Fake-Profile, Fake-Produkte und Fake News, schummelnde Konzerne, dopende Sportler und lügende Politikerinnen – Fake und Lüge sind heute in aller Munde und auf allen Kanälen. Bedroht die Lüge unser Zusammenleben? Wer bestimmt eigentlich, was wahr ist? Und wem können wir noch vertrauen? Um diese Fragen zu verhandeln, hat das Stapferhaus seinen Neubau direkt am Bahnhof Lenzburg im Oktober 2018 in aller Bescheidenheit als „Amt für die ganze Wahrheit“Footnote 1 eröffnet (Abb. 1).

Abb. 1
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(© Anita Affentranger)

Stapferhaus, „Amt für die ganze Wahrheit“.

Das Amt ist nicht dazu da, feste Wahrheiten zu vermitteln oder die Lüge vorschnell als Übel zu verurteilen. Es soll Orientierung stiften und den Dialog über Wahrheit und Lüge aufrechterhalten. Denn sowohl im Privaten als auch im Gesellschaftlichen müssen wir gemeinsam ausloten und aushandeln, wie wir mit Wahrheit und Lüge umgehen wollen. Und dafür ist das Amt auf das Engagement der Besucherinnen und Besucher angewiesen: Sie sind eingeladen, Selbstverständliches zu hinterfragen, neue Perspektiven zu entdecken – und sie werden aufgefordert, selbst Position zu beziehen.

1 Das Stapferhaus als „Stätte der menschlichen Begegnung und geistigen Auseinandersetzung“

Das Ziel des Stapferhauses, das Gespräch über wichtige Gegenwartsfragen anzustossen, geht auf die Anfänge der Institution in den 1960er-Jahren zurück. Der Kanton Aargau, die Stadt Lenzburg, Pro Argovia und Pro Helvetia gründeten das Stapferhaus als „Stätte der menschlichen Begegnung und der geistigen Auseinandersetzung“. Im Rahmen von Tagungen und Debatten trafen Meinungsmacherinnen und -macher aus unterschiedlichen Disziplinen und mit unterschiedlichen Haltungen aufeinander, um gemeinsam die Gegenwart zu diskutieren. Philipp Albert Stapfer, der vor rund 200 Jahren massgeblich an der Entstehung des Kantons Aargau beteiligt war und dessen kultur- und bildungspolitischen Ideen visionär waren, diente als Namensgeber.

1994 setzte das Stapferhaus erstmals auf ein neues Format: Die Ausstellung „Anne Frank und wir“ wurde ein grosser Erfolg. Der Zusatz „und wir“ wurde programmatisch für alle weiteren Ausstellungsprojekte zu Themen wie Zeit, Entscheiden, Glaube, Digitalisierung, Geld oder Heimat. Ohne Sammlung im klassischen Sinn, dafür mit vielfältigen Zeugnissen der Gegenwart, verfolgt das Stapferhaus bis heute das Ziel, die Auseinandersetzung mit relevanten Themen anzuregen. Es geht dabei auch um die Frage, was gesellschaftspolitische Problemstellungen mit unseren persönlichen Leben zu tun haben. Durch das Aufzeigen verschiedener Perspektiven und Meinungen und durch das Stellen neuer Fragen entsteht Raum für Selbstreflexion – und die Möglichkeit, über die gemeinsame Gegenwart zu diskutieren. Mit jedem Projekt wird aufs Neue und mit anderem Fokus gefragt, wie die verschiedenen Menschen in der Schweiz im 21. Jahrhundert das Zusammenleben gestalten wollen.

2 Gesellschaftlicher Dialog im „Amt für die ganze Wahrheit“

In der Ausstellung „FAKE. Die ganze Wahrheit“ geht es darum auszuhandeln, wie wir als Gesellschaft mit Wahrheit und Lüge umgehen wollen. Das „Amt für die ganze Wahrheit“ lud die Bevölkerung bereits vor seiner Eröffnung dazu ein, sich zu positionieren.. In Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle sotomo befragte das Stapferhaus knapp 9000 Menschen zu ihrem Umgang mit Wahrheit und Lüge, zu Vertrauen in die Medien und in gesellschaftliche Verantwortungsträgerinnen und -träger (Hermann und Bühler 2018). Über die Hälfte der Befragten waren der Meinung, dass die Welt eine bessere wäre, wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagen würden. Mehr als 80 % gaben an, wenig Vertrauen in Politikerinnen und Politiker zu haben. Und 43 % der Befragten gaben an, selbst gut oder sogar sehr gut lügen zu können.

