Das folgende Kapitel beleuchtet das Spannungsfeld beruflicher Orientierung, das sich aus den an sie gestellten Anforderungen, den sich daraus ergebenden Zielen, der Vielzahl der beteiligten Akteur*innen und ihren differierenden Perspektiven ergibt.

Um berufliche Orientierung zu erfassen, bedarf es zunächst einer Erläuterung der diversen Begriffe (u. a. Berufsorientierung, Studienorientierung) sowie einer begrifflichen Einordnung, was diese im Kontext von Schule bedeuten und welches inhaltliche Verständnis ihnen jeweils inhärent ist. Im ersten Teilkapitel (2.1) wird dafür zunächst das Verständnis von beruflicher Orientierung, welches dieser Arbeit terminologisch zugrunde liegt, entfaltet. Um den Beitrag der Begrifflichkeiten zum Spannungsfeld verständlich zu machen, wird ausgehend von der gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung von Arbeit und Beruf im Wandel der Zeit die Bedeutung und Funktion beruflicher Orientierung in einem zeitgenössischen Verständnis hergeleitet. Ziel des ersten Teilkapitels ist es, das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von beruflicher Orientierung zu entwickeln.

Im zweiten Teilkapitel (2.2) werden die Akteur*innen der beruflichen Orientierung mit ihren differierenden Perspektiven, Interessen, Zielen und Aufgaben vorgestellt. Denn sie spielen für die erfolgreiche Umsetzung beruflicher Orientierung in Schule eine zentrale Rolle. Gleichzeitig ergibt sich das bereits genannte Spannungsfeld beruflicher Orientierung auch aus der Vielzahl der beteiligten Institutionen und Organisationen, die aus ihren jeweiligen Perspektiven und Interessen heraus berufliche Orientierung in ihrer Verortung und ihren Zielen sowie ihre eigene Rolle darin unterschiedlich definieren und benennen (Bührmann & Wiethoff, 2013).

Im dritten Teilkapitel (2.3) werden schließlich die Herausforderungen sichtbar gemacht, die sich aus diesen Rahmenbedingungen, insbesondere für Schulen in der Konzeption, Planung und Umsetzung bedarfsorientierter schulischer Berufs- und Studienorientierung, ergeben. Die zusammenhängende Betrachtung der strukturellen Restriktionen, der Informationsdefizite hinsichtlich der Wirkung berufsorientierender Maßnahmen sowie der fehlenden systematischen Entwicklungs- und Bedarfsdiagnostik soll darlegen, dass ein zentraler Faktor, nämlich die Heterogenität der Schüler*innen, die sich in ihren individuellen Voraussetzungen, Merkmalen und Entwicklungsständen manifestiert, diese Herausforderungen weiter verstärkt.

1 Inhaltliche und begriffliche Einordnung beruflicher Orientierung

Die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit hat sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft eine hohe Bedeutung. Auf individueller Ebene trägt die Ausübung einer bezahlten oder unentgeltlichen beruflichen Tätigkeit zur identitätsstiftenden Selbstverwirklichung bei (Kayser, 2013). Gesamtgesellschaftlich ermöglicht sie die soziale Teilhabe und unterstützt den sozialen Frieden (Famulla, 2008)Footnote 1. Als Basis einer späteren beruflichen Tätigkeit stellen die berufliche Orientierung und die Entwicklung einer beruflichen Identität, die „als Produkt von Identifikation, Reflexion und Anpassung an neue Umweltanforderungen“ verstanden werden kann (Neuenschwander, 1996, S. 79), zentrale Aufgaben der Adoleszenz dar (Fend, 1991). Diese müssen die Heranwachsenden neben weiteren vielfältigen Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben bewältigen (Silbereisen, 1986). Zur erfolgreichen Gestaltung beruflicher Laufbahnen benötigen Jugendliche daher eine entsprechende Begleitung und systematische Unterstützung (Driesel-Lange et al., 2020).

Systematisierte Versuche, junge Menschen in ihrer Berufswahl zu unterstützen, haben ihre Anfänge bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Herr (2013) gibt einen ausführlichen Überblick über die historische Entwicklung amerikanischer Übergangs- und Laufbahnforschung, die die internationale Theoriebildung und Best-Practice wesentlich beeinflusst hat. Berufliche Orientierung im Jugendalter findet national wie international verstärkt im Kontext von Schule statt. Schließlich bieten sich weiterführende Schulen durch den mehrjährigen Schulbesuch, in Deutschland qua Schulpflicht, als zentrale Partner für eine langjährige Begleitung an (Kayser, 2013). Aufgrund der Unterschiede in den Bildungs- und Schulsystemen sind Vergleiche in der Umsetzung der beruflichen Orientierung jedoch schwierig und ein differenzierter Blick auf Deutschland ist daher notwendig. Einen Abriss über den Wandel der beruflichen Orientierung in Deutschland bieten entsprechend Rahn und Brüggemann (2013).

Dabei zeigen sie auf, wie sich das Verständnis von Berufsorientierung aufgrund der sich verändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes, beispielsweise durch die Globalisierung und die Digitalisierung (World Economic Forum, 2016), von einer einmaligen Unterstützung bei der Berufswahl am Ende der Jahrgangsstufe zehn hin zu einem Verständnis von beruflicher Orientierung als lebenslang relevante Aufgabe erweitert hat. Ziel dieses Teilkapitels ist es, ein begriffliches und inhaltliches Verständnis beruflicher Orientierung für diese Arbeit herzuleiten. Dafür erfolgt im ersten Abschnitt dieses Teilkapitels eine terminologische Betrachtung. Ausgehend von der Erläuterung des gewandelten Verständnisses von Arbeit und Beruf werden im weiteren Verlauf dieses Teilkapitels die Bedeutung und die Funktion der beruflichen Orientierung sowie ihre Ziele diskutiert.

Termini beruflicher Orientierung

Neben dem inhaltlichen Verständnis beruflicher Orientierung und der Zieldefinition stellt die Begriffswahl ein zentrales Spannungsfeld dar. Denn, wie Bührmann und Wiethoff (2013) anmerken, folgt die Definition beruflicher Orientierung und ihrer Ziele den Perspektiven und Zielen verschiedener Akteur*innen. Aus der Vielzahl der Beteiligten im Kontext schulischer Berufsorientierung (siehe Teilkapitel 2.2) ergibt sich eine Reihe an Termini, die in Abhängigkeit der Perspektive zudem unterschiedlich interpretiert werden. Dies erschwert die Einigung auf und Anwendung eines gemeingültigen Terminus für die Begleitung des Berufswahlprozesses von Heranwachsenden im Kontext von Schule.

Der Begriff der Berufsorientierung eignet sich grundsätzlich, um das Konzept zur Vorbereitung nachschulischer Optionen zu beschreiben. Jedoch verursacht seine begriffliche Nähe zur beruflichen Bildung auch bei einigen Akteur*innen Skepsis oder sogar Ablehnung gegenüber der Berufsorientierung (Kayser, 2013). Dabei sind insbesondere die Gymnasien und Hochschulen zu nennen, die ihren Auftrag beruflicher Orientierung vornehmlich in der Orientierung und Beratung in Richtung des Hochschulstudiums sehen bzw. sahen (Dedering, 2002). Im Leitfaden Berufsorientierung wird Berufsorientierung von den Autoren implizit als die Unterstützung von Jugendlichen und ihrer Entwicklung in der Sekundarstufe I eingegrenzt. Gleichzeitig spezifizieren die Autoren, dass die Beschäftigung mit der eigenen beruflichen Zukunft auch für Lernende in der gymnasialen Oberstufe, also der Sekundarstufe II, von Relevanz sei. Die Beratung und Information in der Sekundarstufe II benennen die Autoren mit dem Begriff Studienorientierung (Bertelsmann Stiftung, Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT & MTO Psychologische Forschung und Beratung GmbH, 2015).

