Für den abschließenden Teil dieser Arbeit sind zwei Fragen leitend: (a) Welche empirischen und theoretischen Erkenntnisgewinne lassen sich aus der Untersuchung der Organisationsgenese des RKG in der vormodernen Gesellschaft des Alten Reichs ableiten? (b) Inwiefern verändert eine historisch-soziologisch interessierte Organisationsforschung den Blick auf ihren Gegenstand? Um sich einigen Antworten auf diese Fragen zu nähern, wird zunächst die Programmatik der hier vorgelegten Arbeit in komprimierter Form rekapituliert.

(a) Mein Ausgangspunkt war, dass der Zusammenhang von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung in der soziologischen Forschung weitgehend unbestimmt geblieben ist. Damit verbunden wurde weniger ein theoretischer Revisionsbedarf. Vielmehr wurde auf empirische Erklärungs- und Erkenntnislücken verwiesen, von deren Bearbeitung zu erwarten ist, dass sie einen produktiven Beitrag zur weiteren Theoriebildung in der Organisations- und Verfahrensforschung leisten.

Die Möglichkeiten, den abstrakten Zusammenhang einer komplementären Steigerung von organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung aufzuschlüsseln, scheinen meinem Eindruck nach zwei theoretische Prämissen verstellt zu haben. Dazu zählt aus einer organisationsbezogenen Sicht ein institutionalistisches Verständnis von Organisation, das seinen Gegenstand weniger als eigenlogische Sozialform denn als eine kategoriale Kombination bestimmter Strukturaspekte begreift. In historischer Perspektive lassen sich mit diesem zwar (v.a. interorganisatorisch abgeleitete) Strukturähnlichkeiten nachzeichnen. Allerdings ist es gerade für empirische Forschungen über (originäre) Organisationsbildungen – insbesondere in „unorganisierten Gesellschaften“ – problematisch, wenn Organisationen auf gemeinsame (bzw. einzelne) Strukturmerkmale reduziert werden. Organisationen sind dann als eigenlogische Sozialordnung kaum mehr trennscharf gegenüber anderen Formen der Arbeitskooperation – sei es in Gruppen, Familien, Netzwerken oder Korporationen – abgrenzbar.

Was bedeutet es aber, wenn ein gesellschaftlicher Bedarf für kollektiv bindende Entscheidungen nicht mehr auf der Ebene der Interaktion anwesender Personen, sondern unter den Bedingungen formaler Organisation nachgefragt und gedeckt wird? Für eine historisch-soziologisch interessierte Beantwortung dieser Frage liegt zweitens eine gesellschaftstheoretische Herausforderung darin, dass in der Forschung die Ausbildung von Organisationen – und ebenso Verfahren – zugleich als Vorleistung und Produkt einer funktional differenzierten Gesellschaft angesehen werden. So plausibel dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis in seiner Tendenz auch ist, für empirische Untersuchungen können tautologische Verweise auf die Komplementarität gesellschaftlicher und sozialer Ordnungsbildung kaum instruktive Anleitungen über die konkreten historischen Zusammenhänge ihrer Entstehung bereithalten. Denn was bei herkömmlichen Analysen „moderner“ Organisationen als selbstverständlich vorausgesetzt wird – eine primär funktional differenzierte Gesellschaft –, ist für Gegenstände jenseits der westlichen Zeitgeschichte nicht umstandslos gegeben. Ein ähnlicher Anspruch besteht zwar auch für die Analyse gegenwärtiger Organisationen – bei diesen ist das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft ebenso konkretisierungswürdig. Gleichwohl liegen die Ansprüche bei der Untersuchung historischer Fälle noch einmal höher, denn bei diesen ist gerade mit Brüchen hinsichtlich einer tendenziellen Komplementarität von funktionaler Differenzierung und Organisationsbildung zu rechnen, die es zu erschließen gilt (siehe auch Schwarting 2017a/b, 2019).

Um den Zusammenhang von Organisation, Verfahren und Gesellschaft empirisch greifbarer zu machen, habe ich mich deshalb für eine historische Perspektive entschieden. Eine solche ergibt sich insbesondere bei der Analyse von Gegenständen in der stratifizierten Gesellschaft der Vormoderne, in der Organisationen und Verfahren als eigenlogische Sozialformen mit eigener Rollendifferenzierung als unwahrscheinlich angesehen werden. Die gesellschaftsstrukturellen Entstehungsbedingungen der Ausbildung von Organisationen und Verfahren wurden dazu im Rahmen einer historisch-soziologischen Fallstudie herausgearbeitet. Als Gegenstand wurde das RKG ausgewählt, welches das seltene Bestehen einer über 300-jährigen Organisation in der vormodernen Gesellschaft umfasst, die zudem überregionale Bedeutung gewann.

Während das Gericht in der Rechtshistorie für sein „modernes“ Verfahren und die Professionalisierung der Richter bekannt ist, wurde diesem innerhalb der Soziologie überraschenderweise keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die Untersuchung einer Organisationsbildung in der vormodernen Gesellschaft des Alten Reichs ist aber auch deshalb voraussetzungsvoll, weil Organisationen und Verfahren sowie Rechtsorganisationen (als besonderer Organisationstyp) schon in der Gegenwart und Zeitgeschichte kaum systematisch behandelt worden sind. Eine Organisationssoziologie von Gerichten ist nicht existent.

