• I: Was geht Ihnen spontan durch den Kopf, wenn Sie «Sek A» hören?

    S11: Ja, Militär eigentlich (lacht) – kommt mir gerade in den Sinn – nein es ist so – es ist eine wahnsinnige Einteilung, dieses Sek A-Sek B, es ist ein wahnsinniger Wert auf diesen Einteilungen. Also für mich ist Sek A das, was man muss, und Sek B ist das, wo du nachher völlig unglücklich bist (lacht) – einfach Sek B ist wirklich, dann findest du- bist du nachher irgendwie ein Handwerker, der mit vierzig seinen Rücken kaputt hat und irgendwie beruflich einfach sehr beschränkt ist. Also das ist das, was- also ich persönlich habe ja die Sek B gar nicht so schlimm gesehen, aber nachher sagst du das anderen Müttern- (Seufzen): «Auf keinen Fall ins B, auf keinen Fall». Das sei ganz schlimm. Das kommt auch sehr von den Eltern aus. Also es ist eine wahnsinnige Schubladisierung und der Gedanke ist schon der, dass es leichter ist, wenn du in der Sek A bist und dann in die Sek B zurückfällst als – viel schwieriger ist es, wenn du im B beginnst und dann ins A müsstest, das ist zehnmal schwieriger. Deshalb schaut man, dass man ins A kommt. Weil im B – du schaffst es vielleicht nach einem Vierteljahr noch ins A, aber nach einem Jahr noch ins A – oder dann musst du eben ein Jahr zurück oder irgendwie so, das stelle ich mir viel schwieriger vor. (S11, Interview G1, 01:00:47)

So fällt die Antwort einer Mutter aus, die während Monaten unsicher gewesen war, welcher Abteilung der Sekundarschule ihr Sohn nach dem Übertritt zugewiesen werden würde, auf die Frage, was ihr spontan zur «Sek A» – so wird die Abteilung A («mit erweiterten Anforderungen») in der gegliederten Sekundarstufe I der Volksschule des Kantons Zürich umgangssprachlich bezeichnetFootnote 1 – in den Sinn komme. Lachend spricht sie die Armee an und stellt damit die Verbindung zwischen der Schule und einer staatlichen Institution her, die gemeinhin mit klarer hierarchischer Struktur, engen Verhaltenserwartungen und entsprechend geringer Entscheidungsfreiheit und Zwang für das Individuum gleichgesetzt wird. Weiter bringt die Mutter zum Ausdruck, dass sie sich von ihrem sozialen Bezugsfeld habe überzeugen lassen, dass es für ihr Kind nur die Abteilung A als Option gebe, um bezüglich seiner beruflichen Zukunft nicht «unglücklich» zu werden. Auch glaubt sie, dass es zentral sei, dass das Kind auf Anhieb in die angesprochene Abteilung A eingeteilt werde, da ihrer Meinung nach ein Aufstieg aus der weniger anforderungsreichen Abteilung B bedeutend schwieriger zu bewerkstelligen sei. Sie spricht von «wahnsinniger Einteilung» und «wahnsinnigem Wert» derselben und bringt damit ihre Ambivalenz diesem Verfahren gegenüber zum Ausdruck, dem sie und ihr Kind sich zu unterwerfen gezwungen sahen, dem sie aber nach anfänglichem Zögern auch Vorschub leistete, indem sie die «wahnsinnige Schubladisierung» akzeptierte und die Notwenigkeit einer Orientierung auf die Abteilung A angesichts der gesellschaftlichen Gegebenheiten anerkannte. Wie hoch die Identifikation mit dem Ziel eines Übertritts in die Abteilung A ihres Kindes ist, dürfte sich nicht zuletzt darin zeigen, dass die Mutter in der obigen Sequenz zunehmend so spricht, als ob sie selbst und nicht lediglich ihr Sohn in der Sekundarstufe I mit Aufstiegs- und Abstiegsszenarien konfrontiert sei bzw. so, als ob sie ihren Sohn vor sich habe, dem sie nun die Dringlichkeit dieses Ziels zu verdeutlichen versuche: «Deshalb schaut man, dass man ins A kommt».

Die zitierte Äußerung beinhaltet Elemente der Realitätswahrnehmung, wie sie von allen Eltern von Kindern mit unklarem Übertrittsentscheid zum Ausdruck gebracht wurden, als sie von uns in der Vorbereitung auf den qualitativ ausgerichteten Teil des Forschungsprojekts «TRANSITION – Elterliche Unterstützung und motivational-affektive Entwicklung beim Übertritt in die Sekundarstufe I» (vgl. Buff et al., 2008) im September 2008 kontaktiert wurden. Angefragt, ob sie zusammen mit ihrem Kind bereit wären, nicht nur an den quantitativen Erhebungen teilzunehmen, sondern sich auch noch mit zwei längeren face-to-face-Gesprächen und acht telefonisch durchgeführten Interviews durch das 6. Schuljahr bis zum Übertrittsentscheid begleiten zu lassen, bekundeten bereits in den Sondierungsgesprächen die meisten der rund 50 kontaktierten Eltern ein großes Interesse an einer Teilnahme. In Anbetracht dessen, dass sich ihre Kinder mit einem Notenschnitt zwischen 4.0 und 4.5Footnote 2 in den Kernfächern nicht klar einem Leistungsprofil der gegliederten Sekundarstufe I zuordnen ließen (vgl. Abschnitt 4.3), die Klassenlehrkräfte bereits im Verlauf der 5. Klasse den meisten Eltern gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten, dass sie unter Umständen für eine Zuteilung zur Abteilung B plädieren könnten, und vor dem Hintergrund, dass in der Volksschule des Kantons Zürich der Zuteilungsentscheid zu einem der Schultypen der Sekundarstufe I weitgehend in den Händen der Klassenlehrkraft sowie weiterer schulischer Akteure liegt und den Eltern eine primär konsultative Rolle zuweist (vgl. Abschnitt 3.3), bekundeten alle Eltern in ähnlicher Weise ihr Unbehagen bezüglich der Auswirkungen, die das Verfahren auf ihr Kind und das Leben ihrer Familien in den kommenden Monaten haben werde.

1.1 Ausgangslage: Das Unbehagen der Eltern mit Blick auf das anstehende Übertrittsverfahren

Wirft man einen Blick auf die ersten Interviews zu Beginn der Erhebungsphase (Interviews G1, vgl. Abschnitt 6.1), die wir im Rahmen des Forschungsprojekts rund einen Monat später mit den zwanzig letztlich in die Stichprobe aufgenommenen Elternteilen (vgl. Abschnitt 6.2) geführt haben, so wird die Ausgangslage deutlich, wie sie sich in den Augen der Eltern präsentiert, und es lassen sich mehrere Bedingungsfaktoren ausmachen, auf denen ihr Unbehagen zu Beginn der Erhebungszeit gründet.

Mehrere unsicherheitserzeugende Faktoren lassen sich an der Ausgestaltung des Schulsystems des Kantons Zürich festmachen. Wie jedes gegliederte Bildungswesen zwingt es durch seine Struktur und seine Vorgaben die beteiligten Akteure, Lehrkräfte, Eltern und Kinder, Abwägungen und Beurteilungen vorzunehmen und Entscheidungen hinsichtlich des weiteren Bildungsweges zu treffen (vgl. Becker, R. & Lauterbach, 2016, S. 13). Etliche Eltern äußern zu diesem Zeitpunkt grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einer allfälligen Zuteilung ihres Kindes zur Abteilung B und begründen dies mit einem erschwerten Berufseinstieg nach der Sekundarstufe I. So meint zum Beispiel die Mutter M11 auf die Frage, welche Bedeutung der Übertritt in die Abteilung A für sie und ihre Tochter habe:

  • M11: […] Ich will, dass sie sich wohl fühlt. Aber ich finde, dass-. Wenn sie Sek B oder so macht, hat sie da vorne weniger Chancen. Ich habe mehr Angst um ihre Zukunft (unverst.). Ich möchte einfach, dass sie sich wohl fühlt. Also, das Gymnasium ist mir nicht wichtig. Einfach, dass sie bessere Chancen hat, als nachher einfach-, ja-. (unverst.) so. […] (Interview G1, 00:52:44)

Während sie wohl aufgrund der Leistungsergebnisse und des Lernverhaltens des Kindes nicht aufs Gymnasium aspiriert, ist es ihr mit Blick auf die zukünftigen beruflichen Chancen – namentlich bei der Lehrstellensuche – wichtig, dass ihre Tochter nicht in die Abteilung B eingeteilt wird.