Der Begriff der Berufs- und Studienorientierung (BSO) stellt mitunter einen Versuch dar, einen Oberbegriff zu etablieren, der alle Komponenten und Ziele der Unterstützung sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Jugendlichen in ihrer beruflichen Entwicklung abbildet. Jedoch birgt auch dieser Begriff Potential für Missverständnisse. So kann der enthaltene Begriff der Studienorientierung an Schulformen zu Irritationen führen, an denen die Hochschulzugangsberechtigung nicht direkt erlangt werden kann und deren Lernende nur zu einem geringen Teil über den zweiten Bildungsweg oder eine berufliche Qualifizierung ein Hochschulstudium aufnehmen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018). Zugleich bestehen aufgrund des Bildungsföderalismus auch hier wieder regionale Unterschiede: In Nordrhein-Westfalen hat sich in Schulen mit gymnasialer Oberstufe insbesondere der Begriff der Studien- und Berufsorientierung (SBO) etabliert, während auf Ebene der Schulverwaltung beide Termini – SBO und BSO – verwendet werden (Ministerium für Schule, Weiterbildung und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 2010)Footnote 2. In Berlin ist durch das Berliner Landeskonzept der Begriff der Berufs- und Studienorientierung gesetzt (Berliner Senat, 2015). Die Verwendung der entsprechenden Abkürzungen zwischen den verschiedenen regionalen Akteur*innen führt zwangsläufig zu Verwirrung und Missverständnissen.

Dieses Spannungsfeld, in dem eine umfassendere Begriffsfindung versucht wird, lässt sich auch im Kontext der beruflichen Bildung wiederfinden. Während lange Zeit „berufsrelevante Entwicklungen jenseits dieser Sphäre [des Dualen Ausbildungssystems], also im Weiterbildungssektor, im Übergangsbereich oder im Hochschulsystem, […] schnell als Bedrohung des als eigentlich wahrgenommenen Berufs interpretiert“ wurden (Büchter, 2017, S. 21), bestehen heute Bestrebungen, zeitgenössische Herausforderungen und berufliche Durchlässigkeit auch über Begriffe zu adressieren und umzusetzen (vgl. auch Kutscha, 2015). Dies zeigt sich beispielsweise am Konzept der erweiterten modernen Beruflichkeit des IG Metall Vorstands (2014), das ein „gemeinsames Leitbild für die betrieblich-duale und die hochschulische Berufsbildung“ (S. 1) schaffen soll. Es zeigt sich folglich auch hier, dass durch die veränderten gesellschaftlichen und arbeitsmarktbezogenen Bedingungen die Aushandlungsprozesse auch auf sprachlicher Ebene stattfinden und Begrifflichkeiten neu ausgelotet werden.

Mit Blick auf den heute weiter gefassten Auftrag zur Unterstützung junger Menschen in ihrem beruflichen Werdegang empfiehlt die KMK (2017b) die deutschlandweit einheitliche Nutzung des Begriffs der beruflichen Orientierung als Oberbegriff für alle Aktivitäten und Bemühungen der Berufs- und Studienorientierung und führt hinsichtlich der Studienorientierung aus, dass diese „eine spezielle Ausprägung der Beruflichen Orientierung [.. mit] eine[r] spezifische[n] inhaltliche[n] Ausrichtung des Orientierungsprozesses auf die Aufnahme eines Studiums“ (S. 2) sei.

Die vorangegangenen Ausführungen zur definitorischen Diversität zeigen zum einen, wie wichtig die gemeinsame Verständigung auf eine einheitliche Begriffsnutzung ist. Die Darstellung der relevanten Akteur*innen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Zielen (siehe Teilkapitel 2.2) unterstreicht dies zusätzlich und zeigt zum anderen den langen Weg zu einer begrifflichen Einigung auf. Im Folgenden wird in dieser Arbeit auf den durch die KMK (2017b) beschlossenen Begriff der beruflichen Orientierung (BO) zurückgegriffen, der anderthalb Jahre nach seiner offiziellen Einführung zunehmend in den Sprachgebrauch der Akteur*innen übergeht, wie die jüngsten Anpassungen der nordrhein-westfälischen Internetpräsenz zeigen (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019c).

Das gewandelte Verständnis von Arbeit und Beruf

Da die Begriffe Arbeit und Beruf für die Beschreibung beruflicher Orientierung herangezogen wurden bzw. werden, haben unter anderem Famulla (2008), Kayser (2013) und Voigt (2012) den Begriff der Berufsorientierung im Kontext der beiden genannten Begriffe untersucht und die sich aus den historischen Entwicklungen ergebenden Veränderungen für die berufliche Orientierung beleuchtet. Das Verständnis der Begriffe Arbeit und Beruf hat sich im historischen und gesellschaftlichen Kontext mit dem strukturellen Wandel der Arbeits- und Berufswelt von der produzierenden zur Informations- und schließlich zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft verändert (Kayser, 2013).

Die ursprünglich negativ konnotierte Bedeutung von Arbeit als zwingende Pflicht zur rein finanziellen Existenzsicherung wurde durch eine positivere Interpretation als Mittel der „identitätsstiftende[n] Selbstverwirklichung“ sowie als Mittel „für Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe“ (Kayser, 2013, S. 13) ergänzt, jedoch nicht vollständig ersetzt (vgl. auch Kraus, 2006). Das traditionelle Verständnis des Berufs hat sich spätestens seit den 1970er Jahren durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes aufgelöst, in dem Mehrfachwechsel zwischen Unternehmen, Tätigkeiten und/oder Berufen den „Lebensberuf“ als Norm abgelöst haben (Famulla, 2008). Als Konsequenz gilt auch das Berufskonzept bestehend aus Ausbildung und Erwerbstätigkeit im „Lebensberuf“ nicht mehr per se (Famulla, 2008). Stattdessen besteht ein breiteres Verständnis des Berufs als Summe von Fragmenten verschiedener beruflicher Tätigkeiten, die sowohl bezahlt als auch unbezahlt sein können (Butz, 2008b). Das berufswahltheoretische Konzept der boundaryless careers (Arthur, 1994), dem dieses breitere Verständnis des Berufs zugrunde liegt, beleuchtet die Entwicklung beruflicher Laufbahnen entsprechend unter dieser Prämisse (Abschnitt 5.2).

