Zusammenfassung
Ausgehend vom Terminus alternative facts und seinen epistemologischen Implikationen werden drei Diskursfelder zusammengeführt: das der öffentlichen Rhetorik einer neuen politischen ‚Generation Fake‘, das der postmodernen respektive poststrukturalistischen Medientheorie und das fiktionaler Epistemologien, wie sie sich in Beispielen postmoderner Literatur sowie des zeitgenössischen Films finden. Ziel dessen ist es, den epistemologischen Gehalt der neuen politischen Rhetorik des Postfaktischen zu prüfen, einerseits auf die ihr zugrunde liegende Wirklichkeitstheorie, anderseits auf die von ihr herausgeforderte Wahrheitstheorie.
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Notes
- 1.
Siehe hierzu die Unwörter ab 2010 (Unwort des Jahres 2019). Im Jahr zuvor, 2016 also, wurde ‚postfaktisch‘ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt (Gesellschaft für deutsche Sprache 2016), während man in Großbritannien im selben Jahr ‚post-truth‘ zum Wort des Jahres kürte (Oxford Languages 2016); Begriffe, die Conways alternativen Fakten sicherlich das Feld bereiteten.
- 2.
Ich erlaube mir, in diesem Artikel ebenso wie in dem Vorläuferartikel (Petersen 2020), das tradierte generische Maskulinum samt ‚man‘ zu benutzen.
- 3.
Namentlich Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft aus dem Jahre 1886.
- 4.
Siehe auch Baudrillards kurzen Artikel Jenseits von Wahr und Falsch, oder Die Hinterlist des Bildes aus dem Jahre 1986.
- 5.
Dies auch ein bzw. das Beispiel Baudrillards (1978, S. 10).
- 6.
Während Zoglauer und Nichols gegen einen radikalen Konstruktivismus postmoderner Provenienz argumentieren, macht Fuller einen radikalen Sozialkonstruktivismus stark und plädiert so für einen Wahrheitsrelativismus. Siehe hierzu ausführlich auch den Beitrag von Thomas Zoglauer in diesem Band.
- 7.
- 8.
Das nur am Rande, obwohl der Film einigen erzählerischen Aufwand darauf verwendet, zu diskutieren, inwieweit die literarische Qualität des Romans leidet, indem die Autorin Harold am Ende nicht sterben lässt. Sie diskutiert dies unter anderem mit einem Literaturprofessor, den sie nur dadurch überzeugen kann, dass sie letztlich den gesamten Roman auf das neue Ende hin umschreibt (vgl. Foster 2006, 95:05–95:25, 97:43–99:02 und 99:18–99:21).
- 9.
So heißt es in der Poetik etwa: „Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet Nachahmungen“ (Aristoteles 1994, S. 5).
- 10.
Man kann auch dies aus der aristotelischen Poetik ‚herauslesen‘.
- 11.
Sodass ich den knapp fünfminütigen Dialog (Abrahamson 2015, 25:23–30:00) nur in Auszügen zitieren kann.
- 12.
Während Jacks ursprüngliche Epistemologie alles andere als einfach ist. Sie ist, als Jack sich selbst und damit den Zuschauern in einem inneren Monolog die Welt erklärt, voller spekulativer Ad-hoc-Konstruktionen und Inkonsistenzen: „There’s Room, then Outer Space, with all the TV planets, then Heaven. Plant is real, but not trees. Spiders are real, and one time the mosquito, that was sucking my blood, but squirrels and dogs are just TV, except Lucky. He’s my dog who might come someday. Monsters are too big to be real, and the sea. The TV persons are flat and made of colors, but me and you are real. […] Old Nick, I don’t know if he’s real, maybe half“ (Abrahamson 2015, 10:21–11:08). So fügt sich der Entführer Old Nick nicht recht in Jacks Ontologie ein und gilt Jack, weil er als Einziger den Raum betreten und verlassen kann, aus Jacks Perspektive dort immer wieder auftaucht und daraus verschwindet, als „vielleicht halb-wirklich“. Seinem imaginäreren Hund Lucky schreibt Jack dagegen eine Realität zu, obwohl dieser sich nicht, nach Jacks Logik noch nicht, im Raum befindet: „He’s my dog who might come someday“ (Abrahamson 2015, 10:48).
- 13.
Das Interview von Conway in Meet the Press findet sich im Netz vielfach, unter anderem bei NBC selbst (NBC News 2017). Das Zitat beginnt bei 5:34, das Stichwort „alternative facts“ fällt zuvor bei 4:16.
- 14.
Sie tut es bereits in demselben Interview bei 4:31 und öfter.
- 15.
Siehe hierzu beispielsweise Petersen (2007, S. 9 ff.).
- 16.
Siehe hierzu wie auch zum Folgenden bereits Petersen (2003, S. 42 ff.).
- 17.
So zumindest in der hier zitierten englischen Ausgabe aus dem Jahre 2000.