Andere Eltern der Stichprobe haben bei älteren Kindern Erfahrungen sammeln können, die die These einer Benachteiligung der Sek-B-Schülerinnen und Schüler bei der Stellensuche zu bestätigen scheinen. So meint etwa die Mutter D12 auf dieselbe Frage:

  • D12: Ja, also ich finde das sehr gut, weil es auch für den Beruf später einfacher ist, eine Lehrstelle finden zu können. Ich fände es schon gut. […] Ja, seine ältere Schwester [die die Abteilung B besucht] hat eben leider noch nichts gefunden. Viele haben eben schon- ja sie müsste vielleicht eine Zwischenlösung machen. Ja, man merkt es eben schon, die mit Sek B haben es schwieriger. […]. (Interview G1, 00:53:24)

Dass auch einzelne Lehrkräfte u. a. im Rahmen von Informationsveranstaltungen entsprechende Befürchtungen der Eltern bestätigen, zeigt die folgende Aussage des Vaters V12:

  • V12: Unsere Angst ist es ein wenig- auch wenn er einen handwerklichen Beruf lernen möchte, mit dem haben wir überhaupt kein Problem, er soll das machen, was ihn mal befriedigt. Aber ich denke einfach auch mit Absprache- bei dieser Infoveranstaltung war ich, da haben dann so Sek-B-Lehrer gesagt, es sei manchmal frustrierend, wenn einer, der handwerkliches Talent hätte, eine Bewerbung mache und der Lehrstelleninhaber, der zukünftige Lehrmeister- die würden eben auch schon die handwerklichen Berufe sortieren, wenn es genügend Sek-A-Schüler habe, dann würden sie die [Bewerbungen der] Sek-B-Schüler zur Seite legen. Wir haben einfach die Befürchtung, dass die Lehrstellensuche sich erschwert mit einem Sek-B-Zeugnis. (Interview G1, 00:41:16)

Als weiteren Vorbehalt gegen eine Zuweisung zur anforderungsärmeren Abteilung B wird die Zusammensetzung der Schülerschaft in diesem Schultyp vorgebracht. Solcherlei negative Kompositions- bzw. Peergruppeneffekte (vgl. Baumert, Stanat & Watermann, 2006; Becker, D. & Birkelbach, 2017, S. 182) befürchtet zum Beispiel die Mutter V11:

  • V11: Eigentlich- immer schon habe ich ihm [dem Sohn] gesagt- ich habe gerne, wenn er in die Sek A kommt. Ich weiß, er hat eigentlich auch das Potential. Ich habe ihm immer gesagt: «Wenn du das nicht schaffst, dann schicke ich dich in eine Privatschule». Jetzt nicht, weil ich finde, unbedingt Sek A, sondern, weil ich einfach weiß, was da [in der Sek B] auch passieren kann. Dass er dort abhängen kann mit anderen Kindern, die vielleicht nicht so toll sind. Er braucht eigentlich Kinder, an denen er sich messen kann. Wo er miteifern kann. Ich habe einfach auch Bedenken. (Interview G1, 00:36:47)

Die Abteilung A wird dahingegen nicht nur angestrebt, weil sich dort die leistungsstärkeren Kinder treffen und weil sich mit dem Besuch dieses Schultyps das Spektrum wählbarer Berufsausbildungen erhöht, sondern auch weil Eltern diese Abteilung als Sprungbrett ins Kurzgymnasium wahrnehmen. Während die progymnasiale Stufe (das sog. «Untergymnasium», welches ein Teil des sechsjährigen Bildungsganges «Langgymnasium» bildetFootnote 3), die im Schulsystem des Kantons Zürich nicht von den Sekundarschulen, sondern von den Gymnasien ausgerichtet wird (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2013b), zum jetzigen Zeitpunkt außerhalb der Reichweite des Kindes zu liegen scheint, erhoffen sich einzelne Eltern, dass ihr Kind nach zwei Jahren in der Abteilung A der Sekundarschule reif sein könnte, die Aufnahmeprüfung für das vierjährige Kurzgymnasium zu bestehen. So meint die Mutter R11 auf die Frage nach der Bedeutung eines erfolgreichen Übertritts in die Abteilung A:

  • R11: Ja, eine sehr große, weil von der Sek A hat sie dann auch die besseren Möglichkeiten, weil sie strebt dann schon an, aufs Kurzzeitgymnasium [sic] zu gehen nach der zweiten Sek. Also das hat sie schon mal gesagt. Wie es sich bis dahin weiterentwickelt, wie sie es sich dann überlegt- ja, aber das haben wir jetzt so mal ins Auge gefasst. (Interview G1, 00:47:47)

Unbehagen erzeugt bei den befragten Elternteilen zu diesem Zeitpunkt aber nicht nur der von vielen als bedrohlich wahrgenommene Schultyp Abteilung B, sondern auch die Umstände in den aktuellen PrimarschulklassenFootnote 4 ihrer Kinder. So merkt z. B. die Mutter S12 an:

  • S12: Es ist einfach eine wahnsinnige Unruhe. Eine Unruhe empfinde ich. Es ist eine Unruhe zwischen den Kindern und es ist einfach – ich nehme es so wahr: Jeder will ein bisschen der Beste sein. […] Ich merke einfach, es ist so ein Druck. […] (Interview G1, 00:50:00)

Übertritte bringen Abschiede und Neukonfigurationen von Schulklassen mit sich und stellen erhöhte Anforderungen an die sozial-kommunikativen Kompetenzen der Kinder. Es gilt, sich sozial neu zu orientieren und zu positionieren, frische Freundschaftsbande zu knüpfen, im günstigen Fall eines gemeinsamen Übertritts bestehende Freundschaften im Kontext der neuen Klasse zu aktualisieren oder aber Wege zu finden, diese im Rahmen gemeinsamer Freizeitaktivitäten weiterzupflegen (vgl. Brademann & Helsper, 2010; Chassé & Rahn, 2005; Krüger, H.-H., Köhler, Pfaff & Zschach, 2007). Im November 2008, also rund neun Monate vor dem eigentlichen Übertrittsentscheid, ist bei vielen Kindern aufgrund ihrer stabilen Leistungsbilanz schon klar, in welcher Abteilung sie sich nach dem Wechsel mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederfinden werden. Erhöhte Unsicherheit besteht in den Klassen zu diesem Zeitpunkt vor allem bei zwei Gruppen von Schülerinnen und Schülern: Denjenigen, die im Frühjahr des darauffolgenden Jahres an der Aufnahmeprüfung fürs Langgymnasium teilnehmen möchten, und denjenigen, die sich aufgrund ihrer Leistungen und ihres Lernverhaltens nicht klar der Abteilung A oder B zuordnen lassen und auf die sich das Interesse der vorliegenden Studie richtet. Der Umstand, dass spezifische Peers, die man etwas mehr oder weniger mag, bereits klar in einer bestimmten Abteilung verortet werden können, mag für etliche Kinder durchaus ein Motiv sein, auf einen bestimmten Schultyp zu aspirieren. Weiter sind die Kinder in der Klasse, in der Freizeit und zu Hause auch an kommunikativen Prozessen beteiligt, in denen die Bedeutung der verschiedenen Schultypen verhandelt wird. So meint die Mutter S11 auf die Frage nach der Wichtigkeit eines Übertritts in die Abteilung A für ihren Sohn:

  • S11: Ich glaube, am meisten wegen der Freunde ist ihm das wichtig, weil er weiß, dass von seiner Klasse, so glaube ich, nur etwa zwei Jungen gemäß Vorzeugnis ins B eingetragen sind. Vielleicht auch, weil wir so sagen: «Ach, B ist nicht gut», und irgendwie alle Erwachsenen rundum, die du fragst, sagen: «Oh nein, ins B!» […] (Interview G1, 00:49:02)