Neben dem Berufsverständnis als solchem haben sich auch seine ökonomische und sozialpolitische Funktion verändert (Butz, 2008b). Aus einer ökonomischen Perspektive heraus haben Berufe als Merkmalsträger spezifischer Qualifikationen den Matching-Prozess zwischen „Arbeitsleistung gegen Geld und soziale Sicherung“ (Famulla, 2008, S. 35) vormals gestützt. Technologischer Fortschritt, u. a. durch die Digitalisierung, und die Globalisierung der Arbeitswelt verändern die geforderten Kompetenzen jedoch rasant (World Economic Forum, 2016), was ihre Integration in die berufliche Bildung erschwert. Dadurch werden diese Kompetenzen nicht mehr ausschließlich über berufsimmanente Qualifikationen abgebildet. Dies trifft in besonderem Maße auf Tätigkeiten in der IT-Branche zu, beispielsweise durch das Aufkommen neuer Programmiersprachen. Dadurch ist die ökonomische Matching-Funktion des Berufs in Teilen aufgehoben. Für eine Differenzierung zwischen Kompetenzen und Qualifikationen sei auf das Kapitel 5 verwiesen. Auch die sozialpolitische Funktion des Berufs hat sich gewandelt (Butz, 2008b). Die soziale Einbindung in die Gesellschaft findet, wie von Famulla (2008) und Kraus (2006) beschrieben, weiterhin in Teilen über die berufliche Tätigkeit statt. Mit der Erweiterung des Berufsverständnisses auf unentgeltliche Arbeit, spiegelt diese jedoch nicht mehr zwangsläufig den sozialen Status oder eine Karrierestufe wider.

Als Folge der sich wandelnden Arbeitswelt haben sich auch die Anforderungen an das Individuum verändert, beispielsweise in Form der erwarteten Flexibilität und Weiterbildungsinitiative (Butz, 2008b). Die zunehmend geforderte Flexibilität und Eigenständigkeit im Management der eigenen beruflichen Laufbahn sind in die Berufswahl- und Laufbahntheorien eingeflossen, u. a. in das Konzept der protean careers (Hall, 1996), das das Individuum als zentralen Akteur der eigenen Laufbahn beschreibt und Veränderungen, wie die „zunehmende Privatisierung der sozialen Sicherung“ (Butz, 2008b, S. 49) theoretisch integriert (siehe Abschnitt 5.2). Hinsichtlich des Berufskonzepts von Arbeit argumentiert Famulla (2008), dass dieses „nach wie vor zentrale Bedeutung, auch und besonders für den Abstimmungsprozess zwischen Bildung- und Beschäftigungssystem“ (S. 26) besitzt und damit berechtigterweise für die Begriffsdefinition beruflicher Orientierung herangezogen werden kann.

Bedeutung und Funktion beruflicher Orientierung

Traditionell wurde Berufsorientierung als einmalige Unterstützung der Jugendlichen beim Übergang in den Ausbildungsberuf bzw. in das Hochschulstudium verstanden (KMK, 1993). Noch bis Anfang der 2000er Jahre wurde berufliche Orientierung weitestgehend im Sinne von Berufs- bzw. Studienwahlvorbereitung umgesetzt, wie auch die Begriffsverwendungen in dem Abkommen zwischen der KMK und der Bundesagentur für Arbeit (BA) von 2004 zeigt (Butz, 2008b). Mit den veränderten Erwartungen an Arbeitnehmende und den neuen Möglichkeiten, die sich beispielsweise aus der Flexibilisierung des Bildungssystems und dem Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte ergeben haben (KMK, 2009), haben sich jedoch die Anforderungen an die berufliche Orientierung und damit auch ihr grundsätzliches Verständnis sowie ihre Ziele gewandelt.

Berufliche Orientierung geht in einem zeitgenössischen Verständnis über die Unterstützung bei einer ersten Berufswahlentscheidung hinaus. Entsprechend wurde das vormals bestehende summative Verständnis, bei dem der Gedanke eines einmaligen Matchings zwischen Person und Unternehmen tragend war (Kayser, 2013), durch eine ganzheitlich-formative Auffassung von beruflicher Orientierung abgelöst. Diese begreift berufliche Orientierung als einen andauernden Abstimmungsprozess zwischen Individuum und Arbeitswelt. Im Einklang mit diesem ganzheitlich-formativen Verständnis steht auch der vollzogene Perspektivwechsel von einer unternehmensgeprägten Sicht auf berufliche Orientierung, die Qualifikationen fokussiert, hin zu einer individuumszentrierten Perspektive, die die Entwicklung von Kompetenzen in den Vordergrund stellt (Famulla, 2008).

Eine etablierte Definition, die das Wesen moderner beruflicher Orientierung und ihre Herausforderungen erfasst, liefern Famulla und Butz (2005). Sie beschreiben berufliche Orientierung als

„[..] ein[en] lebenslange[n] Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Möglichkeiten, Bedarfen und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite. Beide Seiten, und damit auch der Prozess der beruflichen Orientierung, sind sowohl von gesellschaftlichen Werten, Normen und Ansprüchen, die wiederum einem ständigen Wandel unterliegen, als auch den technologischen und sozialen Entwicklungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem geprägt“ (Butz, 2008b, S. 50).

Butz (2008b) spricht dabei von einer „Bipolarität“ (S. 50), die einerseits die personenbezogene Perspektive abbildet und andererseits die „von außen an die Person herangetragenen Ansprüche der Arbeitswelt“ (S. 50) benennt. Die Erwartungen der Arbeitswelt könnten nach heutigem Verständnis von beruflicher Orientierung durch von außen herangetragene Unterstützung ersetzt oder zumindest ergänzt werden.

Berufliche Orientierung wird weiter als ein „Lernprozess, der sowohl in formellen, organisierten Lernumgebungen als auch informell im alltäglichen Lebensumfeld“ (Butz, 2008b, S. 50) stattfindet, verstanden. Auch das pädagogische Verständnis der Position beruflicher Orientierung hat sich verändert. Während Dedering (1994, zit. n. Voigt, 2012) berufliche Orientierung noch als Teil vorberuflicher Bildung versteht, formuliert Famulla (2008) eben diese „als Teil von Allgemeinbildung im Sinne einer Stärkung der Persönlichkeit und Handlungsfähigkeit von Jugendlichen“ (S. 40). Famullas und Butz‘ (2005) Definition wurde vielfach aufgegriffen und integriert (KMK, 2017b; Köck, 2010).

Auch Schudy (2008, zit. n. Jung, 2013) weist auf die begriffliche Mehrdeutigkeit hin und betont mit seiner Ausdifferenzierung insbesondere vier, hier in Teilen bereits genannte Deutungsvarianten. Dabei bezeichnet die „subjektive Berufsorientierung“ (Jung, 2013, S. 302) die Bereitschaft der Jugendlichen, ihre berufliche Zukunft bei der eigenen Lebensplanung zu berücksichtigen. Gleichzeitig kann Berufsorientierung nach Schudy auch als ein Teil von Allgemeinbildung sowie als Vorbereitung auf die erste Berufswahl verstanden werden. Schudys vierte Deutungsvariante ist die der Anpassung von Unterrichtsinhalten und Methoden an die Anforderungen der Arbeitswelt und ihre Veränderungen (Schudy, 2008, zit. n. Jung, 2013).

