbehrlich, um Grundbildung zu sichern und damit die selbstständige Teilhabe an Gesellschaft und an allen weiteren Lernprozessen zu eröffnen.

Diese Allgemeinbildungsarbeit hat immer zwei Dimensionen: Sie ist Arbeit mit und über Medien. Die Filterblase ist deshalb ein so notwendiges wie exemplarisches und produktives Thema solcher Medienbildung. Sie gehört in den Kreis der Kenntnisse und Praktiken, die man für und über das Medium und seine Funktionsweise erwerben sollte, und zwar in einer in sich gestuften Bildungsbewegung, sowohl als Initiation in die Praktiken netzbasierter Kommunikation wie auch als Reflexion über die Implikationen dieser Praktiken. Die Referenz für solche Arbeit am Thema ist, bildungstheoretisch, die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen, von der alle medienbezogene Kommunikation, vom Unterricht bis zum Netz, bestimmt ist. Die Botschaft des Netzes, die von der Suchmaschine offeriert wird, muss deshalb als eine solche Einheit decodiert werden, nicht allein als Information, will man die Autonomie im Umgang mit dem Angebot nicht verlieren. Im besten Fall wird man distanziert gegenüber einer Praxis, die zunächst in ihrer Unmittelbarkeit fasziniert und überzeugt, dann aber in ihrer konstruierten Gestalt als latent präsente Mitteilung erkennbar wird. Die allgemeinbildnerische Pointe der Filterblase ist schließlich, dass sie über diese Kompetenz im Umgang mit dem Medium auch den Umgang des Lernenden mit sich selbst produktiv erweitern kann, und zwar so, dass er sich selbst neu, besser und anders versteht, wenn er das Medium versteht. Die Konstruktionsprämisse der Suchmaschinen nämlich, dass wir auch in unserer Suche nach Informationen primär den eigenen Urteilen und Vorurteilen, Vorlieben und Erwartungen folgen und erst deshalb überhaupt berechenbar werden, kann den Anstoß geben, diese eigenen Fixierungen selbst noch zum Thema zu machen und im Lernen mit dem Medium auch die Arbeit an der eigenen Selbstwahrnehmung zu intensivieren. Das Klassenzimmer und der Unterricht (und die peer group!) sind dafür geeignete Orte und Anlässe, weil sie in der unausweichlichen Erfahrung mit den Anderen die Heterogenität personaler Modi des Weltzugangs erfahrbar machen und damit eine distanzierte Wahrnehmung der eigenen Identität eröffnen. Gute Allgemeinbildung kann sich hier bewähren, als Bildung der Handlungsfähigkeit des Subjekts. Das wäre schon viel; die Fundamente der Demokratie sind damit allein sicherlich noch nicht gesichert, sie sind auch nicht die primäre Referenz. Kompetenz baut das Subjekt zunächst für sich selbst auf.

Aber natürlich, den Dimensionen grundlegender Bildung und der Reichweite von Modi des Weltzugangs für individuelles Verhalten und kollektive Erwartungen entspricht es, dass allgemeinbildnerische Kompetenzen auch politisch relevant sind. Auch das sagt die KMK, wenn auch nicht im Duktus der Krisenrhetorik, sondern politisch abgeklärt und gut pädagogisch: „Ob neue Medien dabei zu mehr Demokratie und zu mehr gesellschaftlicher Freiheit führen oder aber das eine wie das andere auch einschränken und bedrohen können, hängt wesentlich von ihrem kompetenten Gebrauch ab. Mangelnde Medienkompetenz beschränkt die Möglichkeiten des Einzelnen zur politischen Mitwirkung und kulturellen Partizipation“ (KMK 2012).

Nichtsdestotrotz bleiben die im Teil I durchgespielten Probleme, die sich angesichts des mit der Filterblase erzeugten Problems der öffentlichen Kommunikation ergeben könnten. Bei aller Varianz, die sich für die Funktionsweise von Öffentlichkeit und die Erwartungen an die Subjekte in den einzelnen Theorien jeweils aufzeigen lassen, als Fazit bleibt doch eine grundlegende Herausforderung, wenn nicht basale Bedrohung der eingespielten Mechanismen und Leistungen von Kommunikation in der Öffentlichkeit.

Aber ist die Politische Bildung hier Zieladresse Nr. 1?

Moderne Gesellschaften kommen selbstverständlich nicht ohne öffentliche Erziehung aus, wenn sie Probleme der Integration lösen wollen. Aber sie betrachten Integration durch Erziehung nicht als Fundament ihrer Existenz, und sie verlassen sich nicht darauf, dass Erziehung jenseits der Habitualisierung von Differenzbewusstsein die Gemeinsamkeiten erzeugt, die politisch und gesellschaftlich vielleicht notwendig sind; denn nach aller Erfahrung kann man sich allein auf Erziehung nicht verlassen. Auch Gewaltenteilung als Prinzip liest sich eher wie ein Lob der Institutionen, weniger als Programmschrift direkter Demokratie und als ein Dokument des grenzenlosen Vertrauens in den Bürger und seine Vernunft, wie sie einzeln oder gesamt zum Ausdruck kommt. Für die Anerkennung des Rechtsstaates sorgen immer auch, vielleicht sogar wesentlich, Polizei und Justiz, für die soziale Integration sorgen die Wohltaten des Wohlfahrtsstaates und die Ökonomie („It’s the economy, stupid“, konnte Bill Clinton deshalb sagen, und er hat nicht Dewey zitiert). Für den Rest sorgen die sozialmoralischen Milieus, die uns auch darüber belehren, dass die pädagogische Überformung ihrer Sozialisationsleistungen durch große Programme der Erziehung zur Demokratie nicht sehr erfolgreich waren und sind.

Zum Glück, so könnte man die Gegenthese zuspitzen, ist die Demokratie nicht wirklich auf ein Konzept von Öffentlichkeit und die daraus abgeleitete Politische Bildung angewiesen. Für die natürlich unentbehrliche gesellschaftliche Integration, d. h. für die Universalisierung von Prämissen für Kommunikation, normativer wie kognitiver und motivationaler Prämissen, ist das Bildungssystem neben der Alltagserfahrung selbstverständlich so nützlich wie hilfreich, zumal für die Konfrontation mit systematisch organisierten Lernprozessen und mit anderen als den eigenen Sozialwelten und für die Kultivierung der Alltagserfahrung. Wenn es im Erziehungssystem dann noch gelingt, tatsächlich grundlegende Bildung für alle zu sichern und damit allen die Chance zu eröffnen, auch den eigenen Lebenslauf selbst zu konstruieren, dann wäre schon viel gewonnen.

Politische Bildung – allemal im Kontext der „Filterblasen“, über die man allgemeinbildnerisch relativ gut lehren und lernen kann (schon weil die Adressaten aus dem alltäglichen Umgang mit den Medien in der Regel die Motivation zum Lernen selbst schon mitbringen) – ist nicht der modus operandi für alle soziopolitischen und -kulturellen Belange. Insofern ist die bescheidene und behutsame, oder, wenn man es spitz will: die strukturkonservative und mäandernde Beschäftigung mit dem Filterblasenphänomen seitens der Politischen Bildung in Funktion und Leistung völlig in Ordnung.