Nicht nur solche Vorprojekte, sondern auch die Ausstellungen selbst öffnen einen Raum, in dem sich das Publikum einbringen und Spuren hinterlassen kann. Die Erfahrungen, Meinungen und Ansichten der Besucherinnen und Besucher fliessen in die Ausstellung ein, verändern sie und bilden die Grundlage für den Dialog über gesellschaftliche Grenzen hinweg. Das Anregen zu Gesprächen und Diskussionen ist ein Hauptziel aller Stapferhaus-Ausstellungen. Auch im „Amt für die ganze Wahrheit“ ist das Publikum eingeladen, gleich von Beginn weg Position zu beziehen – im wahrsten Sinne des Wortes: Im Rahmen seiner Begrüssung stellt der Chefbeamte Hans Wahr in einer übergrossen Videoinstallation Fragen rund um Lüge und Wahrheit (Abb. 2): Haben Sie heute schon gelogen? Kann man sich selbst belügen? Und möchten Sie immer die Wahrheit wissen, auch wenn sie vielleicht wehtut? Die Besucherinnen und Besucher positionieren sich gemäss ihrer Antwort, sodass sich Hans Wahr – und gleichzeitig die anderen Besucherinnen und Besucher im Raum – ein erstes Bild ihrer Haltung zu Lüge und Wahrheit verschaffen können.

Abb. 2
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(© Anita Affentranger)

Stapferhaus, Begrüssung durch den Chefbeamten.

Auch das Vermittlungskonzept zielt auf die Förderung des Dialogs: Auf begleiteten Rundgängen, bei Einführungen und Workshops steht nicht die einseitige Wissensvermittlung im Zentrum. Vielmehr werden die Besuchenden als Expertinnen und Experten unserer Zeit verstanden. Sie sind eingeladen, über ihre Erfahrungen, Haltungen und Unsicherheiten bezüglich Lüge und Wahrheit zu reden. Im gemeinsamen Gespräch wird beispielsweise eruiert, was unverrückbare Wahrheiten sind, in welchen Situationen wir oft lügen und weshalb es uns wichtig ist, echte Markenturnschuhe zu besitzen. Eine offene Haltung gegenüber den Erfahrungen des Publikums ermöglicht die Horizonterweiterung aller am Dialog Beteiligten – auch des Vermittlungspersonals.

Im „Amt für die ganze Wahrheit“ gibt es insgesamt acht Abteilungen, die auf spielerische Art zur tiefsinnigen Auseinandersetzung mit Wahrheit und Lüge anregen. In jeder Abteilung werden andere Aspekte rund um Wahrheit, Lüge und Fake beleuchtet. Im Herzstück des Amts, der „Zentralen Lügenanlaufstelle“, sollen die Besucherinnen und Besucher Lügen unterschiedlichster Art beurteilen. Bereits im Vorfeld der Ausstellung lud das „Amt für die ganze Wahrheit“ per öffentlichem Aufruf dazu ein, eigene Lügengeschichten einzureichen, die dann aufbereitet wurden und nun Teil der reichen Lügensammlung sind. In der „Abteilung für strategische Täuschung“ erzählen Tiere von ihren Tricks. In der „Medienstelle für alte und neue Fake News“ zeigt sich, dass die Debatte um Fake News eine lange Geschichte hat. Im „Labor für Lügenerkennung“ kann sich das Publikum spielerisch im Lügen erproben. Als Besucherin oder Besucher fordert man die Begleitung oder eine unbekannte Person auf, sich auf den Lügendetektor zu setzen, um sie zu befragen (Abb. 3). Die „Fachabteilung für Lügenerziehung und angewandte Pinocchioforschung“ geht der Frage nach, wie wir den Umgang mit Lüge und Wahrheit erlernen. In der „Dienststelle für Wahrheitsfindung und -sicherung“ ist das Publikum zum Faktencheck aufgefordert. Die „Prüfstelle für Fälschungen und ihr Gegenteil“ spürt der Sehnsucht nach dem Original nach – und zeigt einen Haufen echter Fakes. Und in der „Kommission für Glaubwürdigkeit“ verhandeln ein Lehrer, eine Politikerin, eine Richterin, ein Pfarrer, ein Wissenschaftler, eine Ärztin, eine Managerin und ein Journalist Fragen nach Glaubwürdigkeit und Vertrauen im Beruf. Für diese Installation wurden rund 250 Entscheidungsträgerinnen und -träger nach ihrem Umgang mit Lüge und Wahrheit in ihrem Beruf befragt. Die Antworten wurden zu einem dichten Videogespräch montiert und durch Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters Basel eingesprochen. Diese Installation soll dazu anregen, über die Bedeutung von Glaubwürdigkeit im eigenen Berufsalltag nachzudenken – und zu diskutieren, ob wir Autoritäten mehr vertrauen oder misstrauen sollten.

