• I: Wenn Sie jetzt einen Tipp abgeben müssten: Wo wird Ihre Tochter im nächsten Schuljahr sein? Sek A oder Sek B?

    H11: Sek A. Also, ich werde alles daran setzen-. Ich werde noch streiten mit Leuten (I: lacht). Ich bin bereit. (lacht) Nein, Sek A. Auf jeden Fall. (unverst.) Eben, das System hier erlaubt nichts anderes. Und jetzt so oder so mit den Reformen von Sek B und C. Ich bin überhaupt nicht einverstanden, weil die Kinder der Sek B das alles tragen müssen. Die ganzen Probleme tragen sie und man weiß nicht, wie das nach vorne ausgeht. Sie sind einfach die Versuchskaninchen da, und ich will meine Tochter in der Sek A haben. Es gibt nichts anderes. Es gibt keine andere Möglich, ich sehe-. Für mich-, die Zukunft meiner Tochter- für mich gibt es keine andere Möglichkeit. Weil sie nachher keine Lehrstelle bekommt- […] Ich finde, es gibt keine andere Möglichkeit. (Interview G1, 00:47:37)

Die Akteure Kind, Eltern und Klassenlehrkraft befinden sich in einem «systemischen Beziehungsgeflecht» (Föllig-Albers & Heinzel, 2007, S. 307), das durch die institutionellen Strukturen der Schule geprägt wird (vgl. Abbildung 2.1). Der sozialökologischen Theorie Bronfenbrenners (1993) zufolge ist das Kind mit dem Schuleintritt Mitglied in zwei Mikrosystemen: demjenigen der Familie und demjenigen der Schule. Die beiden Lebensbereiche sind geprägt durch spezifische «Tätigkeiten, Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschliche Beziehungen» (Bronfenbrenner, 1993, S. 38) und bergen je nach Grad der Anschlussfähigkeit der ihnen inhärenten kulturellen Muster Chancen oder Risiken für die Entwicklung des Kindes (vgl. Bourdieu, 1983, 2001). Zum Mesosystem, das die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Mikrosystemen umfasst (vgl. Bronfenbrenner, 1993, S. 41–42), gehören für das Kind insbesondere schulische Aktivitäten, die zu Hause stattfinden wie Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen (vgl. Wild, E. & Hofer, 2002, S. 217). Für die Eltern bilden Schule und Unterricht ein «Exosystem», d. h. ein Lebensbereich, an dem sie in der Regel nicht direkt teilhaben, mit dem sie aber durch ihr Kind verbunden sind und aus dem die Erwartung an sie erwächst, dass sie im Rahmen des im Schweizerischen Zivilgesetzbuch formulierten Erziehungsauftrags (Art. 302 Abs. 3 ZGB) zusammenarbeiten und im Lebensbereich Familie unterstützend auf das Kind einwirken. Ein Mesosystem stellt die Schule für die Eltern dar, wenn sie direkt mit den Lehrkräften kommunizieren – etwa bei Elternabenden, im Rahmen von Schulbesuchstagen oder informelleren telefonischen Gesprächen (vgl. Wild, E. & Hofer, 2002, S. 217). Aus der Sicht der Lehrkräfte bildet umgekehrt die Familie des Kindes ein Exobereich und wird lediglich im Rahmen von Interaktionen mit den Eltern zu einem Mesosystem. In welchem Maß und in welcher Form Eltern und Lehrkräfte «grenzüberschreitend» kommunizieren, ist in der Schulgesetzgebung geregelt. Diese gibt den Akteuren allerdings immer nur einen institutionellen Rahmen vor für deren «Rekontextualisierungen», d. h. für deren Situationsdeutungen und für die Handlungskonsequenzen, die sie daraus ziehen (vgl. Fend, 2006, 2008). Bronfenbrenner (1993, S. 207) postuliert, dass Mesosysteme für das Kind umso entwicklungsförderlicher seien, je persönlicher, müheloser und umfangreicher die Kommunikation zwischen den Lebensbereichen sei und je stärker diese von «gegenseitigem Vertrauen, positiver Orientierung und Zielübereinstimmung» geprägt sei.

Eine ganze Reihe von Autoren haben demgegenüber hervorgehoben, dass das Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule eher durch Misstrauen, gegensätzlichen Interessen, fehlende Interaktion und nicht selten durch Konflikte gekennzeichnet sei als durch partnerschaftliche Merkmale (vgl. Ditton, 1987; Krumm, 2010; Neuenschwander et al., 2005; Pekrun, 1997, 2001; Solzbacher, 2011; Ulich, 1993). Die Schwierigkeiten dürften daher rühren, dass der Familie mit der Schule ein «institutioneller Akteur» (Fend, 2006, S. 169) gegenübersteht, der auf der Basis von gesetzlichen Rahmenvorgaben in professionalisierter Weise einen öffentlichen Auftrag ausführt, der mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet ist und der Aufgaben gegenüber der nachwachsenden Generation wahrnimmt, die vor der Einführung der Schulpflicht weitgehend unangetastet in den Händen der Eltern lagen (vgl. Fuhrer, 2009, S. 265). Zwar akzeptieren hierzulande die allermeisten ElternFootnote 1 das Primat der Schule bezüglich der Qualifikationsfunktion, der institutionalisierten Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten einer Kultur (Fend, 2006, S. 50), und sie scheinen grundsätzlich bereit, die Schule diesbezüglich im Rahmen ihrer Möglichkeiten durch die Optimierung der häuslichen Lernumwelt, bei den Hausaufgaben und ggf. in Form der Organisation von Nachhilfe zu unterstützen (Neuenschwander et al., 2005, S. 57–65). Doch bereits bei der Integrations- und Enkulturationsfunktion, der Aufgabe der Schule, zu gesellschaftlich angemessenen Arbeits- und Lern- und Leistungsbereitschaften sowie politischen, sozialen und ethischen Orientierungen zu erziehen (Fend, 2006, S. 50), treten je nach Werten, Gewohnheiten und Regeln des Elternhauses beträchtliche Divergenzen zwischen Eltern und schulischen Akteuren auf (Neuenschwander et al., 2005, S. 57–65), wie dies z. B. immer mal wieder in der öffentlichen Diskussion um das Kopftuchtragen in der Schule, um den Sexualkundeunterricht oder aber um das Einhalten der von der Schule festgelegten Ferientage sichtbar wird.

Ulich (1993, S. 21–22) und Fuhrer (2009, S. 271–272) nennen eine Reihe von Gegebenheiten der Institution Schule, die prägenden Einfluss auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Eltern und Lehrkräften ausüben:

  • Die Schulpflicht ist für Kinder und Eltern bindend und bringt für die Familienmitglieder mit den damit einhergehenden zeitlichen Vorgaben, den Klassen- und Stufenwechseln Veränderungen, Belastungen und u. a. berufliche Zwänge mit sich (vgl. auch Neuenschwander et al., 2005, S. 56).

  • Kontakte zwischen Eltern und Lehrkräften sind vorstrukturiert, indem sie normalerweise im Schulhaus zustande kommen, die Lehrkräfte die terminlichen Zeitfenster festlegen und sich die Eltern meist in einer bittenden Position vorfinden, insofern als ihnen daran gelegen ist, dass ihr Kind von den schulischen Akteuren differenziert und facettenreich wahrgenommen wird. Tatsächlich dürften hierzulande noch immer viele schulische Akteure die Eltern allenfalls als «lästige Kritiker», nicht aber «als Partner und wichtige Ressource für die Weiterentwicklung von Schule wahrnehmen», wie Reusser (2015) vermutet. Elterngespräche (noch deutlicher manifest im Terminus «Elternsprechstunden») bergen dadurch Abhängigkeits- oder Unterlegenheitserfahrungen. Ulich (1993, S. 21) gibt ferner zu bedenken, dass auch positive Bestätigungen, die Eltern von «guten» Schülerinnen und Schülern durch Lehrkräfte erfahren, im Kern «eine Form von Abhängigkeit» darstellt, insofern als Eltern auf günstige Beurteilungen durch die Schule angewiesen sind.

  • Die schulischen Leistungsanforderungen bestimmen nicht nur die schulinternen Aktivitäten des Kindes, sondern spielen über Hausaufgaben, Prüfungsvorbereitungen sowie über Prüfungs- und Zeugnisnoten auch eine große Rolle in seiner häuslichen Lebenswelt. Die Beziehung zwischen Kindern und Eltern dürfte in nicht unerheblichem Maß davon mitbestimmt sein, wie sie einander im Kontext dieser Tätigkeiten erleben: So berichten beide Seiten in einer von Zaugg (2014) im Rahmen der TRANSITION-Studie durchgeführten Analyse der Wahrnehmungen und Beurteilungen von Eltern und Kindern beim gemeinsamen Bearbeiten von Hausaufgaben von Spaß und Freude, aber auch von Frust und Streit (vgl. Abschnitt 2.2.2.3). Eine «eingeengte und reduzierte» Beziehungsqualität resultiert laut Ulich (1993, S. 22) ferner, wenn die Eltern ihre Anerkennung und Zuneigung zu ausgeprägt an Leistungsergebnisse des Kindes koppeln, so zusätzlichen Druck aufbauen und das Kind den Leistungscharakter der Schule noch stärker erfahren lassen (vgl. Abschnitt 2.2.2.3 und Abschnitt 5.7).

Die grundsätzliche Machtasymmetrie, die zwischen den Institutionen Familie und Schule besteht, gründet denn auch insbesondere auf der Selektions- bzw. Allokationsfunktion der Schule, deren gesellschaftlichen Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler auf der Basis einer möglichst objektiven Leistungsmessung und -beurteilung auf Bildungs- und Berufslaufbahnen bzw. soziale Positionen zu verteilen (vgl. Fend, 2006, S. 50).

Die staatlich abgesicherte Befugnis zur Ausstellung von Qualifikationsnachweisen und Zugangsberechtigungen stellt eine Ressource der Schule dar, die Eltern zu einer Suche nach Handlungsoptionen zu Entscheidungen und zu Handlungsoptimierungen zwingt, angesichts ihres Interesses, den Familienstatus und die Lebenschancen ihres Kindes zu wahren und zu mehren (vgl. Pekrun, 2001, S. 86–87). Der Übertritt von der Primarstufe zur Sekundarstufe I wird in dieser Hinsicht nicht nur von der empirischen Bildungsforschung als besonders wegweisend für die Ausbildungslaufbahn von Jugendlichen und deren spätere sozioökonomische Position als Erwachsener erachtet (z. B. Baumert, Maaz & Trautwein, 2009; Becker, R., 2010; Becker, R. & Lauterbach, 2016; Ditton & Krüsken, 2010; Maaz & Nagy, 2010), sondern dürfte auch von den meisten Eltern als Schlüsselstelle für die kurz- oder längerfristige Zukunft ihres heranwachsenden Kindes wahrgenommen werden, insofern als sie um bildungsökonomische Befunde wissen, wonach höhere Bildungszertifikate und erweiterte bzw. spezialisierte Kompetenzen mit höherem Einkommen (z. B. Boockmann & Steiner, 2006) und geringerem Arbeitslosigkeitsrisiko (z. B. Kerckhoff, Raudenbush & Glennie, 2001; Kettunen, 1997) einhergehen. Sie dürften den Übertritt als Stelle in der Biografie ihres Kindes wahrnehmen, an der sie als Erziehungsberechtigte in gesteigertem Maße mit der Frage konfrontiert sind, welche schulischen und beruflichen Aspirationen sie für ihr Kind hegen und inwiefern sich diese Wünsche angesichts dessen Leistungen und Persönlichkeitsmerkmalen im Kontext der familialen Ressourcen sowie der jeweils vorliegenden strukturellen Gegebenheiten des Schul- und Berufsbildungssystems realisieren lassen. Wie Becker und Lauterbach (2016) schreiben, dürfte denn auch der Einfluss der Eltern auf die Bildungsbiografie ihres Kindes an dieser Stelle besonders groß sein:

Diese [elterlichen Entscheidungs-]Prozesse am Ende der Primarschulzeit sind bedeutsam. Denn insbesondere am Ende der Primarschule erfolgt für den Übergang auf die weiterführenden Schullaufbahnen die bedeutsamste, mit weitreichenden Konsequenzen versehene Bildungsentscheidung. Allerdings ist dieser Wechsel von der Primarstufe auf die Sekundarstufe I stärker als die anderen Bildungsentscheidungen vom Willen der Eltern beeinflusst, während bei späteren Wechseln der Schulart oder bei einem vorzeitigen Abgang von der Schule die Schulleistungen und die Motivation des Kindes wichtig sind […]. (Becker, R. & Lauterbach, 2016, S. 12)

Inwiefern und wie Eltern in den Wochen und Monaten vor dem Übertritt gegenüber dem Kind handeln, auf welche Weise und in welchem Umfang sie es für schulische Ziele zu motivieren versuchen, dürfte maßgeblich von ihrer laufenden Lagebeurteilung und ihrem aus diesem Entscheidungsprozess hervorgegangenen Übertrittsziel abhängen (vgl. Kleine, Paulus & Blossfeld, 2009). Ähnliche Einschätzungs- und Beurteilungsprozesse sowie Handlungsmodifikationen laufen auch aufseiten der Klassenlehrkräfte ab, die sich je nach institutionellen Vorgaben ebenfalls gezwungen sehen, mehr oder weniger bindende Schullaufbahnentscheide zu fällen (vgl. Pohlmann, 2009). Während beide Parteien sich wohl um eine bestmögliche Entscheidung bemühen werden, divergieren die Bedingungen dafür allerdings beträchtlich: Eltern treffen eine Entscheidung für ihr Kind und die Klassenlehrkraft für eine Schülerin bzw. einen Schüler unter anderen. Während Eltern sich ganz auf die Partikularinteressen der Familie und ihres Kindes konzentrieren können, müssen die Lehrkräfte nicht nur die Interessen des Kindes und der Eltern, sondern ebenso diejenigen des Schulsystems – u. a. die Aufrechterhaltung der Anforderungsprofile der jeweiligen Bildungsgänge oder die Einhaltung von allenfalls festgelegten Teilnehmendenquoten pro Bildungsgang – in ihre Überlegungen miteinbeziehen (vgl. Ditton, 2016, S. 291).

Der Umstand, dass sich das deutsche, aber auch das schweizerische Bildungssystem in der PISA-Studie im internationalen Vergleich trotz der Bildungsexpansion seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts als nach wie vor besonders selektiv erwiesen hat und sich hinsichtlich des Geschlechts, namentlich aber der kulturellen und sozialen Herkunft bedeutsame Unterschiede bezüglich des Bildungserfolgs und der Bildungsteilhabe finden lassen (vgl. Baumert & Schümer, 2001, S. 381–393; Coradi Vellacott, Hollenweger, Nicolet & Wolter, 2003; Ramseier & Brühwiler, 2003a; SKBF, 2018, S. 98–103), hat die Thematik der Chancengerechtigkeit bzw. der Educational EquityFootnote 2 erneut in Blickfeld der aktuellen Bildungspolitik und empirischen Bildungsforschung gerückt (vgl. Fend, 2004). Es stellt sich die Frage, inwiefern die frühe Sortierung der Kinder auf unterschiedlich anforderungsreiche Schultypen in beiden Bildungssystemen sowie das Entscheidungsverhalten der beteiligten Akteure an diesem Übergang für die bestehenden Unterschiede im Bildungserfolg bei den 15-Jährigen mitverantwortlich zeichnet und inwiefern Kindern tatsächlich, wie von den Eltern in den Interviewausschnitten in Abschnitt 1.1 befürchtet, Entwicklungsbenachteiligungen aus dem Besuch des weniger anspruchsvollen Bildungsgangs erwachsen könnten.

3.1 Entscheidungstheoretischer Ansatz zur Erklärung herkunftsabhängiger Bildungsmuster

Zur Klärung, wie an diesem Übergang schulische mit individuellen und familialen Faktoren zusammenspielen, werden neben dem kulturtheoretischen Ansatz Pierre Bourdieus (1984, 1996a) vor allem institutionelle Erklärungsansätze sowie entscheidungstheoretische Modelle herangezogen (vgl. Kramer et al., 2009, S. 12). Eine eigentliche Schlüsselstellung kommt dabei Raymond Boudons Ansatz (1974) zu, insofern als sich seine Unterscheidung zwischen einem primären und sekundären Effekt der sozialen Herkunft in der soziologischen und pädagogisch-psychologischen Bildungsforschung als erklärungsmächtig erwiesen hat, und die beiden anderen genannten Ansätze bis zu einem gewissen Grad zu integrieren vermag (vgl. Ditton, 2016, S. 283; Maaz et al., 2006). Während der primäre Effekt, der auf dem kulturellen Kapital der Herkunftsfamilie beruht und in unterschiedlichen schulischen Leistungen der Kinder zum Ausdruck kommt, im Zusammenhang mit der Transmission von Überzeugungen von Eltern auf ihre Kinder in Abschnitt 4.1 noch näher thematisiert werden wird, steht im Folgenden vor allem der sekundäre Effekt, nämlich das unterschiedliche Entscheidungsverhalten von Eltern und der schulischen Akteure in Abhängigkeit der sozialen Position der Familie im Fokus. Nach der Darstellung der Theorie wird die Befundlage zu den zentralen Postulaten derselben dargestellt.

