Aufbauend auf der komprimierten Illustration der gesellschaftlichen Strukturen, an denen sich die Rechtskommunikation vor der Gründung des RKG orientierte, und der Begründung für die These einer originären Organisationsbildung folgt nachstehend die historisch-empirische Untersuchung der Organisationsförmigkeit des RKG. Im Zentrum stehen dabei ausgewählte Situationsdefinitionen, Rollenauffassungen und Regeln, die Hinweise auf die Ausbildung formaler und informaler Verhaltenserwartungen sowie deren Trennung gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen geben.

6.1 Formale Strukturausprägungen

Im ersten Teil der historisch-empirischen Rekonstruktion der Organisationsförmigkeit des RKG wird gefragt, inwiefern die Rechtsprechung am Gericht durch formale Erwartungen vorgezeichnet war und wie über deren Änderung entschieden wurde. Bei der damit angesprochenen Formalisierungskompetenz gilt es zu spezifizieren, inwiefern für Entscheidungen über Strukturänderungen bestimmte Sonderaufgaben und Stellen eingerichtet wurden. Was konnte entschieden werden, das nicht schon durch die Rechtsbindung an Reichstagsbeschlüsse vorentschieden war? Und inwiefern wurde bei Strukturänderungen Rücksicht auf die Erwartungen von Nichtmitgliedern genommen?

Der aus den historischen Forschungen gewonnene Eindruck ist, dass die Rechtsprechungsentscheidungen am RKG durch Verhaltenserwartungen strukturiert waren, die nicht von einer Obrigkeit in persona bestimmt wurden. Vielmehr war die Anerkennung der sogenannten Reichskammergerichtsordnung (RKGO) als Mitgliedschaftsbedingung formuliert. Die Gerichtsordnung und ihre Änderungen beruhten dabei weitgehend auf den Beschlüssen, die auf der Reichsversammlung im Konsens verabschiedet wurden. Als Formalstruktur lässt sich die Gerichtsordnung deshalb verstehen, weil sie die Mitglieder am RKG qua Amtseid auf die Geltung der darin verschriftlichten Erwartungen verpflichtete. Im Falle von Abweichungen waren zudem Sanktionen formuliert, die – wie nicht zuletzt der Amtsentzug zeigt – auch faktisch vollzogen wurden (siehe zum Amtseid der Kameralen Abschn. 6.3.5).Footnote 1

Spezifisch für das Gericht war aus organisationssoziologischer Perspektive eine dreiteilige Mitgliederstruktur: Reichsoberhaupt und Reichsstände (bzw. die von diesen ernannten Reichstagsgesandten) bildeten die obere Mitgliederumwelt des RKG, die nicht nur über die Rechtsetzung im Reich, sondern auch über die gerichtliche Formalstruktur disponierten (siehe Abschn. 6.1.1). Mit dieser Wiedereinführung des monarchisch-ständischen Dualismus von Reichsoberhaupt und Reichsständen in die Hierarchie des RKG wurde zugleich die „gute Gesellschaft“ in die Gerichtsorganisation inkorporiert.

Neben der reichsrechtlich abgeleiteten Doppelspitze lassen sich die „Kameralen“ vor Ort unterscheiden, die die Rechtsprechung am Gerichtssitz leisteten (siehe Abschn. 6.2). Zu diesem zählte einerseits das richterliche Gerichtskollegium (Kammerrichter und Assessorenschaft) und andererseits das Personal der Kanzlei (Verwalter, Pronotare, Notare, Boten, Kopisten, etc.), die überleitend besondere Erwähnung findet: Im Unterschied zum Gerichtskollegium wurde bei der Einrichtung der RKG-Kanzlei auf die Struktur des älteren kammergerichtlichen Beurkundungs-, Tax- und Registerwesens zurückgegriffen. Dieser Umstand beruhte „zunächst auf dem konservativen Charakter aller Kanzleipraxis überhaupt“, aber auch personell „auf dem Verhältnis zum Mainzer Erzkanzellariat, das stets eine gewisse Gleichförmigkeit aller ihm unterstellten Reichskanzleien aufrechterhielt“ (Smend 1911, 311). Wie oben erwähnt, hatte die Königliche Kammergerichtskanzlei unter Friedrich III. zum Hof gehört und der Reichskanzlei unterstanden. Innerhalb derselben hatte die Königliche Kammergerichtskanzlei zwar durch die Verpachtungen an den Mainzer Erzbischof Adolf II. von Nassau „eine gewisse Selbstständigkeit besessen“ (ebd.); aber keine institutionelle Eigenständigkeit (vgl. Magin 2004, 5 ff.; siehe auch Diestelkamp 1997; 2014; Luger 2015).

In den ersten Jahrzehnten erscheint die RKG-Kanzlei aufgrund der personellen Kontinuität „wie ein abgelöstes Fragment der Reichskanzlei“ (Smend 1911, 320). So blieben bei ihrer Separierung aus der übergeordneten Reichskanzlei die Stellen in der Hoheit des Erzbischofs von Mainz als geistlichen Reichsfürsten und Erzkanzler, der diese naturgemäß als „treuer Anhänger der Romkirche“ (Diestelkamp 1997) katholisch besetzte.Footnote 2 Ab 1530 – „wohl in Rücksicht auf das Anwachsen der Kanzleigeschäfte und des Personals sowie auf die nunmehr bestehende Unabhängigkeit des Gerichts vom Hof und damit auch der Kanzlei von der Reichskanzlei […]“ (Smend 1911, 320 f.) – erhielt sie einen eigenen Kanzleiverwalter. Der Kanzleiverwalter vertrat die erzkanzlerischen Rechte, bewahrte die Gerichtssiegel und führte die Aufsicht über die Anstellung der Kanzleipersonen (vgl. ebd., 319 f.).

Zwischen dem richterlichen Gerichtskolleg, der Kanzlei und dem Publikum der Streitparteien fungierten am RKG die Anwälte (Advokaten) und Streitverteidiger (Prokuratoren) qua Zulassung als äußere und mittlere Grenzstelle. Die Kameralanwälte unterstanden dabei der Disziplinaraufsicht der Assessoren.Footnote 3 Im Gegensatz zum Kanzleiverwalter, der „juristisch gebildet“ und „regelmäßig auch graduiert“ (Smend 1911, 321) sein musste, und damit „sozial stets als zum eigentlichen Gerichtskolleg gehörig galt, bildeten die Pronotare, Notare und Leser zusammen mit den Advokaten und Prokuratoren die Klasse der sogenannten Subalternen am Gericht“ (ebd., 322), der Mitglieder eines untergeordneten Ranges. Die „finanzielle Unabhängigkeit und […] wirtschaftliche Fundierung“ (ebd., 325) der Kanzlei ähnelte dem Zustand zur Pachtzeit des Mainzer Erzbischof Adolf II. vor der Gründung des RKG: Während die Assessorenschaft durch Abgaben der Gerichtsspitze bzw. der Reichsversammlung besoldet wurde, finanzierte sich die Kanzlei über eigene Taxeinkünfte und die Gebühren für Protokolle und Abschriften (vgl. ebd., 326 ff.; Diestelkamp 1997).