- 18.
Siehe zum Folgenden auch den Beitrag von Peter Klimczak in diesem Band.
- 19.
Insbesondere auf Rudolf Carnaps Aufsatz „Wahrheit und Bewährung“ aus dem Jahre 1936 (Carnap 1977).
Literatur und Medien
Abrahamson L (2015) Raum. Liebe kennt keine Grenzen [Room, IE/CA/UK/US]. DVD, Universal Pictures Germany, Hamburg, 118 Minuten
Aristoteles (1994) Poetik. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Reclam, Stuttgart
Baudrillard J (1978) Agonie des Realen. Merve, Berlin
Baudrillard J (1986) Jenseits von Wahr und Falsch, oder Die Hinterlist des Bildes. In: Bachmayer M, van de Loo O, Rötzer F (Hrsg) Bildwelten – Denkbilder. Texte zur Kunst; 2. Boer, München, S 265–268
Carnap R (1977) Wahrheit und Bewährung [1936]. In: von Skirbekk G (Hrsg) Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 89–95
Donoghue E (2018) Raum. Roman. Aus dem Amerikanischen von Armin Gontermann, 7. Aufl. Piper, München
Foster M (2006) Schräger als Fiktion [Stranger than Fiction, US]. DVD, Columbia Pictures/Sony Pictures Home Entertainment, München, 108 Minuten
Fuller S (2018) Post-Truth: Knowledge as a power game. Anthem Press, London/New York
Gelfert A (2018) Fake News: A Definition. Informal Logic 38(1):84–117
Gesellschaft für deutsche Sprache (2016) GfdS wählt ‚postfaktisch‘ zum Wort des Jahres 2016. Gesellschaft für deutsche Sprache. https://gfds.de/wort-des-jahres-2016/. Zugegriffen am 03.05.2020
Kittler F (2003) Pynchon und die Elektromystik. In: Siegert B, Krajewski M (Hrsg) Thomas Pynchon. Archiv – Verschwörung – Geschichte, medien; 15. Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar, S 123–136
Klimczak P (2020) Fremde Welten – Eigene Welten. Zur kategorisierenden Rolle von Abweichungen für Fiktionalität. Medienkomparatistik 2:113–137
NBC News (2017) Full Conway interview: Presidents ‚aren’t judged by crowd size‘. NBC News, Meet the Press. https://www.nbcnews.com/meet-the-press/video/full-conway-interview-presidents-aren-t-judged-by-crowd-size-860134979785. Zugegriffen am 03.03.2020
Nichols T (2017) The death of expertise. The campaign against established knowledge and why it matters. Oxford University Press, New York
Nietzsche F (1886) Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Naumann, Leipzig
Oxford Languages (2016) Word of the year 2016. In: Oxford Languages. https://languages.oup.com/word-of-the-year/2016/. Zugegriffen am 03.05.2020
Petersen C (2003) Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel von Thomas Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr. Ludwig, Kiel
Petersen C (2007) Von der Moderne zur Postmoderne: Aspekte des Epochenwandels. In: Sagmo I et al (Hrsg) Moderne, Postmoderne – und was noch? Osloer Beiträge zur Germanistik; 39. Peter Lang, Frankfurt am Main, S 9–27
Petersen C (2020) Generation Fake. Täuschung, Lüge und Fiktion nach der Postmoderne. In: Ächtler N et al (Hrsg) Generationalität – Gesellschaft – Geschichte. Schnittfelder in den deutschsprachigen Literatur- und Mediensystemen nach 1945. Verbrecher Verlag, Berlin, S 83–95
Pynchon T (2000) Gravity’s Rainbow. Vintage, London
Sanders S (1976) Pynchon’s Paranoid History. In: Levine G, Leverenz D (Hrsg) Mindful pleasures. Essays on Thomas Pynchon. Little, Brown and Company, Boston, S 139–159
Unwort des Jahres (2019) Unwörter ab 2010. In: Unwort des Jahres. http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=112. Zugegriffen am 03.05.2020
Wehner J (1997) Das Ende der Massenkultur? Visionen und Wirklichkeit der neuen Medien. Campus, Frankfurt am Main
Wiki (2020) Alternative Fakten. In: Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Alternative_Fakten. Zugegriffen am 25.08.2020
Zoglauer T (2020) Wissen im Zeitalter von Google, Fake News und alternativen Fakten. In: Klimczak P, Petersen C, Schilling S (Hrsg) Maschinen der Kommunikation. Interdisziplinäre Perspektiven auf Technik und Gesellschaft im digitalen Zeitalter. Springer Vieweg, Wiesbaden, S 63–83
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Petersen, C. (2021). Stranger than Fiction. In: Klimczak, P., Zoglauer, T. (eds) Wahrheit und Fake im postfaktisch-digitalen Zeitalter. ars digitalis. Springer Vieweg, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32957-0_4
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