Ebenso sehen einige wenige Eltern in der Zusammensetzung der aktuellen Klasse ihres Kindes einen Grund für ihre Beunruhigung. Sie befürchten das, was in der empirischen Bildungsforschung als Bezugsgruppeneffekte (z. B. Baumert et al., 2006; Becker, D. & Birkelbach, 2017; Köller, 2004; Marsh & Parker, 1984) bezeichnet wird (vgl. Abschnitt 3.2.2), und vermuten, dass die Klassenlehrkraft die Leistungen ihrer Tochter oder ihres Sohnes zu ungünstig bewerte, weil das Leistungsniveau der Klasse überdurchschnittlich hoch sei. So meint z. B. die Mutter S11:

  • S11: Es hat auch mit dieser Situation zu tun, einfach, dass wir finden, dass so junge Leute – und dann werden sie eingeteilt, und wir hätten Angst davor, was passiert, weil wir haben das Gefühl, dass sie [die Klassenlehrkraft] ein sehr hohes Level in der Klasse hat, und wenn er jetzt ins B kommt und von anderen Klassen andere ins B, welche weiter unten sind, und er dann nachlässt und dass er dann irgendwie ganz die Motivation – dass er das nicht aufholt nachher, in die Sek A zu wechseln, und ja. […] (Interview G1, 00:47:03)

Alle Elternteile äußern zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger deutlich die Meinung, dass es wichtig sei, dass ihr Kind in den nächsten Monaten einen zusätzlichen Effort leiste, um seine Noten zu verbessern oder um den gegenwärtig günstigen Notenschnitt zu halten, so dass eine optimale Zuteilung in Reichweite liege. Allerdings treiben die Eltern mit Blick auf dispositionale und manifeste Eigenschaften ihres Kindes Fragen zur Realisierbarkeit dieser Ziele umFootnote 5. Während der letzten Jahre haben sie kindspezifische Überzeugungen und Erwartungen hinsichtlich dessen schulbezogenen Handlungsmustern und dessen Leistungsfähigkeit aufgebaut, und sie fragen sich nun, ob ihr Kind in den kommenden Monaten und nach einem allfälligen Übertritt in die Abteilung A mit den erhöhten Anforderungen an seine Selbstregulation zurechtkomme.

Etliche Elternteile sind skeptisch. Sie argumentieren entwicklungsbezogen und stellen die Reife des Kindes in Frage, wähnen es bereits in der Pubertät, stellen Funktionsstörungen oder seinen geringen Erfahrungshorizont in Rechnung oder nehmen es bereits zu diesem Zeitpunkt als gestresst und schlecht mit dem vorherrschenden Leistungsdruck zurechtkommend wahr. So diagnostiziert in den folgenden Ausschnitten der Vater Z22 bei seiner Tochter noch fehlendes Interesse an gewissen schulischen Inhalten, die Mutter M12 nimmt ihren Sohn als «faul» wahr, die Mutter S11 impliziert, dass ihr Sohn den Ernst der Lage noch nicht erkenne bzw. zu erkennen vermöge und die Mutter H12 vermutet, dass ihr Sohn zu viel Druck erlebe und/oder ihn Probleme im Zusammenhang mit ihrer Trennung vom Vater belasteten:

  • Z22: Der Tiefgang fehlt, genau. Sie ist fleißig und sie macht die Aufgaben. An dem liegt es nicht. Einfach, das tiefgründige Interesse an einem Thema oder in einem Fach, das fehlt noch. […] Es ist ja im Zusammenhang mit dem Zeugnis, mit den Noten und so. «K18 das ist deine Zukunft. Im A hast du einfach eine größere Auswahl an Berufen», so gehen wir schon auf sie zu. Aber es dünkt mich auch, für sie ist das noch- «Ja, ja erzählt ihr nur, das ist schon gut, aber das ist irgendwann einmal». (Interview G1, 00:40:35)

    M12: (…) Ich sage so wie er jetzt ist in der Schule, schafft er es in die Sek A. Aber ich weiß, er ist ein- eben, jetzt kommt das wieder mit dieser Lernerei, dass er das- da sehe ich Bedenken oder- er ist so ein Fauler, der (unverst.) – den stresst das und dann- deswegen haben wir manchmal Streit […] (Interview G1, 00:48:19)

    S11: Ich habe das Gefühl- er möchte es irgendwie noch nicht ganz wahrhaben. So kommt es mir vor. Er möchte vielleicht schon- er denkt: «Wenn ich mich jetzt ein bisschen engagiere, komme ich schon in die Sek A, aber es muss noch nicht, hat noch Zeit.» Ich weiß nicht, wo er steht mit seinem Kopf. Das frage ich mich manchmal auch. Aber… es nervt mich manchmal auch ein bisschen, wenn ich sage: «K03, wach auf!» (lacht) […] Er muss ja kein Weltmeister werden. Er muss sich ja weiß Gott nicht übermäßig engagieren – er muss mir keine Sechsen [in der Schweiz die höchste Note] nach Hause bringen. Aber ich sage: «K03, du bist fähig, Fünfen nach Hause zu bringen. Warum kommst du manchmal mit einer Viereinhalb oder Vier nach Hause? Nur weil du es ein bisschen locker genommen hast?» Er: «Ja, ja, das nächste Mal dann». Das gibt es nicht. Hätte er mindestens Probleme, würde ich das akzeptieren, immerhin eine Vier, nicht wahr. Wenn er jetzt so einer wäre. Deswegen nervt es mich, wenn auch die Lehrerin und der Lehrer sagten: «Du kannst es, aber du willst es einfach nicht wahrhaben». (Interview G1, 00:40:52)

    H12: Ich weiß es nicht [, ob es die Abteilung A oder B sein wird]. Ich kann es nicht sagen. Es ist beides möglich. Je nachdem auch, ob er sich jetzt auch wieder etwas auffängt. Vorher war einmal im Gespräch, (unverst.) knapp in die Sek A. Und in den zwei Fächern Mathematik und Französisch eher in der B-Stufe. Aber die Hauptklasse Sek A. Aber jetzt im Moment gerade-. Eben, seit zwei Monaten ist es wirklich massiv heruntergekommen. Also, die Noten. Also von einer 4.5- ich weiß den Durchschnitt jetzt nicht. In der [letzten Mathematik-] Prüfung war es einfach auf einer 3. Einmal hatte er sogar überhaupt keine Note. Ich habe das Gefühl, (unverst.), dass er einfach nicht konzentriert ist. Aber woran es liegt, kann ich jetzt nicht sagen. Ist es der Druck? Er verträgt Druck auch nicht so. Vielleicht hat es eben noch mit uns privat daheim zu tun, mit dem Vater. Ich weiß es nicht. (…) Es kann auch sein, dass alles etwas zu viel ist. Wie ich vorher schon gesagt habe, der Sport und das Thai-Boxen und die Schule und die Hausaufgaben und jetzt dann noch Nachhilfe. Vielleicht ist es auch einfach etwas viel für ihn. Ich werde (unverst.) da versuchen, irgendwie eine gewisse Ruhe reinzubringen. (Interview G1, 00:59:50)