In der internationalen Forschungsliteratur existieren weitere, sich zum Teil überschneidende Definitionen. Die OECD definiert career guidance als „services intended to assist individuals, of any age and at any point throughout their lives, to make educational, training and occupational choices and to manage their careers“ (Watts & Sultana, 2004, S. 107). Weiter spezifiziert sie career education als „part of the curriculum, in which attention is paid to helping groups of individuals to develop the competences for managing their career development“ (Watts, 2009, S. 1). Vor dem Hintergrund der sich international stark unterscheidenden Schulsysteme sowie der in den unterschiedlichen Schulsystemen differierenden Umsetzung und Rolle beruflicher Orientierung scheint eine Übertragbarkeit von Begriffen jedoch begrenzt. Das Verständnis von beruflicher Orientierung, wie es dieser Arbeit zugrunde liegt, basiert auf der von Famulla und Butz (2005) formulierten und von der KMK (2017b) aufgegriffenen Definition, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Berufliche Orientierung wird als ein individueller, langfristiger Lernprozess verstanden, bei dem Schüler*innen Unterstützung benötigen und der einer systematischen Verankerung und Einbettung in Schule bedarf. Um die begriffliche Mehrdeutigkeit aufzulösen und damit den Begriff der beruflichen Orientierung in seiner Anwendbarkeit zu stärken, soll hier zudem eine Ausdifferenzierung vorgenommen werden in Unterstützung beruflicher Orientierung (Perspektive auf die Beratenden) und Entwicklungsprozesse der beruflichen Orientierung (Perspektive auf die Jugendlichen).

Ziele beruflicher Orientierung

Neben dem Grundverständnis der beruflichen Orientierung als solcher, gestalten sich auch die Ziele beruflicher Orientierung als vielschichtig und unterliegen, wie Voigt (2012) feststellt, dem Wandel der Zeit. Entsprechend dem veränderten Verständnis von Beruf hat auch hier eine Entwicklung stattgefunden. Nach der „Unterstützung einer rationalen Berufswahl mit einem Fokus auf das Normalarbeitsverhältnis“ (Voigt, 2012, S. 47) standen lange die Berufseignung, die Ausbildungs- bzw. die Berufswahlreife als Ziele beruflicher Orientierung im Fokus (Hartkopf, 2013). Die Berufseignung umfasst nach einer Beschreibung durch die Bundesagentur für Arbeit (2009) die konkreten Voraussetzungen und Kenntnisse eines Individuums, um einen spezifischen Beruf ausüben zu können. Während unter Ausbildungsreife „die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit […] und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in die berufliche Ausbildung“ (BA, 2009, S. 13) zusammengefasst werden. Der Begriff der Berufswahlreife (career maturity) wurde 1953 von Super eingeführt und bezeichnet die Bereitschaft, berufliche Entscheidungen, die durch soziale Anforderungen und Ereignisse erforderlich werden, zu treffen und umzusetzen (Super, 1985). Wie Hartkopf (2013) jedoch kritisch anmerkt, gilt das ursprüngliche Verständnis von Berufswahlreife aufgrund der damit verbundenen implizierten Erwartung eines Prozessabschlusses (Reife) als überholt. Im Vergleich dazu steht bei der Berufswahlkompetenz die lebenslange Anwendung im Vordergrund.

Denn nach heutigem Verständnis bildet die Befähigung der Heranwachsenden zu einer lebenslangen beruflichen Gestaltung ein zentrales Ziel beruflicher Orientierung (Driesel-Lange et al., 2020). Lebenslange berufliche Gestaltung impliziert dabei die Antizipation von und Reaktion auf Veränderungen, die beispielsweise in den eigenen beruflichen oder privaten Zielen, aber auch in den veränderten Anforderungen des Arbeitsmarktes begründet sein können. Gemäß einem gemeinsamen Beschluss der KMK soll die berufliche Orientierung an den individuellen Voraussetzungen der Jugendlichen, also ihren „Interessen, Kompetenzen und Potenzialen“ (KMK, 2017b, S. 2) ansetzen. Berufliche Orientierung wird anknüpfend an Famulla und Butz (2005) weiter als ein individueller Prozess definiert, dessen Ziel es ist, berufliche Entscheidungen zu treffen, die informiert, „reflektiert, selbstverantwortlich, frei von Klischees und aktiv“ (KMK, 2017b, S. 2) erfolgen. Aus diesem Ziel kann ein impliziertes, zweites Ziel beruflicher Orientierung abgeleitet werden, nämlich der Erwerb von Berufswahlkompetenz, die zur Bewältigung dieser Herausforderung benötigt wird. Berufswahlkompetenz unterliegt keiner einheitlichen Definition, kann aber als „Kompetenz einer Person, lebenslang ihre Berufsbiografie zu entwerfen, zu planen, zu gestalten und zu verantworten“ (Driesel-Lange, 2011, S. xiii) beschrieben werden. Eine theoretische Verortung erfolgt in Kapitel 6. Die empirischen Studien der Kapitel 10, 11 und 12 basieren auf dem von Driesel-Lange et al. (2010) vorgeschlagenen Konzept der Berufswahlkompetenz als Verbindung individuums- und berufsbezogenen Wissens, motivationaler Komponenten sowie Handlungsfunktionen. Diese Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglichen es einem Individuum, informiert, reflektiert und proaktiv berufswahlbezogene Herausforderungen zu meistern und berufliche Entscheidungen zu treffen (Driesel-Lange et al., 2020).

Zusammenfassend stellen – in einem zeitgenössischen Verständnis – die Befähigung zur lebenslangen beruflichen Gestaltung und der damit verbundene Erwerb von Berufswahlkompetenz die zentralen Ziele beruflicher Orientierung dar.

2 Akteur*innen und ihre Aufgaben, Perspektiven und Rahmenbedingungen

Aufgrund der gesellschaftlichen, volkswirtschaftlichen und politischen Implikationen ist die Sicherstellung eines möglichst nahtlosen und nachhaltigen Übergangs der Jugendlichen in nachschulische Bildungs- und Ausbildungsangebote für eine Vielzahl an Akteur*innen bedeutsam. Diese betrachten die berufliche Orientierung im schulischen Kontext aus unterschiedlichen Perspektiven und verfolgen mit ihren Bemühungen mitunter unterschiedliche Ziele bzw. Eigeninteressen (Kayser, 2013). Um potentiellen Missverständnissen im gemeinsamen Diskurs vorzubeugen, ist es wichtig, die jeweilige Perspektive der Beteiligten und ihr damit verbundenes Verständnis beruflicher Orientierung zu klären (Schudy, 2008, zit. n. Jung, 2013). Abbildung 2.1 unterteilt die Akteur*innen in vier wesentliche Bereiche, nämlich die bildungspolitische sowie die arbeitsmarktpolitische Ebene, die schulischen Kooperationen, zu denen auch die nachschulischen Institutionen zählen und als vierten Bereich das soziale Umfeld der Jugendlichen.

Abbildung 2.1
figure 1

Akteur*innen beruflicher Orientierung im Kontext von Schule

Mit Blick auf den Fokus dieser Arbeit, die sich auf die Ausdifferenzierungsmöglichkeiten beruflicher Orientierung im schulischen Kontext konzentriert, soll das soziale Umfeld und seine Rolle im Prozess beruflicher Orientierung hier nicht besprochen werden. Die Beschreibung der drei anderen Gruppen dient der weiteren Entfaltung des Spannungsfelds und der Ableitung der Herausforderungen, insbesondere für die Institution Schule als Akteurin (siehe dafür Teilkapitel 2.3). Eine ausführliche Übersicht zu den Akteur*innen bietet Kayser (2013). Um sich diesen drei Gruppen anzunähern, wird zunächst die bundes- und landespolitische Ebene betrachtet, um dann den konkreten Umsetzungsauftrag der Schulen (Schulebene) zu benennen. Im Anschluss daran werden die Aufgaben und Ziele der Agentur für Arbeit sowie weiterer Maßnahmenträger (freie Träger, Unternehmen und Bildungsinstitutionen) näher beleuchtet.

