Der Begriff „Schengen“ steht heute für den Verzicht auf regelmäßige stationäre Kontrollen an den Grenzen zwischen den 26 Mitgliedstaaten des Schengen-Raums. „Schengen“ bildet damit ein wesentliches Element der von der Europäischen Union (EU) als ein zentrales Ziel ihrer Politik formulierten Freizügigkeit, also der uneingeschränkten Bewegung aller Bürgerinnen und Bürger zwischen den Mitgliedstaaten der EU und der dort gewährten Freiheit der Niederlassung. „Schengen“ steht außerdem für die grenzpolizeiliche Zusammenarbeit der Staaten innerhalb Europas und an den Außengrenzen der EU. Die viel zitierte „Festung Europa“ wird im medialen und aktivistischen Bereich deshalb häufig als das Spiegelbild des „Europas ohne Grenzen“ verstanden.Footnote 1

Der Prozess zum einen der Gewährung gleicher Rechte auf räumliche Bewegung und Niederlassung für alle Bürgerinnen und Bürger sowie zum anderen der Begrenzung der staatlichen Kompetenzen zur Kontrolle der Migration zwischen den Mitgliedsländern von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Europäischer Gemeinschaft (EG) und EU begann in den 1950er Jahren und damit weit vor der Unterzeichnung des Schengener Abkommens 1985. Er entwickelte sich weder einheitlich noch kontinuierlich oder widerspruchsfrei und entspricht damit dem erratischen Verlauf der europäischen Integration: Trotz vieler Auseinandersetzungen um deren Ziel, Funktion, Form, Reichweite und Geschwindigkeit beteiligten sich immer mehr Staaten an dem Aufbau über- und zwischenstaatlicher Einrichtungen, übertrugen einzelstaatliche Befugnisse auf europäische Behörden und vereinbarten gemeinsame Regelungen.

Ausmachen lassen sich sehr unterschiedliche Vorstellungen zum Thema Migration in den Gesellschaften der Schengen- bzw. EU-Mitgliedstaaten. Sie bildeten sich auch vor dem Hintergrund einer überaus heterogenen europäischen Migrationsgeschichte heraus: In einigen EU-Ländern, die, wie etwa Frankreich, Großbritannien, die Niederlande oder Portugal, über Jahrhunderte Kolonialmächte waren, führte der Prozess der Dekolonisation von den 1940er bis zu den 1970er Jahren zu spezifischen interkontinentalen Migrationsmustern. Im Falle anderer EU-Mitglieder prägte demgegenüber räumliche Nähe das Wanderungsgeschehen (so wie bei der großen Bedeutung der albanischen Migration nach Griechenland) oder die vormalige gemeinsame Zugehörigkeit zu einem zerfallenen Staat, wie das Beispiel Tschechiens und der Slowakei zeigt.

In weiteren Schengen-Staaten erwies sich die intensive Beteiligung an dem weitreichenden System der Rekrutierung von Arbeitskräften im Rahmen von Anwerbeabkommen von den späten 1940er bis zu den frühen 1970er Jahren als bedeutend. Es brachte auch nach seinem Ende umfangreiche Folgewanderungen mit sich, wie sich beispielsweise für die Schweiz, Österreich oder Luxemburg ausmachen lässt. Frankreich, Belgien oder die Bundesrepublik Deutschland wiederum waren schon in den 1950er und 1960er Jahren Einwanderungsländer. Griechenland, Spanien oder Portugal blieben bis in die 1980er Jahre wichtige Herkunftsländer binneneuropäischer Bewegungen. Bulgarien, Polen oder Rumänien lagen nach dem Zweiten Weltkrieg im Einflussbereich der UdSSR und wurden über viele Jahrzehnte kaum mit den Themen Migration oder Asyl konfrontiert. Erst nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ 1989/1990 setzte von dort eine stärkere Migration in den Westen des Kontinents ein.