In allen vier Ausschnitten rücken sich die Eltern in ihren Erzählungen selber ins Blickfeld und offenbaren, wie sie auf das von ihnen als unzulänglich empfundene schulbezogene Verhalten des Kindes zu reagieren versuchen oder in den kommenden Wochen zu handeln beabsichtigen. Es wird sichtbar, dass ihr Unbehagen schließlich auch dem eigenen Handeln gegenüber gilt: Im Kontext einer Entscheidungssituation, die an sie und ihre Familie von außen herangetragen worden ist und die sie zu einer Fähigkeitsdiagnose, zu einem Abwägen von Aspirationen und kurzfristigen Erfolgserwartungen sowie zu einer längerfristigen Prognose der Leistungsentwicklung des Kindes zwingt (vgl. Becker, R., 2000; Boudon, 1974; Breen & Goldthorpe, 1997; Esser, 1999b), versuchen die Eltern in alltäglichen schulbezogenen häuslichen Situationen auf das Denken und Fühlen des Kindes einzuwirken und dessen kognitive bzw. affektiv-motivationalen Prozesse so zu beeinflussen, dass sich in dessen Lern- und Leistungshandeln möglichst nachhaltig etwas zum Besseren wendet. Wie die Elternteile Z22 und S11 in den obigen Beispielen, merken sie dabei aber auch, dass das Kind ihre Appelle und Rückmeldungen mitunter in nur geringem Maß internalisiert. Sie versuchen wie die Mutter S11, mit erneuten Aufforderungen zu ihm durchzudringen und müssen manchmal zur Kenntnis nehmen, dass das Ganze in einen Streit mündet wie im Beispiel des Elternteils M12. Bisweilen fragen sie sich wie die Mutter H12, ob sie zu viel Druck ausgeübt und das Wohlbefinden des Kindes aus den Augen verloren haben. Solche Erfahrungen machen den Eltern sodann auch die Kosten bewusst, die mit ihren Aspirationen für sie und ihr Kind verbunden sind, sei es in Bezug auf zeitliche und finanzielle aber auch auf physische und psychische Ressourcen. So berichtet die Mutter S12 im folgenden Ausschnitt von belastenden Momenten bereits zu Beginn der 6. Klasse ihres Sohnes:

  • I: Diskutieren Sie denn den Übertritt mit Ihrem Sohn?

    S12: Ja, haben wir schon ziemlich oft darüber diskutiert (lacht).

    I: Und wie spielt sich das dann ab?

    S12: Ja, dass wir eben- also das letzte Mal nach dieser Rechnungsprüfung war ich ziemlich auf 180 (lacht) und habe gesagt: «also so geht das nicht weiter, also jetzt müssen wir irgendetwas machen». Das war ein Abend – ich habe dann auch nicht mehr geschlafen und so; es hat mich total beschäftigt, vor allem, weil ich- ja, man ist ja auch so ausgeliefert, nicht wahr, man kann ja dann nicht irgendwie reagieren. Und- nein, wir diskutieren mit ihm, dass das wichtig ist für die Zukunft, und dass man halt arbeiten muss, obwohl – er ist ja selbständig, er macht es, aber eben, vielleicht – ich weiß es nicht – vielleicht zu wenig. Das kann ich zu wenig einschätzen. (Interview G1, 00:53:32)

1.2 Der Untersuchungsgegenstand: Elterliche Motivierungspraktiken in der Phase vor dem Übertrittsentscheid

In den obigen Ausschnitten aus Interviews, die mit den Elternteilen zu Beginn der Erhebungszeit im Oktober 2008, rund acht Monate vor dem definitiven Übertrittsentscheid geführt wurden, geben die Eltern nicht nur ihre Wahrnehmungen, Interpretationen, Bewertungen und Befürchtungen bezüglich der Anforderungen des Übertrittsverfahrens und des Handelns des Kindes preis, sondern berichten ebenso von ihrem eigenen kommunikativen Handeln gegenüber dem Kind und deuten Gespräche mit den Lehrkräften an. Unterzieht man die fett hervorgehobenen Passagen, in denen sie ihr Handeln schildern, einer eingehenderen Analyse, so wird sichtbar, dass die Elternteile einerseits recht unspezifisch und global über das eigene bzw. gemeinsame Handeln sprechen – z. B. in der Sequenz des Elternteils M12: «wir haben Streit», was auf beiden Seiten mehrere Teilhandlungen umfasst, die nicht näher beschrieben werden – und dabei zuweilen auch lediglich Absichtserklärungen formulieren wie in der Sequenz des Elternteils H12: «Ich werde versuchen, da Ruhe hineinzubringen». In anderen Sequenzen wird aber auch ersichtlich, dass die Elternteile Z22, S11 und S12 der interviewenden Person kurz einen episodischen Einblick in die von ihnen erinnerte Situation geben und insbesondere ihr sprachliches Handeln in Form einer direkten oder indirekten Rede modellieren:

  • Z22: «K18, das ist deine Zukunft. Im A hast du einfach eine größere Auswahl an Berufen», so gehen wir schon auf sie zu. […]

    S11: […] es nervt mich manchmal auch ein bisschen, wenn ich sage: «K03, wach auf!» […] Ich sage: «K03, du bist fähig, Fünfen nach Hause zu bringen. Warum kommst du manchmal mit einer Viereinhalb oder Vier nach Hause? Nur weil du es ein bisschen locker genommen hast?» […] Deswegen nervt es mich, wenn auch die Lehrerin und der Lehrer sagten: «Du kannst es, aber du willst es einfach nicht wahrhaben».

    S12: […] das letzte Mal nach dieser Rechnungsprüfung war ich ziemlich auf 180 (lacht) und habe gesagt: «also so geht das nicht weiter, also jetzt müssen wir irgendetwas machen». […] und- nein, wir diskutieren mit ihm, dass das wichtig ist für die Zukunft, und dass man halt arbeiten muss, obwohl – er ist ja selbständig, er macht es, aber eben, vielleicht – ich weiß es nicht – vielleicht zu wenig […]

Zum einen versuchen die Elternteile in allen drei Ausschnitten, ihr Kind zu einer bestimmten Sichtweise (Z22) oder zu einer veränderten Arbeitshaltung zu bewegen, indem sie folgende normative Botschaften in Sprache fassen:

  • Z22: «K18, werde dir bewusst, dass du die Abteilung A erreichen solltest, weil du so zukünftig eine größere Auswahl an Berufen haben wirst»

    S11: «K03, werde dir endlich bewusst, dass es wichtig ist, dich ernsthaft auf Prüfungen vorzubereiten und im Minimum die Note 5 zu erreichen»

    S12: «Es ist für deine Zukunft wichtig, dass du dein Verhalten änderst und gewissenhaft an den mathematischen Inhalten arbeitest»

Zum anderen vermitteln die Elternteile nicht nur implizitFootnote 6, sondern auch explizit evaluative Botschaften darüber, inwiefern das Kind über bestimmte relevante Kompetenzen verfüge:

  • S11: «K03, du bist fähig, Fünfen zu schreiben» und «K03, du schätzt den Ernst der Situation unzureichend ein»

    S12: «Du arbeitest auf unzureichende Weise an den Mathematikaufgaben»

In letzteren Episoden erfahren wir ferner etwas über den Kontext der Regulationsversuche – diese finden im Rahmen von Gesprächen über unbefriedigende Prüfungsresultate statt – und erhalten Hinweise in welcher Tonalität und Prägnanz sie vermittelt wurden: «es nervt mich» und «wach auf!» in der Sequenz von S11 und «ich war auf 180» und «also so geht das nicht weiter!».

Solche Stellen sind typische Vertreter von Episoden häuslichen verbalen Handelns der Eltern, wie sie in der vorliegenden empirischen Studie im Fokus des Forschungsinteresses stehen: Schilderungen der Elternteile von kommunikativen Ereignissen, die einen Einblick in ihre Motivierungspraktiken gewähren, und zwar spezifisch unter den skizzierten anforderungsreichen Bedingungen eines unsicheren Übertrittsentscheids.

Wie die empirische Bildungsforschung in den letzten Jahrzehnten zeigen konnte, spielt das Elternhaus denn auch insbesondere beim Aufbau der motivationalen Orientierungen von Schülerinnen und Schülern eine maßgebliche Rolle (Frome & Eccles, 1998; Pekrun, 2001; Pomerantz, Grolnick & Price, 2005; Simpkins et al., 2015b). In Einklang mit den Postulaten der Erwartungs-Wert-Theorie der Lern- und Leistungsmotivation (vgl. Eccles-Parsons et al., 1983; Wigfield, Tonks & Lutz Klauda, 2016) zeigt sich im Rahmen von quantitativen Studien immer wieder, dass hohe und realistische Erwartungen («level the child is realistically expected to attain»), Aspirationen («the educational level they hope their child attains») (Goldenberg, Gallimore, Reese & Garnier, 2001, S. 548) und schulbezogene Ziele der Eltern jene produktiven motivationalen Orientierungen beim Kind zu induzieren vermögen, welche mit einem hohen Lernengagement und einer günstigen Leistungsentwicklung einhergehen (vgl. Pomerantz et al., 2005; Rowe, Ramani & Pomerantz, 2016; Simpkins et al., 2015b). Unter «motivationalen Orientierungen» werden im Licht der Erwartungs-Wert-Theorie generalisierte Kontroll- und Wert-Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler verstanden, die angesichts situativ anstehender Aufgaben determinieren, welche Antworten sie auf die beiden motivationsbestimmenden Fragen «Inwiefern habe ich die vorliegende Aufgabe im Griff?» und «Warum will ich diese Aufgabe in Angriff nehmen?» geben (vgl. Wigfield et al., 2006).