Bundes- und Landesebene

Auf Bundesebene sind die Ministerien für Bildung und Forschung (BMBF), für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und für Arbeit und Soziales (BMAS) in der Förderung beruflicher Orientierung engagiert. Sie organisieren und finanzieren einzeln und im Verbund sowie in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) Maßnahmenprogramme, Netzwerke und Forschung zu Themen beruflicher Orientierung (Schröder, 2015). Beispiele sind u. a. das Berufsorientierungsprogramm (BMBF-gefördert), die Initiative Bildungsketten (BMFB & BMAS) und die Initiative Klischeefrei (BIBB). In der Bund-Länder-Begleitgruppe stimmen sich die genannten Bundesministerien, die Wirtschafts- und Arbeitsministerkonferenz, die Bundesagentur für Arbeit und die Kultusministerien der Bundesländer miteinander ab (Schröder, 2015). Denn durch die Verortung von beruflicher Orientierung in der Institution Schule kommt den Bundesländern aufgrund des Bildungsföderalismus die Verantwortung der strategischen Ausrichtung der beruflichen Orientierung zu (KMK, 2017b). Sie regeln in ihren Landesschulgesetzen und in den für die Schulen verbindlichen Landeskonzepten die Ziele und Rahmenbedingungen (siehe u. a. Berliner Senat, 2015; Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019a). Das Land Nordrhein-Westfalen verfügt über ein weit entwickeltes Konzept, in dem der Prozess der beruflichen Orientierung von Beginn der Sekundarstufe I bis zum Ende der Sekundarstufe II mit festen Unterstützungsangeboten, sogenannten Standardelementen, Vor- und Nachbereitungsphasen, zu entwickelnden Kompetenzen sowie der Rolle der einzelnen Akteur*innen (Lehrkräfte, Arbeitsagentur, Kooperationspartner*innen) definiert ist (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019a). Die Durchführung der Standardelemente wie Betriebserkundungen oder Potentialanalysen ist für jede Jahrgangsstufe definiert (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019a). Dadurch konnte eine flächendeckende Unterstützung der Schüler*innen umgesetzt werden. Gleichzeitig lassen diese festen Termine weniger Flexibilität zu, um beispielsweise entwicklungsbezogene Bedarfe durch eine frühere oder spätere Maßnahmenteilnahme zu berücksichtigen. In anderen Bundesländern, wie dem Land Berlin, wird die Unterstützung beruflicher Orientierung weniger reglementiert (Berliner Senat, 2015). Dadurch entstehen einerseits vielfältigere Gestaltungsmöglichkeiten für die einzelne Schule, jedoch eröffnet sich auch das Potential größerer qualitativer und quantitativer Unterschiede zwischen den Schulen.

Folglich besteht infolge der Kompetenz auf Landesebene eine große Heterogenität zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Verbindlichkeit, Intensität, Verortung und Standardisierung beruflicher Orientierung. Dies zeigt sich auch auf regionaler Ebene anhand divergierender Kommunikations- und Unterstützungsstrukturen (vgl. KMK, 2017a). Jedoch bestehen langjährige Bemühungen der inhaltlichen und qualitativen Abstimmung, die in gemeinsamen Beschlüssen der KMK festgehalten werden (KMK, 2017b).

Schulebene

Die konkrete Planung und Organisation von Unterstützungsmaßnahmen der beruflichen Orientierung unterliegt wiederum den Schulen. Per Gesetz haben alle weiterführenden Schulen den Auftrag, ihre Schüler*innen im beruflichen Entwicklungsprozess zu unterstützen (vgl. KMK, 1993, 2017b). Mit ihren schuleigenen Konzepten zur beruflichen Orientierung setzen sie die Vorgaben der jeweiligen Landeskonzepte um, wie die des nordrhein-westfälischen Programms Kein Abschluss ohne Anschluss (KAoA, Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 2018).

Bestehende Unterschiede in der Ausgestaltung beruflicher Orientierung zwischen den weiterführenden allgemeinbildenden Schulen lassen sich im Wesentlichen auf drei Ursachen zurückführen. Neben den gerade beschriebenen regionalen Differenzen durch unterschiedliche Landeskonzepte, bestehen zudem Unterschiede zwischen den Schulformen (Dreer, 2013b) und daraus implizit resultierend auch zwischen den Sekundarstufen I und II (KMK, 2017a; Nentwig, 2018). Schulformunterschiede speisen sich vor allem aus einem traditionell unterschiedlichen Verständnis des Auftrags von Schule heraus: Haupt-, Real-, Gesamt- und Sekundarschulen messen dem erfolgreichen Übergang ihrer Lernenden in eine nachschulische (praktische) Ausbildung traditionell eine hohe Relevanz zu (Dedering, 2002) und bemühen sich daher um eine intensive Begleitung ihrer Schüler*innen bei der Bewältigung dieser Aufgabe (Nentwig, 2018). Währenddessen waren Gymnasien traditionell auf die Vermittlung abiturrelevanten Wissens für ein anschließendes Hochschulstudium fokussiert (vgl. Dedering, 2002). Entsprechend konzentrierten sich die Bemühungen zur beruflichen Orientierung an Gymnasien insbesondere auf die Auswahl eines Hochschulstudiums (Driesel-Lange, 2011). Der Begriff der Berufsorientierung, der eine berufsbildende Orientierung in Richtung praktischer Arbeit impliziert, wird aufgrund des Verständnisses des eigenen Bildungsauftrags (häufig) kritisch betrachtet (Butz, 2008a). Trotz des KMK-Beschlusses von 1992, in dem die „Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt“ (S. 9) als verpflichtendes Element der Sekundarstufe I aller Schulformen beschrieben wird, haben sich die Gymnasien nur langsam auf den Weg gemacht (Driesel-Lange & Kracke, 2017). Beispielhaft lässt sich dies an der im Vergleich zu den Integrierten Sekundarschulen zeitlich verzögerten Entwicklung schulischer Konzepte beruflicher Orientierung an Berliner Gymnasien veranschaulichen (Ohlemann et al., 2016). Es kann also durchaus von einer „beruflichen Orientierung der zwei Geschwindigkeiten“ gesprochen werden, bei der weiterführende Schulen, deren Schüler*innen mehrheitlich am Ende der Sekundarstufe I eine erste berufliche Entscheidung in Richtung dualer bzw. schulischer Ausbildung oder dem Übergang in die gymnasiale Oberstufe treffen müssen, über einen Vorsprung gegenüber den klassischen Gymnasien hinsichtlich der Konzipierung und praktischen Implementation beruflicher Orientierung in der Sekundarstufe I verfügen (Ohlemann et al., 2016). Ein dritter Unterschied in der Ausgestaltung und Intensität beruflicher Orientierung im Kontext weiterführender Schulen lässt sich zwischen der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II, also der gymnasialen Oberstufe, feststellen. Schmidt-Koddenberg und Zorn haben bereits 2012 die weitere Intensivierung der beruflichen Orientierung in der gymnasialen Oberstufe als ein Desiderat formuliert. Die berufliche Orientierung, im Sinne von Studienorientierung, spielt in der Sekundarstufe I eine eher nachgeordnete Rolle, wird jedoch in den vergangenen Jahren für der Sekundarstufe II verstärkt ausgebaut (KMK, 2017a). Innerhalb der Schulen kümmern sich beauftragte Lehrkräfte um die Umsetzung der beruflichen Orientierung und koordinieren dafür die Zusammenarbeit mit externen Kooperationspartner*innen, insbesondere mit der Agentur für Arbeit und den Anbietenden von Maßnahmen beruflicher Orientierung.

