Bei der Süd- und Norderweiterung des Schengen-Raums stand die grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit insbesondere für Urlaubsreisende im Fokus. Kamen Debatten um Gefahren der Grenzöffnung auf, kreisten sie meist um die Herausforderungen polizeilicher Zusammenarbeit aufgrund der Sorge vor einer Beschränkung der Möglichkeiten der Strafverfolgung in einem Raum ohne Grenzkontrollen. Die Diskussion um eine Verschiebung der Schengen-Grenze nach Osten beherrschte demgegenüber die Frage nach dem Umgang mit einer für unerwünscht erklärten Ost-West-Migration (Siebold 2013, S. 234–238). Nicht nur die Stabilität von Arbeitsmärkten, sozialen Sicherungssystemen und Löhnen im Norden, Westen und Süden Europas galt als gefährdet, vielmehr schienen auch vermehrt gesellschaftliche Konflikte zu drohen (Engbersen et al. 2010; Grabbe 2000).

Der unter Begriffe wie „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ und „Zusammenbruch des Ostblocks“ gefasste Prozess bildete ein Konglomerat vielfältiger politischer Spannungen und Auseinandersetzungen, die zum Teil in Bürgerkriegssituationen mündeten. Strukturelle Voraussetzung für die vermehrte Migration waren die vielfach als gesellschaftliche Krisen wahrgenommenen Transformationen der politischen, ökonomischen und sozialen Systeme in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa: Die Zentralverwaltungsökonomien wandelten sich zu Marktwirtschaften, staatliche Unternehmen wurden privatisiert, Preise für Grundnahrungsmittel und Mieten nicht weiter subventioniert, Beschäftigungsgarantien endeten. Vor allem durch den beschleunigten Umbau in den 1990er Jahren wuchsen Erwerbslosigkeit, Inflationsraten und Preise, während Ersparnisse entwertet wurden, viele Qualifikationen nicht mehr den Anforderungen zu genügen schienen und Realeinkommen sanken. Noch im Jahre 1999 – also zehn Jahre nach dem Umbruch 1989/1990 – erreichte beispielsweise das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Ostmitteleuropa lediglich 36 % des für West- und Mitteleuropa ermittelten Wertes. Das Verhältnis der Durchschnittslöhne lag im Jahr 1999 in diesen beiden Teilen des Kontinents bei eins zu sechs (Morawska 1999).

Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wuchs zunächst die Zahl jener Menschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei rasch an, die Asyl in Mittel- und Westeuropa beantragten. Bald folgten Asylsuchende aus Rumänien, Bulgarien und Albanien. In den Staaten im Westen Europas bildeten politische Diskussionen um eine missbräuchliche Nutzung von Asylrechtsregelungen eine erste Reaktion, auf die bald Einschränkungen des Zugangs zu den Asylverfahren folgten. Sie kulminierten im Kontext der umfangreichen Fluchtbewegungen, die aus dem Zerbrechen Jugoslawiens in den 1990er Jahren resultierten. 1995 waren nach Angaben des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 3,7 Mio. Schutzsuchende im Zuge des Jugoslawien-Konflikts innerhalb der Region ausgewichen. Zudem flohen mehrere hunderttausend Menschen in andere Staaten Europas und blieben für unterschiedlich lange Zeiträume (Selm 1998, S. 173–239; Calic 2006).

Vor allem während des Krieges um Bosnien-Herzegowina 1992 bis 1995 stieg die Zahl der Schutzsuchenden in West- und Mitteleuropa erheblich an. Schätzungen gehen davon aus, dass wegen der militärischen Auseinandersetzung in und um Bosnien-Herzegowina ca. 2,5 Mio. Menschen flohen. Rund 600.000 von ihnen wichen innerhalb Bosnien-Herzegowinas aus, eine ähnlich hohe Zahl blieb in den Staaten der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien. Etwa 1,3 Mio. Menschen gelangten in andere Länder, rund die Hälfte davon in EU-Staaten. 1997 hielten sich noch 580.000 Schutzsuchende aus Bosnien-Herzegowina in der EU auf – darunter mit 340.000 der größte Teil in Deutschland, das auf eine Politik des erhöhten Drucks zur Rückkehr setzte: Menschen, die vor Krieg und Bürgerkrieg aus Bosnien-Herzegowina geflohen waren, wurden nicht zum Asylverfahren zugelassen. Ein prekärer Aufenthaltsstatus und zahlreiche Abschiebungen bewirkten, dass sich die Zahl der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina in Deutschland bis 2003 auf ein Zehntel des Wertes von 1997 verringerte, innerhalb von nur sechs Jahren also.