Mit der Trennung eines rechtsprechenden Gerichtskollegs und einer verwaltungsartigen Gerichtskanzlei zeigt sich am RKG bereits die duale bzw. dreiteilige Organisationsstruktur, wie sie heute etwa in Krankenhäusern, Landesrundfunkanstalten, Kirchen und Hoch(-Schulen) charakteristisch ist. Dieser Organisationstyp zeichnet sich dadurch aus, dass er neben einer ‚politischen Spitze‘ und der damit verbundenen Rechtsbindung aus zwei übergreifenden Einheiten mit jeweils eigenen lokalen Rationalitäten besteht, die in einem Zielkonflikt stehen: Einem eigentlichen Leistungskern (Ärzte, Journalisten, Professoren, Lehrer, Theologen, usw.), der durch professionelle Standards, Entscheidungverfahren und Rituale zusammengehalten wird, und einem Verwaltungsteil, der sich mit der Abnahme der im Kern geleisteten Arbeit bei einem spezifischen Publikum beschäftigt.Footnote 4

Aufbauend auf dieser besonderen Mitgliederstruktur des Gerichts veranschauliche ich am Beispiel des sogenannten Sesselstreits von 1757 die konfligierenden Rollenerwartungen zwischen dem Kammerrichter und den Assessoren. Als Anzeichen für die Ausbildung einer formalen Erwartungsordnung beschreibe ich, wie die Assessoren in ihrer Selbstdarstellung der formalen Gerichtsordnung Vorrang gegenüber den ständischen Repräsentationserwartungen zusprachen (Abschn. 6.1.2).

Mit der oben skizzierten Gründungskonstellation des RKG war eine hohe Rechtsbindung verbunden, nach der Änderungen hinsichtlich der formalen Ordnung von Konsensentscheidungen auf den Reichstagen abhängig waren. Ein Strukturwandel am RKG war vor diesem Hintergrund voraussetzungsvoll und entsprechend selten. Ein empirisches Beispiel für die relativ geringen Anpassungen in der Formalstruktur und den begrenzten Zuwachs an Entscheidungskompetenzen seitens des rechtsprechenden Personals ist, dass das RKG nach zahlreichen Umzügen innerhalb weniger Jahrzehnte schließlich mit dem Reichsabschied von 1530 die Möglichkeit erhielt, im Falle von existenziellen Bedrohungen selbst über vorübergehende Standortwechsel entscheiden zu können – wobei auf diese Option de facto nicht zurückgegriffen wurde (Abschn. 6.1.3).

Ein zweiter Entscheidungskontext zur Anpassung der Formalstruktur des RKG waren neben der Rechtsetzung auf den Reichstagen die sogenannten Visitationen, bei denen eine gesonderte Kommission durch Befragungen gerichtliche Änderungsgsbedarfe identifizierte. Aufgrund konfessioneller Spannungen und stratifizierter Rangkonflikte unter den Visitationsdelegierten fanden ab dem 18. Jahrhundert nur noch außerordentliche Visitationen statt. Trotz ihrer schwachen Ausprägung als Verfahren und ihres eher seltenen Zustandekommens bringen die Visitationen die potenzielle Reformfähigkeit des Gerichts zum Ausdruck.

Im sogenannten Bücherstreit wurde im Rahmen der „letzten Visitation“ von 1767 bis 1776 darüber verhandelt, inwiefern das Schreiben im Sinne einer Nebentätigkeit mit der Richterrolle vereinbar war. Anhand dieses Streits lassen sich für das RKG weitere Strukturaspekte formaler Organisation veranschaulichen. Dazu zählen neben der Problematisierung und Respezifikation von uneindeutigen Organisations- bzw. Erwartungsgrenzen das Bemühen um eine idealisierte, einheitliche Außendarstellung sowie das Verschieben von Konflikten auf die höhere Hierarchieebene (Abschn. 6.1.4).

Jenseits der Anpassungen der Gerichtsordnung durch Reichstags- und Visitationsabschiede waren auch Strukturänderungen in prozessrechtlicher Hinsicht durch die Assessoren selbst möglich. Auf Basis kollegialer Abstimmungen konnten diese in Form sogenannter Gemeiner Bescheide über die Formalstruktur des Gerichts bestimmen. Dass Entscheidungen über Strukturänderungen seitens der Assessoren getroffen werden konnten, ist deswegen erstaunlich, weil die Richterschaft formal unterhalb der reichsständischen und zugleich gerichtlichen Hierarchie lag. Bemerkenswert ist diese Einsicht auch deshalb, weil in der Organisationsforschung angenommen wird, dass Gerichte – ähnlich wie (Hoch-)Schulen – eine rigide Rechtsbindung aufweisen. Anhand der (Re-)Formulierung eines eingeschränkten Degenverbots während der Anwesenheit der Prokuratoren in den Audienzen lässt sich nicht zuletzt illustrieren, dass die Assessoren die Grenzen für den Einfluss gesellschaftlicher Statuserwartungen auf die Rechtsprechung regelmäßig (re-)definierten (Abschn. 6.1.5). In einem Zwischenfazit werden die gewonnenen Einsichten zu den behandelten Spezifika der gerichtlichen Formalstruktur zusammengefasst (Abschn. 6.1.6).

6.1.1 Reichsrechtliche Entscheidungsabhängigkeit und Repräsentation der „guten Gesellschaft“

Welche Hinweise lassen sich in den historischen Forschungen auf die Trennung von gesellschaftlichen und gerichtlichen Verhaltenserwartungen finden? Für die Ausbildung einer Formalstruktur am RKG spricht, dass über die Bedingungen der Rechtsprechung von den (Gründungs-)Mitgliedern selbst vorab entschieden wurde. Um Mitgliedsrollen handelte es sich bei den Kameral- und Kanzleistellen deshalb, weil sich diese jeweils qua Eid verpflichteten, der Gerichtsordnung ein „Monopol auf Legitimität“ (Luhmann 1999a, 64) zuzuerkennen. Aus den historischen Forschungen lassen sich dazu vielfältige Situationen entnehmen, bei denen gesellschaftliche Standeserwartungen mit Verweis auf die Amtspflichten abgewiesen wurden.

Spezifisch für die Formalstruktur am RKG war, dass mit der Gründung des Gerichts durch Reichsoberhaupt und Reichsstände eine Doppelspitze als obere Mitgliederumwelt institutionalisiert wurde (zur doppelbödigen Konstruktion des Reichs siehe Smend 1911, 286; Jahns 1990, 65; 2011, 42; Seyboth 1994, 68; Stollberg-Rilinger 2013b, 110): Mit der reichsrechtlich abgeleiteten Gründung des Gerichts wurde damit, so meine These, der monarchisch-ständische Dualismus als „gute Gesellschaft“Footnote 5 in die Hierarchie des RKG inkorporiert.Footnote 6 Zur „guten Gesellschaft“ gehörten im Alten Reich insbesondere die Kurfürsten, Fürsten, Bischöfe, Grafen, die Reichsstädte sowie die Äbte, die – mit Ausnahme der Ritter und einiger Klosterorden – die Stände der Reichsversammlung bildeten. Ein herausgehobener Teil der Gesellschaft stand vor diesem Hintergrund symbolisch, pars pro toto (Stollberg-Rilinger 2009, 211; 2016, 137, Herv. i. O.), für das politische Ganze. Der Allgemeinheitsanspruch der Oberschicht, sich selbst bzw. die ständische Gesellschaft auch in der Formalstruktur des Gerichts zu repräsentieren, findet beispielweise semantisch in der zeitgenössischen Selbstbeschreibung des Gerichts als des Kaisers und des Reiches Kammergericht seinen Ausdruck.Footnote 7

Aufschlussreich ist die Inkorporation der Doppelspitze in die Gerichtsstruktur auch deshalb, weil damit die differenzierungstheoretische These über die Umkehrung der Hierarchieverhältnisse zwischen Gesellschaft und Organisation empirisch greifbar wird (siehe dazu Luhmann 1972b, 51 ff.; 1997, 834; Kauppert/Tyrell 2014, 167; Tyrell 2008, 56 ff., 116): Während für die moderne Gesellschaft und die funktionalen Teilsysteme konstitutiv ist, dass sie nicht (mehr) hierarchisch strukturiert sind, sondern ihre Logiken vielmehr in einem ständigen Spannungsverhältnis stehen, sind Organisationen nicht ohne Hierarchie funktionsfähig. Die hierarchische Struktur in Organisationen repräsentiert dabei die Adressierbarkeit und Verteilung von Verantwortung, durch welche Konflikte entscheidbar werden (vgl. Luhmann 1999a, 172 ff., 239 ff.).