Die empirische Ausgangsfrage dieser Arbeit war, inwiefern die Rechtsprechung am RKG im systemtheoretischen Sinne als organisiert verstanden werden kann. Dieses Interesse bricht mit dem gesellschaftstheoretischen Konsens in der Soziologie, nach dem Organisationen als eine Errungenschaft der Moderne und Produkt der Industrialisierung verstanden werden. Zu der Ausgangsfrage wurde als zentrale These formuliert, dass mit der Gründung des RKG Ende des 15. Jahrhunderts durch Reichsoberhaupt und Reichsstände die Bedingungen der obersten Rechtsprechung im Alten Reich von physischer Anwesenheit auf die Organisation eines rechtlichen Entscheidungsverfahrens umgestellt wurden. Damit verbunden wurde die Annahme, dass es sich bei der Gründung des RKG um eine originäre Form der Organisationsbildung handelt, die sich von abgeleiteten Gründungen unterscheidet. Mit der Einrichtung des RKG wurde ein formaler Bedarf für ein juristisch ausgebildetes Dauerpersonal jenseits kirchlicher Anstellungen geschaffen, an dem sich später auch territoriale Gerichte orientierten. Dies soll nicht ausschließen, dass es nicht auch Organisationen der Rechtsprechung (wie auch in anderen Bereichen) vor der Gründung des RKG gegeben hat. Es liegen dazu allerdings keine genuin organisationssoziologischen Untersuchungen vor. Die These einer originären Organisationsbildung ist dabei nicht mit der Erklärung als Erstgründung bzw. einer Art ‚Ursprungsorganisation‘ zu verwechseln.

Um den organisations- und gesellschaftstheoretischen Erkenntnishürden bei der Untersuchung der Rechtsprechung am RKG zu begegnen, wurde zunächst ein theoretisches Forschungsdesign vorgestellt, das auf einem allgemeinen Systembegriff von Organisation, Verfahren und Gesellschaft aufbaut. Organisatorische und gesellschaftliche Systemgrenzen wurden dabei als Erwartungsgrenzen gefasst. Um die Besonderheit von Organisationen im Sinne sozialer Systeme zu verdeutlichen, wurde in die zentralen Dynamiken bei der Ausbildung formaler und informaler Verhaltenserwartungen eingeführt.

Ein wesentlicher Vorteil eines – im doppelten Sinne – differenzierten Organisationsbegriffs scheint mir für die Untersuchung des Zusammenhangs von organisatorischer und gesellschaftlicher Entwicklung darin zu liegen, dass dieser erlaubt, eine Pluralität von analytischen Referenzen in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen zu spezifizieren. Mit der luhmannschen Systemtheorie und ihrer gesellschaftstheoretisch eingebetteten Organisationssoziologie liegt ein Beobachtungs- und Begriffsrepertoire vor, mit dem Organisationen einerseits in sozialtheoretischer Hinsicht eindeutig gegenüber anderen Ordnungsformen (z. B. Netzwerken, Bewegungen, Gruppen oder Familien) abgegrenzt werden können. Andererseits können Organisationen in gesellschaftstheoretischer Perspektive ins Verhältnis zu ständischen und funktionalen Logiken gesetzt werden.

Die Fundierung der Umstellung in der Rechtsprechung von den Bedingungen der Interaktion auf Organisation leistete dabei in mehrfacher Hinsicht eine Brückenarbeit, denn ein derartiger Zugriff liegt zwischen den Fächergrenzen historischer, rechtswissenschaftlicher und soziologischer Forschungen. Wie oben angesprochen, mussten die verschiedenen Systembildungsebenen sozialer Differenzierung (Organisation, Verfahren, Gruppen, Familien, Netzwerke, etc.) von ständischen und funktionalen Orientierungen (als zwei Ebenen gesellschaftlicher Differenzierung) unterschieden sowie ins Verhältnis gesetzt werden. Mit dem Rückgriff auf sozial- und gesellschaftstheoretische Konzepte hebt sich die vorgestellte Forschungsprogrammatik einer historisch-soziologischen Organisationsforschung dabei von herkömmlichen Organisationsanalysen ab. Dieser Zuschnitt und die damit verbundene Unterscheidungsarbeit war notwendig, weil sich der Zusammenhang von organisatorischer und funktionaler Differenzierung erst in Abgrenzung zu anderen Typen der System- und Strukturbildung aus seiner tautologischen Visierung herauslösen lässt.

Da sich die Verwendung des systemtheoretischen Organisationsbegriffs weitgehend auf Kontexte der Gegenwart und Zeitgeschichte konzentriert, wurde dieses Potenzial jedoch bislang kaum entfaltet. Diese Lücke lässt sich füllen, wenn man die soziologische Systemtheorie weniger für gesellschaftstheoretische Präjudizierungen nutzt als für die empirischen Fragen, welche konkreten Verhaltenserwartungen an eine Person herangetragen wurden, welche sozialen Unterschiede und Geltungsansprüche dabei in Konflikt gerieten und welche Erwartungen jeweils als dominierende Situationsdefinitionen angesehen wurden.