3.1.1 Primäre und sekundäre Effekte der familiären Herkunft – Boudons Rational-Choice-Theorie

Mit seinem mikrosoziologischen Ansatz zur Erklärung der Genese und Reproduktion von ungleichen Bildungschancen gab Boudon die Initialzündung für einen Forschungszweig, der Laufbahnentscheide an verschiedenen Übergängen des Bildungssystems selbst zum Forschungsgegenstand erhebt. Ursprünglich ausgehend vom Modell des homo oeconomicus postulieren Boudon und eine Reihe von Forschenden (u. a. Becker, R., 2000; Breen & Goldthorpe, 1997; Esser, 1999b; Müller-Benedict, 2007), deren eigene Konzeptionen an derjenigen Boudons anschließen (vgl. Lauterbach, 2011, S. 298), dass sozial ungleiche Bildungschancen das aggregierte Ergebnis aus dem Zusammenspiel von leistungsbezogenen Mechanismen des Schulsystems sowie von zwischen den Sozialschichten variierenden Entscheiden von Eltern hinsichtlich ihrer Investitionen in die Bildung ihres Kindes seien (vgl. Becker, R., 2017b, S. 111; Kramer et al., 2009, S. 25). Diese Entscheide beruhen demnach in der Regel auf komplexen Problemlöseprozessen, die von Nutzenkalkül und Realisierungserwartungen getragen sind und je nach sozialer Lage mit einem unterschiedlichen Maß an Unsicherheit einhergehen, welche sich aus dem ungleichen Kenntnisstand bezüglich der tatsächlich zur Verfügung stehenden Bildungsoptionen, der Kompetenzen des Kindes sowie der zu erwartenden Kosten und Renditen ergibt (vgl. Becker, R., 2017b, S. 113). Laut Boudon muss bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit über das Schulsystem zwischen primären und sekundären Effekten der Schichtzugehörigkeit differenziert werden: Primäre Effekte bezeichnen die langfristigen Wirkungen des sich deutlich zwischen den Sozialschichten/Klassen unterscheidenden kulturellen Kapitals der Familie, welche sich in schichtspezifischen Unterschieden im schulischen Leistungspotential, in den schulischen Leistungen und schließlich in differenziellen Ausleseergebnissen manifestieren: «The lower the social status, the poorer the cultural background – hence the lower the school achievement, and so on. These are what we have called the primary effects of stratification» (Boudon, 1974, S. 29). Der primäre Effekt ist demnach, wie Becker (2017b, S. 115–116) es formuliert, «nichts anderes, als die Korrelation des sozialen Status des Elternhauses mit dem kulturellen Niveau und der sozialen Distanz zur höheren Bildung». Als Erklärungsansatz für das sozial differenzielle Lernen wird vorwiegend derjenige Bourdieus (vgl. Abschnitt 4.1) herangezogen, der den Lernerfolg als Ergebnis der klassenbezogen unterschiedlichen Verfügbarkeit über ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital der Herkunftsfamilie und Passungsprozessen im Schulsystem konzipiert (vgl. Sackmann, 2013, S. 111; Stocké, 2011, S. 74).

Als sekundären Effekte bezeichnet Boudon demgegenüber die von der Sozialschicht und der jeweiligen temporären sozialen Lage abhängigen Unterschiede in den subjektiven Kosten-Nutzen-Abwägungen verschiedener Bildungswege und den darauf basierenden Entscheid der Eltern (aber auch der schulischen Akteure) für einen bestimmten Bildungsgang. Auf der Social Position Theory von Keller und Zavalloni (1964) aufbauend, postuliert Boudon (1974, S. 29–36), dass die subjektiv eingeschätzten langfristigen Kosten und die aspirierten Bildungsabschlüsse immer in Relation zur sozialen Position des Elternhauses gesehen werden müssten: Im Bestreben, einen Statusabstieg in der nächsten Generation zu vermeiden, müssten die höheren und mittleren Schichten Ressourcen für die Bildung ihrer Kinder bereitstellen, während die Familien tieferer Sozialschichten diesbezüglich nicht zwingend auf ein Investment in die höhere Bildung ihrer Kinder angewiesen seien (vgl. Becker, R., 2017b, S. 118; Lauterbach, 2011, S. 299). Ein nach Schicht unterschiedlicher Nutzen ergibt sich demnach insbesondere aus dem Motiv des Statuserhalts: «Je höher der soziale Status des Elternhauses ist, desto höher ist die angestrebte Bildungslaufbahn» (Becker, R., 2017b, S. 118). Boudon gibt in diesem Kontext zu bedenken, dass das Nichterfüllen schichtspezifischer Erwartungen für die Kinder und ihre Familien mit sozialen Kosten verbunden sein kann:

Thus, not choosing a prestigious curriculum may represent a high social cost for a youngster from a middle-class family if most of his friends have chosen it; but choosing the same course may represent a high cost for al lower-class youngster if most of his friends have not. Also, a given decision may have different returns from the viewpoint of family solidarity. Following a prestigious curriculum may serve to reinforce family solidarity for a middle-class youngster and to weaken it for a lower-class youth. (Boudon, 1974, S. 30)

Mit Blick auf die monetären Kosten und den Zeithorizont ist vor allem die soziale Distanz entscheidend, die es zur Erreichung eines höheren Bildungsabschlusses zu überwinden gilt: Da Familien höherer Schichten meist auch ein größeres anschlussfähiges Bildungskapital aufweisen, das sie in der Regel im Rahmen der familialen Sozialisation über die Jahre kontinuierlich an ihre Kinder weitergegeben haben, und sie zudem eher als die unteren Schichten über die ökonomischen Ressourcen verfügen, die zur Bewältigung der anfallenden Investitions-, Opportunitäts- und Transaktionskosten notwendig sind, welche sich mit einer ausgedehnteren Bildungslaufbahn einstellen, fällt die Nutzen-Kosten-Kalkulation an den Übergangsstellen bei ihnen eher zugunsten höherer Bildungsangebote aus. Ausgehend von ihrer sozialen Position müssen die Eltern und Kinder unterer Sozialschichten dahingegen vergleichsweise «höhere Aspirationsniveaus haben, mehr Ressourcen aufbringen und sich mehr anstrengen, damit sie sich für die höhere Bildung entscheiden» (Becker, R., 2017b, S. 119). Das Risiko, das mit einer längeren Schulkarriere verbunden ist, erscheint für sie größer, die eigentlichen AspirationenFootnote 3 aber schätzt Boudon (1974, S. 23) in Einklang mit Keller und Zavalloni nicht per se zwingend als geringer ein als bei Familien höherer Schichten, es falle ihnen aber eben schwerer, den allenfalls ins Auge gefassten Nutzen zu realisieren:

We should thus be prepared to find class-determined variations in aspirations not because the individual class members are more or less ambitious but because the classes themselves are nearer to some goals than to others. The class-accessibility of a given goal will affect its saliency for that class independently from its saliency for the individuals within it. (Keller & Zavalloni, 1964, S. 60)

Laut der Thesen Boudons resultieren die schichtspezifisch variierenden Bildungsmuster zusammengefasst also aus dem Wechselspiel zwischen a) den unterschiedlichen schulischen Ausgangspositionen von Kindern (differenzielle Kompetenzniveaus und motivationale Orientierungen) und dem Umgang damit im Schulsystem, b) den unterschiedlichen Belastungen durch die anfallenden Kosten einer weiterführenden Ausbildung (divergierende Ressourcen für eine längere Bildungslaufbahn) sowie c) den Unterschieden in den erwarteten Bildungsrenditen (differenzielle Aspirationsniveaus) (vgl. Ditton, Krüsken & Schauenberg, 2005, S. 286; Sackmann, 2013, S. 118).

3.1.2 Empirische Befunde zu den Kernpostulaten der Theorie

In die Bildung des Kindes – und wohl auch in ein forcierteres Unterstützen vor dem unsicheren Übertrittsentscheid – wird so lange investiert, so die Annahme dieser erwartungs-werttheoretischen Konzeption, wie die erwarteten Kosten den erwarteten Nutzen der Bildungsanstrengungen nicht überschreiten, und so lange, wie die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung angesichts der schulischen Leistungen des Kindes hoch bleibt. In dieser Art lassen sich empirische Befunde (z. B. Stocké, 2007) erklären, wonach sich Eltern aus höheren Schichten eher für weiterführende Bildungsgänge und Eltern aus tieferen Schichten eher dagegen entscheiden, obwohl ihre Kinder über gleiche Leistungsergebnisse und gleiche Erfolgserwartungen verfügen. Becker und Lauterbauch (2016, S. 15–17) zeigen auf der Grundlage bereits älterer Paneldaten des Konstanzer Forschungsprojekts «Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien» (Details in Becker, R., 2000, S. 458–459) in Einklang mit den theoretischen Postulaten Boudons, dass Mittelschichtsfamilien, die besonders vom intergenerationalen Statusverlust bedroht sind, sich eher für das Gymnasium als für die Realschule entscheiden, wenn die Bildungsmotivationen größer oder gleich den eingeschätzten Investitionsrisiken sind, und dass der Besuch der Hauptschule für sie im Prinzip keine Option darstellt. Unterschichtsfamilien entscheiden sich dahingegen in signifikanter Weise vornehmlich für die Realschule, wenn die Bildungsmotivationen größer sind als die Investitionsrisiken. Die Hauptschule kommt für diese Familien nur in Frage, wenn die Investitionsrisiken deutlich höher sind als die Bildungsmotivationen. Eltern aus der Oberschicht sehen für ihre Kinder generell das Gymnasium vor, die Realschule stellt nur bedingt eine Option und die Hauptschule gar keine Option für sie dar.

Damit zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit der Eltern auch in den unteren Schichten mittlerweile eine Hauptschullaufbahn für ihr Kind zu vermeiden sucht. Bildungsmotivationen bzw. -aspirationen wandeln sich über die Generationen hinweg (vgl. Kleine et al., 2009, S. 105). Ditton und Krüsken (2006) halten als Ergebnis einer (längsschnittlichen) Befragung von Eltern bei 27 bayrischen Grundschulklassen vor dem Übertritt fest, dass die große Mehrheit einen Realschulabschluss mittlerweile «als die Mindestnorm» (Ditton & Krüsken, 2006, S. 367) erachtet und hierfür vor allem berufliche Perspektiven als Begründung anführt. Berufliche Chancen erweisen sich generell als wichtigstes Kriterium für die aspirierte Schulform bei den Eltern. 87 % der Befragten glauben, dass mit dem Hauptschulabschluss schlechte oder sehr schlechte berufliche Aussichten verbunden seien. Das Gymnasium wird in dieser Hinsicht unabhängig von der Sozialschicht als erstrebenswert erachtet: 97 % der Eltern glauben, dass gute oder sehr gute berufliche Perspektiven mit einem Besuch dieser Schulform einhergingen. Bezüglich des Realschulabschlusses sind 91 % der Eltern schichtübergreifend der Meinung, dass damit gute oder sehr gute (10 %) berufliche Chancen verbunden seien. Allerdings konnten die Autor*innen einen additiven Effekt in Abhängigkeit des sozialen Status der Eltern nachweisen: «Je höher die soziale Position, umso mehr werden die Chancen, die sich durch den Besuch der Hauptschule und Realschule eröffnen, in Zweifel gezogen; die Unterschiede zwischen den drei Schularten bleiben hierbei aber bestehen.» (Ditton & Krüsken, 2006, S. 358). Für die Schweiz scheint keine vergleichbare Studie zu bestehen, doch kann angesichts der kulturellen und sozialstrukturellen sowie den berufssystembezogenen Ähnlichkeiten angenommen werden, dass sich bezüglich der drei Schultypen der Sekundarstufe I ein ähnliches Muster in den elterlichen Aspirationen belegen ließe.

Boudon (1974, S. 67–100) versteht Bildungslaufbahnen mit Blick auf die Schulsysteme Deutschlands, Frankreichs, der Schweiz und Schwedens über die Kindheit, die Jugend bis ins Erwachsenenalter «als sequenzieller Entscheidungsprozess mit wiederkehrenden, weitgehend festgelegten Entscheidungspunkten» (Lauterbach, 2011, S. 300) und simuliert, wie bei gleichen Schulleistungen der Kinder die Wahrscheinlichkeit im Schulsystem zu verbleiben schichtspezifisch variiert. In seiner Simulation wird ersichtlich, dass den sekundären Herkunftseffekten eine höhere relative Bedeutung zukommt als den primären Effekten bzw. dass mit jedem weiteren Übertritt in der Bildungskarriere und somit jedem weiteren Entscheid, ob der Jugendliche bzw. Erwachsene im Bildungssystem verbleiben oder ausscheiden solle, der Einfluss des kulturellen Kapitals – also des primären Herkunftseffekts – abnimmt und der Einfluss ökonomischer Erwägungen – also des sekundären Herkunftseffekts – zunimmt.

Neuere empirische Studien scheinen diese Annahme Boudons für Deutschland zu bestätigen, zumindest für Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund (vgl. Becker, R. & Lauterbach, 2016, S. 12): Bei Kontrolle der schulischen Leistungen nimmt mit zunehmendem Bildungsübergang das relative Gewicht der Bildungsentscheidung in Abhängigkeit der Schichtzugehörigkeit gegenüber primären Herkunftseffekten zu (vgl. Becker, R., 2009; Neugebauer, 2010). Müller-Benedict (2007) zeigt allerdings auf der Basis von PISA-Daten, dass beim ersten Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I dem primären Herkunftseffekt, also Prozessen des sozial differenziellen Lernens, annähernd das gleiche Gewicht wie dem sekundären Effekt zukommt, wobei dies vor allem aus dem Beitrag der Kinder aus Familien unterer sozialen Schichten mit Migrationshintergrund resultiert. Mit Hilfe der Daten der IGLU-E-Studie belegen Becker und Schubert (2011) sodann, dass beim Vergleich von Kindern mit oder ohne Migrationshintergrund der primäre Effekt bezüglich der Nachteile eine größere Rolle spielt, während beim Vergleich von einheimischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft der sekundäre Effekt im Vordergrund steht. Mit Bezug auf Befunde, wonach die Bedeutung des primären Effekts bei den Migrantenkindern mit hoher Wahrscheinlichkeit der Ressourcenlage der Familie und kaum systematischen Diskriminierungen durch die Lehrkräfte bei der Übertrittsempfehlung geschuldet sein dürfte (z. B. Becker, R. & Beck, 2012) – es also vornehmlich deren Eltern sind, die vor dem Hintergrund eigener sprachlicher, kultureller und sozialer Ressourcen sowie mit Blick auf die Schulleistungen ihres Kindes sich mit tieferen Schultypen zufriedengeben – stellen Becker und Lauterbach (2016, Hervorhebung im Original) die These auf, «[dass] – bei gegebenen Rahmenbedingungen des Bildungssystems und über den Bildungsverlauf gesehen – zentrale soziale Mechanismen der Bildungsungleichheit vor allem auf schichtspezifischen Bildungsentscheidungen [der Eltern beruhen], in welche auch (sozial differente) Schulleistungen und herkunftsbedingte Bildungserfolge einfließen». Dabei betonen sie allerdings, dass diese elterlichen Entscheidungen vom Bildungssystem «erzwungen» seien und gerade der Umstand, dass sich die Eltern in Deutschland (ebenso in der Schweiz) relativ früh für den Bildungsweg ihres Kindes entscheiden müssten, möglicherweise für «die Struktur, das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten» verantwortlich zeichne. Sie fassen die sich aus der Befundlage ergebenden Gesetzmäßigkeiten wie folgt zusammen:

Je stärker ein Bildungssystem stratifiziert ist, je mehr Bildungshürden auf dem Weg zur höheren Bildung überwunden werden müssen, je segmentierter und je undurchlässiger die Bildungswege sowie je breiter die Bildungsangebote an den einzelnen Übergangsstellen im Bildungssystem sind, desto schwerer wiegen sekundäre Herkunftseffekte bei der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit von Bildungschancen. Je rigider die leistungsbezogenen Sortier- und Selektionsleistungen des Bildungssystems sind, desto größer sind die Gewichte primärer Herkunftseffekte bei den Übergangsstellen im Bildungssystem. (Becker, R. & Lauterbach, 2016, S. 13)