Kontrollüberzeugungen bezeichnen die generalisierten Vorstellungen einer Person davon, inwieweit sie in spezifischen Domänen über die notwendigen Mittel zur Beeinflussung des eigenen Handelns und der Handlungsergebnisse verfügt (vgl. Preiser & Sann, 2010, S. 387; Skinner, E. A., 1996). Positive Einschätzungen eigener fachlicher und überfachlicher Kompetenzen zur Erreichung der anvisierten Ziele sagen vor allem in hohem Maß die Leistungsergebnisse bzw. die Leistungsentwicklung vorher (vgl. Eccles & Wigfield, 2002; Hattie, 2009; Hulleman, Barron, Kosovich & Lazowski, 2016; Schunk, Meece & Pintrich, 2014; Usher, 2016; Wigfield, Eccles, et al., 2015).

Weitere wichtige Determinanten individueller Lernmotivation und Handlungsentscheidungen sind Wertorientierungen und Wertüberzeugungen (vgl. Eccles & Wigfield, 2002), zu denen u. a. Motive, Zielorientierungen sowie personale Interessen, aber auch Aspirationen zu zählen sind. Diese motivationalen Tendenzen beeinflussen laut Eccles (2005), welchen subjektiven Wert (subjective task value) das Individuum in Aufgaben und Aktivitäten erkennt: «[…] task value is a quality of the task that contributes to the increasing or decreasing probability that an individual will select it» (Eccles, 2005, S. 109).

Den Wert bzw. die Bedeutsamkeit (ähnlich: Anreiz oder Valenz), die das Kind im Abgleich mit seinen Wertüberzeugungen und Zielen in einer Aufgabe wahrnimmt, bestimmt im Zusammenspiel mit seinen Kontrolleinschätzungen, inwiefern und in welcher Qualität es sich mit Lern- und Leistungsaktivitäten beschäftigen wird (vgl. Kapitel 5). Positive Effekte auf das Lernhandeln und die Lernergebnisse sind vor allem dann zu erwarten, wenn der Aufgabe ein intrinsischer Wert (intrinsic value) oder persönliche Wichtigkeit (attainment value) zugeschrieben wird. Stehen Nützlichkeits- oder Kostenüberlegungen (utility value/cost) im Vordergrund, so sind zumindest kurzfristig lern- und leistungsförderliche Effekte zu erwarten (man rafft sich auf und beschäftigt sich zur Sicherstellung erwünschter Konsequenzen oder zur Verhinderung negativer Folgen so ausgiebig wie nötig mit dem Gegenstand). Der Einsatz nachhaltiger Lernstrategien scheint gemäß der Befundlage vor allem dann gegeben, wenn das Interesse des Individuums am Gegenstand geweckt wird, es dabei Spaß und Freude empfindet und eine Relevanz darin erkennt, sei es, weil es die Aktivität mit seinem Selbstverständnis bzw. seiner Identität in Verbindung bringt oder weil es sie als instrumentell zur Erreichung von zukünftigen Zielen (z. B. Karrierezielen) erachtet. In empirischen Studien (zsf. Hulleman et al., 2016; Wigfield, Eccles, et al., 2015; Wigfield et al., 2016) zeigt sich, dass Werteinschätzungen in erster Linie den Einfluss der Kontrolleinschätzungen auf zukünftige Leistungsergebnisse vermitteln, die Leistungen bzw. die Leistungsentwicklung aber selber kaum zu prädiktieren vermögen (vgl. Abschnitt 5.5.1.4). Subjektive Bedeutsamkeitszuschreibungen erweisen sich generell als starke Prädiktoren für das individuelle Interesse an Fächern und die Wahl bestimmter Aktivitäten und Bildungsgänge sowie das Engagement und die Persistenz bei der Aufgabenbearbeitung (z. B. Durik, Vida & Eccles, 2006; Eccles & Harold, 1991; Harackiewicz, Durik, Barron, Linnenbrink-Garcia & Tauer, 2008; Trautwein et al., 2012; Updegraff, Eccles, Barber & O’Brien, 1996).

Gemäß dem «Modell motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» von Eccles und Kolleg*innen (Jacobs & Eccles, 2000, S. 416; Simpkins, Fredricks & Eccles, 2015a, S. 617) nehmen die Eltern auf der Grundlage ihrer eigenen generellen und kindspezifischen Überzeugungen über eine Reihe verschiedener Verhaltens- und Handlungsweisen Einfluss auf die leistungsbezogenen Selbstwahrnehmungen und Wertzuschreibungen ihres Kindes (für den deutschen Sprachraum vgl. auch Helmke & Weinert, 1997; Neuenschwander et al., 2005; Wild, E. & Lorenz, 2010): So leben sie ihm über die ganze Kindheit hindurch über ihr Modellverhalten vor, welche akademisch-schulischen Aktivitäten sie selber beherrschen, schätzen und weiterentwickeln. Indem sie es zu mehr oder weniger bildungsbezogenen Freizeitaktivitäten ermuntern und ihm Zugang verschaffen zu Spielzeug, Musikinstrumenten, Software, Sportgeräten u.ä., bedeuten sie ihm nicht nur, worin sie seine Talente erkennen und welchen Wert sie diesen Aktivitäten zuweisen, sondern geben ihm auch die Möglichkeit, seine Fähigkeiten in Relation zu anderen Kindern zu messen, Erfolgs- und Misserfolgserfahrungen zu machen und den gewinnbringenden Effekt des Übens zu erfahren. Ferner können Eltern im Rahmen von gemeinsamen häuslichen schulbezogenen Aktivitäten aber auch ihre Erwartungen, Aspirationen, Wertüberzeugungen und Ziele vermitteln, indem sie diese explizit deklarieren, kausale Attributionen gegenüber dem Kind vornehmen, ihm Belohnungen versprechen sowie verbalsprachlich oder aber mittels Mimik, Gestik und prosodischen Mitteln ihr Lob oder ihren Tadel zum Ausdruck bringen.

Gerade vor schulischen Laufbahnentscheiden in gegliederten Schulsystemen, und namentlich dann, wenn das Kind die Zuteilung durch die Klassenlehrkraft für den aspirierten Schultyp der Sekundarstufe I nicht zu erreichen droht, dürften die Eltern verstärkt versuchen, im Rahmen von schulbezogenen häuslichen Aktivitäten wie Hausaufgaben oder Prüfungsvorbereitungen sowie im Rahmen gemeinsamer Gespräche über Unterrichtsereignisse, Leistungsergebnisse oder aber über den anstehenden Übertritt auf dessen Kontroll- und Wert-Einschätzungen Einfluss zu nehmen und es zu einem in ihren Augen zielkonformeren Handeln zu motivieren.

Sie dürften sich dem Kind in dieser auch für sie herausfordernden Situation – so die Ausgangsthese dieser Arbeit – in verstärkterem Maß als «interpreters of reality» (Jacobs & Eccles, 2000, S. 426) anbieten und in Form von sprachlichen Appellen die Bedeutung laufender schulischer Aktivitäten und Ziele hervorstreichen und mittels evaluativer Feedbacks die Qualität seiner Lernleistungen einschätzen. Die dem Kind dabei mehr oder weniger explizit dargebotenen Begründungen dürften Ausdruck ihrer eigenen task values und Ursachenzuschreibungen sein, die sich gemäß dem empirisch stetig besser untermauerten erwartungs-werttheoretischen «Modell motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» (Jacobs & Eccles, 2000, S. 416; Simpkins et al., 2015a, S. 617) (vgl. Abbildung 4.1) direkt aus ihren kindspezifischen Überzeugungen (kindbezogenen Kompetenz- und Wertwahrnehmungen, kindbezogenen Leistungserwartungen und Aspirationen), aber auch aus ihren generelleren Überzeugungen speisen wie eigenen Geschlechtsrollenstereotypen, schulbezogenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und impliziten Intelligenztheorien (vgl. Pomerantz, Moorman Kim & Cheung, 2012) (vgl. Abschnitt 4.2).