Neben der Trennung von formalen und informalen Teilstrukturen wurden weitere Unterscheidungen eingeführt, die es erlauben, gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen von Organisationsbildungen zu erschließen. Dazu zählte die Unterscheidung besonderer Leistungen, die Organisationen für die Gesellschaft und für die Ausdifferenzierung von Verfahren bereitstellen. Bei der Ausbildung normativer Verhaltenserwartungen wurde zudem zwischen Personen, Rollen, Programmen und Werten als sachlichen Identifikationspunkten sozialer Erwartungsbildung differenziert. Darüber hinaus habe ich auf die Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung zurückgegriffen.

Für die anschließende Fallstudie wurde empirisches Material aus der Frühneuzeitforschung über das RKG zusammengetragen. Die (rechts-)historische Literatur habe ich dazu anhand der funktionalen Methode ausgewertet und aufbereitet. Die Annahme, dass es sich bei der Gründung des RKG um eine originäre Organisationsbildung handelt, konnte aus einer dia- und synchronen Vergleichsperspektive gewonnen werden, in der verschiedene Formen der Rechtsprechung und Rechtsausbildung im Spätmittelalter mit den Bedingungen der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung in der Frühen Neuzeit kontrastiert wurden. Für eine originäre Organisationsbildung spricht ex negativo, dass sich in den angelehnten Erwartungs- und Entscheidungskontexten vor der Gründung des RKG keine direkten Hinweise auf organisationsförmige Strukturen finden lassen. Das RKG entstand mit anderen Worten nicht in Bezug auf andere (bestehende) Organisationen. Aus der einschlägigen historischen Literatur lässt sich vielmehr entnehmen, dass Universitäten und Gerichte in der Zeit als Personenverbände konstituiert waren. Insbesondere die Reichshof- und Königliche Kammergerichtskanzlei waren an die Person des Reichsoberhauptes und des Erzkanzlers gebunden

In diesem Zusammenhang konnte rekonstruiert werden, dass trotz der hohen Vielfalt an unterschiedlich institutionalisierten Rechtsgraden in der vormodernen Gesellschaft ein Teil der Normbestände bereits Gegenstand kollektiv bindender Entscheidungen auf dem Reichstag wurde. Zu dem geringen Teil positivierter Rechtsnormen lässt sich Ende des 15. Jahrhunderts auch die Gründung des RKG als höchstes Gericht zählen. Aus der vorangegangenen Reichsreformdebatte um die Abschaffung des Fehdewesens kann ein gesellschaftsübergreifender Problemdruck einer auf physischer Präsenz beruhenden Rechtsprechung beobachtet werden. Vor dem Hintergrund der Gewaltkonflikte und des Rechtsvakuums im Alten Reich lässt sich die Gründung des RKG als eine originäre Organisationsbildung verstehen, mit der die oberste Rechtsprechung von der Anwesenheit des Reichsoberhaupts entkoppelt und stellvertretend an ein Entscheidungsverfahren gebunden wurde, das einem Schriftprimat unterlag und in das professionelle Anwälte und Richter mit eigenen Rollen involviert waren.

Die vielfältigen empirischen Anhaltspunkte für die historische Umstellung der obersten Rechtsprechung von den Bedingungen der Interaktion hin zu formaler Organisation werden nachstehend in Form eines Thesenüberblicks zusammengefasst: Zentral ist zunächst, dass sich in der Gerichtsordnung verschiedene Verhaltenserwartungen finden, die personen- und standesunabhängig in Form einer arbeitsförmigen und hauptamtlichen Mitgliedsrolle definiert wurden. Charakteristisch für das RKG war dabei eine eigentümliche Mitgliederstruktur. Neben der reichsrechtlich abgeleiteten Doppelspitze leisteten die Assessoren die Rechtsprechung vor Ort, dessen Arbeit und Beziehung zur Umwelt der Streitparteien durch die Kanzlei verwaltet wurde. Während das kamerale Gerichtskollegium eine regelmäßige Besoldung durch die Reichsversammlung erhielt, finanzierte sich die Kanzlei über eigene Taxeinkünfte und die Gebühren für Protokolle und Abschriften. Anwälte (Advokaten) und Streitverteidiger (Prokuratoren) fungierten am RKG qua Zulassung als äußere bzw. mittlere Grenzstelle zwischen dem richterlichen Gerichtskolleg, der Kanzlei und dem Publikum der Streitparteien.