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, welche Rolle die Verbindlichkeit der Übertrittsempfehlung (vgl. auch Abschnitt 3.2.1) durch die Grund- bzw. Primarschule für das Gewicht primärer und sekundärer Herkunftseffekte birgt. Auf den ersten Blick lassen die bisherigen Ausführungen vermuten, dass in Schulsystemen mit unverbindlicher Empfehlung vor allem den schichtspezifischen elterlichen Aspirationen und somit sekundären Herkunftseffekten ein stärkeres Gewicht zukommt, wohingegen in Systemen mit verbindlichem Lehrpersonenurteil die schulischen Leistungen des Kindes und somit primäre Herkunftseffekte im Vordergrund stehen dürften. Übertrittsregelungen mit größerem Einfluss der Lehrkraft wären im Sinne der Chancengerechtigkeit demnach vorzuziehen. Die Studien von Gresch, Baumert und Maaz (2010) und Dollmann (2011) scheinen diese Vermutung zu bestätigen. Eine neuere umfangreiche Untersuchung von Roth und Siegert (2015), die sich auf der Basis des Mikrozensus auf eine repräsentative Stichprobe sowie den langen Zeitraum von 1976 bis 2010 stützt und ferner auf die repräsentativen Daten von Niedersachsen und Nordrheinwestfalen zurückgreift, zweier Bundesländer, die einen Systemwechsel zu unverbindlichen Übergangsempfehlungen vollzogen haben, lassen sich dahingegen im Ländervergleich keine nachhaltigen Effekte der Verbindlichkeit auf die soziale Ungleichheit in der Mitte der Sekundarstufe I belegen. Auch bei den beiden Bundesländern, bei denen ein Vorher-Nachher-Vergleich durchgeführt wurde, konnten keine den Annahmen entsprechenden Effekte festgemacht werden: «Eltern aus oberen sozialen Schichten scheint es somit unabhängig vom Ausmaß der Verbindlichkeit der Übergangsempfehlungen besser als Eltern aus unteren sozialen Schichten zu gelingen, ihre Kinder vorteilhaft im Bildungssystem zu platzieren» (Roth & Siegert, 2015, S. 133). Der plausibelste Erklärungsansatz hierfür dürfte in einem forcierten Unterstützungshandeln von Eltern mit erhöhtem kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital zu suchen sein: Die drohende Nicht-empfehlung bzw. -zuweisung zum angestrebten Schultyp dürfte die Eltern vor dem definitiven Entscheid dazu treiben, in den Kompetenzerwerb ihrer Kinder Zeit und/oder Geld zu investieren oder aber die entscheidungstragenden Lehrkräfte in ihrem Sinne zu beeinflussen (vgl. Neugebauer, 2010, S. 209–210; Roth & Siegert, 2015, S. 133–134). Während in Ländern mit freier Elternentscheidung sekundäre Herkunftseffekte ausschlaggebend seien, so die Folgerung von Becker und Lauterbach (2016, S. 12), seien es in denjenigen mit bindenden Lehrpersonenempfehlungen die primären HerkunftseffekteFootnote 4.

Da die vorliegende Studie in einem Bildungssystem durchgeführt wurde, welches die Eltern mittels gemeinsamer Gespräche zwar laufend in den Erwägungsprozess der Klassenlehrkraft einbezieht, das aber hinsichtlich der konkreten Einteilung der Kinder auf die Bildungsgänge letztlich auf stark bindende Empfehlungen der Primarlehrperson setzt (vgl. Abschnitt 3.3), werden im Folgenden strukturelle und prozessuale Bedingungen von Bildungsinstitutionen, die maßgebliche Kontextbedingungen für das Entscheidungs- und Unterstützungshandeln der Eltern darstellen dürften, eingehend erläutert und bezüglich der empirischen Befundlage erörtert.

3.2 Institutionelle Rahmenbedingungen für das elterliche Handeln beim Übertritt

Wenn sich Eltern über die Realisierungschancen ihrer Übertrittsaspirationen Gedanken machen, so dürften sie nicht nur die schulische Performanz ihres Kindes und ihre eigenen Fähigkeiten zur Lern- und Motivationsunterstützung in den Blick nehmen, sondern sich auch vergegenwärtigen, a) wie die regionale Sekundarstufe I konkret ausgestaltet ist und welche Ausbildungspfade sich mit dem Besuch ihrer Angebote im Anschluss öffnen oder schließen sowie b) wie das Übertrittsverfahren organisiert ist und welche Mitspracherechte dieses ihnen zugesteht. Mit beiden Aspekten werden in der Bildungsforschung und Bildungspolitik Probleme im Hinblick auf die Chancengerechtigkeit (educational equityFootnote 5) und/oder die Effizienz (vgl. Hanushek & Wößmann, 2006, S. 63) verbunden, die den Eltern u. a. wegen der medialen Bewirtschaftung des Themas nicht verborgen bleiben (vgl. Vasarik Staub, 2015).

Während die Ressourcen des Elternhauses und das Unterstützungs- bzw. Entscheidungsverhalten der Eltern ihren eigenen Beitrag zur Erklärung von sozialen Disparitäten beitragen, so ist unbestritten, dass gerade in Deutschland und der Schweiz auch die strukturellen und/oder prozessualen Merkmale der Schule einen maßgeblichen Beitrag dazu leisten, indem sie «herkunftsbedingte Kompetenzunterschiede nivellieren oder verstärken» (Wild, E. & Lorenz, 2010, S. 46). Insbesondere die in deutschsprachigen Ländern praktizierte Verteilung der Schüler/-innen auf unterschiedliche Anforderungsstufen beim Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I wurde nach dem ersten PISA-Durchgang als schulsystembasierter Faktor identifiziert, der bei gleichen leistungsbezogenen Eingangsvoraussetzungen der Kinder zu einem Auseinanderdriften der Bildungsergebnisse entlang der sozialen Herkunft beiträgt (vgl. OECD, 2001, S. 233). Obwohl zwischen den Kantonen bzw. Bundesländern z. T. beträchtliche Unterschiede zwischen der Art der Homogenisierung von Leistungsgruppen und der Anzahl an Anforderungsstufen bestehen, so kann das verhältnismäßig frühe Selektionieren und Zuteilen zu unterschiedlichen Anforderungsstufen bzw. Schultypen der Sekundarstufe I als gemeinsames Charakteristikum in den beiden Ländern bezeichnet werden (Baumert, Trautwein & Artelt, 2003, S. 261). Als PrototypFootnote 6 dieser Art des expliziten Trackings der Schüler/-innenFootnote 7 in aufsteigend anspruchsvolle Schultypen stellt sich die dreigliedrige Aufteilung in Realschule, Sekundarschule und Gymnasium in der Schweiz bzw. in Hauptschule, Realschule und Gymnasium in Deutschland dar. Nach einmal erfolgter Einteilung im hierarchisch gestuften System macht sich ein Kanalisierungseffekt bemerkbar: Die überwiegende Mehrzahl der Schüler/-innen verbleibt bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit am zugeteilten Ort. So stellen Ditton und Krüsken (2010, S. 35) mit Blick auf entsprechende Daten des deutschen Bildungsberichts 2008 und Neuenschwander (2007) auf der Basis eigener Analysen der Schüler*innen-Daten der Kantone Bern und Zürich im Jahr 2002/03 fest, dass Wechsel trotz Möglichkeiten erhöhter Durchlässigkeit zwischen den Schulformen relativ selten stattfinden – laut Neuenschwander (2007, S. 83–84) lediglich 4 % bis 6 % der Schüler*innen in den Kantonen Bern und Zürich – und wenn Wechsel erfolgen, es sich häufiger um Abwärtsbewegungen vom höheren in den tieferen Bildungsgang handelt.

Gerechtfertigt wird die vertikale Gliederung der Sekundarstufe I mit der Annahme, dass es der Schule so besser gelinge, ein der Leistungsfähigkeit und den spezifischen Bedürfnissen der jeweiligen Gruppenmitglieder angepasstes Angebot bereitzustellen (Baumert, Trautwein, et al., 2003, S. 267). Damit diese Verteilung nach Maßgabe meritokratischer Prinzipien gerecht vonstattengeht, sind das Schulsystem und seine Akteure gefordert, unter Ausschluss von «Benachteiligungen gruppenspezifischer Differenzen» (Gomolla, 2010, S. 61) – z. B. hinsichtlich der ethnischen und sozialen Herkunft, des Geschlechts, religiöser und politischer Werte und der Sprache – eine möglichst adäquate (prognostische) Einschätzung der Leistungsfähigkeit des Kindes auf der Basis seiner bereits erbrachten Leistungen vorzunehmen. Auch wenn man den Schulsystemen in beiden Ländern durchaus das Ziel einer chancengerechten Zuweisung nach Leistung, Fähigkeit und Anstrengung zubilligen mag, so stellen sich für das Entscheidungsverfahren selbst, wie Ditton (2016, S. 282) herausstreicht, «eine Fülle schwieriger Probleme und strittiger Fragen, z. B. nach der Art und erforderlichen Höhe der Leistungen, deren objektiver Feststellung und Bewertung sowie nicht zuletzt […] danach, wer diese Entscheidung auf welcher Grundlage letztlich zu treffen hat». Selbst wenn man ihnen keine «intentionale Diskriminierung» unterstellen mag (Gomolla, 2010, S. 72), so führt die Komplexität dieses auf einer Diagnose beruhenden und auf eine Prognose des Schulerfolgs hinauslaufenden Verfahrens bei den Akteuren auf allen Ebenen des Schulsystems (sowie bei den Eltern selber) im Sinne der Chancengerechtigkeit zu mannigfaltigen Fehlern und Unzulänglichkeiten, die dann in die Reproduktion von Bildungsungleichheit und auseinanderdriftenden Leistungen entlang der sozialen Position der Herkunftsfamilie münden.

Auch wenn der spezifische Beitrag, den Lehrkräfte und Schulen zur engen Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg leisten, vor allem wegen der nach wie vor geringen Zahl an Längsschnittstudien nur annäherungsweise zu fassen ist (vgl. Ditton, 2016, S. 294), so weist vieles darauf hin, dass vor allem diejenigen Prozesse im Bildungssystem genauer in den Blick genommen werden müssen, die in den beiden folgenden Thesen von Maaz et al. (2008) thematisiert werden, wenn man diesen Beitrag zu ermessen versucht:

Erstens unterscheiden sich [auch] die Entscheidungsprozesse [der schulischen Akteure] an Übergangspunkten im Schulsystem je nach sozialer Herkunft der Schüler/-innen, was zu einer Unterrepräsentation von Schüler*innen aus tieferen sozialen Milieus in den anspruchsvollen Schultypen der Sekundarstufe I führt.

Zweitens stellen die Schultypen der Sekundarstufe I differentielle Entwicklungsmilieus dar, mit höheren Lernraten in den anspruchsvollen Schultypen. (Maaz et al., 2008, S. 99; Übersetzung E.S.)

In den folgenden beiden Kapiteln werden die beiden Thesen auf der Grundlage neuerer Befunde erörtert.

3.2.1 Befunde zu den Schullaufbahnempfehlungen der Lehrkräfte der Primarstufe

Wie oben bereits dargelegt, kann davon ausgegangen werden, dass die Ursachen für die sozialen Disparitäten bei den Bildungsergebnissen in hohem Maß in individuellen Bildungsentscheidungen im Bildungssystem zu suchen sind und sich dabei erstens die nach der Herkunft unterschiedlichen Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler und zweitens die Bildungsaspirationen der Eltern als zentrale Prädiktoren für die Zuteilung zu einem Sekundarschultyp erweisen, wobei die elterlichen Aspirationen zwar von den Leistungsergebnissen des Kindes beeinflusst, aber nicht determiniert werden (vgl. Baumert & Schümer, 2001, S. 358). Da in den meisten Bundesländern die Eltern über die definitive Zuteilung ihres Kindes entscheiden, spielen die Lehrkräfte und die sog. Grundschulempfehlungen hierbei vor allem eine vermittelnde Rolle.

Bezieht man die Grundschulempfehlungen selber in die Untersuchung ein, so offenbart sich allerdings, dass auch die Bildungsempfehlungen der Lehrkräfte in Abhängigkeit der sozialen Lage der Familie des Kindes erfolgen. Im Rahmen der IGLU-StudieFootnote 8, welche ihre Messungen zum Zeitpunkt des Übertrittsentscheids am Ende der 4. Klassenstufe ansetzte, zeigte sich, dass bei gleicher Lesekompetenz Kinder der beiden höchsten Sozialschichten eine 2.68- bzw. 1.76-fach größere Chance hatten, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten als Kinder aus den untersten drei Sozialschichten (vgl. Bos et al., 2004, S. 213). Ebenso konnten Kinder eher mit einer Empfehlung für anforderungs- und prestigereichere Schultypen rechnen, wenn beide Eltern in Deutschland geboren wurden – hier lag eine 1.66-fach erhöhte Chance gegenüber Kindern mit zwei im Ausland geborenen Elternteilen vor (vgl. Bos et al., 2004, S. 211). Auch in der LAU-StudieFootnote 9 bestätigte sich zum Messzeitpunkt unmittelbar nach dem Übertritt eine enge Koppelung zwischen den Empfehlungen fürs Gymnasium und dem Bildungsstatus des Elternhauses: Kindern von Vätern mit Abitur erhielten zu 69.8 % eine Gymnasialempfehlung und dann absteigend, von Vätern mit Fachhochschulreife zu 51.3 %, mit Realschulabschluss zu 40.2 %, mit Hauptschulabschluss zu 26.2 bis hin zu von Vätern ohne Schulabschluss von lediglich 15.7 % (vgl. Lehmann, Peek & Gänsfuß, 1997, S. 51–52).

Mit einer multiplen Regressionsanalyse wurde in der LAU-Studie sodann die Bedeutsamkeit verschiedener Einflussfaktoren auf die Gymnasialempfehlung der Lehrkräfte ermittelt (vgl. Lehmann et al., 1997, S. 53): Die Deutschnote hatte mit Abstand das höchste relative Gewicht (ß = −.41), gefolgt von den in Leistungstests ermittelten allgemeinen Schulleistungen des Kindes (ß = −.20), der Mathematiknote (ß = −.15) und dem Beruf des Vaters (ß = −.11). Den auf den ersten Blick geringen eigenständigen Effekt der sozialen Herkunft auf die Empfehlung der Klassenlehrkraft kommentiert Ditton (2016, S. 297) mit der Anmerkung, dass es bemerkenswert sei, dass bei Kontrolle von Noten und Leistungen, die je schon einen Herkunftsanteil trügen (primäre Herkunftseffekte, die in Form unterschiedlicher schulbezogener Unterstützung über die Grundschulzeit auf die Leistungen bzw. Noten wirken; vgl. Abschnitt 4.1), überhaupt noch ein Effekt der sozialen Herkunft feststellbar sei.

Dass Lehrkräfte bei ihrer Entscheidungsfindung offensichtlich zu einem erheblichen Teil die (Unterstützungs-)Verhältnisse des Elternhauses in den Blick nehmen, wurde in der LAU-Studie einerseits im Umstand deutlich, dass Kinder von Vätern mit niedrigen Schulabschlüssen eine 4.5-fach niedrigere Chance hattenFootnote 10 fürs Gymnasium vorgeschlagen zu werden, insbesondere aber dadurch, dass unterschiedliche Standards (Lehmann et al., 1997, S. 52–53) bezüglich der Leistungsanforderungen an Kinder unterschiedlicher sozialer Gruppen sichtbar wurden: Kinder aus unteren Schichten und von alleinerziehenden Müttern müssen höheren Leistungsanforderungen genügen, um eine Empfehlung für die anspruchsvolleren Schultypen zu erhalten als Kinder aus privilegierten Elternhäusern bzw. aus Zwei-Eltern-Haushalten.

Allerdings erwiesen sich die Lehrkräfte, wie in Abschnitt 3.1.2 bereits angesprochen, bei ihren Empfehlungen gesamthaft aber weniger sozial selektiv als die Eltern bei ihren Schulentscheidungen (bzw. Bildungsaspirationen). Mittels einer Diskriminanzanalyse ließ sich zeigen, dass für die elterliche Entscheidung für oder gegen das Gymnasium in absteigendem Maß die folgenden Komponenten bedeutsam waren (vgl. Lehmann et al., 1997, S. 56–57): die Empfehlung der Lehrkräfte (skdFootnote 11 =  .65), der Bildungsabschluss des Vaters (skd  = .26), die Deutschnote (skd = −.23), die Mathematiknote (skd  = −.18) und die in Leistungstests ermittelten allgemeinen Schulleistungen des Kindes (skd = .14). Der Befund einer höheren sozialen Selektivität elterlicher Bildungsaspirationen gegenüber den Übertrittsempfehlungen der Lehrkräfte zeigte sich gleichermaßen auch in einer in Bayern durchgeführten Studie von Ditton et al. (2005): Auch hier orientierten sich die Klassenlehrkräfte bei ihren Empfehlungen in viel höherem Maß an den fachlichen Leistungen als dies die Eltern bei ihren Bildungsaspirationen taten. Die Autoren der Studie konstatierten in den Empfehlungen aber dennoch einen sozialen Bias zugunsten der Kinder aus privilegierten Elternhäusern, die auch hier eine erhöhte Chance auf eine Gymnasialempfehlung hatten, und zu Ungunsten der Kinder aus unteren Schichten, die weit eher mit einer Empfehlung für die Hauptschule rechnen mussten. Ebenso empfahlen die Lehrkräfte einem Jungen eher den Übertritt in die Hauptschule als einem Mädchen (vgl. Ditton et al., 2005, S. 297).