Die neue Ost-West-Arbeitsmigration nach 1989 war zunächst vor allem auf die unmittelbar benachbarten Staaten im Westen ausgerichtet: Italien oder Griechenland wurden vornehmlich zum Ziel südosteuropäischer Zuwanderung, bei der die albanische Migration dominierte. Die Zuwanderung nach Österreich speiste sich vor allem aus Bewegungen aus Jugoslawien und deren Nachfolgestaaten, während in Deutschland polnische Beschäftigte überwogen. Die in West- und Mitteleuropa registrierten Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Polen arbeiteten in den 1990er Jahren zu drei Vierteln in Deutschland. Um dauerhafte Einwanderung und undokumentierte Arbeitswanderung zu vermindern sowie die Zuwanderung in jene Arbeitsmarktbereiche zu lenken, in denen der Bedarf besonders hoch zu sein schien, vereinbarte Deutschland mit einem Großteil der Staaten Ostmittel- und Südosteuropas Abkommen zur Regelung der Arbeitsmigration – von Bosnien-Herzegowina und Bulgarien über Kroatien, die Tschechische Republik, die Slowakei, Serbien, Lettland, Mazedonien, Polen, Rumänien bis hin zu Slowenien und Ungarn. Zentrale Elemente waren dabei die Begrenzung einerseits des Umfangs der Zuwanderung auf der Basis von Bedarfsanalysen der deutschen Arbeitsverwaltung sowie andererseits die Beschränkung auf saisonale oder kurzfristige Tätigkeiten (meist ein bis drei Monate) (hierzu und zum Folgenden: Dietz 2016).

Auch andere west- und mitteleuropäische Staaten schlossen in den 1990er Jahren solche bilateralen Verträge, wenngleich diese nie das Gewicht der deutschen Regelungen erreichten. Im Jahre 2003 wurden im Rahmen bilateraler Verträge insgesamt 320.000 polnische Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Europa beschäftigt, 95 % davon in Deutschland. Die restriktive Steuerung der Arbeitsmigration durch die Bundesrepublik trug mit dazu bei, dass andere Ziele in West- und Mitteleuropa an Attraktivität für Zugewanderte aus Polen gewannen. Seit Mitte der 1990er Jahre wuchs der Umfang der Bewegungen nach Spanien, Großbritannien, Belgien, Frankreich, Italien und schließlich auch nach Irland (Kaczmarczyk 2010, S. 165 f.). Dass die Erwerbsbereiche in Deutschland, die besonders häufig polnische Arbeitskräfte nachfragten, seit Ende der 1990er Jahre auch zunehmend in weiter entfernt liegenden Gebieten Osteuropas Arbeitskräfte (z. B. in Rumänien oder Bulgarien) suchten, lag aber auch an der verbesserten wirtschaftlichen Situation in Polen selbst: Polen entwickelte sich zum Zuwanderungsland; polnische Arbeitswanderer, darunter viele hochqualifizierte Kräfte, kehrten zudem wegen der vermehrten Erwerbsmöglichkeiten in ihr Herkunftsland zurück. Zwischen 2000 und 2010 war nach Angaben der Vereinten Nationen die Zuwanderung nach Polen jährlich um durchschnittlich 4.000 Personen höher als die Abwanderung. Das war ein Grund, weshalb der erwartete Anstieg der Abwanderung aus Polen nach Mittel- und Westeuropa nach dem EU-Beitritt des Landes 2004 ausblieb. In den Jahren bis 2015 überstieg dann zwar die Abwanderung aus Polen wieder die Zuwanderung, blieb aber auf relativ niedrigem Niveau (15.000 Personen wanderten jährlich mehr ab als zu) (Statistisches Bundesamt 2017).

Das östliche Europa darf in diesem Zusammenhang allerdings nicht ausschließlich als Abwanderungsregion verstanden werden. Anknüpfend an die Migrationsverhältnisse vor der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, als Polen, Bulgarien, Rumänien und die Ukraine eher als Abwanderungsländer und die Tschechoslowakei, Ungarn und die DDR tendenziell als Zuwanderungsländer (wenngleich von Bewegungen relativ geringen Umfangs) zu verstehen waren (Mazurkiewicz 2019), blieben in den 1990er Jahren insbesondere Ungarn und die Tschechische Republik zunächst weiterhin Ziele der Arbeitsmigration aus osteuropäischen Nachbarstaaten. Erst gegen Ende der 1990er Jahre verloren sie ihre Bedeutung als Zuwanderungsziele. Verantwortlich dafür waren unter anderem die wachsenden Netzwerke osteuropäischer Arbeitskräfte in und nach Westeuropa, die weitere Bewegungen von Ost nach West erheblich erleichterten.