Abb. 3
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(© Anita Affentranger)

Stapferhaus, „Labor für Lügenerkennung“.

3 Digitale Technologien als Mittel für Partizipation

Das Stapferhaus nutzt verschiedenste Formate und Medien, um die Besucherinnen und Besucher zur geistigen Auseinandersetzung zu verführen. Dabei sind digitale Technologien willkommene Hilfsmittel: Sie ermöglichen Räume für die Beschäftigung mit der Materie, schaffen Zugang zu Inhalten und erhöhen die Partizipationsbereitschaft. Das Stapferhaus greift dann auf digitale Technologien zurück, wenn sich diese in den Dienst der Sache stellen und Teil eines grossen Ganzen bilden. Die Technologien werden nicht deshalb eingesetzt, weil sie neu und digital sind, sondern weil sie die Vermittlung von Inhalten unterstützen. Entscheidend ist, dass sie an ein haptisches Erleben gekoppelt sind. Das fördert die nachhaltige Wissensaneignung und vertieft das Ausstellungserlebnis. In zwei Abteilungen des Amts wird dies besonders deutlich: In der „Dienststelle für Wahrheitsfindung und -sicherung“ und in der „Zentralen Lügenanlaufstelle“.

3.1 Faktencheck in der „Dienststelle für Wahrheitsfindung und -sicherung“

83 % der Schweizer Bevölkerung sind gemäss der Studie, die das Stapferhaus gemeinsam mit sotomo durchgeführt hat, der Meinung, dass Fake News heute eine Gefahr für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen. Ebenso viele fühlen sich häufig oder gelegentlich durch Fake News in ihrer politischen Meinungsbildung beeinträchtigt (Hermann und Bühler 2018, S. 2). Grund genug also, sich in der Bekämpfung von Fake News zu üben. In der „Dienststelle für Wahrheitsfindung und -sicherung“ dreht sich alles um den Faktencheck (Abb. 4). Wie können wir in der täglichen Nachrichtenflut unterscheiden, welche Informationen wahr sind und welche falsch? Ist grundsätzliches Misstrauen gegenüber sämtlichen Nachrichten eine sinnvolle Lösung?

Abb. 4
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(© Anita Affentranger)

Stapferhaus, „Dienststelle für Wahrheitsfindung und -sicherung“.

Die Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, an zwei digitalen Tischen tatsächlich publizierte Nachrichten mittels verschiedener Instrumente auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Sie können die einzelnen Nachrichten anwählen und lesen. Hilfsmittel wie die Möglichkeit zur Recherche von Hintergrundinformationen, Autorschaft und Quellen helfen, die Texte differenzierter zu betrachten. Auf dieser Grundlage bilden sich die Besucherinnen und Besucher eine Meinung, ob es sich bei der Nachricht um Fake News oder wahre Information handelt. Sie müssen den Artikel als wahr oder falsch einstufen – die allfällige Richtigstellung ihrer Einordnung folgt sofort. Der Faktencheck-Tisch fördert so auf spielerische Weise die Medienkompetenz.

Es gibt auch einen Spielmodus für Gruppen: Zwei Teams können gegeneinander antreten, um sich im Faktenchecken zu messen. Dasjenige Team gewinnt, welches am meisten Werkzeuge anwendet und mehr richtige Entscheidungen trifft. Dies ermöglicht die direkte Diskussion der Inhalte und Methoden, die Kommunikation und Interaktion und die Konsensfindung innerhalb der Gruppe.

3.2 Lügen beurteilen in der „Zentralen Lügenanlaufstelle“

Das Herzstück des Amts ist die „Zentrale Lügenanlaufstelle“ (Abb. 5). Hier sind rund 70 Pospakete deponiert. Sie enthalten echte Lügengeschichten: vom Anwalt, der vor Gericht lügt, über den Journalisten, der Reportagen erfindet bis zur Regierung, die Proteste verleugnet.

Abb. 5
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(© Anita Affentranger)

Stapferhaus, „Zentrale Lügenanlaufstelle“.