Im Rahmen der IGLU-Studie konnten ferner auch beträchtliche Leistungsüberschneidungen bei den Empfehlungen hinsichtlich der drei Schultypen ausgemacht werden, sowohl was die mathematischen Kompetenzen als auch die Lesekompetenz betraf. Namentlich bei der Realschulempfehlung gelang den Lehrkräften die distinkte Trennung zwischen den Leistungsgruppen mit Blick auf die Ergebnisse der von den Studienautor*innen durchgeführten Leistungstests in unzureichendem Maße (vgl. Bos et al., 2004, S. 195–199): Während beim unteren und oberen Kompetenzbereich bei Mathematik und Lesen deutlich mehr als ein Drittel der Kinder ihren Leistungen entsprechend nicht für den angemessenen Schultyp empfohlen wurden, waren es beim mittleren Kompetenzbereich sogar weniger als die Hälfte der Kinder (vgl. die großen Leistungsüberlappungen in den kantonalen Schulsystemen der Schweiz gemäss den Befunden der Forschungsgemeinschaft PISA Deutschschweiz/FL: z. B. Bauer & Ramseier, 2011, S. 38–42; Brühwiler, Abt Gürber & Buccheri, 2011, S. 44–46; Moser & Angelone, 2011, S. 25–30).

In Deutschland wie auch in der Schweiz stellen die Noten in den beiden Kernfächern Deutsch und Mathematik ein wichtiges Kriterium für die Übertrittsempfehlung bzw. den Übertrittsentscheid der Klassenlehrkräfte dar. Wie vielfach postuliert und belegt (vgl. Ingenkamp, 1993, S. 31; Köller, 2002; Kronig, 2007; vgl. Lintorf, 2012; Neumann, Milek, Maaz & Gresch, 2010; Rheinberg, 2001; Rhyn & Moser, 2002) verbindet sich mit Noten vor allem das Problem des Referenzgruppeneffekts: Lehrkräfte orientieren sich zur Beurteilung der individuellen Leistungen an der Klassenleistung, was bewirkt, dass die gleiche Leistung in leistungsschwächeren Klassen besser bewertet wird als in leistungsstärkeren Klassen. Noten sind somit über Klassen, Schulen und Schultypen hinweg nicht vergleichbar. Den Lehrkräften scheint dabei aber die Rangplatzzuordnung der Schüler in der Klasse – oder zumindest die Zuordnung zur tiefen, mittleren und hohen Leistungsgruppe – recht adäquat zu gelingen. In einer Arbeit von Neumann et al. (2010) zeigte sich, dass die durchschnittliche Leistung der Klasse einen Einfluss auf die Zuteilung ausübte: Bei vergleichbaren Leistungstestergebnissen hatten die Schüler*innen aus leistungsstarken Klassen geringere Chancen auf einen Übertritt ins Gymnasium als solche aus leistungsschwächeren Klassen. Wie erwartet werden kann, machte sich dabei auch der Einfluss der sozialen Zusammensetzung der Klasse bemerkbar: Mit steigendem Anteil von Schüler*innen, deren Eltern ein Abitur besaßen, nahm die Chance auf eine Gymnasialzuteilung zu. Nicht nur die durchschnittliche Klassenleistung, sondern auch die soziale Komposition der Klasse wirkte sich dabei sowohl über den Zuteilungswunsch der Eltern als auch die Lehrpersonenempfehlung auf die tatsächliche Zuteilung zu einem Schultyp aus. Als wichtigste Größe für das übertrittsbezogene Verhalten der Eltern und Lehrkräfte erwiesen sich in vertieften Analysen die referenzgruppenabhängigen Noten in der Grundschule. In der IGLU-Studie zeigten sich ähnlich wie bei den Übertrittsempfehlungen auch bei den Schulnoten in Deutsch und Mathematik zwar deutlich versetzte, jedoch wiederum deutlich überlappende Kurven (vgl. Bos et al., 2004, S. 206). Die NotenwerteFootnote 12 korrelierten mit den getesteten Leistungen zu r = −.56 für Lesen/Deutsch und r = −.55 für Mathematik. Die Übertrittsempfehlung der Lehrkraft korrelierte mit der Note in Deutsch zu r = −.76 und zu r = −.72. Die Korrelationen erhöhten sich leicht auf r = −.81, wenn die Noten von Deutsch und Mathematik kombiniert wurden (vgl. Bos et al., 2004, S. 204). Wie bei der LAU-Studie erwiesen sich auch in der IGLU-Studie bei simultaner Schätzung die Deutschnote (ß = −.43) und in etwas geringerem Maß die Mathematiknote (ß = −.31) als die von den Lehrkräften bei der Übertrittsempfehlung am stärksten gewichteten Merkmale. Die mit den Tests erfassten Lese- (ß = .06) und Mathematikkompetenzen (ß = .03) spielten darüber hinaus genauso wenig eine entscheidende Rolle, wie das Geschlecht des Kindes (ß = −.02), seine Anstrengungsbereitschaft (ß = .05) oder seine Leistungsangst (ß = −.02). Einzig dem sozioökonomischen Status des Elternhauses kommt auch hier ein größeres Gewicht zu (ß = −.12), hinter dem die Rolle des Merkmals «Migrationsgeschichte der Herkunftsfamilie» (ß = .02), wie in anderen Studien auch (z. B. Ditton et al., 2005), kaum mehr zum Tragen kommt.

3.2.2 Befunde zu differentiellen Lernumwelten in Abhängigkeit des zugewiesenen Schultyps der Sekundarstufe I

Auch für die zweite der oben formulierten Thesen, wonach die Kinder sich nach dem Übertritt je nach Schultypen in differentiellen Lern- und Entwicklungsumgebungen wiederfänden und diejenigen, die einem anspruchsvolleren Schultyp zugeteilt wurden, höhere Lernraten erzielten, gibt es einige empirische Evidenz. Das Vorhandensein einer sich während der Sekundarstufe I öffnenden Leistungsschere zwischen den Bildungsgängen kann für Deutschland als gesichert gelten und für die Schweiz gibt es zumindest erste Hinweise dafür (z. B. Baumert et al., 2006; Baumert, Trautwein, et al., 2003; Becker, M., Lüdtke, Trautwein & Baumert, 2006; Köller & Baumert, 2001; Maaz et al., 2008; Neumann et al., 2007; Ramseier & Brühwiler, 2003b; Schümer, 2004). Neumann et al. (2007) bilanzieren die Befundlage für die Bundesrepublik, die sich gemäß ihrer eigenen Studie ganz ähnlich in der Schweiz zumindest für die Bildungssysteme der Kantone Fribourg und Wallis zeigt:

Im Bereich der Fachleistungen vollzieht sich die Öffnung der Leistungsschere in der Sekundarstufe I vor allem zwischen dem Gymnasium auf der einen sowie Haupt-, Real- und Gesamtschule auf der anderen Seite […]. Neben den Fachleistungen scheinen sich die differenziellen Entwicklungsbedingungen auch – und zum Teil in gegenläufiger Richtung – auf die Herausbildung motivationaler, sozialer und selbstregulativer Kompetenzen auszuwirken. (Neumann et al., 2007, S. 400)

Was das fachliche Lernen betrifft, wirken sich die offenbar vorliegenden unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen so aus, dass bei Kontrolle der individuellen Eingangsvoraussetzungen im Gymnasium die höchsten und im Bildungsgang mit dem geringsten Anspruchsniveau die niedrigsten Leistungszuwächse zu verzeichnen sindFootnote 13. Als Erklärung für diesen Umstand werden Kompositions- und Institutionseffekte angeführt, die mit der Bildungsgangzuweisung einhergehen.

Kompositionseffekte beruhen auf der unterschiedlichen Zusammensetzung der Schülerschaft in den Schultypen bzw. in Schulen nach dem Übertritt und bezeichnen alle Einflüsse, die sich daraus für die Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen zusätzlich zu ihren bestehenden Kompetenzen ergeben (vgl. Baumert et al., 2006, S. 101; Neumann et al., 2007, S. 402). Das Fähigkeitsniveau, die soziale und ethnisch-kulturelle Zusammensetzung (u. a. Migrationserfahrungen, kulturelle Vertrautheit der Schüler*innen), aber auch lernbiografische Belastungen (u. a. Klassenwiederholungen) und schwierige Familienverhältnisse in der Schülerschaft sind Kontextmerkmale von Klassen und Schulen, so vermuten Baumert et al. (2006, S. 125–126), die ihren Einfluss vermittelt über soziale Vergleichsprozesse sowie kollektive Leistungs- und Verhaltensnormen unter den Schüler*innen sowie über entsprechende Anpassungen der Unterrichtsgestaltung durch die Lehrkräfte auf die individuellen Lern- und Verarbeitungsprozesse entfalten. Wie sich in etlichen der vorgenannten Studien gezeigt hat, lassen sich Unterschiede in den Lern- und Entwicklungsbedingungen in der gegliederten Sekundarstufe I aber nicht allein mit der Komposition der Schülerschaft erklären. Unter Berücksichtigung der Schülerzusammensetzung fanden sich in den Studien zusätzlich substanzielle Effekte der Schultypzugehörigkeit. Im Falle der Studie von Neumann et al. (2007) mit Fokus auf der Entwicklung des Französischen als Zweitsprache im Verlauf der 8. Klasse bei zwei repräsentativen Samples in den Kantonen Fribourg und Wallis, war dieser Effekt der spezifischen institutionellen Bedingungen sogar stärker ausgeprägt. Solcherlei institutionelle Effekte dürften ebenso auf strukturelle Spezifika der Schultypen (u. a. unterschiedliche Lehrpläne, Lehrmittel, Stundentafeln) wie insbesondere auch auf prozessuale Unterschiede in Form von schultypspezifischen Unterrichtspraktiken der Lehrkräfte zurückzuführen sein. Tatsächlich gibt es Hinweise für schultypspezifische Handlungsmuster von Lehrkräften der Sekundarstufe I: So zeigen Kunter et al. (2005) für das Fach Mathematik, dass deutsche Gymnasiallehrkräfte großen Wert auf das Anregen von Verstehensprozessen legen und entsprechend aktivierende und selbstregualtionsförderliche Aufgabensettings realisieren, dabei aber fachlich schwächere Schüler*innen tendenziell zu stark sich selbst überlassen und es an notwendiger individueller Lernunterstützung fehlen lassen. Demgegenüber scheinen die Lehrkräfte der weniger anforderungsreichen Bildungsgänge in der Sekundarstufe I deutlich mehr Wert auf das geführte Einüben von standardisierten fachlichen Prozeduren zu legen, weniger Problemlöseaufgaben einzusetzen, dabei aber in höherem Maß eine von den Schüler*innen als positiv wahrgenommene individuelle Unterstützung zu realisieren (vgl. Kunter et al., 2005, S. 517–518). Das unterschiedliche unterrichtliche Handeln der Lehrkräfte dürfte vermutlich nicht nur an der unterschiedlichen Zusammensetzung der Schülerschaft liegen und als adaptive Antwort auf die vorgefundenen kognitiven und motivationalen Bedingungen zu verstehen sein, sondern ebenso auf bildungsgangspezifischen Berufsbildern sowie didaktischen und erzieherischen Überzeugungen der Lehrkräfte beruhen und auf unterschiedliche Qualifikationsprofile und kulturelle Unterschiede der jeweiligen Lehramtsausbildung zurückzuführen sein (vgl. Kunter et al., 2005, S. 518; Neumann et al., 2007, S. 416).

3.3 Institutionelle Rahmenbedingungen – Kommentierung der Erkenntnisse mit Blick auf das Übertrittsverfahren der Volksschule des Kantons Zürich und der teilnehmenden Eltern

Wie lassen sich diese Befunde aus der Sicht von Eltern interpretieren, die mit ihrer Familie in einem Gebiet mit gegliederter Sekundarstufe I leben und deren Kind sich aufgrund seiner bisherigen Noten nicht klar einem Profil der angebotenen Bildungsgänge zuordnen lässt? Welches sind zusammengefasst die Bedingungen, auf die sie sich laut der Übertrittsforschung mit der Wahl für einen bestimmten Schultypus in einer klassisch dreigliedrigen Sekundarstufe I einstellen müssen?

Für die Wahl des jeweils tieferen der in Frage kommenden Schultypen spricht bei diesen Kindern primär der förderliche Effekt auf das fachbezogene Fähigkeitsselbstbild (vgl. Abschnitt 5.3.2.2), der davon zu erwarten ist. Schüler/-innen, die sich in der Primar- bzw. Grundschule im Mittelfeld des Notenspektrums (Prädikate «genügend» oder «befriedigend») bewegt haben, können nach dem Übertritt infolge des Referenzgruppeneffekts mit einer günstigeren Bewertung ihrer Leistungen rechnen. So zeigte sich denn auch im Rahmen der quantitativ ausgerichteten Untersuchungen der TRANSITION-Studie, dass das Fähigkeitsselbstkonzept im Fach Mathematik von der 6. zur 8. Klasse zwar bei den Schüler/-innen aller Schulstufen kontinuierlich sinkt, der Effekt jedoch bei denjenigen am dramatischsten ausfällt, die nach der 6. Klasse ins Gymnasium übergetreten sind. Die zum Zeitpunkt der 6. Klasse noch deutlich unterschiedlichen Mittelwerte in der mathematikbezogenen Fähigkeitseinschätzung entlang der späteren Schultypeneinteilung sind nur zwei Jahre später weitgehend verschwunden und haben sich, wohl vornehmlich durch den big-fish-little-pond-Effekt verursacht, auch bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten auf dem Niveau der Schülerinnen und Schüler der beiden anderen Schultypen eingependelt (vgl. Buff & Dinkelmann, 2012).

Ebenfalls für die Wahl des tieferen der in Frage kommenden Bildungsgänge spricht allenfalls der Umstand, dass Lehrkräfte dieser Schultypen generell ein größeres Maß an individueller Lernbetreuung zur Verfügung zu stellen scheinen und das Kind tendenziell mit einer geringeren Zahl an Lehrkräften rechnen muss. So werden Schweizer Gymnasiast/-innen von einer ganzen Reihe von eigentlichen Fachlehrpersonen unterrichtet, während in den anderen Schultypen das Prinzip der Klassenlehrkräfte stärker verankert ist und die Jugendlichen in mehreren Fächern von der gleichen Lehrkraft unterrichtet werden.

Mit einer Wahl des niedrigeren Bildungsganges sind nebst einer positiven Entwicklung des Fähigkeitsselbstbilds des Kindes und einer bedarfsgerechteren Betreuung durch weniger Bezugspersonen aber auch eine Reihe von Risiken und Nachteile in Rechnung zu stellen:

Die leistungsbezogene Homogenisierung der Lerngruppen, die mit dem Übertritt intendiert ist, geht hierzulande mit einer sozialen Segregation einher. In der Folge treffen sich namentlich im tiefsten Schultyp diejenigen Schüler/-innen mit einer schwierigen Bildungsbiografie. So dürfte sich mit absteigendem Anforderungsgrad des Bildungsganges gleichsam ein «negativer Matthäuseffekt» daraus ergeben, dass in den homogenisierten Klassen die gegenseitige sprachliche und fachlich-methodische Stimulation und Unterstützung unter den Schüler/-innen geringer bzw. weniger elaboriert ausfällt als in jenen Klassen höherer Bildungsgänge, in denen der Anteil Jugendlicher mit entsprechender Begabung und/oder langjähriger Förderdung im Elternhaus größer ist (vgl. Abschnitt 4.1).

In den tieferen Bildungsgängen verfügen sodann nicht nur die Klassenwiederholenden, sondern nach der Logik eines leistungsorientierten Beurteilungssystems ein substanzieller Anteil der Schülerschaft über Erfahrungen von langjährig schlechten Bewertungen eigener Leistungen mit entsprechend problematischen Fähigkeitsselbstbildern und negativen Wertüberzeugungen hinsichtlich einzelner Fächer oder global der Schule gegenüber (vgl. Kapitel 5). Im Zuge dieser problematischen motivationalen Voraussetzungen ist neben einem verminderten Engagement vieler Schüler/-innen im Unterricht mit einem erhöhten Maß an Störungen und den damit einhergehenden negativen Auswirkungen auf die effektiv zur Verfügung stehende Lernzeit während des Unterrichts (time on task) zu rechnen. Lehrkräfte dürften in diesen Klassen durchschnittlich denn auch einen größeren Anteil des Unterrichts für pädagogische bzw. erzieherische Aufgaben aufwenden, als dies in anforderungsreicheren Bildungsgängen in der Regel der Fall ist (vgl. Helmke, 2017, S. 184–187).