Wie mit dieser Arbeit veranschaulicht wird, ging dem modernen Hierarchieverzicht auf der Ebene der Gesamtgesellschaft eine Gleichzeitigkeit von ständischer Hierarchie und ihrer Repräsentation in der gerichtlichen Organisationshierarchie voraus. Gleichwohl war die Hierarchie der Gerichtsorganisation nicht deckungsgleich mit der ständischen Hierarchie der Gesellschaft des Alten Reichs. Diese wurde als eine lückenlose Rangordnung von Würdenträgern imaginiert, „die bei Päpsten und Kaisern begann, sich über Könige und Kurfürsten, Kardinäle und Bischöfe, Herzöge und Grafen fortsetzte und bei Doktoren und Magistern noch lange nicht aufhörte“ (Stollberg-Rilinger 2014b, 200). In den obrigkeitlichen Hofrangordnungen setzte sich dieser Anspruch fort, „nach deren Muster die ganze Untertanenschaft geordnet und zivilisiert werden sollte“ (Stollberg-Rilinger 2001, 405).

Die Ordnungsvorstellung der stratifizierten Gesellschaft beruhte auf der Regel, dass eine Person nicht nach verschiedenem Recht bzw. Rang beurteilt werden sollte (vgl. Stollberg-Rilinger 2001, 414). Ex facto oritur jus lautete das Grundprinzip der auf Tradition, Gewohnheit und Herkommen gegründeten Rechtsordnung, nach der aus einem Faktum auch dessen Geltung resultierte – zumindest solange niemand öffentlich protestierte (vgl. ebd. 2014b, 204). Eine einmal unwidersprochene Veränderung der Rangordnung konnte als Präzedenzfall (im doppelten Sinne des Wortes) gelten, der die Rechtslage und den eigenen Status bedrohte. Denn „[v]erglichen wurde nicht, wer man war, sondern verglichen wurde, wie man im Verhältnis zu anderen behandelt wurde“ (ebd. 2014b, 205).

Die Herstellung und Darstellung politischer Einheit nach dem Idealbild eines linearen Rangkontinuums war allerdings de facto von vielfältigen „Rangkonflikten“ (Stollberg-Rilinger 2001) gekennzeichnet. Die Streitigkeiten zwischen (vermeintlich) Standesgleichen im Alten Reich dokumentieren, dass der einzelnen Person immer weniger ein fester Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie zukam.Footnote 8 Für das Verständnis der Rangkonflikte ist zentral, dass im Verlauf der Frühen Neuzeit durch Nobilitierungen und Personenverbände unterschiedliche und inkommensurable Titel, Würden und Ämter verliehen wurden, die nicht mehr in eine transitive, gesamtgesellschaftliche Hierarchie gebracht werden konnten.

Dass standes- und amtsartige Ränge immer weniger eindeutig getrennt betrachtet werden konnten, führte zu reaktanten Bestrebungen der „guten Gesellschaft“, die Rangkonflikte (prozess-)rechtlich einzuhegen (vgl. Stollberg-Rilinger 2001, 405). Auseinandersetzungen um das soziale Ansehen einer Person gab es zwar auch im Mittelalter, aber gerade in der Frühen Neuzeit konnten Rangfragen nicht mehr innerhalb der Hofgesellschaft gelöst werden, sondern wurden zunehmend vor Gericht thematisiert. In den Rangrechtskompendien und Handbüchern manifestiert sich, wie die Aufrechterhaltung einer konsistenten ständischen Ordnung als ein „generelles Interesse des ganzen Gemeinwesens“ behauptet wurde und dass einzelne Rangkonflikte „nicht als moralisches Problem der individuellen Eitelkeit beider Parteien zu verstehen“ (ebd. 2001, 410) waren.

Interessanterweise betraf die Austragung spezifischer Rangrechtskonflikte in erster Linie die bürgerliche Elite, also die vielen Gruppen zwischen Adel und „Gemeinem Mann“ – z. B. Bürgermeister, städtische Räte und Ratsverwandte, Syndici, Stadtrichter, fürstliche Amtsträger, geistliche Diakone, Professoren und Doktoren –, die jeweils ganz unterschiedliche ständische Qualität besaßen und ihren Rang nach jeweils anderen Hierarchie-Ordnugen bemaßen. Fragen über die Hierarchisierung dieser Ränge wurden insbesondere zwischen dem niederen Adel und dem Briefadel ausgetragen. Zu letzterem zählten bürgerliche oder bäuerliche Häuser, die durch das Reichsoberhaupt – teilweise auch durch von diesem befugte fürstliche Familien und Personen – für besondere Dienste mit einem Adelsbrief- bzw. Adelsdiplom belohnt wurden (vgl. Stollberg-Rilinger 2001, 397 f.). Die Verleihung eines Titels wurde offensichtlich zunehmend von Leistungskriterien und Erfahrungswissen abhängig gemacht und ständische Rangpositionen wurden dabei auch an Bürgerliche vergeben.

Neben Nobilitierungen ist es also für das Verständnis frühneuzeitlicher Rangkollisionen bedeutsam, dass mit neuen – kirchlichen, städtischen, landesherrlichen oder militärischen – Personenverbänden nunmehr auch temporäre Funktionsämter mit unterschiedlicher ständischer Qualität entstanden. Diese Funktionsämter waren jeweils in eine eigene korporative Hierarchie eingebunden, deren Rangkriterien jedoch außerhalb ihrer selbst keine übergreifende Geltung beanspruchen konnten. Dass ein und dieselbe Person in unterschiedlichen Situationen verschiedene Ränge innehaben konnte, war keineswegs selbstverständlich. Die zeitgenössischen Juristen prägten für diesen Sachverhalt den Begriff der relativen Würde, um die Autonomie verschiedener gesellschaftlicher Bereiche und ihrer jeweiligen internen Funktionshierarchie argumentativ einzuhegen. Als Beispiel: Ein graduierter Syndikus konnte in Ausübung seines Amtes einen anderen Rang bekleiden als das Mitglied einer städtischen Ratsversammlung, in seiner Heimatuniversität einen anderen als in der Kirchengemeinde und in seiner eigenen Familie wiederum einen anderen. Dass dieselbe Person zu unterschiedlichen Gelegenheiten unterschiedliche Ränge innehaben konnte, gelang jedoch nur, wenn die Rangkriterien beispielsweise eines Kollegiums ihrerseits nicht(!) außerhalb des Kollegiums galten, also wenn „Rangpositionen nicht als personale Qualitäten, sondern als verschiedene Rollen aufzufassen waren“ (vgl. Stollberg-Rilinger 2001, 399 ff., 414). Jedes Kollegium, jede Korporation hatte schließlich eine eigene relative Rangordnung, in der sich verkleinerte Kopien der Gesamtstruktur spiegelten. Deren verschiedene Ranghierarchien waren jedoch untereinander inkommensurabel und nicht mehr in eine einheitliche Ordnung zu bringen (vgl. Stollberg-Rilinger 2001, 399 ff., 414; 2014b, 220 ff.).