Agenturen für Arbeit

Eine zentrale Rolle in der beruflichen Orientierung kommt neben den Schulen der Agentur für Arbeit zu. Sie ist per Gesetz verpflichtet, junge Menschen in ihrer beruflichen Orientierung zu unterstützen (§ 33 & § 48, SGB III). Neben der Vermittlung von Informationen in Berufsinformationszentren (BIZ) bietet die Agentur für Arbeit persönliche Beratungen sowie Vorträge an Schulen an. Die Zusammenarbeit zwischen der KMK und der Agentur für Arbeit ist in einer 1971 beschlossenen, mehrfach erneuerten Rahmenvereinbarung festgelegt (KMK & BA, 1971, zit. n. Rahn & Brüggemann, 2013; KMK & BA, 2017). Ferner kofinanziert die Agentur für Arbeit – mehrheitlich zusammen mit den Landesministerien – berufsorientierende Angebote von Dritten (§ 48, SGB III).

Freie Träger und Unternehmen als Maßnahmenanbietende

Seit 1998 können neben der Agentur für Arbeit sogenannte freie Träger, wie Vereine, gemeinnützige Organisationen oder gewinnorientierte Gesellschaften, berufliche Orientierungsangebote offerieren (Rahn & Brüggemann, 2013). Sie setzen beispielsweise Maßnahmen zur beruflichen Orientierung um, die als Teil von BMBF-Förderprogrammen angelegt sind (Schröder, 2015). Auch Unternehmen sowie unternehmensnahe Verbände bieten, ohne einer gesetzlichen Pflicht zu unterliegen, berufsorientierende Maßnahmen an, beispielsweise Bewerbungstrainings, persönliche Beratungen oder Praktika. Dabei verfolgen sie, wie Kayser (2013) anmerkt, „systembedingte ‚Eigeninteressen‘“ (S. 27). Im Falle von Unternehmen liegen diese vor allem in der Nachwuchsrekrutierung zur Sicherung des eigenen Fachkräftebedarfs (Kayser, 2013). Ihre Bemühungen konzentrieren sich folglich auf die Beratung und Information zu dualen Ausbildungsberufen. Lindacher (2015) spricht von „abnehmerspezifischen Aspekten“ (S. 19). Berufliche Orientierung wird implizit als Berufswahlvorbereitung und Teil beruflicher Bildung verstanden (Handwerkskammer, 2019; Industrie- und Handelskammer, 2019).

Bildungsinstitutionen

In einigen Bundesländern, beispielsweise in Berlin, ist jeweils eine Vertretung der Berufsschulen bzw. fachbezogenen Oberstufenzentren (OSZ) qua Verordnung permanent in das schulinterne Team der beruflichen Orientierung eingebunden, um in Zusammenarbeit mit der koordinierenden Lehrkraft und der Berufsberatungsfachkraft der Agentur für Arbeit den nachschulischen Übergang der Jugendlichen sicherzustellen (Berliner Senat, 2015). Mit ihrem Engagement bringen Berufsschulen und OSZ als nachschulische Institutionen eine weitere Perspektive auf die berufliche Orientierung und potentielle Anschlussmöglichkeiten ein.

Weitere Akteurinnen der beruflichen Orientierung sind die Hochschulen. Während Kayser (2013) noch die zurückhaltende Aktivität der Hochschulen in der beruflichen Orientierung monierte, sind Hochschulen heute präsente Akteurinnen mit einem vielfaltigen Orientierungsangebot, wie die Außendarstellung verschiedener Hochschulen beispielhaft belegt (Technische Universität Berlin, 2019; Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2019). Sie bieten über Schülerlabore, Studienschnuppertage und weitere Informationsangebote Einblick in ihre inhaltlichen Themen und den strukturellen Ablauf verschiedener Studiengänge. Beratungsangebote beziehen sich hauptsächlich auf die Studienwahl, -vorbereitung und -finanzierung sowie die hausinterne duale Ausbildung. Wie aus der Studienerfolgsstrategie des Freistaats Sachsen abgeleitet werden kann, nehmen die Hochschulen die Gewinnung zukünftiger Studierender sowie die Steigerung der Studienerfolgsquote inzwischen als ein strategisches Ziel wahr (Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst Freistaat Sachsen, 2016).

Des Weiteren gibt es eine Vielzahl an Netzwerken, die die Verzahnung und qualitative Verbesserung beruflicher Orientierung zum Ziel haben. Mit Blick auf die bestehende Forschungsfrage soll auf diese hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Einen Überblick bietet Schröder (2015). Schließlich beeinflussen auch Forschende durch ihre empirischen Studien, deren Ergebnisse in die Theoriebildung sowie in die schulische Praxis zurückfließen, die berufliche Orientierung. Die entsprechenden einflussnehmenden Berufswahltheorien und empirischen Studien werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit genauer beleuchtet.

Für alle beschriebenen Akteur*innen gilt, dass die von ihnen angebotenen Aktivitäten keinen einheitlich definierten Standards, die die Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung und Ziele der jeweiligen Maßnahmen beschreiben, folgen. Folglich ist eine systematische, überregionale Evaluation der Wirkung von verschiedenen Angeboten auf die Heranwachsenden erschwert. International und national wird seit Jahren vielfach auf das daraus resultierende Wissensdefizit und den Bedarf an systematisierten und längsschnittlichen Studien hingewiesen (Büchter & Christe, 2014; Collins & Barnes, 2017; Kayser, 2013).

Aus den verschiedenen regionalen und wenigen überregionalen Studien lassen sich jedoch zwei wesentliche Phänomene herauskristallisieren. Zum einen zeigen mehrere internationale Metaanalysen insgesamt nur kleinere bis mittlere Effekte berufsorientierender Maßnahmen (Whiston et al., 2017), jedoch erzielen individualisierte Maßnahmen dabei die größeren Effekte (S. D. Brown & Ryan Krane, 2000; Whiston, Sexton & Lasoff, 1998). Zum anderen wird erkennbar, dass Jugendliche in Abhängigkeit ihrer verschiedenen persönlichen Merkmale, wie dem Geschlecht (Balin & Hirschi, 2010; Ratschinski, Sommer, Eckhardt & Struck, 2017), der kulturellen und sozialen Herkunft (Bennett, 2007; Blustein, Kozan, Connors-Kellgren & Rand, 2015; Kenny et al., 2016) oder dem Entwicklungsstand (Driesel-Lange & Kracke, 2017), unterschiedlich stark von Maßnahmen profitieren. Ein Forschungsdesiderat, das sich aus der aktuellen empirischen Befundlage hinsichtlich der Maßnahmenevaluation der verschiedenen Akteur*innen formulieren lässt, ist die Effektanalyse unter Aspekten der Intersektionalität, also dem Zusammenwirken verschiedener persönlicher Merkmale.

Mit Blick auf die vorgestellten Akteur*innen beziehungsweise deren Wirkebenen kann des Weiteren die Heterogenität an Anforderungen und Zielen der beruflichen Orientierung konstatiert werden. Es zeigt sich, dass Schule in eben diesem Kontext vielfältigen Erwartungen unterliegt. Im Folgenden soll dies nun differenziert dargestellt werden.