In längerfristiger Perspektive sind ferner die eingeschränkteren beruflichen und schulischen Anschlussoptionen und generell verminderten Verdienstmöglichkeiten zu nennen, die mit dem Besuch tieferer Bildungsgänge der Sekundarstufe I einhergehen. Zwar sind sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten Bemühungen des Gesetzgebers zu verzeichnen, die Durchlässigkeit im Bildungswesen und die Vielfalt an Bildungswegen zu erhöhen (vgl. Criblez, 2015; Döbert, 2015; Kost, 2013; SKBF, 2018, S. 32), doch dürften sich möglichst direkte Pfade zu höheren Bildungsgängen zumindest mit Blick auf die aufzuwendenden zeitlichen und monetären Ressourcen lohnen (vgl. Cattaneo & Wolter, 2018).

Sodann hat die dargestellte Befundlage auch offenbart, dass die Eltern neben diesen eher strukturellen Bedingungsfaktoren in Einklang mit den Postulaten Bourdieus (vgl. Abschnitt 4.1) je nach eigenem ökonomischen, sozialen, vor allem aber kulturellen Kapital und entsprechendem Habitus mit einem unterschiedlichen Beratungs- und Ausleseverhalten der beteiligten Akteure der «mittelschichtsorientierten» Schule (vgl. Rolff, 1997, S. 134) rechnen müssen. So gibt es klare Hinweise, dass es Eltern mit einem basalen Bildungsabschluss sowie alleinerziehenden Eltern grundsätzlich deutlich schwerer fällt, die Klassenlehrkraft davon zu überzeugen, ihr Kind für den höheren Bildungsgang zu empfehlen. Die Aufgabe einer leistungsbezogenen Einteilung der Schülerschaft erfordert von den Grundschullehrkräften eine Prognose dessen, wie die einzelnen Kinder auf der anschließenden Schulstufe mit den erhöhten Anforderungen an die fachlichen, personalen und sozialen Kompetenzen umgehen können. Für ihre Zuteilungsempfehlung scheinen die Lehrkräfte denn auch ihre leistungsbezogenen Erwartungen an das Kind sowie den Eindruck, den sie von der familialen bzw. außerschulischen Unterstützungssituation des Kindes gewonnen haben, besonders stark zu gewichten (vgl. Neuenschwander, 2014). Wie sich auch in mehreren Interviews im Rahmen der TRANSITION-Studie gezeigt hat, plädieren Lehrkräfte «zum Wohle des Kindes», aber auch mit Blick auf das eigene professionelle Renommee bei den Kolleg/-innen der Sekundarstufe I (vgl. Fürrer Auf der Maur, 2012, S. 181) im Zweifelsfall für den «sicheren» tieferen Bildungsgang mit geringeren Anforderungen an die Selbstregulationsfähigkeiten der Jugendlichen und mutmaßlich intensiverer, adaptiverer und persönlicherer Betreuung durch die Lehrkräfte. Vor allem «in Grenzfällen […], wenn man ‘auf der Kippe steht’», so vermuten Lange und Xyländer (2011, S. 61), scheint der familiale Hintergrund «das Zünglein an der Waage» zu spielen: In einer explorativen Interviewstudie zur Gatekeeper-Funktion von schulischen Akteuren im Zusammenhang mit der Sekundarschulempfehlung befragte Hollstein (2007) insgesamt 15 Klassenlehrkräfte und Schulleitende zu ihrem Vorgehen und zu den Kriterien, die sie für die Empfehlung heranziehen. Als bei weitem dominantestes Zuschreibungs- und Deutungsmuster trat dabei jenes hervor, das die Autorin als «das Kind im Kontext sehen» tituliert, und das sich aus fünf miteinander verknüpften Argumentationsschritten zusammensetzt (vgl. Hollstein, 2007, S. 63–64):

  1. (1)

    Es wird ein Hinweis darauf gegeben, dass es sich bei den Schülerinnen und Schülern um Grenzfälle handelt, die von den Schulleistungen her nicht klar zuweisbar sind und bei denen sich die Frage stellt, ob sie es in der weiterführenden Schule «wirklich packen» (S. 63).

  2. (2)

    Bei den betroffenen Schülerinnen und Schülern wird der Blick auf das soziale Umfeld gelenkt und Vermutungen darüber angestellt, über welche Unterstützung das Kind im Bedarfsfall verfügen würde.

  3. (3)

    Es wird betont, dass man das Kind vor Belastungen und Misserfolgen schützen möchte. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs artikuliert und Gedanken darüber angestellt, was ein Scheitern in Form einer Rückstufung in einen niedrigen Schultyp für das Kind bedeuten würde («packt der das von der Frustrationstoleranz?», S. 63).

  4. (4)

    Darauf wird das Argument vorgebracht, dass es im Übrigen kein Nachteil darstelle, die niedrige Schulform zu besuchen, sondern «nur ein Umweg» (S. 63). Dies ist begleitet von Vermutungen über die Durchlässigkeit des Systems.

  5. (5)

    Sodann wird nochmals betont, dass man dem Kind Misserfolge ersparen möchte und die Entscheidungen «zum Wohle des Kindes» (S. 64) getroffen würden.

Hollstein (2007, S. 64) unterstreicht, dass die Lehrkräfte hierbei subjektiv zweifelsfrei um das Kindswohl bemüht seien. Das Problem bestehe aber darin, dass die Datenlage die Argumentation nicht zu stützen vermöge, insofern als rund 80 % der Kinder, die trotz der Realschulempfehlung ein Gymnasium besuchten, in diesem auch reüssieren würden und als die Durchlässigkeit des Bildungssystems zwar größer geworden sei, aber auf dem genannten «Umweg» meist wiederum diejenigen Jugendlichen Erfolg hätten, die aus besser gestellten Familien stammten. Damit tritt das Problem zutage, dass viele Lehrkräfte ihre folgenreiche Entscheidung auf der Basis von Vermutungen und Überzeugungen vorzunehmen scheinen, die von der wissenschaftlichen Befundlage nicht oder kaum gestützt werden. Auch Ditton et al. (2005) zeigen sich überzeugt, dass es sich bei dem geschilderten milieu- und schichtspezifischen Vorgehen der Lehrkräfte zwar um ein ungerechtes, aber in den wenigsten Fällen ein gezielt diskriminierendes Vorgehen handeln dürfte. Vielmehr trete hier angesichts der gegebenen strukturellen Bedingungen des Schulsystems ein durchaus rationales Handeln zutage: «Sowohl Eltern in ihren Bildungsaspirationen als auch Lehrkräfte in ihren Bildungsempfehlungen antizipieren die größeren Ressourcen der Angehörigen der oberen sozialen Schichten, um den Schulerfolg absichern zu können» (Ditton et al., 2005, S. 287).

Alleinerziehende und/oder Eltern aus weniger privilegierten Schichten, die ihr dem mittleren Leistungsniveau angehörendes Kind in den höheren Bildungsgang eingeteilt sehen möchten, müssen vor diesem Hintergrund mit grundsätzlichen Vorbehalten seitens der Lehrkräfte rechnen und sind somit gut beraten, in den Monaten vor dem Entscheid in Wort und Tat die Passung mit den förderbezogenen Erwartungen der Klassenlehrkraft sicherzustellen.

Letzterer Punkt verweist wiederum auf die Bedeutung der Entscheidungskompetenzen, die der Gesetzgeber den beteiligten Akteuren im jeweiligen Übertrittsverfahren zuweist. Zum Abschluss dieses Kapitels sollen in dieser Hinsicht die Bedingungen des Übertrittsverfahrens der Volkschule des Kantons Zürich erörtert werden – demjenigen Bildungssystem, an dessen Vorgaben sich die Kinder, Eltern und Klassenlehrkräfte der vorliegenden Untersuchung zu orientieren hatten.

Im föderalen System der Schweiz unterliegt die Gestaltung der obligatorischen Grundausbildung von Kindern und Jugendlichen laut der Bundesverfassung weitgehend der Schulhoheit der Kantone (Art. 62 BV). Abgesehen vom Kanton TessinFootnote 14 dauert die Sekundarstufe I in allen Kantonen drei Jahre und schließt an die acht Jahre umfassende Primarstufe an, die wiederum aus zwei Jahren Kindergarten bzw. Eingangsstufe sowie 6 Jahren Primarschule (1. bis 6. Klasse) besteht (vgl. EDK, 2017). In allen Kantonen erfolgt der Übergang zwischen der Primar- und Sekundarstufe auf der Basis eines formalen Verfahrens, dessen Dreh- und Angelpunkt die Beurteilungen und Empfehlungen der Primarschule bilden (vgl. Criblez, 2015, S. 812). Während in der Bundesrepublik Deutschland die Festlegung des Bildungsweges und die Wahl der Schulform entsprechend ihrem Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) den Eltern zusteht und die schulischen Akteure laut dem Schulaufsichtsrecht des Staates (Art. 7 Abs. 1 GG) während des Wahlprozesses primär eine beratende und informierende Funktion haben und erst im Falle einer aus ihrer Sicht unsachgemäßen Wahl eines zu anspruchsvollen Schultyps allenfalls korrigierend Einfluss nehmen könnenFootnote 15 (vgl. Gresch et al., 2010, S. 201–202), liegt in der Schweiz zumindest der endgültige Zuteilungsentscheid gemäß den kantonalen Promotionsverordnungen in der Regel in den Händen der Schule (vgl. Neuenschwander, 2011, S. 132). So sind es in den meisten Kantonen die Schulaufsichtsbehörden (Schulkommission, Schulpflege, Schulinspektorat, Schulrat, o. ä.), die den Zuteilungsentscheid fällen, in einigen Kantonen aber auch die Schulleitungen oder aber allein die Klassenlehrkräfte bzw. die «Lehrerkonferenzen» (EDK, 2016). In den meisten Kantonen dient eine Form der «ganzheitlichen Beurteilung», in die die Leistungen des Kindes in den Kernfächern sowie seine überfachlichen Kompetenzen einfließen, als Entscheidungsgrundlage (EDK, 2016b). Diese Beurteilung wird meist durch die Klassenlehrkraft der 6. Klasse in schriftlicher Form erstellt. In einzelnen Kantonen stützt sich der Entscheid aber auch lediglich auf die Zeugnisnoten, in anderen werden die Ergebnisse von Übertrittstests bei der Entscheidung mitberücksichtigt, die im Laufe der 6. Klasse durchgeführt werden (vgl. EDK, 2014, S. 3). Die Eltern und die betroffenen Schülerinnen und Schüler sind in den allermeisten Kantonen wenigstens in konsultativer Form in den Beurteilungsprozess einbezogen, zumindest werden sie aber über die Gründe der Zuweisung informiert (EDK, 2016a).

Zwischen den 26 Kantonen unterscheidet sich die Struktur der Sekundarstufe I zum Teil erheblich und bei der Mehrzahl lassen sich innerhalb ihres Bildungssystems zusätzlich nochmals unterschiedliche Strukturmodelle ausmachen, die es den kommunalen bzw. regionalen Schulbehörden erlauben, ein Modell zu wählen, das sie hinsichtlich mehrerer Kriterien (u. a. Schülerzahlen) für angemessen halten. Der Bildungsbericht Schweiz 2014 verzeichnet drei Grundmodelle, aus denen sich die jeweiligen kantonalen Strukturmodelle zusammensetzen (SKBF, 2014, S. 88) und nur bei 10 Kantonen in Reinform vorkommen (reine zwei- oder dreigliedrige Modelle finden sich nur noch in 7 Kantonen):

  1. a)

    Integriertes Modell: Nicht selektionierte Stammklassen mit anforderungsdifferenzierten bzw. leistungsorientierten Niveaukursen

  2. b)

    Kooperatives Modell: Auf zwei Typen von Stammklassen aufgeteilte Gesamtpopulation der Schülerinnen und Schüler sowie anforderungsdifferenzierte bzw. leistungsorientierte Niveaukurse

  3. c)

    Geteiltes Modell: 2 bis 4 Schultypen laufen getrennt mit separaten Klassen, Lehrpersonen und Lehrplänen/Lehrmitteln. (SKBF, 2014, S. 88)

So lässt sich etwa das in der vorliegenden Studie interessierende Zürcher Modell der Sekundarstufe I als geteilt und kooperativ beschreiben: Nach der Primarstufe wechseln die Kinder entweder ins Langgymnasium, das sechs Jahre dauert, oder in eine der drei Abteilungen A, B oder CFootnote 16 der dreijährigen Sekundarstufe, wobei die einzelnen Sekundarschulen die Möglichkeit haben, in höchstens drei Fächern (Deutsch, Mathematik, Englisch oder Französisch) zusätzlich abteilungsübergreifende Anforderungsstufen (I, II, III) einzurichten. Die Abteilung A und die Anforderungsstufe I sind jeweils am kognitiv anspruchsvollsten. Der Zugang zum Langgymnasium erfolgt über eine zentrale Aufnahmeprüfung, bei der die Erfahrungsnoten aus der 6. Klasse in den Kernfächern Deutsch und Mathematik mitberücksichtigt werden (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 12). Die Zuteilung zu einer der drei Abteilungen A, B oder C erfolgt gemäß Volkschulgesetz (Art. 32 Abs. 3 VSG) und Volkschulverordnung (Art. 33 Abs. 3 VSV) auf der Grundlage einer Gesamtbeurteilung, in der die Klassenlehrkraft die Beobachtungen und Beurteilungen möglichst aller Lehrkräfte des Kindes aufbereitet und zusammenfasst. Die Zuteilung zu einer der drei Anforderungsstufen I, II und III (sofern solche denn geführt werden) wird auf der Basis der Gesamtleistungen im betreffenden Fach vorgenommen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 10). Laut einer Informationsschrift der Bildungsdirektion des Kantons Zürich zuhanden der Lehrkräfte (auch für die Eltern im Internet zugänglich) stehen folgende Aspekte im Brennpunkt der Gesamtbeurteilung:

  • Die Gesamtleistungen in den einzelnen Fächern

  • Das Arbeits- und Lernverhalten und das Sozialverhalten

  • Die Begabungen und Neigungen und den Entwicklungsstand eines Kindes

  • Andere beurteilungsrelevante Faktoren wie gesundheitliche oder familiäre Belastungen oder eine eventuelle Mehrsprachigkeit sowie erhaltene Förderung. (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 5)

Derselben Schrift zufolge handelt es sich bei der Gesamtbeurteilung um «wohlfundierte Einschätzungen von Lehrpersonen über das Potential und die Lernleistungen ihrer Schülerinnen und Schüler in allen Fächern und nicht nur um das arithmetische Mittel aus einigen Prüfungen in den Fächern Mathematik und Deutsch». Charakteristisch seien ihre «prognostische Funktion» und dass sie «in Prosa verfasst» sei (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 5). Die Gesamtbeurteilung ist somit die zentrale Grundlage im Entscheidungsprozess, der sich während der sechsten Klasse über mehrere Monate hinziehen kann und gemäß den gesetzlichen Vorgaben des Kantons (Art. 32 VSG und Art. 39 VSV) gesprächsorientiert bzw. als «Konsensverfahren zwischen Schülerin/Schüler und Eltern, Klassenlehrperson und Schulleitung» (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 7) verlaufen soll. Laut der Volksschulverordnung (Art. 39 Abs. 1 VSV) sind die Schulen dazu verpflichtet, im Minimum ein Übertrittsgespräch durchzuführen, anlässlich dessen die «Entscheide betreffend den Übertritt […] vorbereitet werden» und «an dem wenigstens die Klassenlehrperson und ein Elternteil teilnehmen». Falls in diesem Gespräch keine Einigung zustande kommt, so soll laut Gesetzgeber eine weitere Gesprächsrunde stattfinden, zu welcher neben den bisher Beteiligten zusätzlich die Schulleitung der Primarschule sowie eine Lehrkraft der Sekundarstufe I stoßen sollen (Art. 39 Abs. 2 VSV). Kommt es auch in diesem Gespräch zu keiner Einigung, fällt die zuständige Schulpflege gemäß Artikel 34 Abs. 3 sowie Artikel 39 Abs. 3 der Volksschulverordnung auf der Grundlage der Akten, der Anhörung der Beteiligten und ggf. nach der Konsultation weiterer Fachpersonen anlässlich einer Promotionssitzung die Entscheidung und teilt das Kind endgültig in eine der angebotenen Abteilungen der Sekundarstufe I ein. Weder die Schulleitung noch die Schulpflege dürfen zur Stützung ihrer Entscheide Leistungstests oder andere spezielle Prüfungen veranlassen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 11).