Die Verzahnung standes- und amtsartiger Ränge bzw. Titel und der damit verbundene Komplexitätszuwachs der stratifizierten Gesellschaft lässt sich konkretisieren, wenn man vergleicht, welche sozialen Referenzen speziell mit einem Doktortitel und einem Amt verbunden wurden. Wie Barbara Stollberg-Rilinger hervorhebt, verlieh der Doktor- oder Magistergrad in der Vormoderne „de jure eine ständische Qualität analog der des Adels (wenn auch von geringerem Rang), eine unübertragbare Qualität der ganzen Person und ihres Hauses also, und nicht einer spezifischen Funktion. Ein Amt hingegen betraf einen temporären Rang innerhalb eines bestimmten Funktionszusammenhangs. Hier handelte es sich also nicht einfach um konkurrierende Rangkriterien, sondern um verschiedene soziale Strukturprinzipien: Das eine war eine Ordnung von Personen (ordines), das andere eine Ordnung von Funktionsstellen (ofjicia). Die Zeitgenossen selbst brachten das mit Hilfe aristotelischer Kategorien auf den Punkt. Der Stand, ordo, galt als Akzidens der Person, d. h. er war nahezu unverlierbar und unübertragbar, während das Amt, officium, als Substanz verstanden wurde, weil es unabhängig von den wechselnden Amtsträgern für sich bestand“ (Stollberg-Rilinger 2001, 399, Herv. i. O.). Dass Papst und Kaiser in der Frühen Neuzeit aufgrund ihrer Privilegien als letzte Legitimationsquellen der akademischen Grade galten, vermittelte diesen Titeln mithin eine „ständische Qualität“ (Stollberg-Rilinger 2001, 399) gegenüber den Ämtern, die von territorialen oder kommunalen Obrigkeiten verliehen wurden. Als oberstes Kriterium wurde in Anschlag gebracht, dass sich der verliehene Rang an dem Status derjenigen Person orientierte, die diesen Titel erteilte. Dass der Doktorgrad damit von einer höheren Instanz verliehen wurde, hob die Inhaber dieser Würden aus der „bloß territorialen bzw. kommunalen Hierarchie“ (ebd.) heraus. Standesartige und amtsartige Ordnungserwartungen gerieten dabei verstärkt in Konkurrenz zueinander, ohne dass sie gesamtgesellschaftlich bzw. übergreifend eingefasst werden konnten. Die Konflikte um Ränge (insbesondere in bzw. zwischen Personenverbänden) und die Grenzen ihrer Vergleichbarkeit geben in dieser Hinsicht Aufschluss über eine zögerliche, aber allmähliche funktionale Rollen- und Ämterdifferenzierung gegenüber der ständischen Gesellschaft (siehe auch Schlögl 2011; Schwarting 2013).

Gerade für das RKG lässt sich beobachten, dass die gerichtsinterne Hierarchie mit den unterschiedlichen Rangordnungen der ständischen Gesellschaft kollidierte (siehe dazu Abschn. 6.4.1). Aus einer organisationsbezogenen Perspektive ist dazu im Weiteren bedeutsam, dass mit der Gründung des Gerichts durch Reichsoberhaupt und Reichsstände als hierarchischer Spitze des RKG der Umstand verbunden war, dass formale Strukturänderungen von reichsrechtlichen Entscheidungen abhängig waren. Die Inkorporation einer gesellschaftsweiten Rechtsstruktur in die organisationsweite Formalstruktur des RKG äußerte sich damit in dem Folgeproblem, dass sich Konflikte auf der Reichsebene als gerichtsspezifische Organisationsprobleme – gleichwohl selektiv – reproduzierten. Gesellschaftliche Rivalitäten zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen spiegelten sich deshalb oft in den formalen Strukturentscheidungen am RKG wider. Die Entscheidbarkeit von Konflikten am RKG war mit anderen Worten von der Entscheidbarkeit von (Rang-)Konflikten auf der reichsverfassungsrechtlichen Ebene abhängig. Die Unauflösbarkeit dieser Konflikte und die zahlreichen Blockaden bei Entscheidungsprozessen über die gerichtliche Formalstruktur, wie sie nicht zuletzt bei den Visitationen (siehe Abschn. 6.1.4) sichtbar wurden, sind schließlich Ausdruck der Unmöglichkeit, die Gesamtgesellschaft auf der Ebene der Organisation zu repräsentieren.

Dass die Reichsordnung für das RKG die grundlegende Ermöglichungsbedingung war, äußerte sich insbesondere in der mit der Reichsreform festgelegten Bestimmung, dass die Reichsstände rangartig an der Besetzung und Besoldung der Stellen beteiligt waren. Die Reproduktion der Stellenstruktur am RKG sollte sich dabei nach einem „komplizierten Präsentationsschema“ (vgl. Jahns 2011, 168, 202; vgl. auch Diestelkamp 1995a, 21 f.; Hausmann 1995, 12 ff.; siehe Abschn. 6.3.5) orientieren. Zur Einhaltung dieser Norm wurde 1548 der sogenannte ReichskammergerichtszielerFootnote 9 als eine zweckgebundene Steuer eingeführt. Mit der geteilten Finanzierung des Gerichts war zugleich festgeschrieben, dass diese wiederum von den (Selbst-)Verpflichtungen der Reichsstände abhängig war. Zum Organisationsproblem wurde mithin die Praxis, dass die Reichsstände nicht selten versuchten, ihrem gesellschaftlichen Rang durch Zahlungsverzögerungen oder -verweigerungen Geltung zu verschaffen. Informale Drohungen und mikropolitische Spiele (Crozier/Friedberg 1979) wurden am RKG bei enttäuschten Stellenbesetzungen virulent, wenn beispielsweise Bewerber aufgrund mangelnder Qualifikation durch das Kameralkollegium abgelehnt wurden (siehe dazu Baumann 2006, 78, 120; 2010, 55; Diestelkamp 1995b, 123 f.). Der Umstand, dass Stellen in solchen Fällen unbesetzt blieben (vgl. Diestelkamp 1995b, 110; Loewenich 2014, 411; siehe Abschn. 6.3.5), lässt sich als Hinweis auf die Dominanz einer formalen Rollenauffassung seitens der Assessoren lesen.

In Anbetracht der ständischen Repräsentationsansprüche der Gerichtsspitze kann zusammenfassend festgehalten werden, dass Bestrebungen zur Anpassung der Formalstruktur des RKG durch den Reichstag konfliktreich und zeitaufwendig waren. Die 300-jährige Stabilität der dualistischen oberen Mitgliederumwelt am RKG gegenüber der kameralen Mitgliederumwelt lässt sich auf den institutionalisierten Konflikt zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen zurückführen. Dennoch war die Gerichtsordnung nicht ohne Variation; sie wurde mehrfach – wenngleich mit jahrzehntelangem Abstand – modifiziert und erweitert. Der ersten und knappen Gerichtsordnung von 1495 folgten im 16. Jahrhundert weitere Satzungen, bis 1555 auf dem Reichstag eine Fassung verabschiedet wurde, die bis zur Auflösung des RKG 1806 Geltung behielt. Eine ausführlichere Ordnung von 1613 diente schließlich als Arbeitsgrundlage und wurde vom Gericht faktisch als Formalstruktur behandelt, auch wenn es zu ihrer Ratifizierung am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr kam (vgl. Oestmann 2013, 25; Loewenich 2010, 159). Dieses nicht verabschiedete „Concept einer Reichskammergerichtsordnung“ (CRKO) baute auf der Gerichtsordnung von 1555 auf und ergänzte diese um zahlreiche Normen, die zum großen Teil den zunächst noch regelmäßig stattfindenden Abschieden der Visitationen (siehe Abschn. 6.1.4) des 16. Jahrhunderts entnommen waren (vgl. ebd.; Schildt 2006, 19). Darüber hinaus wurden bemerkenswerterweise auch seitens der Assessoren einzelne Prozessrechtsbestimmungen in Form Gemeiner Bescheide (siehe Abschn. 6.1.5) erlassen (vgl. Oestmann 2013).