An der internen Trennung von Gerichtskanzlei und Gerichtskollegium wird am RKG bereits die dreiteilige bzw. duale Organisationsstruktur deutlich, wie sie heute etwa in Krankenhäusern, Landesrundfunkanstalten, Kirchen und Hochschulen kennzeichnend ist. Dieser Organisationstypus ist dadurch geprägt, dass er neben einer ‚politischen‘ Spitze und der damit verbundenen Rechtsbindung aus zwei übergreifenden Einheiten mit konfligierenden Rationalitäten besteht: Der eigentliche Kern der (medizinischen, journalistischen, rechtlichen, pädagogischen, theologischen, usw.) Leistungen wird durch professionelle Standards, Entscheidungsverfahren und Rituale zusammengehalten. Die Verwaltung kümmert sich um die Abnahme der im Kern geleisteten Arbeit.Footnote 1

Die Übernahme einer besoldeten und unbesoldeten Mitgliedsrolle war am RKG an einen Amtseid gebunden, mit dem sich die Personen auf die Einhaltung der geltenden Rechtsnormen verpflichteten. Zu den formalen Verhaltenserwartungen innerhalb der Richterrolle zählten insbesondere eine akademische Fachqualifikation, die von dem Kollegium selbst durch Bewerbungsprüfungen kontrolliert wurde, Verschwiegenheit, Verbote von Nebentätigkeiten und der Geschenkannahme sowie die Ablösung von konkurrierenden Loyalitäten und Dienstverhältnissen. Auch die Fortbildung des kameralen Verfahrensrechts lässt sich für die Assessorenschaft als Mitgliedschaftsbedingung begreifen.

Aus einer verfahrensbezogenen Perspektive habe ich weiterführend argumentiert, dass der Kameralprozess organisatorisch in zwei stark schriftbasierte Entscheidungsorgane – Audienz und Senat – mit jeweils rigiden Ablaufordnungen differenziert war. Die historische Einsicht ist, dass ein solches Maß an professioneller Formalität bzw. formaler Professionalität „bis ins 19. Jahrhundert hinein sonst selten zu finden“ (Stollberg-Rilinger 2013a, 12) war. Die zeitliche, sachliche und soziale Trennung der Fallbearbeitung in Audienz und Senat wurde als Hinweis auf eine funktionale Spezifizierung und Verschachtelung von Verwaltungs- und Rechtsverfahren durch formale Organisation gewertet. Die rigiden Verfahrensanforderungen konfligierten dabei oft mit den gesellschaftlichen Ansprüchen an die Darstellung von Rechtsansprüchen.

Ausgehend von der Gründungsentscheidung durch Reichsoberhaupt und Reichsstände zeigt sich hinsichtlich der Strukturausprägungen einer organisierten Rechtsprechung, wie sich eigentümliche Dynamiken zwischen formalen Entscheidungsabhängigkeiten, informalen Folgeproblemen und darauf bezogenen (in-)formalen Problemlösungen ausgebildet haben. Mit einer funktionalen Verschachtelung von Verfahren waren beispielsweise brauchbar-illegale Kontaktsysteme verbunden, die zur Beschleunigung von Verfahrensentscheidungen genutzt wurden.

Entsprechend der externen Entscheidungsabhängigkeit von einer reichsrechtlichen Mitgliederumwelt waren Strukturänderungsentscheidungen hinsichtlich der Personalselektion, der hierarchischen Kommunikationswege und der gerichtlichen Entscheidungsregeln am RKG weitgehend von kollektiv bindenden Konsensentscheidungen seitens des Reichsoberhaupts und der Reichsstände abhängig. Die Gründungsentscheidung sowie die damit verknüpfte Inklusion und Repräsentation der „guten Gesellschaft“ in die Gerichtsspitze war in diesem Sinne Ausdruck dafür, dass die Assessorenschaft selbst nur eingeschränkt über Strukturänderungen disponieren konnte.

Der Anspruch, die ständische Heterogenität der oberen Mitgliederumwelt über die Formalstrukturen gerichtsintern abzubilden, hatte hohe Entscheidungslasten sowohl für die reichsrechtlichen als auch für die kameralen Mitglieder zur Folge. Dass das RKG einen wesentlichen Teil seiner Formalstruktur im Spannungsfeld mit seiner reichsrechtlichen Mitgliederumwelt bezog, spiegelt sich insbesondere in den weitläufigen Abstimmungsregeln und Präsentationsschlüsseln zur Auswahl der Visitatoren und Assessoren. Die geringe Entscheidungsautonomie der kameralen Mitgliederumwelt wurde teilweise durch einige Zugeständnisse seitens des Reichstags aufgebrochen. Auch wenn das RKG bzw. die Kameralen keinen Einfluss auf die Rechtsetzung der Reichstagsgesandten – sei es in Form von Reichs- oder Visitationsabschieden – hatten, war die kamerale Mitgliederumwelt nicht ohne Entscheidungsbefugnisse und informale Einflussmöglichkeiten bei der Anpassung der gerichtlichen Formalstruktur. In Zeiten einer existenziellen Bedrohung konnten die Assessoren beispielsweise selbst über Standortverlegungen entscheiden. Dieser Autonomiegewinn wurde jedoch durch unzureichende Zuwendungen und Konflikte bei den Umsiedlungsverhandlungen mit den jeweiligen städtisch-ständischen Vertretern in den Magistraten und Stadträten eingeschränkt.