1.2.1 Verbal-appellative Kontrollregulationen der Eltern (evaluative Feedbacks)

Eltern wirken der Befundlage zufolge mit ihren Feedbacks insbesondere dann förderlich auf die Kontrollüberzeugungen des Kindes ein, wenn sie ihm gegenüber Vertrauen in seine Fähigkeiten ausdrücken und sich optimistisch bezüglich seiner Kompetenzentwicklung zeigen (vgl. Bandura, 1997; Schunk & DiBenedetto, 2016; Schwarzer & Jerusalem, 2002). Sie tun dies namentlich dadurch, dass sie unzureichende Lernhandlungen und Handlungsergebnisse gegenüber dem Kind nicht auf schlecht-kontrollierbare, stabile, internale Faktoren wie fehlende Begabung und Intelligenz zurückführen (vgl. Abschnitt 5.3.3.1), sondern daran bemessen, inwieweit diese seinem geringen Engagement und seinen mangelhaften Lernstrategien geschuldet sind – also möglichst willentlich beeinflussbaren internalen Faktoren (vgl. Perry & Hamm, 2017; Weiner, 2005).

Damit die Eltern in ihrer Kontrollregulationsabsicht erfolgreich sein können – das Kind also die evaluative Botschaft des Elternteils tatsächlich internalisiert und seine lern- und leistungsbezogenen Selbstwahrnehmungen anpasst –, ist es wichtig, dass die Eltern von ihm als glaubwürdige Beurteiler wahrgenommen werden (vgl. Bandura, 1997, S. 105), indem sie realistische Aussagen machen und generell einen Kommunikationsmodus wählen, der wertschätzend-warm, positive Handlungsaspekte betonend und dialogisch-interaktiv gestaltet ist (vgl. Bandura, 1997, S. 104; Eccles, 2007, S. 676; Schunk et al., 2014, S. 153) (vgl. Abschnitt 5.7).

Auf der Grundlage von episodischen Schilderungen sprachlicher Eltern-Kind-Interaktionen aus den Interviews, die mit den Elternteilen am Ende der Erhebungszeit nach erfolgtem Übertrittsentscheid geführt wurden und einen retrospektiven Fokus über die vergangenen acht Monate aufwiesen (Interviews G2, vgl. Abbildung 6.1), wird in der vorliegenden Studie in einem ersten, fallübergreifenden, niedrig-inferenten Auswertungsschritt möglichst textnah inhaltsanalytisch untersucht,

  1. a)

    bezüglich welcher schulischen Ziele die 20 Elternteile laut ihrer Erzählungen ihren Kindern evaluatives Feedback («verbal-appellative Kontrollregulationen») gegeben haben und

  2. b)

    wie kontrollförderlich diese kompetenzbezogenen Feedbacks mit Blick auf die von den Elternteilen vorgebrachten Begründungen gestaltet waren.

Ferner soll in einem zweiten, fallspezifischen, höher-inferenten Auswertungsschritt auf der Basis von Ratings der Stil der verbal-appellativen Kontrollregulationen ermittelt werden, den 18 der 20 ElternteileFootnote 7 nach eigenen Aussagen in den acht Monaten praktiziert haben.

1.2.2 Verbal-appellative Wertregulationen der Eltern (Bedeutsamkeitszuschreibungen)

Wie die elterlichen wertbezogenen Appelle beschaffen sein sollten, ist im Vergleich zu evaluativen Feedbacks unklarer und bei weitem weniger erforscht (vgl. Hulleman & Barron, 2016, S. 163–164; Lazarides, Harackiewicz, Canning, Pesu & Viljaranta, 2015, S. 54) (vgl. Abschnitt 5.6.2). Grundsätzlich dürften Eltern ihre wertbezogenen Appelle an das Kind mehr oder weniger explizit mit den task values begründen, die sie persönlich in der Aktivität bzw. im Handlungsziel erkennen. Dabei gilt es allerdings herauszustreichen, dass elterliche Appelle als Fremdregulationen etwas von außen an das Kind Herangetragenes sind: «[…] parents may influence their children’s values and choices in many ways; however, both researchers and parents have trouble defining the optimal levels of encouragement, reward, and guidance when trying to initiate or maintain a child’s value for an activity» (Jacobs & Eccles, 2000, S. 420).

Die Schwierigkeit liegt darin, dass Ziele, denen die Eltern einen hohen Wert zuweisen – Ziele also, die sie als wichtig bezeichnen würden und die für sie gemäß der Typologie von Eccles somit einen attainment value aufweisen – für die Kinder keineswegs die gleiche Wichtigkeit besitzen müssen. Dies trifft u. a. gerade auch für Rollenanforderungen zu: So unterstreicht eine Mutter im wertbezogenen Appell «Es ist bedeutsam, dass du unaufgefordert deine Hausaufgaben erledigst, weil du das als angehende Oberstufenschülerin einfach musst» die Relevanz des Handlungsziels «selbständig Hausaufgaben machen» mit einer Begründung, die zum Ausdruck bringt, dass sie darin eine Notwendigkeit bzw. Wesentlichkeit erkennt, die sich aus der Rolle des Kindes als fortgeschrittene Schülerin ergibt. Eine Bedeutsamkeit, die die Mutter vermutlich aufgrund ihres Erfahrungshorizonts tatsächlich längst anerkannt und als Gewissheit in ihr Selbst integriert hat – oder aber im Zeichen der erzieherischen Situation vordergründig wenigstens vorgibt, getan zu haben. Die Intention, die in ihrem verbalen Handeln erkennbar wird, besteht darin, das Kind auf die Wichtigkeit bzw. jenen attainment value aufmerksam zu machen, den sie persönlich im selbständigen Erledigen von Hausaufgaben erkennt, und es aufzufordern, dies handlungswirksam in sein Denken zu übernehmen.

Anders sieht es im folgenden Beispiel einer verbalen Ansprache aus: «Es ist bedeutsam, dass du dich möglichst oft im Unterricht meldest, weil du so deine mündlichen Noten aufbessern kannst». Hier bietet die Mutter ihrer Tochter eine Begründung an, die das Ziel lediglich als Mittel zu einem anderen lohnenden Ziel erscheinen lässt, womit die Bedeutsamkeit des Handlungsziels «sich aktiv im Unterricht einbringen» im Instrumentellen liegt – im Vergleich zum ersten Beispiel also als etwas, das das Kind zur Verbesserung seiner Noten so machen kann oder auch nicht (vgl. Abschnitt 5.5). Obwohl im ersten Appell der Mutter einem Ziel höchsten Wert zugewiesen wird, der vom Kind unbedingt internalisiert werden sollte und von ihm zu etwas Selbstverständlichem, mit selbstbestimmt-extrinsischer Motivation VerbundenemFootnote 8 (vgl. Ryan & Deci, 2016) werden sollte, erscheint der Appell durch die ausgedrückte Unumgänglichkeit in der Diktion von Ryan und Deci (2016) als äußerst fremdreguliert-extrinsisch (vgl. Abschnitt 5.5). Im zweiten Beispiel verhält es sich gerade umgekehrt: Inhaltlich rückt die Wertregulation die Zweckmäßigkeit des Zielverhaltens in den Mittelpunkt und stellt eine Belohnung (external reward) in Form besserer Noten in Aussicht. Die Wertregulation verzichtet weitgehend auf das Element des Zwangs und kommt als Ratschlag daher, den das Kind befolgen sollte, aber nicht unbedingt befolgen bzw. sich zu eigen machen muss. Lange hat man angenommen, externale Belohnungen würden die intrinsische Motivation untergraben. Diese dichotome Sichtweise ist heute nicht mehr haltbar (vgl. Lepper & Henderlong, 2000). Einer Studie von Grolnick, Ryan und Deci (1991) zufolge üben Belohnungen nur dann negative Effekte auf die intrinsische Motivation aus, wenn sie dem Kind den Eindruck geben, nicht mehr selbstgesteuert bzw. autonom vorgehen zu können und sein Verhalten von außen kontrolliert werde. In mehreren Studien konnten sie sodann belegen, dass Kinder, deren Eltern in stärkerem Maß «autonomy-oriented techniques» als «controlling, power-assertive techniques» (vgl. Abschnitt 2.2.2.4) einsetzen, in stärkerem Maß internalisierte leistungsbezogene Wertüberzeugungen aufwiesen (vgl. Grolnick & Ryan, 1989). Ferner zeigte sich, dass die Wahrnehmung des Kindes, wonach sich die Eltern autonomieunterstützend verhielten, nicht nur den Grad der InternalisationFootnote 9 leistungsbezogener Wertüberzeugungen, sondern auch von kompetenzbezogenen Kontrollüberzeugungen prädiktierte (vgl. Grolnick et al., 1991). Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass Eltern bei wertbezogenen Appellen dem Kind gegenüber möglichst autonomiewahrend und grundsätzlich als Ratgeber auftreten sollten und namentlich die auf einen attainment value zielenden Appelle mit einem dialogisch-iterativen, wenig direktiven und emotional zugewandten Kommunikationsverhalten koppeln sollten (vgl. Jacobs & Eccles, 2000), das von Intersubjektivität und Ko-Konstruktion geprägt ist (vgl. Reusser & Pauli, 2015) (vgl. Abschnitte 2.2.2.4 und 5.7).