6.1.2 Dominanz formaler Hierarchie: Sesselstreit 1757

Zur weiteren Veranschaulichung der formalen Strukturausprägungen bei der Rechtsprechung am RKG widme ich mich dem sogenannten Sesselstreit von 1757. Der Kern dieses Streites war, dass der Kammerrichter mit Verweis auf eine kaiserliche Anordnung den Assessoren die Bestuhlung im Senatssaal mit Halbarmsesseln untersagte. Anlass zu einer organisationssoziologischen Auswertung geben die historischen Forschungen über den Streit deshalb, weil sich an diesen konfligierende Verhaltenserwartungen zwischen den oberen und den unteren Kameralstellen zeigen. Dabei wurde im Umgang mit diesen den formalen Rollenauffassungen Priorität gegenüber ständischen Ansprüchen zugesprochen.

Wie im methodischen Teil betont, werden informale und formale Verhaltenserwartungen dann explizit, wenn gegen sie verstoßen wird. Erwartungskonflikte geben demnach Aufschluss über Normen, die nicht als selbstverständlich angesehen werden und deren Geltung zum Gegenstand der Aushandlung sozialer Unterscheidungen wird (vgl. Luhmann 1972a, 44 ff.). An Unverständlichkeiten manifestieren sich mit anderen Worten soziale Grenzziehungen, die für die Stabilisierung einer organisationsweiten Erwartungsordnung gegenüber gesellschaftlich institutionalisierten Strukturen zentral sind. Im kommunikativen Streitverhalten zeigt sich deshalb, welche Erwartungen von den Beteiligten problematisiert und für erneute Entscheidungen freigegeben werden und welche als konfliktresistent erachtet werden – und damit strukturbildend sind.

Zunächst gilt es, die Gegebenheiten vor Ort zu vergegenwärtigen. Das räumliche Zentrum des RKG bildete der Audienzsaal. Die Ausstattung dieses Saals glich einer zeremoniellen Inszenierung der „guten Gesellschaft“, wie sie in der dualistischen Reichsverfassung und der entsprechend doppelbödigen Gründung des RKG normiert war. Neben dem Thron und dem Baldachin symbolisierte ein aktuelles Porträt des Kaisers die von ihm an das Gericht übertragene Rechtsprechungsgewalt. Dabei handelte es sich – zumindest in Wetzlar – immer um dasselbe Bild, das bei einem Thronwechsel übermalt und den Zügen des neuen Herrschers angepasst wurde. Seit den 1730er Jahren hingen an den Wänden des Audienzsaals außerdem auch Gemälde der sechs Kurfürsten. Die Sessel der Beisitzer verwiesen dagegen auf ihre vergleichsweise niedrigere Stellung und symbolisierten die reichsständische Komponente der Gerichtsspitze. Zusammengenommen wurde damit in der Audienz die gemeinsame Gründung und Unterhaltung des RKG nach dem sogenannten Präsentationsschema verkörpert. An der materiellen Ausstattung des Audienzsaals lässt sich ebenfalls ein doppelbödiger Sinnzusammenhang hinsichtlich der Rechtsquellen des RKG ableiten: Göttliche Symbole standen in der Außendarstellung des Gerichts (siehe auch Abschn. 6.4.) neben weltlich-ständischen Insignien für eine mittelalterliche Kontinuitätsfiktion (vgl. Scheurmann 1995, 78 f.; Stollberg-Rilinger 2008, 55 ff.; 2009, 203; Loewenich 2010, 163 f.).

Wie noch genauer nachgezeichnet wird, tagte das RKG zwischen 1689 und 1806 in Wetzlar (siehe Abschn. 6.1.3). Als das RKG 1756 aufgrund der Baufälligkeit des alten Rathauses interimshalber in das sogenannte Beaurieuxsche Haus zog, hatte das Assessorenkollegium für den weiteren Umzug beschlossen, beim Tapezierer neue Tische und Sessel für den geplanten Neubau – der letztendlich unrealisiert blieb – zu kaufen (vgl. Hausmann 1995, 58 ff.). Dabei handelte es sich, und das ist von Bedeutung, um Sessel mit Rücken- und halben Armlehnen, die mit grünem Plüsch bezogen waren. Der Kammerrichter bekam zur Neubestuhlung „einen größeren und desto ansehnlicheren ganzen Fauteuil in den Senat verschafft“ (HHStA MEA RKG 237a: Schreiben an den Kurfürsten von Mainz vom 10. Juni 1757 betreffend Anschaffung von Halbarmsesseln für das Interims-Cameralhaus, § 3–8, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 206). Die Sessel waren für die Senatsräume gedacht, im Plenum und im Audienzsaal blieb alles beim Alten. Am 9. August 1756 fand die erste Sitzung in dieser Neuen Kammer statt (vgl. Stollberg-Rilinger 2009, 206 f., Herv. i. O.). Zunächst habe der Kammerrichter keinen Anstoß an der neuen Möblierung der Assessoren genommen. „Monatelang, während der Kammerrichter sich meist nicht in Wetzlar aufhielt, genossen die Assessoren den Komfort der neuen Sessel, der sich, wie sie meinten, äußerst positiv auf ihre Arbeitskraft auswirkte: so ist dannach das Vergnügen, sich dermahl eins nach Standes-Gebühr logiret zu sehen, von der gemein heilsamsten Würkung gewesen, daß in dieser Zeith mehr Urtheylen publiciret worden, als vorhin niemahlen geschehen seyn dorfte“ (HHStA MEA RKG 237a: Schreiben an den Kurfürsten von Mainz vom 10. Juni 1757 betreffend Anschaffung von Halbarmsesseln für das Interims-Cameralhaus, § 16, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 207, Herv. i. O.).

Erst nach der Rückkehr des Kammerrichters habe sich dieser plötzlich durch die Halbarm-Lehnsessel der Assessoren in seinem Status als kaiserlicher Repräsentant bedroht gefühlt. Ein Außenstehender hatte dem Kammerrichter zuvor berichtet, es handle sich bei den neuen Sesseln der Assessoren um eine „angemaßte Gleichstellung“ (Stollberg-Rilinger 2009, 207). „Obwohl die Assessoren ihn zweimal schriftlich ihrer reinsten Absichten versicherten und darauf hinwiesen, dass es in den Senatsräumen mehr auf Bequemlichkeit als auf Zeremoniell ankomme, blieb der Kammerrichter fortan dem Gericht gänzlich fern und erwirkte ein Reskript vom Kaiser“ (ebd., 208). In dem Schreiben wurde dem Kameralkollegium auferlegt, „die belehnten grünen Modestühle entfernen zu lassen und alles in den alten Stand zu versetzen – mit der Begründung, die Assessoren dürften sich nicht die Vorzüge anmaßen, die allein einem Unsere Allerhöchste Persohn repraesentirenden Cammer Richter bzw. dessen Amtsverwesern herkömmlich gebührten“ (HHStA MEA RKG Nr. 237 a; Beilage N.7: Kayl. May. Allergnädigstes Rescript Wien, den 19. April 1757, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 208, Herv. i. O.).