Wie viele Menschen aus den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, die nach 2004 Teil der EU wurden, zwischen 1989 und Anfang der 2000er Jahre in den Westen des Kontinents wanderten, lässt sich nicht verlässlich bestimmen – vor allem deshalb nicht, weil es sich in vielen Fällen um temporäre Wanderungsbewegungen handelte. Schätzungen zufolge sind aus diesen Staaten 3,2 Mio. Menschen mehr ab- als zugewandert, daran hatten Rumänien und Bulgarien einen Anteil von mehr als 60 %. Der Umfang der Bevölkerung Bulgariens beispielsweise soll sich zwischen 1989 und 2004 um 700.000 (rund 7 %) aufgrund von Abwanderung verringert haben (Engbersen et al. 2010, S. 9 f.; Mintchev und Boshnakov 2010, S. 231 f.). Zwischen 2001 und 2005 sei in einem Zehntel der Haushalte in Bulgarien ein Mitglied in ein anderes Land abgewandert. In Rumänien soll dieser Anteil zwischen 1990 und 2000 bei 35 % aller Haushalte gelegen haben (Potot 2010, S. 250).

Hochqualifizierte Arbeitskräfte waren kaum Restriktionen einer Abwanderung nach Westen ausgesetzt. Sie kamen überwiegend aus Polen, Bulgarien, Rumänien und den baltischen Staaten, in denen sich bereits in den 1990er Jahren die Debatte um einen „Brain Drain“ und die ökonomischen Folgen verstärkten. Sie entzündete sich auch deshalb, weil sich beobachten ließ, dass hochqualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migranten im Westen oft Positionen am Arbeitsmarkt einnahmen, die unterhalb ihres Qualifikationsniveaus lagen („Brain Waste“) (Galgóczi et al. 2012, S. 8). Als negativ wurden sowohl im Osten als auch im Westen Europas außerdem die Folgen eines „social dumping“ diskutiert, also die Praxis westlicher Unternehmen, Arbeitskräfte oder ganze Firmen im Rahmen der „Dienstleistungsfreiheit“ aus östlichen EU-Staaten zu beauftragen, Aufträge zu geringen Löhnen bzw. Kosten, nämlich zu den Bedingungen des Herkunftslandes, ausführen zu lassen. Allerdings gab es auch vermehrt Bewegungen in den Osten bzw. Südosten Europas: Seniorinnen und Senioren aus wohlhabenderen EU-Staaten ließen sich im Rahmen von „sunset migration“ oder „Lebensstil-Migration“ in Ländern mit besseren klimatischen Bedingungen und geringeren Lebenshaltungskosten nieder (Boswell und Geddes 2011, S. 186–194).

Für nicht unerhebliche Veränderungen bei den Bewegungsrichtungen sorgte die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007/2008. Sie soll zu einem Verlust von 7 Mio. Arbeitsplätzen in den alten EU-Staaten geführt haben. Das traf Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus den neuen Schengen-Staaten im Osten Europas, die im Westen arbeiteten, besonders stark: Unter ihnen war die Erwerbslosigkeit bereits vor der Krise überdurchschnittlich hoch. In der Krise nahm die Erwerbslosigkeit unter den Zugewanderten in Belgien, Irland, Spanien, Frankreich, den Niederlanden und Schweden deutlich stärker zu als unter den Einheimischen (Galgóczi et al. 2012, S. 17–21). In der Bundesrepublik Deutschland und in Luxemburg hingegen nahm die Erwerbslosigkeit ab, weil beide Staaten die Krise schnell überwanden, die Ökonomie expandierte und sich eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften ausprägte. Das führte auch dazu, dass Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa, die in den von der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders stark betroffenen Staaten Portugal, Spanien, Italien und Griechenland gelebt hatten, nach 2008 weiter nach Norden wanderten und vermehrt beispielsweise Deutschland oder Großbritannien erreichten (Glorius und Domínguez-Mujica 2017, S. 7 f.).

Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern nahmen 1998 Verhandlungen zum EU-Beitritt auf. Seit 2000 verhandelten auch Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, die Slowakische Republik und Rumänien um ihren Beitritt. Alle diese Staaten mit Ausnahme von Rumänien und Bulgarien wurden am 1. Mai 2004 EU-Mitglieder. Gemäß dem Vertrag von Amsterdam von 1997 übernahmen sie damit auch die Regelungen des Schengener Abkommens. Der Abbau der Grenzkontrollen zu diesen Staaten und damit die vollständige Inkraftsetzung des Schengener Übereinkommens ließ allerdings bis zum 21. Dezember 2007 auf sich warten, als die für erforderlich gehaltenen Sicherheitsstandards für diesen Schritt (bis auf Zypern wegen der Teilung der Insel) erfüllt waren.

Nicht alle Bestandteile des EU-Rechts galten aber von Anbeginn. Vor allem die Freizügigkeit von Arbeitskräften war aufgrund von Bedenken über die Folgen einer hohen Zuwanderung von dort für die nationalen Arbeitsmärkte in einigen Staaten im Westen Europas noch für bis zu sieben Jahre ausgesetzt. Irland, Schweden und Großbritannien öffneten ihre Arbeitsmärkte für Angehörige ostmittel- und südosteuropäischer Staaten, die 2004 Mitglied der EU geworden waren, allerdings noch im selben Jahr. Griechenland, Portugal und Spanien folgten 2006, die Niederlande 2007, Frankreich 2008. Deutschland nutzte die siebenjährige Frist in vollem Umfang aus und öffnete die Grenzen für Arbeitskräfte erst 2011 (Boswell und Geddes 2011, S. 76–102). Bulgarien und Rumänien wurden am 1. Januar 2007 EU-Mitglieder, Kroatien am 1. Juli 2013. Alle drei Staaten haben zwar die Schengener Verträge unterzeichnet, erfüllen aber auch im Jahr 2021 noch nicht die im Schengener Durchführungsübereinkommen festgeschriebenen grenz- und migrationspolitischen Ausgleichsregeln, weshalb weiterhin gegenüber anderen Schengen-Staaten Grenzkontrollen existieren.

Hatte die Einigung europäischer Staaten auf gemeinsame Freizügigkeitsregelungen und der Verzicht auf Kontrollen an den Binnengrenzen den Charakter eines Modells für andere Teile der Welt? Zumindest partiell lässt sich davon in Lateinamerika und Westafrika sprechen (Lavenex et al. 2016, S. 474 f.). Die europäische Initiative zur Herausbildung eines gemeinsamen Marktes unter Einschluss von Regelungen zur Freizügigkeit griff bereits 1969 die Andengemeinschaft (Comunidad Andina) auf. Bolivien, Chile (ausgetreten 1976), Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela (ausgetreten 2011) vereinbarten für Angehörige der Partnerstaaten, die in einem anderen Land der Andengemeinschaft arbeiteten, die Regeln der Nichtdiskriminierung und das Recht auf gleichen Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssektor, zum Wohnungsmarkt und zum sozialen Sicherungssystem. Seit den frühen 2000er Jahren erleichtert der „Andenpass“ die Bewegung über die Grenzen der Mitgliedstaaten und garantierte Visumfreiheit. Das damals ebenfalls abgeschlossene „Anden-Migrationsstatut“ (Estatuto Migratorio Andino) schreibt Freizügigkeit für die Angehörigen der Vertragsstaaten fest und soll dem Vorbild von „Schengen“ entsprechend alle Kontrollen an den Binnengrenzen der Andengemeinschaft beseitigen, ist aber auch nach mehr als anderthalb Jahrzehnten noch nicht in Kraft getreten.

Auch der 1991 gegründete „Gemeinsame Markt im südlichen Lateinamerika“ (Mercosur) lehnte sich zunächst an die europäische Integration an und verstand diese als Modell. Mercosur, gegründet von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, dem sich später weitere Staaten anschlossen, ist im Kern eine Zollunion, verfolgt aber auch migrationspolitische Ziele: Seit Ende der 1990er Jahre gilt eine Regelung zur Übertragung von Rentenansprüchen über Ländergrenzen, die Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten ist rechtlich verankert. Es herrscht Visumfreiheit (Brumat und Acosta 2019).