3 Herausforderungen und Grenzen im Kontext von Schule

Während die Gestaltung beruflicher Orientierung durch die Vielzahl ihrer Beteiligten geprägt ist, wird ihre praktische Umsetzung auch von Herausforderungen begleitet und in Teilen bestimmt. Im folgenden Teilkapitel werden diese Herausforderungen, die sich vor allem für die Institution Schule als zentralem Dreh- und Angelpunkt berufsorientierender Unterstützung ergeben, beleuchtet und in ihrer wechselseitigen Dynamik diskutiert.

Aufgrund des Bildungsföderalismus kann auf Bundesebene die berufliche Orientierung nur begrenzt durch die Initiierung und Finanzierung von Programmen und Netzwerken gesteuert werden. Die Länder genießen einerseits eine große Gestaltungsfreiheit, andererseits besteht die Herausforderung, allen Schüler*innen gleichberechtigt den Zugang zu unterstützenden Maßnahmen zu ermöglichen. Aus den unterschiedlichen Entwicklungsständen und der Heterogenität innerhalb der Gruppe der Jugendlichen entstehen verschiedenste Anforderungen an die schulische Begleitung beruflicher Orientierung. Da sich diese Arbeit den individuellen Bedarfen als Voraussetzung einer (weiteren) Binnendifferenzierung beruflicher Orientierung im schulischen Kontext widmet, soll hier der Blickpunkt auf die sich daraus für Schulen als umsetzende Instanz ergebenden Herausforderungen und Grenzen gerichtet werden. Die Ursachen und Ausprägungen dieser Heterogenität werden in den sich anschließenden Kapiteln (3, 4, 5 und 6) sukzessive dargestellt.

Mit der Planung und Umsetzung beruflicher Orientierung werden in den Schulen einzelne oder mehrere Lehrkräfte beauftragt. Diese betreuen die berufliche Orientierung oft fachfremd und müssen sich daher zunächst in die Thematik einarbeiten (Kayser, 2013). Aufgrund fehlender Kenntnisse der Arbeits- und Berufswelt, fehlender Beratungskompetenzen und fehlenden Wissens der relevanten Berufswahltheorien diagnostizieren sie bei sich selbst einen hohen Qualifizierungsbedarf (Ohlemann et al., 2016). Dreer (2013b) bezeichnet die Qualifizierung der verantwortlichen Lehrkräfte sowie des gesamten Kollegiums als Schlüssel für eine qualitativ hochwertige Begleitung der Jugendlichen. Um diese Anforderung zu bewältigen, bieten landeseigene oder beauftragte Weiterbildungsinstitutionen seit einigen Jahren ein verstärktes Qualifizierungsangebot an, wie die systematisierten Angebote der Basis- und Aufbauqualifikation der BO-Verantwortlichen in Nordrhein-Westfalen beispielhaft zeigen (Bezirksregierung Arnsberg, 2019). Die Entlastungsstunden, die Lehrkräfte für ihre Arbeit im Auftrag der beruflichen Orientierung erhalten, variieren auf Landes- und Schulebene (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019a). Die verantwortlichen Lehrkräfte bemängeln, dass die zugewiesenen Ressourcen nur zum Teil für die Bewältigung der anfallenden Aufgaben, wie der Maßnahmenorganisation, der schulinternen und externen Kommunikation, aber auch für die Nutzung von Qualifizierungsangeboten, genügen (Ohlemann et al., 2016). Folglich besteht darin eine weitere Schwierigkeit in Form knapper personeller Ressourcen (Kalisch & Krugmann, 2019).

Neben den Herausforderungen, die sich durch die Art und Anzahl der personellen Ressourcen ergeben, bestehen weitere Herausforderungen auf der Prozessebene sowie auf der inhaltlich-didaktischen Ebene. Betrachtet man die aus der Heterogenität der Heranwachsenden entstehenden individuellen Bedarfe, wird klar, dass für eine bedarfsorientierte Unterstützung zunächst der individuelle Entwicklungsbedarf der einzelnen Jugendlichen als zentraler Ausgangspunkt weiterer Unterstützung diagnostiziert werden müsste (Hartkopf, 2013). Während Potentialanalysen zur Feststellung individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Einstieg in den Berufswahlprozess in mehreren Landeskonzepten als verbindliche Elemente integriert wurden (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019a; Schröder, 2015), weist kein Landeskonzept verbindlich die systematische und regelmäßige Diagnostik von Entwicklungsbedarfen hinsichtlich der beruflichen Orientierung an (KMK, 2017a; Schröder, 2015). Insofern kann daraus geschlossen werden, dass Schulen die tatsächlichen Bedarfe ihrer Lernenden nicht oder nur sporadisch ermitteln. Diese fehlende Diagnostik ist einerseits sicherlich den fehlenden zeitlichen Ressourcen – sowohl in der Durchführung als auch in der Auswertung diagnostischer Tests – geschuldet. Denn für eine individuelle Diagnostik und Fallarbeit bedarf es erweiterter Kapazitäten, wie es Famulla et al. (2003) beispielhaft für den Bereich der inklusiven beruflichen Orientierung bereits früh formuliert haben. Ein weiterer Grund stellt die mangelnde diagnostische Kompetenz der Lehrkräfte dar (Schnebel, 2017). Ein möglicher Ansatzpunkt für eine systematische Diagnostik wäre ein vereinfachtes Verfahren, mit dem anhand eines oder weniger Werte auf den aktuellen Entwicklungsstand rückgeschlossen werden könnte. Die empirische Studie in Kapitel 10 setzt mit einer methodischen Lösung an diesem Forschungsdesiderat an. Dafür werden die Zusammensetzung und Anwendbarkeit eines Normwerts der Berufswahlkompetenz zur Komplexitätsreduzierung der Diagnostik analysiert und diskutiert.

Auch die systematische Vor- und Nachbereitung von beruflichen Orientierungsangeboten bedarf zusätzlicher Ressourcen, was für die Schulen eine wesentliche Hürde in der Umsetzung darstellt (Ohlemann et al., 2016). Insbesondere die fehlende Einbindung systematischer Reflektion des Erfahrenen und Erlernten erschwert den Schulen die u. a. von Driesel-Lange et al. (2020) und Kanning (2013) geforderte Verbindung und Einbettung einzelner Maßnahmen in ein schlüssiges, individuumsbezogenes Konzept beruflicher Orientierung.

Hinzukommen weitere, maßnahmenbezogene Hindernisse wie Informationsdefizite. Lehrkräfte bemängeln das für sie oftmals unüberblickbare Angebot an Maßnahmen sowie das fehlende Wissen zu Effekten berufsorientierender Maßnahmen (Ohlemann et al., 2016). Aus der Kombination an fehlenden Ressourcen, fehlender Weiterbildung und fehlenden Informationen kann ein Gefühl der Überforderung entstehen (Bührmann & Wiethoff, 2013; Kayser, 2013). Um den individuellen Bedarfen entsprechende Angebote zur beruflichen Orientierung auswählen zu können, werden allerdings Informationen zu erwartender Maßnahmeneffekte für das jeweilige Individuum bzw. seine Peergruppe benötigt. Die Wahrnehmung der berufsorientierenden Maßnahmen durch unterschiedliche Gruppen versucht die empirische Studie in Kapitel 9 zu erhellen.