Analog zum Vorgehen bei den verbal-appellativen Kontrollregulationen werden vor diesem Hintergrund die in den retrospektiven Interviews G2 (vgl. Abbildung 6.1) von den Elternteilen geschilderten Episoden, in denen sie gegenüber ihrem Kind Bedeutsamkeitseinschätzungen von Lern- und Leistungszielen vorgenommen haben, folgenden Analysen zugänglich gemacht: In einem ersten, fallübergreifenden niedrig-inferenten Auswertungsschritt werden die Episoden wiederum möglichst textnah einer Inhaltsanalyse unterzogen. Es soll dabei untersucht werden,

  1. a)

    bezüglich welcher schulischen Ziele die 20 Elternteile laut ihrer Erzählungen gegenüber ihren Kindern Bedeutsamkeitseinschätzungen («verbal-appellative Wertregulationen») vornehmen und

  2. b)

    mit welchen Argumenten die Elternteile ihre Kinder von der Bedeutsamkeit der Ziele, mit Blick auf den subjective task value, den sie diesen selber zuordnen, zu überzeugen suchen.

Anders als bei der Analyse der Argumente der elterlichen Kontrollregulationen, bei der auf das etablierte, sich für subjektive und intersubjektive Zuschreibungen eignende dreidimensionale Klassifikationssystem kausaler Attributionen nach Weiner (1985, 2005) zurückgegriffen werden konnte (vgl. Abschnitt 5.4.1), musste für die Untersuchung der wertbezogenen Argumente auf der Basis der intramentalen Konzeption des Subjective Task Value (vgl. Eccles, 2005) daten- und theoriegestützt ein Klassifikationssystem entwickelt werden, welches sich auf die intersubjektiven Bedeutsamkeitszuschreibungen applizieren lies. Das Klassifikationssystem wird im Theorieteil im Abschnitt 5.6.1 eingehende erläutert und im empirischen Teil zur niedrig-inferenten Codierung der Argumente eingesetzt (vgl. auch Abschnitt 6.4.2).

Wie schon bei der Analyse der elterlichen Kontrollregulationen wird auch hier in einem zweiten, fallspezifischen, höher-inferenten Auswertungsschritt auf der Grundlage von Ratings ermittelt, welche individuellen Stile der verbal-appellativen Wertregulation sich bei den 18 untersuchten ElternteilenFootnote 10 für den Zeitraum der acht Monate vor dem Übertrittsentscheid identifizieren lassen.

Im dritten und letzten Auswertungsschritt steht schließlich die Frage im Mittelpunkt, wie sich die 20 Elternteile auf der Grundlage der herausgearbeiteten Charakteristika ihrer verbalen Kontroll- und Wertregulationen bezüglich ihres Motivierungsstils gruppieren lassen, den sie während der Phase des unsicheren Übertrittsentscheids gegenüber ihren Kindern praktiziert haben.

Die ermittelten Motivierungsstile sollen zum Abschluss der Studie hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen, aber namentlich auch hinsichtlich ihrer Potentiale und Problematiken am Beispiel einzelner Eltern-Kind-Dyaden diskutiert werden.

1.3 Aufbau des Theorieteils

In den bisherigen Erläuterungen wurde deutlich, dass sich das Interesse in der vorliegenden Untersuchung auf spezifische verbale Praktiken der Eltern richtet, bei denen sie vor dem Hintergrund ihrer lern- und leistungsbezogenen Erwartungen, Werte, Aspirationen und Ziele, die Intention verfolgen, das Kind zu veränderten Sicht- und Handlungsweisen zu bewegen. Die empirische, primär quantitativ ausgerichtete Forschung zum elterlichen schulbezogenen Engagement (parental involvement in schooling) hat in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Qualitätsmerkmalen elterlichen Handelns herausgearbeitet, die sich motivationssteigernd auf das Kind auswirken. Eine wachsende Zahl von Untersuchungen belegt, dass hierfür namentlich das Ausmaß an Autonomiegewährung, an adaptiver, gering-invasiver Strukturgebung sowie an Zuwendung von maßgeblicher Bedeutung ist (zsf. Pomerantz, Moorman & Litwack, 2007; Wild, E. & Lorenz, 2010). Es fehlen aber weitgehend Arbeiten, die beobachtungsnah und am konkreten Handeln orientiert untersuchen, wie die Eltern im Alltag vorgehen, wenn sie versuchen, die Motivation von Heranwachsenden im Kontext von Lern- und Leistungssituationen zu beeinflussen. Besonders fehlen solche Studien für den hier interessierenden Zeitabschnitt des Übertritts in die Sekundarstufe I, der von der Bildungsforschung als zentrale «Gelenkstelle von Bildungsverläufen» (Maaz et al., 2006, S. 300) erachtet wird. So beklagen beispielsweise Becker und Lauterbach (2016, S. 14), dass es weitestgehend unklar sei, «wie der Prozess der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen über die Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, Orientierungen und Einstellungen der Eltern an ihre Kinder (etwa die Leistungsbereitschaft) vonstatten» gehe und sprechen in Anlehnung an Müller (1975, S. 132) von einem «Familienresidualeffekt» und einer diesbezüglichen «Blackbox».

Während die oben bereits skizzierten Fragestellungen und angedeuteten Analyseverfahren für die Untersuchung des elterlichen Motivierungshandelns am Ende des theoretischen Teils (vgl. Abschnitt 5.8) bzw. im Methodenteil nochmals detaillierter erläutert werden, wird im Folgenden ein Überblick über den Aufbau des theoretischen Teils der Studie gegeben.

In Kapitel 2 wird der Versuch unternommen, elterliches schulbezogenes Handeln zunächst unabhängig von der Übertrittsproblematik begrifflich fassbar zu machen. Das elterliche Handeln orientiert sich einerseits an den Charakteristika des Kindes, andererseits an den Vorgaben und Zielen der gesellschaftlichen Institution Schule und ihrer Akteure. Zum besseren Verständnis des «systemischen Beziehungsgeflechts» (Föllig-Albers & Heinzel, 2007, S. 307), in dem sich die Hauptakteure Eltern, Kind und Klassenlehrkraft befinden, wird zuerst die soziale und psychologische Aspekte des Handelns integrierende «Allgemeine Handlungstheorie» Hartmut Essers (1999a) erläutert und dann mit Blick auf Angebots-Nutzungsmodelle der Unterrichtsqualität der Begriff der elterlichen schulbezogenen Unterstützung definiert. In einem nächsten Schritt wird die Befundlage zum Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen elterlicher Unterstützung und der Lernleistung von Schülerinnen und Schülern dargestellt und erläutert, warum es wichtig ist, nebst Leistungsgrößen insbesondere auch motivationale Orientierungen und das unterrichtsbezogene Engagement der Kinder in den Blick zu nehmen, wenn es um die Beurteilung der Effektivität des elterlichen schulbezogenen Handelns geht. Abschließend wird in diesem Kontext die Bedeutung von verbal-appellativen Kontroll- und Wertregulationen, der beiden in der vorliegenden Studie im Zentrum stehenden elterlichen Unterstützungsformen, herausgearbeitet.