Gemäß der verabschiedeten Gerichtsverfassung waren Änderungen in der Formalstruktur nicht nur über Reichstagsentscheidungen möglich. Ein wichtiger Mechanismus zur Kompensation der reichsrechtlichen Entscheidungsabhängigkeiten waren die Gemeinen Bescheide, die als eine Art Ersatzeinrichtung für Nichtentscheidungen seitens des Reichstags bzw. der Hierarchiespitze fungierten. Durch das Formulieren Gemeiner Bescheide konnten die Assessoren insbesondere das Prozessrecht und damit die Bedingungen der Rechtsprechung am RKG anpassen. Indem die Gemeinen Bescheide teilweise auch Nichtmitglieder adressierten, konnten die Assessoren einen Beitrag zur Institutionalisierung einer gesellschaftlichen Rechtsstruktur leisten. Gleichwohl sind die damit formulierten Verhaltenserwartungen nicht mit einem durch Parlamente positivierten Recht in funktional differenzierten Gesellschaften gleichzusetzen.

Als Ausgleichslösungen für die besondere Formstrenge am RKG etablierten sich verschiedene informale Praktiken. Im Umgang mit den relativ hohen Repräsentationserwartungen der reichsrechtlichen Mitgliederumwelt lässt sich die Abwesenheit der Assessoren als eine brauchbar-illegale Praxis verstehen. Als brauchbar können die richterlichen Absenzen in der Audienz insofern qualifiziert werden, weil die Urteilsfindung auf der Hinterbühne in den Schreibstuben sowie in den nachgelagerten Senatsberatungen stattfand. Die informale Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Zweckdarstellung hin zur Zweckherstellung löste das Problem, dass die chronische Unterbesetzung – infolge der unzureichenden Unterhaltszahlungen seitens der Reichsstände – in Teilen kompensiert werden konnte.

Aufseiten der Nichtmitglieder wurden demgegenüber informale Kontaktsysteme als Ausgleichsmechanismen für die hohe Ausdruckskontrolle in den Audienzen eingerichtet. Der Aufbau informaler Kontaktsysteme zwischen Nichtmitgliedern und dem RKG-Personal löste das Problem, dass angesichts der Exklusivität der Schriftkommunikation und der hohen Formzwänge einer nach Umfragen und Terminen programmierten Audienzordnung nur begrenzte Möglichkeiten zur anwaltlichen Darstellung der Streitparteien zur Verfügung standen. Die organisatorische Stilisierung bedeutete, dass die Prokuratoren die Mehrdeutigkeiten in der Kommunikation mit dem Gericht nur unzureichend auf der formalen Vorderbühne abbauen konnten. Vor dem Hintergrund der Unsicherheiten über den Ausgang des Verfahrens lassen sich auch die regelmäßigen Ausschweifungen der Prokuratoren und die Formalisierung der Sollizitatur als funktionale Problemlösungen begreifen.

Mit Blick auf die Formalstruktur im Besonderen – die sogenannten Entscheidungsprämissen – zeichnet sich in Anbetracht des Schriftlichkeitsprimats am Gericht ein Schwerpunkt in der Ausbildung von Grenzstellen, professionellen Rollen und konditionalen Programmen ab. Der Zugang zu kameralen Mitgliedsrollen war durch das Ablegen eines Amtseids formalisiert. Die darin formulierten Verhaltenserwartungen wurden in Konfliktsituationen als dominante Erwartungsstruktur aufgefasst. Die gerichtlichen Mitgliedsrollen und Kommunikationswege waren insgesamt hierarchisch differenziert und funktional auf den Zweck der Rechtsprechung spezifiziert. Neben dem Kammerrichter als oberstem Vorgesetzten und höchstem Systemvertreter des Gerichts vor Ort, an dessen Rolle besondere Repräsentationsanforderungen gestellt wurden, lassen sich mit den Prokuratoren und den Boten mittlere und untere Grenzstellen bei der Rechtsprechung am RKG unterscheiden. Die Einrichtung hierarchisch abgestufter Grenzstellen verdeutlicht dabei eine interne Differenzierung des Außenverkehrs bei der Rechtsprechung.

Interessant ist dabei, dass sowohl die Boten als auch die Prokuratoren jeweils in spezifischen Konkurrenzverhältnissen standen. Während die Boten ihre Rolle durch formale Strukturanpassungen gegenüber den (kaiserlichen) Notaren zu stabilisieren suchten, wurden die Aufstiegserwartungen der Prokuratoren insbesondere durch informale Kommunikationsschranken seitens der Assessoren begrenzt. Zugleich führten die Assessoren die Dienstaufsicht über die Prokuratoren, die sie in Form von Gemeinen Bescheiden bei informalen Abweichungen (z. B. bei mündlichen Ausschweifungen oder beim Tragen des Degens) in Teilen reformalisieren konnten.