An dem Streit zwischen Kammerrichter und Assessoren über die gerichtliche Bestuhlung zeigt sich zunächst, dass Sitzmöbel in der Frühen Neuzeit besondere Zeichenträger sozialer Unterscheidungen waren. Denn im Unterschied zu Wappen und Insignien ließen sich Sitze nicht ohne Weiteres vermehren (vgl. Stollberg-Rilinger 2014b, 205 ff.). Form, Farbe und Material von Stühlen waren deshalb „seit alters her mehr als alle anderen Ausstattungsstücke dazu geeignet, auf Rang und Position von dessen Besitzern zu verweisen“ (Scheurmann 1995, 82, Herv. i. O.). Bereits das „Sitzen als solches“ verkörperte die klassische „Haltung des Herrschers bzw. des Richters“ (Stollberg-Rilinger 2009, 207). Der Sesselstreit wird in der historischen Forschung deshalb auch als ein Beispiel für die zahlreichen Symbolkonflikte während der Frühen Neuzeit behandelt.

Inwiefern spiegelt sich im Sesselstreit allerdings auch die Organisationsförmigkeit des RKG? Interessant ist bei dem Konflikt, wie die Einheit des Gerichts und sein Verhältnis zu Kaiser und Reichsständen als den autorisierenden Instanzen verhandelt wurde. Der Standpunkt, den die Assessoren dabei einnahmen, wird in der historischen Forschung als „modern“ beschrieben, denn diese, so der Verweis, sahen sich als „homogenes Kollegium“, das seine Würde vom Reichsganzen – und nicht vom Kaiser allein – herleitete (vgl. Stollberg-Rilinger 2009, 215; siehe auch Loewenich 2010, 164). Was sich anhand der Reaktionsweisen der Assessoren auf das kaiserliche Reskript als modern verstehen lässt, kann organisationssoziologisch noch etwas genauer konturiert werden. Als Anzeichen für die Ausbildung einer formalen Erwartungsordnung lassen sich dabei vier Strukturaspekte identifizieren. Als solche behandele ich (a) das Verweisen der Assessoren auf die formale Erwartungsordnung und die Entscheidungshierarchie, (b) das Selbstverständnis der Richter als ein professionelles Kollegium, (c) die Forderung nach einer Konsistenzprüfung der formalen Ordnung, sowie schließlich (d) die Geheimhaltung von Regelungslücken gegenüber Nichtmitgliedern und das Bemühen um eine geschlossene Außendarstellung.

(a) Zunächst lässt sich die Erwirkung des kaiserlichen Reskripts durch den Kammerrichter als ein Anrufen der Gerichtsspitze verstehen. Mit dem Verweis auf obere Entscheidungseinheiten deutet sich ein folgenreicher Struktureffekt in Organisationen an. Dieser besteht darin, dass „Hierarchien […] wesentliche Tempovorteile gegenüber anderen Kommunikationsnetzen“ (Luhmann 1972c, 284) aufweisen: Mit dem besagten Schreiben habe der Kammerrichter das Kameralkollegium in der nächsten Plenarsitzung am 27. April 1757 so überrascht, dass die Assessoren darum baten, diese für einige Tage zu unterbrechen, um sich zu beraten. Zwei Tage später wollten sie dem Kammerrichter ihre Antwort mitteilen. Dieser verlangte indes, dass sie ihre Antworten schriftlich und einzeln einreichen sollten. Unterdessen schuf er seinerseits Fakten: Er ließ die neuen Stühle bis auf seinen eigenen entfernen und reiste wieder ab (vgl. Stollberg-Rilinger 2009, 208). Der Kammerrichter betonte mit diesem Verhalten seinen ständischen Repräsentationsanspruch.

Demgegenüber lässt sich das oben erwähnte Verweisen der Assessoren auf ihre erhöhte Arbeitsproduktivität durch die angenehmen Sitze dahingehend interpretieren, dass die Richter ihr Verhalten im Sinne des Organisationszwecks und ihrer formalen Rollenauffassungen verstanden – und weniger als Nivellierung gesellschaftlicher Statusdifferenzen. Zugleich fassten sie die Rollendefinition des Kammerrichters als einen Verstoß gegen die formalen Verfahrensregeln auf: Die Assessoren argumentierten dazu auf der Grundlage der Gerichtsordnung von 1555, wonach sie von Kaiser, Kurfürsten und Ständen bestellt seien und daher seine „Kayl. Majestät und den Ständen des Reichs zu Ehren gegen jedermänniglich in den äußerlichen Signis dafür angesehen, geachtet und gehalten werden sollten“ (HHStA MEA RKG Nr. 237 a; Beilage N.7: Kayl. May. Allergnädigstes Rescript Wien, den 19. April 1757, § 27, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 210, Herv. i. O.). Mit dem Verweis auf diese Vorschrift machten die Assessoren geltend, dass das gesamte Gericht, ihre „Kayl. Majestät und das Reich überhaupt repräsentierte – und nicht etwa der Kammerrichter allein den Kaiser und jeder Beisitzer seinen Präsentanten, also den Kurfürsten oder den Kreis, dem er jeweils seinen Sitz verdankte“ (ebd., Herv. i. O.).

Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von organisatorischen und gesellschaftlichen Erwartungen ist an der richterlichen Argumentation dabei aufschlussreich, dass sie aufzeigt, wie die Assessoren der formalen Erwartungsstruktur ein „Monopol auf Legitimität“ (Luhmann 1999a, 64, 114, 315) zusprachen. Sie selbst nahmen sich als Mitglieder des RKG wahr, die zusammen eine Diensteinheit ausmachten. Wie Luhmann betont, liegt die Beweislast über die Geltung einer formalen Erwartungsordnung bei demjenigen Mitglied, das die Formalität einer Erwartung behauptet (vgl. Luhmann 1999a, 43 f., 241). Die Assessoren beriefen sich dazu „auf das alte rituelle Schema, die Art, wie Kaiser und Kurfürsten gemäß dem Reichsgrundgesetz der Goldenen Bulle von 1356 und auf den Reichstagen öffentlich in majestate saßen und auf diese Weise einen geschlossenen, handlungsfähigen Körper bildeten, ein corpus repraesentativum, dessen Handeln für das ganze Reich Verbindlichkeit beanspruchen konnte“ (Stollberg-Rilinger 2009, 211, Herv. i. O.). Tatsächlich hatten solche „actus imperii publici“ (ebd., Herv. i. O.) im 18. Jahrhundert zwar nicht mehr stattgefunden, auf bildlichen Darstellungen waren sie jedoch weiterhin als pars pro toto für das Reich allgegenwärtig – zum Beispiel auf Adelsdiplomen oder Frontispizen (vgl. ebd.; siehe auch Abschn. 6.4). „Die auffällige Ähnlichkeit zwischen dem Bildschema des RKG und dem des Kurfürstenkollegiums […] war also keineswegs zufällig. […] Nicht jeder einzelne Assessor agierte demnach im Auftrag, geschweige denn im Interesse des einzelnen Fürsten, der ihn für das Amt präsentiert hatte, sondern alle handelten gemeinsam und unabhängig als Repräsentanten der Majestät von Kaiser und Reich insgesamt“ (Stollberg-Rilinger 2009, 211).