Tabelle 3.1 Möglicher Zeitablauf «Übertritte aus der Primarstufe» (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 11)

In der oben genannten Informationsbroschüre der Bildungsdirektion zuhanden der Schulen wird der «mögliche Zeitablauf» visualisiert (vgl. Tabelle 3.1). Deutlich wird in der Übersicht, dass es weitgehend den einzelnen Schulen bzw. den Lehrkräften überlassen bleibt, wie sie «konsensuell» definieren und wie intensiv sie folglich die Eltern im Vorfeld des Übertrittsgesprächs über das gesetzlich festgelegte Minimum hinaus im Rahmen zusätzlicher Standortgespräche informieren, anhören und in ihren Abwägungsprozess einbinden. Die Bildungsdirektion fordert in der Erläuterung von Schritt 2 («Bis Mitte Februar», vgl. Tabelle 3.1) die Klassenlehrkräfte auf, «das Gespräch mit den Eltern betreffend die Zuteilung […] zu suchen» und besonders „mit Eltern von Kindern, bei denen die zukünftige Schullaufbahn bzw. die Zuteilung zu den Abteilungen der Sekundarstufe noch unsicher ist“, einen „intensive[n] Kontakt“ zu pflegen (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 10). Sie gibt den schulischen Akteuren in der Broschüre weiter zu bedenken, dass obwohl das Schulsystem mittlerweile «durchlässig» und die Möglichkeit vorhanden sei, dass Schüler*innen bei entsprechenden Leistungen die Abteilung oder die Anforderungsstufe während der Sekundarstufe I wechseln oder nach dem zweiten oder dritten Jahr ins Kurzeitgymnasium übertreten könnten, die Einstufung aber dennoch «eine entscheidende Weichenstellung» sei und mit «großer Sorgfalt» zu erfolgen habe. Verdeutlicht wird die Verantwortung, die mit der Aufgabe einhergeht, mit einem Hinweis auf die Gefahren institutioneller Diskriminierung:

Dabei gilt es zu beachten, dass Kinder aus Migrationsfamilien oder bildungsfernen Milieus nicht benachteiligt werden. Ihnen fehlt unter Umständen die Unterstützung des Elternhauses sowohl beim Lernen als auch im Rahmen des Zuteilungsverfahrens. Lehrpersonen müssen wissen, dass hier die Gefahr der institutionellen Diskriminierung droht: Allzu schnell geht die Tendenz bei solchen Kindern Richtung Abteilung B oder gar C – der Weg ins Gymnasium wird schon gar nicht geprüft. Die Statistiken sprechen hier eine deutliche Sprache. Die verantwortungsbewusste Lehrperson wird Gegensteuer geben und sich sehr genau überlegen, ob nicht doch die Abteilung A möglich wäre! (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 4)

Aus der Perspektive der Eltern kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass das Zürcher Übertrittsverfahren ihnen zumindest eine konsultative Funktion zugesteht. Die Klassenlehrkräfte sind dazu verpflichtet, die elterlichen Wahrnehmungen der Entwicklung des Kindes sowie die elterlichen Schullaufbahnwünsche zur Kenntnis zu nehmen, sich mit ihnen argumentativ und datenbasiert auseinanderzusetzen und ihre Übertrittsempfehlung in mindestens einem Gespräch detailliert zu erläutern. Von solchen Vorgaben abgesehen wird den Schulen bzw. den betroffenen Klassenlehrkräften aber große Gestaltungsfreiheit zugestanden. Die übergeordnete kantonale Behörde beschränkt sich auf die oben genannten Apelle und das Einfordern der gesetzlich geforderten Mindestzahl an Gesprächen und verzichtet offenkundig darauf, detailliertere Qualitätskriterien für die Zusammenarbeit mit den Eltern während der Übertrittsphase zu definieren. Wie sich in einer Studie von Fürrer Auf der Maur (2012) im Rahmen des qualitativ ausgerichteten Projektteils der TRANSITION-Studie gezeigt hat, unterscheiden sich die zehn Klassenlehrkräfte, denen sich die 20 Elternteile des Samples der vorliegenden Studie gegenüber sahen, hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber der elterlichen Mitsprache zum Teil stark und involvierten die Eltern entsprechend unterschiedlich in den Entscheidungsprozess. Selbst innerhalb der gleichen Schuleinheit scheint die Varianz bei den Klassenlehrkräften bezüglich des Vorgehens und bezüglich des Wertes, den sie der Zusammenarbeit mit den Eltern zumessen, beträchtlich zu sein. So unterschieden sich die drei Lehrkräfte (Z10, Z20 und Z30) des Schulhauses Z u. a. hinsichtlich der Anzahl der formellen Gespräche, hinsichtlich ihrer Bereitschaft für informelle Gespräche und hinsichtlich der Gewichtung einzelner Aspekte der GesamtbeurteilungFootnote 17. Sodann kann aus Eltern-Sicht auch festgehalten werden, dass der Gesetzgeber den Schulbehörden den Letztentscheid zugesteht (vgl. Schritt 5, Tabelle 3.1). Der im Volkschulgesetz (Art. 32 Abs. 1 VSG) verankerte Grundsatz eines gemeinsamen Entscheids zwischen Lehrkräften, Schulleitung und Eltern wird im gleichen Absatz relativiert, indem im Zweifelsfall der Schule das Recht erteilt wird, den definitiven Entscheid zu fällenFootnote 18. Auch der Umstand, dass sich die Eltern im Falle der Uneinigkeit beim Übertrittsgespräch in einem Folgegespräch (Schritt 4, Tabelle 3.1) mit zusätzlichen schulischen Akteuren konfrontiert sehen (Schulleitung der Primarstufe sowie eine Lehrkraft der Sekundarstufe I), dürfte bei vielen Eltern Unterlegenheitsgefühle auslösen und sie davon abhalten, das Verfahren weiter zu eskalieren. Entsprechende Aussagen ließen sich in Interviews identifizieren, die für das Teilprojekt von Haymoz (2014) im Rahmen von TRANSITION unmittelbar nach dem Übertrittsgespräch mit den Eltern des Samples der vorliegenden Studie durchgeführt wurden. So bekundeten insbesondere die Elternteile M11 und S12, deren Aspirationen für die Abteilung A von der Lehrkraft abschlägig beantwortet wurden, das Gefühl der Hilflosigkeit und die Wahrnehmung eigener Unterlegenheit u. a. angesichts der rechtlichen Hürden (vgl. Haymoz, 2014, S. 60–65). Mit Blick auf den damit erwartbaren Aufwand entschieden sie sich dafür, den Entscheid für die Abteilung B zu akzeptieren und trösteten sich damit, dass auf der Sekundarstufe I während mehreren Zeitpunkten ein Wechsel des Schultyps möglich sei.

Tatsächlich sehen Volksschulgesetz (Art. 32 VSG) und Volksschulverordnung (Art. 40 VSV) des Kantons Zürich vor, dass sog. «Umstufungen» in andere Abteilungen oder in eine andere Anforderungsstufe in der 1. Klasse der Sekundarstufe zu drei Terminen möglich sind (Ende November, Mitte April sowie Anfang des Schuljahres) und danach jeweils zu zwei Zeitpunkten (Ende Januar und Anfang des Schuljahres). Die Umstufungen, die für die Schüler*innen keinen zeitlichen Verlust zur Folge haben, können auf Antrag der Klassenlehrkraft oder aufgrund eines Gesuchs der Eltern erfolgen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 9). Auf der Grundlage einer von der Klassenlehrkraft erstellten Gesamtbeurteilung und eines Gesprächs, an dem auch der/die Jugendliche beteiligt ist, erfolgt hier der Beschluss durch die Eltern, die bisherige Klassenlehrkraft und die Schulleitung gemeinsam. Kommt keine Einigung zustande, entscheidet wiederum die Schulpflege über die Auf- oder Abstufung, wobei auch hierzu keine zusätzlichen Tests oder Prüfungen durchgeführt werden dürfen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013a, S. 9). Neueren Zahlen der Bildungsdirektion (2016, S. 40) zufolge haben etwas weniger als 12 % der Jugendlichen, die im Jahr 2009 in die Sekundarstufe I eingetreten sind, bis zum Abschluss der Sekundarschule einen Wechsel zwischen den Abteilungen A, B oder C vollzogen. Dabei wurden rund 7 % der Eingetretenen in den weniger anspruchsvollen Bildungsgang abgestuft und rund 5 % aufgestuft. Im langjährigen Trend finden aber immer mehr Aufstufungen statt: «Bezogen auf alle Jugendlichen mit einem Abteilungswechsel ist der Anteil derjenigen mit einer Aufstufung in dieser Zeitspanne [2003–2014] von 39 auf 47 Prozent gewachsen. Dementsprechend hat der Anteil Jugendlicher mit einer Abstufung in eine weniger anspruchsvolle Abteilung von 61 auf 53 Prozent abgenommen.» (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2016, S. 39). Mädchen werden nicht nur häufiger als Jungen in die Abteilung A eingeteilt (vgl. Abschnitt 1.1, Fußnote 5), sie sind vergleichsweise auch weniger von Abstufungen betroffen (4.3 % vs. 6.3 % bei der Kohorte der 2011 Eingetretenen). Keine Unterschiede bezüglich des Geschlechts sind bei den Aufstufungen zu verzeichnen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2016, S. 42). Auch Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache werden mit deutlich erhöhter Wahrscheinlichkeit in die Abteilungen B und C eingeteilt und erleben vergleichsweise häufiger einen Abteilungswechsel als ihre Kolleginnen und Kollegen deutscher Erstsprache. Dabei sind sie vor allem bei den Aufstufungen überproportional vertreten (8 % vs. 4.3 %). Dies könnte darauf hindeuten, so die Autor*innen der Dokumentation, dass «Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Erstsprache beim Übertritt in die Sekundarstufe I in Bezug auf ihre Fähigkeiten zu pessimistisch eingestuft» würden und dieser nicht optimale Entscheid dann «im weiteren Schulverlauf auf Sekundarstufe I korrigiert werden» müsse (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2016, S. 43).

Tabelle 3.2 Überblick über die Ausprägungen von neun übertrittsbezogenen Aspekten bei den untersuchten Elternteilen zu den Zeitpunkten G1 oder G2

Von den Kindern der Stichprobe des qualitativen Projektteils von TRANSITION stiegen bereits zum ersten Umstufungstermin auf der Sekundarstufe zwei Schüler von der Abteilung B in die Abteilung A auf (die beiden Jungen S12 und V12). Ein Kind der Stichprobe, der Junge H12, wurde demgegenüber ebenfalls zum ersten Umteilungstermin von der Abteilung A in die Abteilung B abgestuftFootnote 19. In allen drei Fällen bestand auf Anhieb ein Einverständnis zwischen den Kindern, den Eltern und den Klassenlehrkräften der Sekundarstufe hinsichtlich dieser MaßnahmeFootnote 20.

Zum Schluss dieses Abschnitts soll anhand der aus den Interviews G1 und G2 extrahierten Daten schließlich noch der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Übertrittsverfahren und das konkrete Handeln der jeweiligen Lehrkraft das schulbezogene Motivierungshandeln der Elternteile im untersuchten Zeitraum zwischen den beiden Interviews beeinflusst haben dürfte. Zur Einschätzung möglicher Effekte werden die Werte der neun in Tabelle 3.2 aufgeführten Kategorien herangezogen. Die Ausprägungen der ersten vier Kategorien wurden auf der Grundlage von Antworten der Elternteile auf die Fragen des Abschnitts D des Leitfadens G1 (vgl. Abschnitt 6.1, Abbildung 6.1) ermittelt. Die Ausprägungen der letzten vier Kategorien wurden aus der im Rahmen des TRANSITION-Projekts durchgeführten Studie von Good (2014) übernommen. Die Grundlage für diese Codierungen bildeten die Antworten auf die Fragen des Abschnitts D aus den Interviewleitfäden G2 für die Eltern- sowie für die Lehrpersoneninterviews (vgl. Abschnitt 6.3.1, Tabelle 6.1)Footnote 21.

In den Interviews G1, die zu Beginn der Erhebungszeit durchgeführt wurden, zeigten sich die Elternteile bezüglich der Durchlässigkeit der Sekundarschule eher kritisch und richteten ihr Augenmerk vor allem auf den Aspekt der Gliedrigkeit des Schulsystems (vgl. die Interviewausschnitte in Abschnitt 1.1). Dem Umstand, dass in der Sekundarstufe I mit dem neuen Volksschulgesetz 2006 ein bildungsgangübergreifendes leistungsdifferenziertes Förderangebot in Form unterschiedlicher Anforderungsstufen in Deutsch, Mathematik, Englisch oder Französisch eingeführt wurde, ist durch die Eltern in den Interviews kaum näher Aufmerksamkeit geschenkt worden. Wenn die Thematik angesprochen wurde, dann wurden Vorbehalte geäußert und ein eher geringer Informationsgrad zu Sinn und Zweck des Angebots wurde offenkundig, wie die folgenden drei Ausschnitte aus den Interviews mit den Müttern V11, S12 und Z32 illustrieren:

  • V11: Ich bin sehr skeptisch. Weil sie jetzt auch das System umstellen, dass es jetzt nur noch Sek A und B gibt und die verschiedenen Leistungsstufen. Ich habe große Bedenken für meinen Sohn, ob er in diesem System klarkommt. […] Ich habe einfach auch Bedenken. Jetzt habe ich ihm gesagt, wir schauen mal, wie das erste Jahr geht, da mit diesen Leistungsstufen. Aber ich bin extrem skeptisch. Ich trau-

  • I: Was macht Sie skeptisch?

    V11: Weil es dann ja so verschiedene Anforderungsprofile gibt, wo es dann ständig einen Wechsel gibt. Es ist dann nicht einfach eine Klasse, sondern er kann dann ja in verschiedenen Gruppen sein und das kann auch immer wieder wechseln. Ich finde das nicht toll. […] (Interview G1, 00:37:09)

    I: Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Tochter eine Sek A oder eine Sek B besuchen wird?

    S12: Eine A sowieso. Aber wir wollen ja die [Anforderungsstufe] 1. Es gibt ja A, B, C und 1, 2, 3 und sie können in jedem Fach ein anderes Level haben. Das ist ja jetzt ganz neu. Also meine «Balletteuse» (lacht) von nebenan. Die ist eine gute Freundin von mir und was die mir erzählt, da wird mir schlecht. Da muss ich sagen: «Habt ihr alle einen Schaden? Also gibt es noch etwas anderes?» Also Sek A, Level 2 würde auch reichen. Also die machen in den ersten zwei Wochen machen die die Repetition des Französischunterrichts. Und tschüss und dann geht es weiter. […] Also Sie können zum Beispiel – das ist auch so etwas, das versteht [niemand]. Der Klassenlehrer wusste es auch noch nicht, er musste sich auch orientieren. Es kann sein, dass es in der Sek A – jetzt reden wir vom A. Dann sind Sie vielleicht im Rechnen in der [Anforderungsstufe] eins, dann sind Sie im Französisch in der Drei und im Deutsch in der Zwei. Und dann haben sie – das versuchen sie jetzt neu zu machen. So wie in der Highschool einen Spind in den Gängen und dort schmeißen sie alle Bücher rein und dann rennen sie wie die Irren im ganzen Schulhaus umher. (Interview G1, 00:52:02)

  • I: Und welche Bedeutung hat es für Sie selber, dass ihre Tochter in die Sek A kommen würde?

    Z32: Ich finde es gut [, dass sie die Abteilung B anstrebt]. In die Sek A, dahin kann sie immer noch. Weil es gibt drei verschiedene- In der ersten Oberstufe gibt es verschiedene Sachen, die sie dann- In der Mathe und in Deutsch- dass sie sich da prüfungsweise sogar steigern können. So können sie zwei Fächer in der Sek A machen und den Rest in der Sek B. Also dann ist es hin und her- Dann hat sie beides: Sek A und B.

    I: Das wären wie Niveauklassen, die- oder -unterricht, den sie machen.