Mit der Zulassungspflicht der Prokuratoren als einzige Prozessbevollmächtigte am RKG war ein Anwaltszwang formalisiert. Die Prokuratoren hatten damit im Vergleich zu den Advokaten ein Monopol auf die Kommunikation mit dem Gerichtspersonal in der Audienz. Formal war der Zugang zu den Anwalts- und Richterstellen durch fachliche Qualifikation und Spezialisierung – insbesondere durch Praktika – beschränkt. Zwar wurden Kandidaten vom Kaiser, den Kurfürsten und den Reichsständen gemäß einem geografisch-ständisch-konfessionellen Verteilungsschlüssel vorgeschlagen. Die Entscheidung über die Annahme einer solchen Präsentation wurde jedoch vom Assessorenkollegium selbst nach leistungsbezogenen Selektionskriterien getroffen. Neben einem akademischen Studium hatten die Anwärter mehrere Zulassungsprüfungen zu absolvieren.

Zugleich weist die Mitgliedsrolle der Assessoren hohe Anteile an Professionalisierung auf. Zu den Attributen einer richterlichen Professionalisierung zählten insbesondere die kollegiale Kontrolle und die Selbstverpflichtung auf eine Gemeinwohlorientierung. Zusätzlich lässt sich auch für die Prokuratoren eine anwaltliche Professionalisierung beobachten. In Bezug auf die Entscheidungsprämisse Programme zeigt sich, dass sich sowohl die Entscheidungen in den Audienzen als auch die Entscheidungen im Rahmen der Aktenrelationen und Senatsberatungen an sachlichen Konsistenzanforderungen und Dokumentationspflichten orientierten, die sich jeweils wechselseitig bedingten. Inhaltliche Widerspruchsfreiheit der Entscheidungen bedurfte der Rekonstruktion vergangener Entscheidungen, die erhebliche Systematisierungsleistungen erforderten. Insgesamt trugen die konditionale Programmierung und die Konsistenzkontrolle in der Rechtsprechung zur funktionalen Spezifizierung des Entscheidungsverfahrens und damit zur allmählichen Ausdifferenzierung einer eigenlogischen Rechtskommunikation am RKG bei.

Hinsichtlich der Außendarstellung lässt sich eine gerichtsinterne Hervorhebung ständischer Repräsentationserwartungen beobachten. Den Kameralen wurden dazu qua Mitgliedschaft standesartige Privilegien und Exemtionen zugesprochen, durch die sie nach außen einen Gerichtsstand bildeten. Die an standesartigen Repräsentationserwartungen orientierte Außendarstellung des RKG kollidierte mit der städtischen Gesellschaftsstruktur. Dass das RKG einen wesentlichen Teil seiner Formalstruktur aus seiner reichsrechtlichen Mitgliederumwelt bezog, war nicht nur eine Einschränkung, sondern bot auch ein Repertoire an – wenngleich zunehmend anachronistischen – Ausdrucksformen zur Abgrenzung der Mitgliedsrolle gegenüber der städtischen Umwelt. Vergleicht man darüber hinaus die bildlichen Audienzdarstellungen im historischen Zeitverlauf, so zeichnet sich eine tendenzielle Umstellung von einer stark reichsständisch-religiösen Rechtssymbolik und Ikonografie hin zur Abbildung brauchbar-illegaler Verhaltensweisen der Assessoren ab. In der Reduktion der Zweckdarstellung auf die kamerale Mitgliederumwelt versinnbildlicht sich, dass sich die Rechtsprechung zunehmend durch sich selbst legitimierte und ohne Referenzen auf ihre reichsrechtlichen Gründungsinstanzen auskam.

(b) Als Antwort auf die Frage, inwiefern eine historisch-soziologische Perspektive auf das Verhältnis von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung die Sicht auf den Gegenstand verändert, vermag die hier vorgelegte Untersuchung erstens für die Einsicht sensibilisieren, dass die vormoderne Gesellschaft – provokativ formuliert – „moderner“ in ihrer sozialen und gesellschaftlichen Ordnungsbildung war als mit der Gegenwartorientierung der Soziologie suggeriert wird. Umgekehrt erscheinen gegenwärtige Strukturbesonderheiten von Organisationen aus der Distanz und im historischen Vergleich weniger „modern“. Die nachgezeichneten Zusammenhänge der Organisationsbildung des RKG in einer vormodernen Gesellschaft hinterfragen damit den soziologischen Konsens, nach dem Organisationen als eine neuzeitliche Errungenschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts angesehen werden. In gesellschaftsbezogener Perspektive fundiert die Erkenntnis über eine Teil-Positivierung des Rechts und einer darauf basierenden Gerichtsgründung zudem die systemtheoretische These, dass sich der Umbau von der ständischen zur modernen Gesellschaft mithilfe des Rechts vollzogen hat. Mit der empirischen Fundierung einer auf organisierte Strukturbildung umgestellten Rechtsprechung wird dabei die Aufmerksamkeit auf Brüche und Übergänge zwischen einer stratifizierten, „unorganisierten Gesellschaft“ einerseits und einer funktional differenzierten Gesellschaft einschließlich einer Pluralität an Organisationen andererseits gelenkt. Ein Beispiel dafür ist die tendenzielle Umkehrung gesellschaftlicher Rangstrukturen, die sich am RKG im Zusammenfallen von ständischer und gerichtlicher Hierarchie zeigt. Wohlgemerkt sind ständische und gerichtliche Hierarchie hier nicht als identisch zu verstehen, denn die Erwartungsbildung der gesellschaftlichen Rangordnung vollzog sich auf der Ebene von Personen und Werten, während die Organisationshierarchie des Gerichts über Mitgliedsrollen strukturiert war. Dass Reichsoberhaupt und Reichsstände sowohl die gesellschaftliche Oberschicht als auch die organisatorische Spitze des RKG bildeten, lag damit historisch vor einer übergreifenden Umkehrung bzw. Verlagerung der gesellschaftlichen Hierarchie in die Organisationen einer funktional differenzierten Gesellschaft. Mit solchen Diskontinuitäten ist, wie eingangs erwähnt, nicht nur in der Vormoderne zu rechnen, sondern auch in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft.