(b) Mit diesem Verweis auf die gerichtliche Symbolik bei den Audienzen betonten die Assessoren nicht nur die Gleichrangigkeit ihrer Einheit und die Konformität ihres Verhaltens mit der Gerichtsordnung. Mit der schriftlichen Formulierung eines einheitlichen Standpunktes stellten sie sich zudem als professionelles KollegiumFootnote 10 dar (vgl. Luhmann 1999a, 191; zur Professionalisierung der Assessoren siehe auch Abschn. 6.3.5), das als Ganzes verbindlich handelte und die Rechtsprechung des Gerichts – autorisiert durch die Doppelspitze von Kaiser und Reichsständen – nicht weniger repräsentierte als der Kammerrichter. Wie dieser dürften auch die Assessoren, so der formale Verweis, „das Szepter als insignum supremae jurisdictionis caesarea führen, sie alle dürften im Beisein des Richters sitzen, sie alle dürften dabei das Haupt bedeckt halten, sie alle trügen die gleichen schwarzen Mantelkleider, sie alle hätten um eine Stufe erhöhte Sitze. […] In allem verhielten sie sich auf die nehmliche Arth wie der Kayser und die Churfürsten in actibus imperii publicis“ (Stollberg-Rilinger 2009, 210 f., Herv. i. O., Zitate aus HHStA MEA RKG Nr. 237 a; § 27).

Die Assessoren hoben darüber hinaus die Verpflichtung des Gerichts auf den Zweck einer professionalen Rechtsprechung hervor: „Indem man ihnen die Plenarsitzung verwehrte, beschneide man ihre facultas et libertas votorum. Schließlich dürfe eine Sache, die einmal vor das Plenum gebracht worden sei, nicht auf andere Art ohne Wissen des Collegiums entschieden werden. Sie wußten schließlich nicht nur die Gerichtsordnung, sondern auch Gottes Beistand auf ihrer Seite und warfen dem Kammerrichter vor, er gefährde das ganze Justizwesen des Reiches. So faßten sie (am 5. Mai 1757) ein gemeinsames Votum, die alte in baufälligen Cammerhaus zurückgelassene, obschon ganz deformierte und ungemächlichste Stühle wieder bey holen, solche in senatibus et pleno an die vorige Orthen stellen, sich darauf niederzulassen und die tägliche Ambtsverrichtungen nach wie vor allergehorsamst zu continuieren“ (HHStA MEA RKG Nr. 237 a; Beilage N.9: Votum (…) in senatu secundo den 5. May 1757, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 208 f., Herv. i. O.).

An dem Argumentationswechsel zwischen Kammerrichter und Assessoren zeigt sich zusammen betrachtet, dass beide ihre Rolle nach Maßgabe der Gerichtsordnung interpretierten. Aber während in dieser formalisiert war, dass der Kammerrichter vor allem als symbolischer Repräsentant des Kaisers tätig sein sollte, waren den Assessoren als professionale Vertreter die oberste Rechtsprechung übertragen worden. Repräsentation hieß allerdings für den Kammerrichter etwas Anderes als für die Assessoren: Für den Kammerrichter „ging es darum, durch materielle Prachtentfaltung die Würde des Kaisers zu verkörpern, den er vertrat, was natürlich nebenbei auch seinen […] eigenen persönlichen Status erhöhte“ (Stollberg-Rilinger 2009, 212). Die Assessoren hingegen sahen sich als Stellvertreter der Reichsstände und hielten deshalb dem Kammerrichter vor, er habe seine Repräsenationsansprüche in das Plenum und den Senat hineingetragen, „wo sie unbekannt gewesen waren“ (ebd.; siehe auch Scheurmann 1995, 83; Loewenich 2012b, 62 f.).

(c) Vor dem Hintergrund der konfligierenden Rollenerwartungen war es formal wiederum folgerichtig, dass die Assessoren im Plenum eine hierarchische Konsistenzprüfung hinsichtlich des Verhaltens des Kammerrichters ersuchten. Die Assessoren entschieden dazu im Kollektiv, dass sie gegen das Vorgehen des Kammerrichters an höherer Stelle vorgehen wollten. Sie adressierten mit einem Schreiben den Kurfürsten von Mainz – den Reichserzkanzler (siehe Abschn. 5.3) und zugleich Vorsitzenden des Reichstagsdirektoriums – und damit auch die Reichsversammlung in Regensburg sowie den Kaiser selbst. Darin begründeten sie, warum das Verhalten des Kammerrichters als Fehlverhalten aufzufassen sei: „Sie machten geltend, daß sie im öffentlichen Audienz- und Plenarsaal nichts zu ihren Gunsten verändert hätten, sondern nur in den Senaten. Das aber sei keineswegs aus angemaßtem Vorzug, sondern allein zur Erleichterung ihrer schweren Amtsgeschäfte und zu mehrerer Gemütlichkeit geschehen. Halbarmsessel stünden […] in fast jedem Haus. Mit dem goldbordierten, karmesinsamtenen Ehrensessel hätten sie hingegen dem Kammerrichter ihre respectueuseste Gesinnung zu erkennen gegeben. Dieser habe aber seinerseits gegen das alte Herkommen verstoßen, indem er sich das neue Fauteuil ins Plenum gestellt habe, wo seit Anbeginn des Gerichts immer alle vom Richter bis hinunter zum Protonotar auf den gleichen einfachen Stühlen gesessen hätten – was aber noch nie dem kaiserlichen Respekt Abtrag getan habe. Sie beschuldigten den Kammerrichter schmerzlicher Kränkung unseres Ambtes und vollkommener Hintansetzung deren hohen reichständischen Jurium. Wenn durch seine fortdauernde Abwesenheit alle in pleno zu berathschlagende hochwichtige Angelegenheiten unbesorgt liegen blieben, dann seien unausbleibliche […] Zerrüttung und Verfall dieses Gerichts ohnfehlbar vorauszusehen“ (HHStA Wien MEA RKG 237a, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 209, Herv. i. O.; siehe auch Scheurmann 1995, 82 f., Loewenich 2012b, 62). Mit dem Schreiben baten die Assessoren um eine neue Regelung und Prüfung der Sache und aktivierten damit gewissermaßen den für alle Mitglieder bindenden Modus der formalen Konfliktentscheidung durch Hierarchie.

(d) Zu einer Debatte auf der Reichsversammlung in Regensburg kam es offenbar nicht mehr. Überliefert ist vielmehr ein Brief des Kurmainzer Reichstagsgesandten, der dem Kurfürsten empfahl, das Gesuch der Assessoren beim Reichstag nicht offiziell bekannt zu machen, damit „dieses gantze Geschäfft hier nicht zum Ausbruch komme […] da es in der That ärgerlich wäre, wan bey dermahliger sonstig die Reichs-Ruhe und Sicherheit betreffenden wichtigen Angelegenheiten [der Siebenjährige Krieg war eben ausgebrochen; B.S.] ein solcher Zanck zwischen dem Herrn Cammerr Richter und Assessoren wegen ihrer Sesseln dahier vorkommen, und ein und anderen Übel-Gesinnten Bewegung zu machen, Gelegenheit gegeben werden sollte“ (Schreiben von Wilhelm von Linckers aus Regensburg an den Kurfürsten von Mainz vom 27. Juni 1757, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 209 f., Herv. R. S.). Es sei nämlich davon auszugehen, dass, „wann die Sache hier zur Sprache kommen sollte, viele Stände denen von ihnen praesentirten Assessoribus das Wort sprechen dürften“ (ebd., Herv. R. S.).