Auf diese ausgeprägte Heterogenität und die damit in vielerlei Hinsicht in Verbindung stehende unterschiedlich intensive migratorische Verflechtung der europäischen Gesellschaften untereinander (Arango 2012) weisen auch die Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat zu den Wanderungsbilanzen der EU-Mitgliedsländer hin, die in der Visualisierung ein bemerkenswert symmetrisches Gebilde ergeben (s. Abb. 1.1): Im Jahre 2014, das hier ausgewählt wurde, um die Situation vor der erheblichen Asylzuwanderung der Jahre 2015 und 2016 abzubilden, verzeichneten 15 der 28 EU-Staaten mehr Zu- als Abwanderungen, hatten also positive Wanderungssalden.

Abb. 1.1
figure 1

(Datenquelle: Eurostat)

Nettomigrationsraten in den EU-Mitgliedstaaten 2014. Erläuterung: Die Nettomigrationsrate bezeichnet den Wanderungssaldo (Zuzüge minus Fortzüge) pro Jahr bezogen auf 1000 Einwohner.

Dabei ergaben sich, wie Abb. 1.2 dokumentiert, große Unterschiede: Während in einigen EU-Ländern der Anteil ausländischer Staatsangehöriger in der Bevölkerung bei unter einem Prozent lag (Kroatien, Litauen, Polen, Rumänien), erreichte er in Luxemburg 45 %. In der EU insgesamt betrug im Jahr 2018 die Zahl der EU-Staatsangehörigen, die in einem anderen Mitgliedsland lebten, 17,6 Mio. (3,5 % der EU-Gesamtbevölkerung). Hinzu traten 22,3 Mio. Angehörige von Drittstaaten. Das waren 4,4 % aller Menschen in der EU. Allein fünf Staaten registrierten 76 % dieser insgesamt 39,9 Mio. „non-nationals“: Deutschland 9,7 Mio., Großbritannien 6,3 Mio., Italien 5,1 Mio., Frankreich 4,7 Mio. und Spanien 4,6 Mio.Footnote 2

Abb. 1.2
figure 2

(Datenquelle: Eurostat)

Anteil ausländischer Staatsangehöriger an der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten 2014. Erläuterung: * = vorläufige Daten.

Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU veränderte sich die Konstellation etwas: Rechnet man die britischen Daten aus den Angaben für 2019 heraus, zeigt sich, dass trotz weiterer Zuwanderungen in die EU 2019 die Zahl der „non-nationals“ in der EU auf 35,1 Mio. deutlich absank (21,8 Mio. Angehörige von Drittstaaten, 13,3 Mio. EU-Staatsangehörige, die in einem anderen Mitgliedsland lebten). Die Gesamtbevölkerung der EU betrug nunmehr nur noch 447 Mio. Der Anteil der Drittstaatsangehörigen stieg auf 4,9 %, jener der Unionsbürgerinnen und -bürger in einem anderen EU-Land sank auf 3,0 %, weil das Vereinigte Königreich ein wichtigeres Zielland der Migration von EU-Staatsangehörigen als von Drittstaatsangehörigen gewesen war. Die vier wichtigsten Zielländer in der EU umfassten unter Nicht-Berücksichtigung Großbritanniens nunmehr 71 % der gesamten Migration: Deutschland 10,1 Mio., Italien 5,3, Frankreich 4,9 und Spanien 4,8.Footnote 3

Dieser Beitrag zielt darauf, die Entstehung und Implementierung des Schengener Abkommens einzuordnen in eine längere Linie des migrationspolitischen Wandels in Europa seit dem 19. Jahrhundert. Er nimmt damit eine andere Perspektive ein als zahlreiche Untersuchungen zu den Migrationsverhältnissen in der EU, die ihre Analyse meist (frühestens) mit der Umsetzung des Schengener Vertragswerkes beginnen lassenFootnote 4 und/oder ausschließlich auf dessen grenzpolitische Bedeutung verweisen, es aber nicht in den deutlich breiteren Kontext migrationspolitischer Regelungen einordnenFootnote 5 – obgleich Kontrollen an den Grenzen nur eines unter mehreren Instrumenten bildeten, Migrationsbewegungen zu beeinflussen sowie eine spezifische Ordnung der Migrationsverhältnisse herzustellen und aufrechtzuerhalten (Oltmer 2018).