Zweitens öffnet die vorgelegte Untersuchung den Blick dafür, dass sich in Rechtsorganisationen trotz oder aufgrund der hohen Rechtsbindung eine gewisse formale Entscheidungsautonomie im Umgang mit Strukturproblemen entwickelt – bzw. diese seitens der ‚politischen‘ Spitze konzediert wird. Neben gesellschafts- und organisationstypischen Einsichten wurden in dieser Arbeit drittens genetische Fragen zu modernen Sozialformen aufgedeckt, die bislang kaum genauer reflektiert wurden. Dazu zählt der Vorschlag, Fragen der Organisationsgenese und Rechtsfortbildung mit einer verfahrenssoziologischen Perspektive zu verknüpfen.

Einige Untersuchungsgegenstände, die für eine Überprüfung und Ergänzung der hier entwickelten Thesen aufschlussreich erscheinen, sollen zum Abschluss blitzlichtartig skizziert werden. Empirisch naheliegende Hinweise für Organisationsbildungen in der Vormoderne können anhand der Frage abgeleitet werden, inwiefern die Formalstrukturen am RKG Referenzen auf andere kollektive Erwartungs- und Entscheidungskontexte einer arbeitsteiligen Kooperation erkennen lassen. In der Formalstruktur des RKG zeigt sich beispielsweise, dass ein geldliches Salär, das römische Recht, Stellvertreterrechte, Schriftlichkeit und eine universitäre Ausbildung Strukturelemente sind, die – gewissermaßen aus der Gesellschaft stammend – selektiv rekombiniert und als Mitgliedschaftsschranke gerichtsintern formalisiert wurden. Entsprechend bieten sich Phänomene an, die heute als Banken, Klöster, Gerichtsbarkeiten, Buchmacher- und Malerwerkstätten oder Ausbildungseinrichtungen bezeichnet werden und an denen Fälle einer möglichen originären oder abgeleiteten Organisationsbildung erschlossen werden können. Zentral ist dabei die Frage, inwiefern mit der Gründung auf einen Bedarf an kollektiver Aktion reagiert wurde, der nicht mehr unter den Bedingungen von Interaktion übergreifend gedeckt werden konnte. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um eine offene Zurechnungsfrage, für deren Annäherung die zeitgenössischen Selbstbeschreibungen und historischen Forschungen organisations- und gesellschaftstheoretisch angeleitet zu prüfen sind.

Auf der Basis einschlägiger Fallstudien zu historischen Entscheidungsverfahren und ihrer Organisationswerdung können sodann auch vergleichende Anschlussforschungen Aufschluss über die Frage geben, ob und inwiefern rechtliche Bindungen als Bedingung für die eigentümliche ‚Vorzeitigkeit‘ der Entstehung von Rechtsorganisationen und ihrer Strukturtypik angesehen werden können. Weiterführend erscheinen hier Kontrastierungen mit anderen Organisationstypen als bislang unausgeschöpfte Zugriffsweisen. Für eine gesellschaftstheoretisch reflektierte und historisch informierte Organisationssoziologie erweisen sich dabei solche Phänomene als produktiv, die anhand empirischer Forschungen hinter die Globalthesen einer komplementären Ausdifferenzierung von Organisations- und Verfahrenssystemen blicken.

Weitere Impulse für eine historisch-soziologische Organisationsforschung könnten beispielsweise von Studien ausgehen, die sich der Herauslösung der universitären Ausbildung aus geistlichen und weltlichen Personenverbänden widmen. Aus Sicht der Universitätsgeschichtsschreibung ist hier die akademische Gerichtsbarkeit ein Zugang, „an dem sich die korporative Autonomie und rechtliche Privilegierung der Universitäten zeigt“ (Füssel 2020, 261). Die Professionalisierung von Rollen und die Lockerung patriarchaler Herrschaft verdichtet sich dabei einmal mehr als ein bedeutsamer Aspekt der Strukturbildung im Übergang von der ständischen zur funktional differenzierten Gesellschaft. Mit Blick auf die Ausdifferenzierung von historischen Organisationen erscheinen auch Anschlussforschungen über die Ausbildung eines professionellen Berufsstandes vielversprechend. Eine genauere Einschätzung der Ausdifferenzierung berufsständischer Professionsrollen in der Frühen Neuzeit kann dabei nicht allein auf der Grundlage der Mitgliedsrollen einer Gerichtsorganisation erfolgen. Die Untersuchung der bislang (quellenmäßig) nicht ausgiebig erschlossenen Gerichtskanzlei vermag hier weitere Aufschlüsse über die Entstehung der typisch dreigliedrigen Organisationsteilung zwischen ‚politischer‘ Spitze, professioneller (Fall-)Arbeit und bürokratischer Verwaltung zu geben.