Wie in Europa, wurden die migrations- und grenzpolitischen Maßnahmen vor allem mit dem Interesse an einer Förderung der Ökonomie begründet. Im Angesicht der schweren Wirtschaftskrise in Südamerika Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre rückte Mercosur von der Vorstellung ab, Migrationspolitik vornehmlich als Thema ökonomischer Entwicklung zu verstehen. Vor allem die Diskussion um den Umgang mit Hunderttausenden von undokumentierten Migrantinnen und Migranten, die vielfach von den Folgen der Wirtschaftskrise besonders stark betroffen waren, führte zu einer politischen Initiative, die die Chancen von Angehörigen von Mitgliedstaaten erheblich verbesserte, in einem anderen Partnerland einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Dass es hierbei um eine Regularisierung des Aufenthalts und nicht um eine Freizügigkeitsregelung ging, zeigt sich darin, dass der Grenzübertritt nicht erleichtert wurde. Während diese Maßnahmen auf Herausforderungen in Südamerika reagierten und in der politischen Debatte eine Vorbildfunktion der europäischen Integration für die südamerikanische Migrationspolitik auch explizit abgelehnt wurde, ist die EU als politisches Rollenmodell zuletzt wieder präsenter geworden: Seit Anfang der 2010er Jahre verfolgt Mercosur das Ziel, eine gemeinsame Staatsbürgerschaft zu entwickeln, der Plan ließ sich bislang allerdings nicht umsetzen.

Rund ein Jahrzehnt nach der Andengemeinschaft stimmte die Economic Community of West African States (ECOWAS) ein „Protocol on Free Movement of Persons, Residence and Establishment“ ab. Es schrieb als Ziel die Freizügigkeit zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten Benin, Burkina Faso, Cap Verde, Elfenbeinküste, Gambia, Guinea, Guinea-Bissau, Liberia, Mali, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone und Togo in drei Phasen fest. Die 1979 vereinbarte Regelung umfasste Bestimmungen über eine visumfreie Einreise sowie das Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit zu suchen und sich niederzulassen, ohne um eine Genehmigung nachsuchen zu müssen. Bereits unmittelbar nach dem Ende der Kolonialzeit in Westafrika zeigte sich ein politischer Konsens, die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zu stärken. Ziel war nicht nur die Verbesserung der ökonomischen Situation. Vielmehr ging es auch um die Förderung des politischen Dialogs, nicht zuletzt, um gemeinsame Wege des Umgangs mit den weitreichenden Konsequenzen von Kolonisation und Dekolonisation zu finden – darunter die für die Migrationsverhältnisse höchst folgenreiche willkürliche Ziehung staatlicher Grenzen durch die Kolonialmächte.

Bis in die Gegenwart haben die politischen Eliten in den Staaten der ECOWAS an den Zielen des Protokolls von 1979 festgehalten, wenngleich diverse Absprachen keineswegs in allen Mitgliedstaaten in Kraft gesetzt wurden: Während Regelungen zur visumfreien Einreise und eines anschließenden Aufenthalts von bis zu 90 Tagen bereits Mitte der 1980er Jahre in allen Mitgliedstaaten umgesetzt worden waren, galt das nicht für das Recht auf Beschäftigung und die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit. Und selbst wenn die gemeinsamen Regelungen in das nationale Recht implementiert worden sind, ist in vielen Staaten nicht gesichert, dass sie auch angewendet werden.

Die EU unterstützte den Prozess der Weiterentwicklung von Freizügigkeitsregelungen in Westafrika lange finanziell und politisch. Seit Mitte der 2010er Jahre aber lässt sich ein Paradigmenwechsel beobachten: Angesichts der Zunahme der Zahl Asylsuchender auch aus West- und Ostafrika in Europa und der in der EU weitverbreiteten Vorstellung, sie könne in Zukunft erheblich weiter ansteigen, setzt die Afrikapolitik der EU nicht mehr auf die Förderung der Integration der Volkswirtschaften, sondern auf eine Verstärkung der Abgrenzung der Staaten untereinander. Grenzüberschreitende Bewegungen sollen in Westafrika vermehrt kontrolliert und verhindert werden, um Migrationen in Richtung Europa zu erschweren.

Eine ähnliche Entwicklung steht in Ostafrika zu erwarten: Während in Westafrika seit der Dekolonisierung eine Politik der überstaatlichen Zusammenarbeit viele Anhänger fand, blieben die zwischenstaatlichen Beziehungen in Ostafrika eher durch Konflikte und Kriege gekennzeichnet. Grenzüberschreitende Bewegungen wurden vornehmlich als Risiken für Sicherheit und Ökonomie wahrgenommen. Erst seit dem Friedensabkommen zwischen Äthiopien und Eritrea 2018 hat sich die regionale Zusammenarbeit insbesondere im Rahmen der „Intergovernmental Authority on Development“ (IGAD) als gemeinsame Einrichtung von sieben Ländern in Nordostafrika verstärkt, die auch auf Erleichterungen für die grenzüberschreitende Migration zielen (Dick und Schraven 2018). Vieles deutet darauf hin, dass auch hier die EU ihre Unterstützung bald zurückziehen wird.