In Kapitel 3 wird dem Umstand Aufmerksamkeit geschenkt, dass sich die vorliegende Studie mit Motivierungsversuchen spezifisch im Kontext eines unsicheren Übertrittsentscheids befasst. Biografische Übergänge, so fassen Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009, S. 23) die Situation zusammen, sind «Schnittstellen individueller biografischer Verläufe und sozialer Strukturen, markieren Brüche und sind ein Nadelöhr für gesellschaftlichen Erfolg oder Misserfolg». In den eingangs erörterten Interviewausschnitten wurde bereits manifest, dass Eltern sich dessen bewusst sind und sich «findig, kreativ, reflektiert und überlegt» (Esser, 1999a, S. 238) mit dem vom Bildungssystem erzwungenen Institutionswechsel am Ende der 6. Klasse zu arrangieren suchen. Deutlich wurde in den Ausschnitten aber auch, dass die Eltern potentiell nachteilige Effekte des schulischen Selektionsverfahrens auf die Berufschancen und auf die kognitive und soziale Entwicklung für ihre Kinder befürchten. Angestoßen durch die Ergebnisse von PISA2000Footnote 11, die für die gegliederten, relativ früh selektionierenden in den deutschsprachigen Ländern eine nach wie vor enge Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg offenlegten (OECD, 2001), hat hierzulande eine rege Forschungstätigkeit zur Ergründung der Ursachen eingesetzt. Dabei sind zwei hauptsächliche – mitunter verquickte Forschungslinien zu verzeichnen (zsf. Kramer et al., 2009): Die eine sucht Erklärungen in institutionellen Zusammenhängen und untersucht, wie sich die Struktur und die Vorgaben des Bildungssystems auf das individuelle Nutzungsverhalten auswirkt, die zweite hebt auf das Entscheidungsverhalten der Individuen ab und fokussiert auf die rationalen Kosten-Nutzen-Kalküle der Eltern, aber auch – und hier liegt der Schwerpunkt in diesem Kapitel – der schulischen Entscheidungsträger (Lehrkräfte, Schulleitungen, Schulbehörden). Dazu wird eingangs des Kapitels der theoretische Ansatz zur Entstehung von Bildungsentscheidungen von Raymond Boudon (1974, 1980) vorgestellt, bevor empirische Arbeiten und Befunde aus der soziologisch und pädagogisch-psychologisch ausgerichteten Forschung zu Effekten von Übertrittsverfahren auf die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg erläutert werden. Das Kapitel wird abgeschlossen mit einer Vorstellung des für die vorliegende Studie relevanten Übertrittsverfahrens der Volksschule des Kantons Zürich und einer (datenbasierten) Einschätzung davon, inwiefern dieses Verfahren die 20 teilnehmenden Elternteile in ihrem Motivierungshandeln beeinflusst haben dürfte.

Das Kapitel 4 legt den Fokus auf die sozialstrukturellen Merkmale des Elternhauses sowie die psychologischen Ressourcen der Eltern und erörtert, inwiefern diese das Unterstützungshandeln sowie die Entwicklung fachlicher Kompetenzen und motivationaler Orientierungen beim Kind beeinflussen. Auf der Basis des kulturtheoretischen Ansatzes von Pierre Bourdieu (1984, 1996a) wird die Bedeutung des kulturellen Kapitals und des Habitus für das schulische Lernen und Leisten des Kindes erläutert und dargelegt, warum es laut neuerer Forschung zentral ist, neben strukturellen Bedingungen des Elternhauses insbesondere prozessuale Merkmale zur Erklärung des Bildungserfolgs heranzuziehen. Auf der Grundlage des «Modells motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» von Eccles und Kolleg*innen (Jacobs & Eccles, 2000, S. 416; Simpkins et al., 2015a, S. 617) wird sodann die Befundlage zu den Zusammenhängen zwischen generellen bildungsbezogenen Überzeugungen von Eltern, demografischen Merkmalen der Familie und dem elterlichen schulbezogenen Handeln dargestellt. Das Kapitel schließt mit einer Übersicht über demografische Merkmale der 20 teilnehmenden Familien sowie über ausgewählte generelle bildungsbezogene Überzeugungen der Elternteile, die dem Modell von Eccles zufolge einen Einfluss auf deren Motivierungshandeln ausgeübt haben dürften.

Kapitel 5 nimmt zuerst die Schülerinnen und Schüler in den Blick und fokussiert die innerpsychischen, namentlich motivational-affektiven Prozesse, die in Lern- und Leistungssituationen zum Tragen kommen. Im Zentrum der ersten Abschnitte steht die Darstellung der erwartungs-werttheoretischen Konzeption des Zusammenspiels von Persönlichkeitsmerkmalen, Überzeugungen sowie der Wahrnehmung von Merkmalen des Lehr-Lern-Kontextes und dessen Auswirkungen auf das Lern- und Leistungshandeln, wie er von Eccles und Kolleg*innen postuliert wird (zusf. Wigfield et al., 2006). Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Bedeutung von Kontroll- und Wertüberzeugungen geschenkt. Daran anschließend richtet sich der Blick schließlich auf das elterliche verbale Motivationshandeln. Detailliert wird auf die oben im Abschnitt 1.2 kurz skizzierten Konstrukte der elterlichen Kontroll- und Wertregulation eingegangen. Im Hinblick auf die Analyse und Interpretation elterlicher evaluativer Feedbacks gilt ein besonderes Augenmerk Bernard Weiners (1985, 2012) Konzeption der Attribution von Lern- und Leistungsergebnissen, den Auswirkungen bestimmter Attributionsmuster auf kognitive und motivational-affektive Prozesse sowie Befunden zur Fremdregulation entsprechender Ursachenzuschreibungen. Im Hinblick auf die Analyse der elterlichen Bedeutsamkeitszuschreibungen wird sodann Jacquelynne S. Eccles’ Konzept des Subjective Task Value (vgl. Eccles, 2005; Wigfield & Eccles, 1992) eingehend erläutert. Besondere Beachtung erfahren dabei auch hier die postulierten Möglichkeiten und Befunde zur verbalen Fremdbeeinflussung der entsprechenden kognitiven Prozesse im Kontext von Lern- und Leistungssituationen. Wie unter 1.2.2 bereits angedeutet, erscheint es zur Einschätzung der Wirkung verbaler Kontroll- und Wertregulationen auf Heranwachsende unumgänglich, nicht nur die elterlichen Botschaften, sondern auch die kommunikative Qualität, mit der die Eltern ihre Appelle («Merk dir das und handle entsprechend!») anbringen, in die Analyse einzubeziehen. In dieser Hinsicht widmet sich der letzte Abschnitt des Kapitels der Frage, unter welchen Bedingungen sich Kinder im Übergang zum Jugendalter mit erhöhter Wahrscheinlichkeit von den elterlichen Kontroll- und Wertbotschaften überzeugen lassen dürften. Für eine nachhaltige Internalisation, so wird mit Blick auf die Befundlage argumentiert, sollten die Eltern auf eine Weise mit ihren Kindern kommunizieren, die deren Bedürfnissen nach Selbstbestimmung, Kontrolle und sozialer Eingebundenheit entgegenkommt (vgl. Connell & Wellborn, 1991; Jacobs & Eccles, 2000; Pomerantz & Grolnick, 2017; Ryan & Deci, 2016; Skinner, E. A. et al., 2009). Der Theorieteil wird mit einer Darstellung der Forschungsfragen abgeschlossen.