Untersucht werden die Hintergründe, Bedingungen und Formen der Neugestaltung des europäischen Migrations- und Grenzregimes über die Jahrzehnte. Die Überlegungen gelten außerdem den Folgen dieses langwierigen und durch zahllose Konflikte geprägten Prozesses, der darin mündete, Grenzen europäischer Nationalstaaten zu unterteilen nach einerseits EU-Binnengrenzen und andererseits EU-Außengrenzen. Damit verband sich eine Unterscheidung von erwünschten Bewegungen innerhalb Europas, für die im politischen Raum der positiv konnotierte Begriff „Mobilität“ verwendet wird, sowie der nicht erwünschten Bewegung von außerhalb Europas, für die der negativ konnotierte Begriff der „Migration“ in Gebrauch ist. Auf welche Weise, mit welchem Ziel und auf der Basis welcher regulatorischen Infrastruktur (z. B. Rechtsnormen, Verträge, Behörden, Statistiken) (Xiang und Johan Lindquist 2014; Lin et al. 2017) geschah dies und geschieht dies weiterhin? Zu berücksichtigen sind bei der Beantwortung dieser Frage auch die Folgen der geschilderten weitreichenden Unterschiede in den Migrationsverhältnissen der EWG/EG/EU-Mitgliedstaaten für die grenz- und migrationspolitischen Vorstellungen und Regelungen in Europa.

Im Folgenden kann wegen der langen Dauer des zu schildernden Prozesses und seiner Komplexität nur ein grober Überblick über die Wege zur Herausbildung und Etablierung eines Schengen-Regimes geboten werden, der wesentliche Bezüge zu anderen Politikbereichen unberücksichtigt lassen muss. Kap. 2 gilt den Diskussionen um eine Beschränkung von Kompetenzen und Kapazitäten der Kontrolle von Migration in Europa seit dem 19. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf die Zeit seit den 1950er Jahren. Kap. 3 verweist auf die Motive, die zum Abschluss des Schengener Abkommens führten, und blickt auf die Auseinandersetzungen um dessen Umsetzung, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre zunehmend durch eine Versicherheitlichung der Debatte um Migration geprägt wurden, deren Hintergründe es zu klären gilt. Kap. 4 diskutiert die Folgen der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ 1989/1990, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in die Osterweiterung der EU mündete, für die Entwicklung des Schengen-Raums. Kap. 5 fragt nach den Folgen der Kontrollfreiheit an den Binnengrenzen im Schengen-Raum für die asylpolitische (Nicht-)Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Kap. 6 schließlich zieht ein Fazit und verweist ausblickend auf einige Effekte der durch eine sicherheitspolitische Fokussierung auf grenzüberschreitende Migration veränderten Sicht auf räumliche Bewegungen von Menschen.

In den vergangenen Jahren sind Herausforderungen europäischer Migrationspolitik und europäischer Migrationsverhältnisse politisch, medial und öffentlich äußerst intensiv diskutiert worden. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen begleiteten die je aktuellen Debatten und politischen Prozesse und ordneten sie ein. Bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung kaum präsent ist und eine der Kernkompetenzen der Geschichtswissenschaften, lange Linien des Wandels von Gesellschaften herauszuarbeiten, für das hier gewählte Thema bislang sehr selten zum Tragen kam. So lässt sich denn auch ausmachen, dass in geläufigen Gesamtdarstellungen zur Herausbildung und Dynamik europäischer Integration migrationspolitische Aspekte einen geringen Stellenwert haben: Themenkomplexe wie „Freizügigkeit“, „Schengen“ oder „Asyl“ werden in der Regel nur knapp angerissen.Footnote 6 Auch eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Wandel der europäischen Migrationsverhältnisse bleibt zumeist aus.Footnote 7 Eine Geschichte und Gegenwart verbindende Perspektive auf die Veränderung migrations- und grenzpolitischer Vorstellungen im Rahmen einer zunehmend mehr Staaten einbeziehenden europäischen Integration sowie ihre Konsequenzen für die Migrationsverhältnisse erscheint mithin als eine Lücke, zu deren Schließung die hier vorliegenden Bemerkungen beitragen möchten.