Wie Luhmann bemerkt, gerät nicht nur die Rechtskommunikation, sondern das „Gesamtsyndrom dieser Institution professioneller Praxis […] heute in viel diskutierte Krisen durch zunehmende Abhängigkeit von technischen Einrichtungen, von Organisationen und von Texten und Vorschriften, die Interaktion auf der Basis erwartbaren persönlichen Vertrauens erschweren” (2011, 18). In Bezug auf die Rolle von Schrift und den zunehmenden Einsatz digitaler Technologien in der modernen Gesellschaft bieten sich zudem Übergangsuntersuchungen an, in denen die Bedingungen und Grenzen einer automatisierten (inter- und intraorganisatorischen) Verschachtelung von Verfahren reflektiert werden (vgl. Schwarting/Ulbricht 2019).

Neben empirischen Fragen zum Verhältnis von Professionalisierung, Organisation und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit kann sich nicht zuletzt ein Blick auf die Publikumsrollen als produktiv erweisen. Im Vergleich zu Unternehmen, die angesichts ihrer Refinanzierungsautonomie nicht auf Kunden warten können, wird Gerichten qua ihrer rechtlich abgeleiteten Zweck- und Formalstruktur ein Publikum zugewiesen. Mit Bezug auf staatliche Verwaltungen hat Luhmann die Ausbildung einer gewaltfreien „Wartefähigkeit der Umwelt“ (2014, 14; vgl. auch 1971, 181 ff., 2013) als eine moderne Errungenschaft beschrieben. Am RKG zeigt sich mit der Formalisierung der Sollizitatur ein Ausgleichsmechanismus, wie unbestimmtes in bestimmtes Warten transformiert wurde. Zu aktiv darf ein Publikum für eine Organisation aber offenbar nicht werden, will es nicht riskieren, aufgrund takt- oder formloser Querulanz abgewiesen zu werden. In der historischen RKG-Forschung finden sich beispielsweise Fälle, in denen die Assessoren von „aufdringlichen Sollizitanten“ (Oestmann 2013, 57 f.; siehe auch Fuchs 2002, 54) berichten, weil deren Gesuche um Prozessbeschleunigung „übermäßig“ (Fuchs 2002, 90) formuliert wurden oder die Absender nicht eine dem „Amte entsprechende Höflichkeit“ (ebd.) gewahrt hatten. Vor diesem Hintergrund scheint der Zusammenhang von Publikumskonstruktionen und Resonanzfähigkeit (vgl. Luhmann 2004, 127 ff.) für Anschlussforschungen instruktiv. Impulse für eine historisch-interessierte Organisationsforschung lassen sich in dieser Hinsicht auch aus einer entsprechend fokussierten Philologie gewinnen. Wie Rupert Gaderer (2011) herausstellt, wurden Querulanten bei Kleist und Kafka noch pathologisiert, während sie heute für die Behinderung der Gerichte nur noch Gebühren zahlen.

Historische Perspektiven auf die konkreten Konstellationen sozialer Differenzierung (hier am Fall von Organisations-, Verfahrens-, und Professionsbildung) und gesellschaftlicher Differenzierung (hier für die stratifizierte Gesellschaft) sind für die Soziologie zusammengefasst deshalb erkenntnisfördernd, weil sie einen Vergleichshorizont schaffen, in dem sich die Gegebenheiten der Gegenwart lozieren und relativieren lassen. Bei der Suche nach Ausdifferenzierungsmomenten in Form kollektiver Erwartungs- und Entscheidungszusammenhänge besteht der Mehrwert historisch-soziologischer Forschungen insbesondere darin, unreflektierte Vorannahmen über Modernität bewusst zu machen, die ahistorischen Beschreibungen sozialer Phänomene oft zugrunde liegen.

Für Geschichtswissenschaft und Soziologie mag das Forschungsfeld einer historisch-soziologischen Organisationsforschung schließlich auch dazu beitragen, die Spannungen zwischen der fachlichen Einheit (unter Betonung gegenständlicher und epochaler Erklärungskompetenzen) und der Auflösung in Subdisziplinen (entlang bestimmter Theorien und Methoden) auszubalancieren. Auf der Grundlage differenzierter Begriffsarbeit ist mit einer genuin historisch-soziologischen Organisationsforschung – last but not least – die Chance verbunden, das Verhältnis von historischer Empirie und soziologischer Theorie weniger arbeitsteilig als vielmehr in seiner produktiven Angewiesenheit zu verstehen. Die dazu vorgestellte Forschungsprogrammatik verlangt dazu nach (organisierten) Bündnispartnern.