Die Aufgabe des Amts ist es, diese Geschichten zu beurteilen – und dafür benötigt es die Mitarbeit der Besucherinnen und Besucher. Sie sollen die Lügengenpakete scannen, den Text, Ton oder Film sichten und die Lüge im Anschluss bewerten. Welche Lüge ist verzeihlich, welche ist tödlich? Welche ist womöglich sogar nötig und welche ist einfach nur lustig? Die Besucherinnen und Besucher ordnen die einzelnen Geschichten in neun verschiedene Kategorien ein und hinterlassen damit ihre persönliche Meinung. Sie sehen im Anschluss an die eigene Beurteilung, wie alle bisherigen Besucherinnen und Besucher die gleiche Lüge bewertet haben. Jede neue Einschätzung wirkt sich auf die Gesamtbeurteilung der Geschichte aus. So entsteht ein Bild davon, wie wir als Gesellschaft unterschiedliche Lügen bewerten.

Das Amt erhebt bei jeder Lügenbewertung Alter, Geschlecht und politische Einstellung der Besucherinnen und Besucher. So wird sichtbar, dass die Beurteilung bestimmter Lügen auch abhängig vom persönlichen Hintergrund ist. Je nach Geschichte entscheiden ältere Menschen anders als jüngere, konservative anders als liberale, Männer anders als Frauen. Eine erste Zwischenauswertung nach rund zwölf Monaten Ausstellungszeit und knapp 100 000 Besucherinnen und Besuchern zeigt:Footnote 2 Die in Bezug auf die politische Einstellung am stärksten polarisierende Lüge ist die Geschichte eines Mannes, der als Sans-Papiers in der Schweiz lebt und die Polizei belügt, um nicht aufzufliegen und ausgewiesen zu werden. Das politisch links eingestellte Publikum bewertet diese Lüge mehrheitlich als nötig, während sie politisch rechtsstehende Besucherinnen und Besucher eher als inakzeptabel einstufen. Die Geschichte, welche zwischen Jung und Alt am umstrittensten ist, ist eine verheimlichte Affäre: Eine junge Frau erzählt, wie sie sich in den besten Freund ihres Partners verliebt und diesen betrügt. Das junge Publikum beurteilt diese Geschichte deutlich negativer als das ältere. Die Lüge, welche unabhängig von Alter, politischer Einstellung und Geschlecht am kontroversesten diskutiert wird, erzählt eine Frau, die sich gezwungen sieht, ihre Mutter auf dem Sterbebett anzulügen. Diese verlangt von ihrer Tochter, den zurückbleibenden Vater bis zu dessen Tod zu Hause zu pflegen. Obwohl die Tochter weiss, dass sie dieser Forderung unmöglich nachkommen kann, gibt sie ihrer Mutter das Versprechen. Bei der Bewertung dieser Lüge scheinen nicht demografische Unterschiede, sondern vielmehr moralische Einstellungen und Erlebnisse ausschlaggebend zu sein.

Für Gruppen gibt es auch in der „Zentralen Lügenanlaufstelle“ eine spezielle Station: Via Lautsprecher und grosser Projektion kann eine Geschichte mehreren Besucherinnen und Besuchern gleichzeitig gezeigt werden. Jedes Gruppenmitglied beurteilt die Lüge auf einem Tablet. Dies regt den Dialog an über Werte und moralische Massstäbe, über eigene Erfahrungen, über die Freiheit des Einzelnen und über gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Als Reaktion auf die Schliessung des „Amts für die ganze Wahrheit“ aufgrund der Corona-Pandemie wurde ein Teil der Ausstellungsinhalte ins Netz verlagert – unter anderem auch die „Zentrale Lügenanlaufstelle“. Die Lügengeschichten können auf der Stapferhaus-Website angehört und auch über die Ausstellungszeit hinaus bewertet werden.

3.3 „Die Wahrheit braucht Dich!“

Die Ausstellung FAKE bietet auf vielfältige Weise Raum für die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung zur Lüge. Sie fordert zur Positionierung auf und regt an, die eigene Meinung zu hinterfragen. Das „Amt für die ganze Wahrheit“ ist insbesondere auch Ort für die Verständigung über den Umgang mit Wahrheit und Lüge als Gesellschaft. Digitale Technologien ermöglichen dabei einen spielerischen Zugang zu Inhalten und erleichtern die Interaktion in der Gruppe.

Im Stapferhaus wird so auf niederschwellige Weise politische Bildung gefördert: Auf dem Rundgang durch das Amt setzen sich die Besucherinnen und Besucher mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben auseinandersetzen, sie suchen gemeinsam Lösungen für Uneinigkeiten und schärfen dadurch das Verständnis für andere Positionen und das eigene Verhältnis zum Politischen.

Ihr Engagement bei der Beschäftigung mit der Wahrheit sollen die Besucherinnen und Besucher auch in ihren Alltag tragen. Sinnbildlich dafür entlässt sie der Chefbeamte mit dem Aufruf: „Die Wahrheit braucht Dich!“