Darüber hinaus stellt sich eine Maßnahmenzuteilung und -teilnahme von Lernenden aus verschiedenen Klassenverbänden oder sogar Jahrgangsstufen auch auf organisatorischer Ebene, u. a. aufgrund der vielfältigen Prüfungstermine und dem damit verbundenen langfristigen internen Abstimmungsbedarf, als komplex dar. Für eine individuelle, bedarfsbezogene Zuteilung der Jugendlichen zu den verschiedenen beruflichen Orientierungsmaßnahmen bedarf es nach Aussagen der BO-verantwortlichen Lehrkräfte insgesamt einer optimierten Planung und Verwendung der zur Verfügung stehenden Ressourcen (Ohlemann et al., 2016). Weiter wird eine bedarfsorientierte Maßnahmenteilnahme neben der internen Planungskomplexität unter Umständen zusätzlich durch rigide Auflagen auf Landesebene erschwert. Denn einige Landeskonzepte formulierten die Teilnahme an bestimmten beruflichen Orientierungsmaßnahmen als verbindlich für eine spezifische Jahrgangsstufe (Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 2018). Eine frühere oder spätere Teilnahme entsprechend des individuellen Entwicklungsstands ist dabei nicht angedacht.

Zusammenfassend lassen sich die Herausforderungen für Schulen in personelle, organisatorische und inhaltlich-didaktischen Herausforderungen bündeln. Sie entstehen durch fehlende Ressourcen, Informationsmangel und Intransparenz hinsichtlich der Maßnahmeneffekte, fehlenden Zugang zu und Durchführungsmöglichkeiten von systematischen individuellen Bedarfsanalysen. Aus den aufgeführten Problemen resultiert, dass die Handhabung der von Driesel-Lange et al. (2020) benannten individuellen Entwicklung und die darauf aufbauende bedarfsbezogene Begleitung der Jugendlichen, im Sinne einer eins-zu-eins-Betreuung, für Schulen nur schwer bis gar nicht zu realisieren ist. Die Analyse von Gruppen Jugendlicher mit ähnlichen Bedarfen als Ausgangsbasis der Binnendifferenzierung stellt daher an dieser Stelle ein Forschungsdesiderat dar. In den folgenden Kapiteln soll somit zur weiteren Ausleuchtung der Sachlage auf die Ursachen und Ausprägungen der Heterogenität im Kontext von beruflicher Orientierung eingegangen werden. In Kapitel 3 werden dafür zunächst die heterogenen Voraussetzungen anhand theoretischer Modelle erklärt und durch aktuelle empirische Studien belegt. Ziel ist es, den sich daraus erschließende Bedarf an Individualisierung theoretisch und empirisch herzuleiten.

4 Zusammenfassung und Fazit zur beruflichen Orientierung in der Schule

Das Kapitel beleuchtete die berufliche Orientierung im Kontext von Schule. Dabei wurde ein Spannungsfeld bestehend aus inhaltlichen und begrifflichen Interpretationen, beteiligten Akteur*innen und diversen Anforderungen und Herausforderungen sichtbar. Eingangs beschreibt das Kapitel, wie sich das Verständnis von Arbeit und Beruf als Resultat gesellschaftlicher und technologischer Veränderungen, und darauf aufbauend auch die Anforderungen an berufliche Orientierung gewandelt haben (Famulla, 2008; Kayser, 2013). Es hat sich gezeigt, dass das ursprüngliche Ziel einer einmaligen Unterstützung am Übergang von der Schule in die Ausbildung bzw. ein Hochschulstudium (KMK, 1993) durch ein breiteres Verständnis von beruflicher Orientierung als Befähigung lebenslanger beruflicher Gestaltung unter Einbezug individueller Präferenzen und Fähigkeiten (KMK, 2017b) abgelöst wurde.

Im zweiten Teilkapitel wurden die Akteur*innen der beruflichen Orientierung mit ihren differierenden Perspektiven, Interessen, Zielen und Aufgaben vorgestellt. Deutlich wurde zum einen, dass die Beteiligten aus ihrem jeweiligen Handlungsauftrag heraus verschiedene Perspektiven auf die berufliche Orientierung einnehmen und unterschiedliche Ziele verfolgen, die sich mitunter decken, ergänzen oder einander entgegenstehen können (Bührmann & Wiethoff, 2013). Auf der Schulebene interessiert vornehmlich die Anschlusssicherung, Gymnasien blickten und blicken dabei weiterhin verstärkt auf den Übergang in eine Hochschule (Butz, 2008a; Dedering, 2002; Driesel-Lange, 2011). Unternehmen benötigen zur Fachkräftesicherung Auszubildende. Es lässt sich beobachten, dass ihre Interessensverbände, wie die IHK oder die HWK, vor allem die dualen Ausbildungswege fokussieren. Wie sich anhand der Studienerfolgsstrategie des Freistaats Sachsen beispielhaft zeigt, stellt die gezielte Studieninformation und -beratung ein bedeutendes Werkzeug zur Gewinnung von Studierenden und der Steigerung der Studienerfolgsquote dar (Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, Freistaat Sachsen, 2016). Auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene leiten bildungs-, sozial- und arbeitsmarktpolitische Überlegungen die Ausrichtung der Rahmenbedingungen und Programme beruflicher Orientierung, während Erkenntnisse der Berufswahlforschung selten Berücksichtigung finden (Brüggemann, Driesel-Lange & Weyer, 2017). Diese komplexe Interessenslage stellt eine Ursache der kontextuellen Komplexität der beruflichen Orientierung dar. Weiter wurde anhand der Vielzahl der Beteiligten auch deutlich, wie zentral die durch die KMK im Jahr 2017 beschlossene Verwendung der beruflichen Orientierung als einheitlichem Begriff sowie die gemeinsame Zieldefinition für eine erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung der beruflichen Orientierung sind. Entsprechend wird in dieser Arbeit das an Famullas und Butz‘ (2005) Definition anschlussfähige Verständnis beruflicher Orientierung als langfristigem Prozess, der Heranwachsende dazu befähigen soll, ihr berufliches Leben proaktiv, individuell, informiert sowie interessensgeleitet und frei von Stereotypen zu gestalten und auf Veränderung der Lebens- und Arbeitswelt einzugehen (KMK, 2017b), übernommen. Der Erwerb von Berufswahlkompetenzen, die die Jugendlichen zu dieser lebenslangen beruflichen Gestaltung qualifiziert, stellt dementsprechend ein Desiderat beruflicher Orientierung dar (Driesel-Lange et al., 2020).

Im dritten Teilkapitel wurden die sich aus diesen Rahmenbedingungen, insbesondere für Schulen, ergebenden Herausforderungen in der Konzeption, Planung und Umsetzung sichtbar gemacht. Es zeigte sich, dass Schulen durch fehlende Ressourcen, Informationsmangel bezüglich der Effekte berufsorientierender Maßnahmen und Hürden für die systematische Analyse individueller Bedarfe (Ohlemann et al., 2016) Herausforderungen auf personeller, organisatorischer und inhaltlich-didaktischer Ebene erleben, die die Ansprache der individuellen Bedarfe der Jugendlichen erschweren (Rose & Beutner, 2015). Ein sich aus dieser Betrachtung ergebendes, wesentliches Forschungsdesiderat ist die mehrdimensionale Untersuchung der Bedarfsheterogenität der Jugendlichen, die sich wiederum aus den individuellen Voraussetzungen, den Phasen der beruflichen Entwicklung und den individuellen Entwicklungsständen ergibt. In einem ersten Schritt werden daher die heterogenen Voraussetzungen der Jugendlichen im folgenden Kapitel theoretisch rekonstruiert und einschlägige empirische Ergebnisse vorgestellt.