    Z32: Ja, genau. Das ist- sagen wir einmal: Sie steigert sich in der ersten, fängt an sich zu steigern, macht den Knopf- das Knöpflein auf, oder. Und es ist im Rechnen gut. Dann kann sie im Rechnen, in der Mathe in die Sek A. Und der Rest in die Sek B. Also, es ist so eine- Runterfallen kann sie nicht mehr. Also kann sie nicht. Sie kann eher sich dann steigern. (Interview G1, 00:54:18)

Alle Elternteile sind zu diesem Zeitpunkt – rund acht Monate vor dem Übertrittsentscheid – vorwiegend mit der Frage beschäftigt, ob es angesichts der Leistungen und Persönlichkeitsmerkmale des Kindes sowie der Zuteilungskriterien der jeweiligen Klassenlehrkraft wohl für den angestrebten Bildungsgang reichen könnte. Wie in Tabelle 3.2 die Zeile Aspirierte Abteilung der Sekundarschule verdeutlicht, nennen auf den ersten Blick immerhin 4 der 20 Elternteile die Abteilung B der Sekundarschule als Übertrittsziel für ihr Kind (D11, R12, Z12, Z32). Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Schulen in den Wohnorten der Eltern D11, Z12 und Z32 drei Abteilungen der Sekundarschule führen (Abteilung A, B und C) und dass somit auch diese Eltern nicht den anforderungsärmsten und mit geringstem Ansehen verbundenen Bildungsgang für ihr Kind anstreben, der zur Verfügung steht. Alle vier Elternteile begründen ihre Aspirationen für die Abteilung B mit dem Kindswohl, welches sie auf der Basis der bisherigen Leistungen in der Primarstufe bzw. der Persönlichkeitsmerkmale bei einem Übertritt in die Abteilung A gefährdet sähen. Wie sich in Tabelle 3.2 in der Zeile Kontrolleinschätzung bez. unmittelbarer Zuteilung zur aspirierten Abteilung zeigt, erwarten zu diesem Zeitpunkt alle vier Elternteile, dass ihr Kind aufgrund der gezeigten Leistungen in den gewünschten Sekundarschultyp eingeteilt wird – was sich zum Zeitpunkt G2, an dem die retrospektiven Interviews durchgeführt wurden, mittlerweile auch bewahrheitet hatte (vgl. Tabelle 3.2, Zeile definitiv zugeteilte Abteilung der Sekundarschule). Die Effekte, die im untersuchten Zeitraum zwischen G1 und G2 spezifisch vom Übertrittsverfahren auf das Motivierungshandeln dieser Eltern ausgegangen sind, dürften als eher gering einzuschätzen sein, da sie sich die angesichts der geringen Diskrepanz zwischen Aspiration und Realisierungschance (vgl. Tabelle 3.2, Zeile Kontrolleinschätzung bez. unmittelbarer Zuteilung zur aspirierten Abteilung) keinem massiv erhöhten Druck ausgesetzt gefühlt haben dürften. Abgesehen von der Mutter D11 bewerten die Elternteile retrospektiv zum Zeitpunkt G2 auch die Zusammenarbeit mit der Klassenlehrkraft als problemlos (vgl. die Werte der vier letzten Zeilen in Tabelle 3.2). Das geringe Vertrauen von D11 zur Lehrkraft und die auch von der Klassenlehrerin als konfliktreich eingeschätzte Beziehung ist bei genauerem Hinsehen nicht übertrittsspezifischen Aspekten zuzuschreiben (die wahrgenommene Informiertheit ist denn auch hoch, vgl. Tabelle 3.2), sondern dem Umstand, dass D11 der Lehrkraft vor allem vorwirft, Abmachungen im Zusammenhang mit der ADS-Problematik ihrer Tochter nicht einzuhalten (z. B. dafür sorgen, dass das Kind bei Prüfungen zwecks Ausschluss von störenden Umweltreizen in einer Ecke des Schulzimmers sitzen und einen Kopfhörer tragen darf).

Auf den ersten Blick könnte man aufgrund der Tabelle 3.2 vermuten, dass auch die Elternteile S12, H11, R11, V11, Z22 die Zeit vor dem Übertrittsentscheid einigermaßen ruhig angehen könnten (vgl. in der Tabelle 3.2 die Werte der Kategorien erwartete Zuteilung zur Abteilung der Sekundarschule und aspirierte Abteilung der Sekundarschule). Sie alle zeigen sich zum Zeitpunkt G1 recht sicher, dass ihr Kind die Zuteilung in die gewünschte Abteilung B erreichen wird (vgl. Tabelle 3.2, Kategorie Kontrolleinschätzung bez. unmittelbarer Zuteilung zur aspirierten Abteilung) – was sich zum Zeitpunkt G2 dann auch so bestätigt (vgl. Kategorie definitiv zugeteilte Abteilung). Auch bezüglich der Zusammenarbeit mit der Lehrkraft während der untersuchten Phase der Entscheidungsfindung zeigen sie sich mit geringfügigen Abweichungen beim Elternteil Z22 äußerst zufrieden. Einige haben von den Klassenlehrkräften zu diesem Zeitpunkt bereits Signale erhalten, dass sie ihr Kind in der Abteilung A sehen (z. B. S12), andere nehmen die Klassenlehrkraft als offen gegenüber den Sichtweisen von Eltern wahr und hoffen, diese mit guten Argumenten und einem vehementen Einsatz für die gewünschte Zuteilung überzeugen zu können (vgl. den Interviewausschnitt der Mutter H11 zu Beginn dieses Hauptkapitels). Allen vier Elternteilen sind aber auch sehr hohe Valenzwerte bezüglich einer Zuteilung zur aspirierten Abteilung gemeinsam und sie dürften generell über hohe Bildungsaspirationen für ihre Kinder verfügen (die Mutter R11 spricht z. B. im Interview explizit ihren Wunsch an, dass die Tochter wenn nicht das Lang- so doch wenigstens nach der 8. Klasse das Kurzgymnasium besuche). Es darf bei allen vier Eltern angenommen werden, dass ihre hohen Aspirationen nicht nur bei Übertritten, sondern über die ganze Schulzeit mit deutlichen Wert- und kontrollbezogenen Regulationen verbunden sind, wenn diese Eltern den Eindruck haben, die fachlichen und überfachlichen Kompetenzen ihres Kindes würden sich nicht erwartungskonform entwickeln.

Die Mutter Z31 zeigt abgesehen von ihren Zuteilungserwartungen und ihren diesbezüglichen Aspirationen zum Zeitpunkt G1 durchgängig die gleichen Ausprägungen wie die eben beschriebene Gruppe. Als einziger Elternteil gab sie im Interview G1 die Bildungsaspiration Langgymnasium für ihren Sohn an und zeigte sich zu diesem Zeitpunkt recht sicher, dass er die entsprechenden Aufnahmeprüfungen wegen seiner Stärken in Mathematik auch bestehen würde. Als Grund für ihren ausgeprägten Wunsch, dass der Sohn das Gymnasium besuchen sollte, nannte sie in diesem Interview vor allem das sehr schlechte Ansehen, das die Sekundarschule des Wohnorts genieße und die negativen Erfahrungen, die ihre ältere Tochter mit deren Lehrkräften schon gemacht habe. Sie betonte, dass sie ihren Sohn gegebenenfalls lieber in einer Privatschule anmelden würde, als ihn in die örtliche Sekundarschule übertreten zu lassen. Der Klassenlehrer, der die überfachlichen Kompetenzen sowie die Leistungen des Kindes in den beiden geprüften Fächern Mathematik und Deutsch weit weniger positiv einschätzte und dem Forschungsteam gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass er den Eltern vorschlagen werde, den Sohn in die Abteilung B einzuteilen, hielten die Eltern bis zum Übertrittsgespräch im Dunkeln über ihre Aspirationen, die privat organisierten Prüfungsvorbereitungsstunden und die bereits erfolgte Prüfungsanmeldung. Die Klassenlehrkraft wiederum, überrascht durch die eingangs des Gesprächs gemachten Bekenntnisse der Eltern, änderte flugs ihre Empfehlung und schlug dem anwesenden Kind und den Eltern die Abteilung A vor – falls die Aufnahmeprüfung nicht von Erfolg gekrönt sein sollte. Nachdem Ende März 2009 klar war, dass der Sohn das Ziel einer Aufnahme ins Langgymnasium nicht erreicht hatte und er nun nach dem Willen der Eltern doch die Sekundarschule am Wohnort besuchen sollte, entspannte sich die Situation so weit, dass sowohl die Klassenlehrkraft als auch der Elternteil Z31 im Interview G2 rückblickend die Zusammenarbeit während der Übertrittszeit als überwiegend positiv einschätzten (vgl. die Werte der letzten vier Zeilen in Tabelle 3.2). Da den hohen übertrittsbezogenen Aspirationen eher taktische Überlegungen denn Bildungswünsche zugrunde gelegen haben mögen, kann einerseits vermutet werden, dass sich das Motivierungshandeln der Eltern nach der Aufnahmeprüfung und dem Erreichen der Empfehlung für die Abteilung B wieder seinem bisherigen Niveau angeglichen hat oder aber – falls die Bildungsaspirationen der Eltern tatsächlich hoch sind und sie durch das Prüfungsergebnis erfahren haben, dass sie mit ihrer Einschätzung des Kompetenzstandes des Sohns falsch lagen – auch mittelfristig verändert haben.

Auch die Mutter Z11 zeigt sich zum Zeitpunkt G1 recht überzeugt, dass ihre Tochter die von den Eltern sehr gewünschte Abteilung A erreichen würde. Sie nimmt – wie sich im Rückblick zeigt – die Signale der Lehrkraft, wonach diese das Kind aufgrund der Leistungen und der überfachlichen Kompetenzen eher in der Abteilung B sieht, zu wenig ernst und zeigt sich optimistisch, dass die Tochter mit ihrer Unterstützung die Noten noch etwas verbessern könne und das Ziel erreiche. Anlässlich des Übertrittsgesprächs eröffnet die Klassenlehrkraft den Eltern und dem Kind allerdings, dass sie dieses definitiv für die Abteilung B empfehle. Die Eltern weigern sich, den Zuteilungsantrag zu unterzeichnen und deuten an, dass sie das vom Übertrittsverfahren vorgesehene zweite Gespräch mit der Schulleitung und einer Lehrkraft der Sekundarstufe I beantragen würden (vgl. Tabelle 3.1). Wie sie im Interview G2 andeutungsweise zum Ausdruck bringt, mit der Absicht den zusätzlichen administrativen Aufwand zu vermeiden, entscheidet sich die Klassenlehrerin daraufhin, klein beizugeben, und teilt den Eltern in einem Telefongespräch ein paar Tage später mit, dass sie mit Vorbehalten, die sie auf dem Formular deklarieren werde, bereit sei, den Zuteilungsantrag für die Abteilung A ihren Wünschen gemäß zu unterzeichnen. Im retrospektiven Interview G2 äußert die Mutter Kritik an der Klassenlehrerin:

  • I: Was hätte die Klassenlehrerin bezogen auf den Übertritt aus Ihrer Sicht besser machen können?

    Z11: (…) Besser. Hm. Ja. (…) Ja, sie hätte sicher mal das Kind ein bisschen mehr unterstützen können. Dann am, am- Vielleicht auch mit den Eltern mal sprechen und sagen: «so, das gäbe es. Oder man könnte jetzt das noch machen oder so.» Eben einfach ein bisschen mehr Unterstützung. Und nicht einfach nur an diesen Elterngesprächen die ganze Zeit immer nur: «Ja, K15 macht nichts. K15 ist faul. Wissen Sie, sie ist eben eine bequeme.» Also das ist absolut, äh, destruktiv. Und nichts Konstruktives. Also wir hätten schon erwartet, dass sie ein bisschen mehr- Ja. So etwas einbringt. Ich meine, schlussendlich ist sie mit diesen Kindern auch- hm, etwa 7 Stunden am Tag zusammen, nicht wahr? Und doch hatten wir immer das Gefühl, sie schätzt einfach K15 auch total falsch ein. Ja. Sie kennt sie überhaupt nicht wirklich. Das ist ja das Verrückte. Eben das, das zeigt uns auch, eben sie hat eigentlich eben keine, äh, Basis, eigentlich. Keine Vertrauensbasis gegenüber dem Kind. Sondern es ist einfach ein Name und eine Note und das und das Fach ist sie gut. Das ist sie nicht gut. Und sie macht mit oder sie macht nicht mit. Und damit hat es sich dann schlussendlich. Viel mehr ist dann nicht. Ist schade. (Interview G2, 01:06:01)

Gefragt, was sie im Rückblick anders machen würde, meint die Mutter Z11:

  • Z11: Ja. Ich glaube, ich hätte meine Tochter schon vorher irgendwie in einen, in einen, äh, Stützunterricht geschickt. Oder Nachhilfeunterricht. Und so gemacht, dass sie wirklich super Noten nach Hause hätte bringen können, mit der Mathe und gleich irgendwie zum Trotz für die Klassenlehrerin, dass sie sieht: doch, dass- Sie kann es nämlich doch. Und es liegt nicht nur am Kind, dass, dass es nicht gut ist in der Schule. Sondern es liegt auch zu 50 Prozent am Lehrer. (Interview G2, 01:03:24)

Aufgrund der bis zum Übertrittsgespräch offenbar falschen Sicherheit, es würde für eine Zuteilung der Tochter zur Abteilung A wenig im Weg stehen, kann vermutet werden, dass der Elternteil sein Motivierungshandeln gegenüber dem Kind während der Phase der Entscheidungsfindung im Vergleich zu vorher kaum verändert hat.

Bedeutend stärker dürfte die Übertrittsproblematik die Elternteile D12, S11, H12, M11 und Z21 in ihrem Denken und Handeln beeinflusst haben. Diesen Elternteilen war zum Zeitpunkt G1 unklar, in welche Abteilung ihr Kind eingeteilt würde, allen war es aber wichtig oder sehr wichtig, dass ihr Kind die Abteilung A erreicht, und alle verfügten aufgrund der in letzter Zeit veränderten Leistungsergebnisse ihres Kindes (nach unten und nach oben) sowie unklarer oder zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgegebener Einschätzungen der Klassenlehrkraft über einen niedrigen Sicherheitsgrad bezüglich der Übertrittsempfehlung. Abgesehen von Z21 fühlten sich die Eltern aber zum Zeitpunkt G2 gut durch die Lehrkraft informiert und bezeugten Vertrauen in deren Handeln während der Übertrittsphase. Alle berichten zum Zeitpunkt G2 sodann von einer gelungenen, konfliktarmen Zusammenarbeit mit der Klassenlehrkraft während der Phase der Entscheidungsfindung und mit Ausnahme des Vaters M11 erfüllen sich deren Wünsche einer Zuteilung ihres Kindes zur Abteilung A. Beim Vater M11 handelt es sich um einen zum Erhebungszeitpunkt stellenlosen Vater, der mit seiner Familie als Flüchtling aus dem kurdischen Nordirak in die Schweiz gekommen ist. Seine älteste Tochter besucht bereits die Abteilung B der Sekundarschule und die Erfahrungen der schwierigen Stellensuche lassen es ihm als wichtig erscheinen, dass sein Sohn möglichst der Abteilung A zugeteilt wird. Um die Kompetenzen des Sohnes in Deutsch zu verbessern, haben er und seine Frau den Sohn bei einem privaten Institut für einen zusätzlichen Deutschkurs angemeldet, den dieser in der Freizeit besucht und den die Eltern selber finanzieren. Die Unsicherheit und Hoffnung bezüglich der Leistungsentwicklung des Sohnes, aber auch bezüglich des Handelns der Lehrkraft, die der Vater im folgenden Ausschnitt aus dem Interview G1 zum Ausdruck bringt, sind exemplarisch für die Äußerungen der Elternteile dieser Gruppe zu diesem Zeitpunkt:

  • I: Als Sie mit dem Lehrer gesprochen haben, haben Sie auch über den Übertritt gesprochen, ob Ihr Sohn in die Sek A oder B geht?

    M11: Ja, er hat gesagt, dass mein Sohn sicher nicht in die Sek C geht. Aber ich finde, dass er jetzt in die Sek B kommt, aber vielleicht, wenn er mehr Gas gibt, und besser wird, geht er vielleicht in die Sek A. Aber wenn es so bleibt, Sek B.

    I: Wieso meinen Sie, dass Ihr Sohn jetzt in die Sek B kommt?

    M11: Ich möchte nicht Sek B. Und ich sehe, wenn er so lernt, wie in diesen ein bis zwei Monaten, dann sagt vielleicht auch sein Lehrer, dass mein Sohn- weil er ist sicher in diesen ein, zwei Monaten nicht schlecht. Und ich sehe meinen Sohn, wenn er etwas machen möchte, dann macht er. Aber wenn er es nicht gerne macht oder er keine Lust hat, das ist das Problem. Aber ich habe auch ihm gesagt, er solle die anderen Kollegen anschauen und die Leute, welche in die Sek A gehen, dass es danach besser ist für den Beruf, für eine Stelle, für alles. Und ich habe ihm gesagt, dass auch wenn er in die Sek A geht, ich ihm ein Laptop gebe als Geschenk. (I: Hat das für Sie eine Bedeutung, dass Ihr Sohn in die Sek A geht?) Ich habe gesagt, wenn du in die Sek A kommst, kaufe ich dir ein Laptop als Geschenk. Und, aber ich habe gesagt, ich sehe die ein, zwei Monate nicht schlecht. (I: Und was denkt Ihr Sohn, ist Sek A für ihn wichtig?) Ja, das stimmt. Und ich habe gesagt, dass wenn ihm dieser Deutschkurs nicht gefällt, müsse er nicht gehen. Und er hat gesagt, er möchte das machen, das sei gut so.

    I: Findet Ihr Sohn es auch wichtig, dass er die Sek A schafft? 00:20:54–0

    M11: Ja, sicher. (Interview G1, 00:21:00)

Anders als die anderen Kinder der Gruppe, wird der Sohn nicht in die Abteilung A eingeteilt. Ein Entscheid, der die Eltern enttäuscht, den sie aber mit der Hoffnung, dass ihr Sohn in der Sekundarschule doch noch einen Wechsel vollziehen könne, akzeptieren.

Wie bereits erwähnt, zeigt sich die Mutter Z21 zum Zeitpunkt G2 unzufrieden über die Informationsleistungen der Klassenlehrkraft während des gesamten Übertrittsverfahrens und bringt zum Ausdruck, dass sie von dieser mehr Initiative bezüglich der Kontaktsuche sowie mehr Interesse für die Belange der Familie während dieser Zeit erwartet hätte:

  • I: Wie haben sie die Zusammenarbeit mit der Frau L09 erlebt?

    Z21: Zusammenarbeit? Ich habe einfach das Gefühl gehabt, dass zwischen Lehrer und Eltern nichts gewesen ist.

    I: Im Grunde genommen keine Zusammenarbeit?

    Z21: Ja.

    I: Was hätten sie sich denn für eine Zusammenarbeit gewünscht?

    Z21: Vielleicht mehr Informationen oder Gespräche, weil ich das vom anderen Lehrer her gekannt habe. Ich habe mich immer für ein Gespräch angemeldet. Wir hatten Gespräche, aber ich bin zur Lehrerin, weil ich sonst nichts von ihr gehört hätte, denke ich.

    I: Was hätte die Frau L09 besser machen können?

    Z21: Die Eltern sicher informieren oder eben mit Gesprächen.

    I: Sie zum Gespräch bitten?

    Z21: Ja, ja.

    I: Wie würden sie die Haltung von Frau L09 gegenüber dem Übertrittsverfahren beurteilen?

    Z21: Die Haltung? Ich bin ein wenig böse, aber ich empfinde das so- als kalt. Kalt in dem Sinn gleichgültig, ich weiß es nicht. Wir kennen sie ja noch nicht so lang, aber ich habe einfach das Gefühl gehabt. Ich weiß nicht, einfach ja. Wie ein wenig gleichgültig. Ich weiß nicht, ich empfinde jetzt das ein wenig so. Vielleicht ist es auch böse von mir, ich weiß es nicht. Eben es war einfach nichts da und das hat mir gefehlt, der Kontakt und die Informationen.

    I: Von ihrer Seite her?

    Z21: Ja, auf jeden Fall. Wir Eltern, klar ist es auch unsere Arbeit, also wir müssen ja. Es geht ja um unser Kind. Aber ich finde, es muss auch etwas vom Lehrer kommen und eben ich habe das Gefühl. Ich weiß auch nicht, ich habe das Gefühl, sie ist gleichgültig.

    I: Hat sich die Beziehung zwischen ihnen und der Klassenlehrerin in den letzten Monaten verändert?

    Z21: Nein, nein, nein ich finde, man kann gut mit ihr reden, wenn man dort ist. (Interview G2, 00:51:21)

Es kann vermutet werden, dass die Kombination aus hohem Aspirationsniveau für die Abteilung A, variablen Leistungsergebnissen des Kindes sowie unzureichender Informationspraktiken der Lehrkraft wegen des damit einhergehenden geringen Sicherheitsempfindens des Elternteils deutliche Effekte auf deren Motivierungshandeln ausgeübt hat. Die abschließende Einschätzung des Elternteils Z21 über die zurückliegenden Monate dürfte exemplarisch für die gesamte Gruppe sein:

  • I: Wenn Sie zusammen mit Ihrer Tochter das anschauen, wie hat sie es erlebt, Sie beide zusammen?

    Z21: Sie hat es wahrscheinlich als sehr stressig erlebt und wieder mit diesem Druck einfach. Da ist es wirklich um alles gegangen. (Interview G2, 00:48:42)

Auch sehr unsicher bezüglich der Zuteilung ihres Sohnes äußert sich zum Zeitpunkt G1 die Mutter M12. Während sie in der Vergangenheit glaubte, die Klassenlehrkraft sehe ihren Sohn in der Abteilung A, hat sich dieses Bild in den letzten Monaten vor dem Interview G1 verändert.

  • I: Hat es denn bisher Gespräche gegeben zum Übertritt mit Herr L04? 00:56:27–8

    M12: Ja, also er hat gesagt, dass eine halbe Note dem K08 noch fehle und dass er ihn eigentlich in der Sek A sieht (…) und eben das ist das, als er mich das letzte Mal angerufen hat. Eben, dass er merke, dass mein Sohn noch mehr aus sich rausholen könne. Und ich habe ihm gesagt, ich wäre froh, wenn er ihn ein bisschen förderte und so, also das sei für mich vollkommen in Ordnung. […] (Interview G1, 00:57:08)

Sie selber nimmt ihren Sohn bei Hausaufgaben als demotiviert wahr bzw. bezeichnet ihn im retrospektiven Interview G2 als «faul». Sie – und in noch stärkerem Maß ihr Mann – stellen das Kindswohl aber klar vor ihre Bildungsaspirationen:

  • I: Also was für eine Bedeutung hat es denn für Sie, dass er die Zuteilung zur Sek A erreicht? 00:50:39–4

    M12: Ich würde mich natürlich sehr freuen, wenn er in die Sek A kommen würde, selbstverständlich. Ich würde mich aber nicht freuen, dass – also, wenn er gezwungenermaßen in die Sek A käme. Also, wenn ich weiß, er stünde dort auf der Kippe mit den Noten oder was auch immer, das – das würde mich furchtbar traurig machen, weil ich finde, er geht eigentlich sehr gerne in die Schule. Er ist schon immer gerne in die Schule gegangen, auch wegen den Kindern und und- das fände ich schade, das würde mich traurig machen, wenn mein Kind unglücklich wäre und so ein Stress- also, Du musst und musst, Du musst – ich würde mich freuen, aber ja, und mein Mann ist da noch ein bisschen legerer [lässiger, ungezwungener] (lacht). Der ist total leger, der ist gar nicht ich, ja, ja, ja. (Interview G1, 00:51:31)

In Anbetracht dessen, dass sich die Eltern mit einer Zuweisung in die Abteilung B mit Blick auf das Wohlbefinden ihres Sohnes abzufinden bereit sind und sie auch die Zusammenarbeit mit der Lehrkraft retrospektiv als tadellos empfunden haben, kann vermutet werden, dass die Mutter M12 ihren Sohn während des untersuchten Zeitraums kaum über das übliche Maß hinaus – sie deutet an, dass sie ihn durchaus bei Hausaufgaben ständig etwas antreibt – motiviert hat.

Auffallend unzufrieden mit dem übertrittsbezogenen Handeln der Lehrkraft sind die beiden Mütter S11 und S12, deren Söhne die gleiche Klassenlehrerin (S10) haben. Beide Elternteile haben sehr hohe übertrittsbezogene Aspirationen für die Abteilung A, bekunden aber zu diesem Zeitpunkt, dass sie eher geringe Realisierungschancen sähen, was einerseits den variablen Leistungsergebnissen ihrer Söhne, vor allem aber den Aussagen der Lehrerin anlässlich des Halbjahreszeugnisses geschuldet sei, wonach sie zur Abteilung B tendiere. Während S11 daraufhin Nachhilfe für ihren Sohn bei einem nahen Verwandten organisiert und gemeinsam mit ihrem Mann in mehreren informellen (z. T. telefonisch geführten) Gesprächen ihre Aspirationen zu verdeutlichen sucht, verstärkt S12 ihre Unterstützungsleistungen im Rahmen von Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen. Während der Sohn von S11 zur Freude der Eltern schließlich in die Abteilung A eingeteilt wird, akzeptiert die Mutter S12 mehr zähneknirschend als überzeugt, die Zuteilung zur Abteilung B. Sie vermutet im folgenden Ausschnitt aus dem Interview G2, dass ihr Sohn in die Abteilung B eingeteilt wurde, weil er sich in einer leistungsstarken Klasse befunden habe. Tatsächlich ist er einer der beiden Jungen des Samples, der während der 7. Klasse eine Aufstufung in die Abteilung A erlebt hat:

  • S12: Also es hat recht Aufregung gebracht in die Familie hinein, richtige Diskussionen auch, zum Teil richtigen Druck auch, und ich denke mir, man müsste das vielleicht – ja, wenn das zwei Lehrer z. B. wären, dann hätte man zwei Meinungen, die vielleicht zusammenkämen, die dann vielleicht auch neutraler wären. Oder ich denke mir – ich habe das auch Frau L06 gesagt – ich meine, K12 ist mein erster Sohn, der jetzt dieses Verfahren durchmacht. und ich kann nicht wirklich sagen, im Vergleich zu den anderen Kindern ist er ein A- oder ist er ein B-Schüler, und ich denke mir, wenn wir vielleicht noch eine andere Meinung dazu hätten, würde man das als Eltern vielleicht auch eher akzeptieren. Also ich denke mir, als Eltern möchte man ja eh immer das Beste, und ich sehe jetzt einfach im K12 – das ist aber meine Meinung, ich sehe ihn nicht wirklich als typischen Sek B-Schüler. Also wenn ich jetzt andere Kinder sehe, die jetzt in der Sek B sind, und deshalb war das relativ schwer für mich zu akzeptieren. Sicher, Frau L06 hat eine sehr starke Klasse, also eben es gehen ja bald alle ins Gymi und Sek A und so, und deshalb würde es mich eigentlich interessieren, ja so – Oder ob man das irgendwie öffentlich – vielleicht halt wieder mit einer Prüfung, oder zwei Prüfungen-

    I: Aufnahmeprüfung meinen Sie?

    S12: Eine Aufnahme- oder dass man zum Teil – das habe ich jetzt auch schade gefunden – ich hatte diese Möglichkeit noch, heute hat man das ja gar nicht mehr, dass man eine Aufnahmeprüfung machen kann. Es muss ja nicht nur eine einzelne – ich meine, bei einer Prüfung kann man wirklich auch mal einen schlechten Tag haben, aber dass man halt vielleicht zwei Prüfungen macht, plus noch die Noten oder so, von den Vornoten oder so – Ich weiß nicht, also es ist einfach nicht ganz transparent auch. Sicher, beim zweiten Kind ist das sicher total anders, aber beim ersten, da schwimmt man. (Interview G2, 01:20:20)

Die Mutter S12 gibt den Druck zu erkennen, dem sie sich und der Rest der Familie ausgesetzt sahen. Ihre Empfindung, die Situation nicht ganz im Griff zu haben, dürfte bedeutenden Einfluss auf das Motivierungshandeln des Elternteils ausgeübt haben. Ähnlich dürfte es sich auch bei der Mutter S11 verhalten. Auch sie spricht von Stress, kann der Situation aber nach erfolgreichem Abschluss Positives abgewinnen:

  • I: Was meinen Sie denn zusammengefasst zum Übertrittsverfahren, wie Sie es jetzt zusammen mit Ihrem Sohn und Ihrem Mann seit letztem November erlebt haben? 01:15:59–7

    S11: Ja, es war ein großer Stress, aber es hat sich gelohnt, und es hat K11 sehr gutgetan, also es hat ihm sehr gutgetan. Er hat wie einen Schritt mehr aufgetan und Selbstsicherheit bekommen, und das Ganze, dass er sich Mühe gegeben hat und dann auch etwas schafft und dass wir den Onkel als Nachhilfelehrer beigezogen haben, das hat alles Sinn gemacht, das war einfach – Es war ein Stress, den wir hatten, aber es ist okay. Manchmal muss man halt auch ein wenig Stress im Leben haben, das gehört auch dazu. (Interview G2, 01:16:40)

Deutlichen Einfluss auf das Motivierungshandeln dürfte das Übertrittsverfahren auch beim Vater V12 ausgeübt haben, des einzigen Studienteilnehmers, der selber ein Gymnasium besucht hat. Bei sehr hohen Aspirationen für die Abteilung A erwartet er bereits zum Zeitpunkt G1, dass der Sohn aufgrund dessen, dass dieser kaum bereit sei, sich stärker für bessere Leistungsergebnisse einzusetzen, in die Abteilung B eingeteilt werde. Die Klassenlehrerin, deren übertrittsbezogenes Handeln V12 im Interview G2 ausdrücklich lobt, hatte den Eltern und dem Kind zu diesem Zeitpunkt bei einem Gespräch bereits eröffnet, dass die Leistungen eher für diese Abteilung sprächen:

  • I: Was denken Sie im Moment A oder B, was eher?

    V12: Eher B. Und in diesem Gespräch, das hat auch die Klassenlehrerin eigentlich so gesagt, da war K14 dabei, dass es wahrscheinlich eher so aussehen würde wie Sek B. Und irgendwie hat man das Gefühl, er hat sich mit dem abgefunden und für ihn ist sowieso klar, er will nicht Akademiker werden. Er will irgendetwas Handwerkliches machen und hat das Gefühl, ja was will ich da. Er hat dann auch mitbekommen, er hat uns auch schon gesagt, seine Lehrerin hätte gesagt, man sei besser- wichtig sei am richtigen Ort zu sein und dort mitzukommen. Und drum findet er das ein kühner Gedanke, sich anstrengen zu wollen um mit Mühe und Not in die Sek A zu kommen. Ich denke er findet Sek B, das ist richtig, da muss er nicht riesigen Aufwand betreiben. Und das ist das was uns eigentlich nicht so passt. Wir probieren ihm immer zu sagen: «Du aber stell dir vor, es würde reichen für die Sek A. Und es wäre ja dann doch nicht so schlimm. Es wäre- hättest einfach die breitere Palette von Lehrstellen und so weiter zur Verfügung.» (Interview G1, 00:39:18)

Im retrospektiven Interview G2 schildert der Elternteil V12 kurz sein Motivierungshandeln in der Phase der Entscheidungsfindung und deutet an, wie das Zusammenspiel zwischen Aspirationsniveau und wahrgenommener Realisierungschance, aber auch das Bemühen, die Entscheidung des Kindes zu würdigen, dieses Handeln beeinflusst hat:

  • I: Jetzt haben Sie und K14 die Phase hinter sich, bei der es um den Übertritt gegangen ist. Wissen jetzt, wie es nach den Sommerferien weitergeht. Wenn Sie jetzt so an die letzten Monate zurückdenken, welche Erlebnisse kommen Ihnen da spontan in den Sinn?

    V12: Das sind schon die vermehrten Gespräche über seine Zukunft. Wir haben eigentlich diesen Übertritt und die Einstufung immer so in Verbindung gebracht mit seinem späteren Leben. Dass er nicht uns einen Gefallen macht, wenn er in eine möglichst gute Stufe raufkommt. Wir haben verstanden, dass er es schon begriffen hat. Er hat sich natürlich auch extrem aufgelehnt: «Aber ihr habt auch gesagt, ich werde am besten mal ein Handwerker und ein Handwerker muss ja wirklich nicht-», einfach so mit seinen Ausreden und Ausflüchten und so weiter. Eine Zeitlang hatten wir ja auch das Gefühl, mit ein wenig Druck und so sollte die Sek A drin liegen. Irgendwann haben wir zusammen mit der Lehrerin gesehen, es reicht nicht. Es reicht zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht. Auf eine Art hat sich die Lage dann ein wenig entspannt, es gab weniger Konflikte und man musste ihn nicht ständig schütteln. Ja das sind so die Sachen. Und als dann die Einstufung auch fest war, wurde es K14 auf eine Art auch wohler. Er wusste dann, jetzt ist es entschieden, jetzt bin ich dort. […] (Interview G2, 01:00:00)

Während die Eltern in einer ersten Phase «Druck» zu machen versuchen, haben die sie das «Schütteln» des Kindes zu jenem Zeitpunkt abgebaut, als ihnen mit Hilfe der Lehrkraft bewusstwurde, dass sie ihr Ziel einer Einstufung in die Abteilung A nicht erreichen würden. Bei ihrem Sohn handelt es sich um das zweite Kind, das im Verlauf des ersten Jahres in der Sekundarschule von der Abteilung B in die Abteilung A wechseln konnte.

Das folgende Kapitel legt den Fokus nun auf die Eltern selber und den Einfluss, den deren bildungsbezogene Erfahrungen und Überzeugungen auf ihre Kinder auszuüben vermögen. Es geht der Frage nach, inwiefern die sozialen und kulturellen Hintergründe von Eltern deren schulbezogene Wertorientierungen und Kontrollüberzeugungen sowie deren Motivierungshandeln prädiktieren und inwiefern daraus für das Kind allenfalls Benachteiligungen für seine Bildungslaufbahn und seine gesellschaftliche Teilhabe erwachsen.