In dem Schreiben des Reichstagsgesandten – der als reichsständischer Vertreter auch als Teil der dualistisch-hierarchischen Spitze des Gerichts verstanden werden kann – verdeutlicht sich eine „für Organisationen typische Mitgliederpflicht“ (Luhmann 1975a, 18), und zwar, dass interne Konflikte zur Wahrung einer einheitlichen Selbstdarstellung nach außen zu verbergen sind (vgl. ebd.; 1999a, 108 ff.). Erforderlich ist eine solche Diskretion bzw. Abschottung, damit die Fiktion der Einheit der Organisation nicht zur öffentlichen Disposition gestellt werden kann, denn: „Offenkundige Fehler sind sehr viel fehlerhafter als heimliche Fehler“ (Luhmann 1999a, 114). Der Reichstagsgesandte sah hier in der Thematisierung des Sesselstreits auf dem Reichstag die Gefahr einer Politisierung des Konflikts.

Letztlich, so muss angesichts fehlender Überlieferungen angenommen werden, blieb die von den Assessoren ersuchte Prüfung über die Auslegung der Gerichtsordnung unbeantwortet. Das vom Kammerrichter erwirkte Reskript von Kaiser Franz I. vom 19. April 1757 behielt seine Gültigkeit (vgl. Stollberg-Rilinger 2009, 208; Scheurmann 1995, 82 f.). In diesem wurde angeordnet, „daß – ungeachtet aller Bescheidenheit der Mittel – die Neuausstattung des obersten Gerichtsgebäudes als eine Rechtsangelegenheit anzusehen sei, bei der es die Grundregeln ständischer Repräsentanz zu beachten gelte“ (Scheurmann 1995, 83). Gemäß der bis „bis jetzo vorgewalteten Ordnung in Ansehung des Sitzens“ sei das „Vorrecht mit den Arm-Lehn-Sesseln bey denen Audienzien und in Pleno“ dem Kammerrichter bzw. dem ihn in Abwesenheit vertretenden Präsidenten vorbehalten (Scheurmann 1995, 83, Herv. i. O.).

Schließlich kann der Umstand, dass die Assessoren ihr Verhalten gemäß dem vom Kammerrichter erwirkten kaiserlichen Reskript anpassten, als Hinweis auf die Ausbildung einer Organisationsgrenze und der Selbstverpflichtung auf eine formale Verhaltensordnung interpretiert werden. Charakteristisch für Organisationen ist wie oben angesprochen, dass Konflikte mit Verweis auf formale Erwartungen und qua Hierarchie gelöst werden, deren Anerkennung Teil der Mitgliedschaftspflicht bzw. des Amtseids war. An dem Sesselstreit wird nicht dazu deutlich, dass Organisationsregeln zwar „unpersönlich und zeitlos formuliert sind“, ihr „konkreter Sinn“ jedoch davon abhängt, wer sich in welchen Situationen auf sie beruft und mit welchen Folgen (vgl. Luhmann 1999a, 308; siehe 6.3.5). Insgesamt wird damit am Sesselstreit manifest, dass sich die in der historischen Literatur betonte „Dominanz ständischer Differenzierung bei der symbolischen Repräsentation der Gerichtsausstattung“ (Scheurmann 1995, 83) mithin nicht ständisch durchsetzte, sondern sich erst vor dem Hintergrund der Anerkennung der formalen Gerichtsordnung verstehen lässt. Wie gezeigt, beriefen sich der Kammerrichter wie die Assessoren in der Begründung für ihr Verhalten jeweils auf ihre formale Gerichtsrolle – und nicht auf die Autorität einer ranghöheren Person.

6.1.3 Entscheidungsautonomie: Verlegung des Gerichtssitzes

Am Reichshofgericht und dem späteren Königlichen Kammergericht war die Rechtsprechung an die Anwesenheit des Königs bzw. Kaisers gebunden. Entsprechend reisten auch die Akten mit dem Reichsoberhaupt. Das RKG erhielt demgegenüber gemäß dem Wormser Reichsabschied von 1495 erstmals einen festen Sitz fern des Wiener Kaiserhofs. Diese räumliche Trennung von Gerichtssitz und Aufenthaltsort des Reichsoberhaupts war „einmalig in Europa, wo überall ganz selbstverständlich die königlichen Zentralgerichte in der Haupt- und Residenzstadt des Reiches angesiedelt waren und blieben“ (Diestelkamp 1995a, 16; siehe auch Oestmann 2013, 46).

Nach der Gründung des RKG waren die ersten Jahre gleichwohl von häufigen Verlegungen des Amtssitzes geprägt. Anders als beim älteren Königlichen Kammergericht nahmen die Stände auch erstmals Einfluss auf die Bestimmung des Gerichtssitzes. Dieser sollte geografisch möglichst zentral im Reich liegen und zugleich entfernt genug von den habsburgischen Stammlanden – und damit vom Zugriff des Reichsoberhaupts. Zwischen 1495 und 1499 bestand eine relative Einigkeit zwischen dem König und den Ständen, dass sich das RKG am jeweiligen Reichstagsort befinden sollte (vgl. Smend 1911, 73 ff.; Hausmann 2003, 157 f.). Die erste Standortwahl durch Reichsstände und Kaiser fiel deshalb auf die Stadt Frankfurt, in der König Maximilian I. am 31. Oktober 1495 das Gericht eröffnete. Nach Frankfurt folgten innerhalb der ersten Jahre eine Vielzahl von Zwischenstationen (Worms, Nürnberg, Regensburg, Augsburg, Regensburg, Worms, Nürnberg, Speyer, Worms, Nürnberg, Esslingen am Neckar). Bis das Gericht 1527 seinen ersten festen Sitz in Speyer bezog, tagte es oft nur für wenige Monate oder Jahre an einem Ort – bedingt nicht zuletzt durch Stilllegungen, Seuchen oder Kriegsereignisse (vgl. Joecker 2004, 3 f.; siehe auch Diestelkamp 1995a, 16; Hausmann 1995, 9 ff.; 2003, 147, 157 ff.).

Dass der König zunächst noch stärkeren Einfluss auf die Standorte des RKG nehmen konnte, lässt sich auf ungeklärte Bestimmungen der Reichsverfassung im Allgemeinen und der Gerichtsordnung im Besonderen zurückführen. Der reichsständische Entwurf der Gerichtsordnung, der dem Kaiser am 26. Juli 1495 unterbreitet und mit geringfügigen Änderungen verabschiedet wurde, regelte zwar, dass das Gericht an einer „füglichen statt“ (Hausmann 2003, 147) im Reich gehalten werden sollte. Wichtige Fragen wie die Verlegung des Gerichtssitzes, seine Finanzierung und was eine „fügliche statt“ sei (z. B. eine Reichsstadt, eine freie Stadt oder auch eine landsässige Stadt), blieben allerdings weitgehend offen (vgl. Hausmann 1995, 9, 25 f.; 2003, 147 f.). Bestimmt wurde lediglich, dass das Gericht verlegt werden konnte, „wenn dadurch eine Verbesserung des Justizwesens bezweckt war oder aber wenn die Sicherheit des RKG-Personals dies erfordere“ (Hausmann 2003, 148). Mit dieser generalisierten Formulierung war de facto verbunden, dass bei jeder „existentiellen Bedrohung“ (Hausmann 1995, 9) des Gerichts die Frage seiner Verlegung virulent wurde und damit zum Gegenstand von machtpolitischen Konflikten zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen werden konnte (siehe Abschn. 6.1.1).

Erst der Reichstag von Augsburg 1530 brachte den Abschluss der sogenannten Reichsreformdebatte und für das RKG eine Wende in der notorischen Standortfrage: „Nun war anerkannt worden, dass sich die häufigen Verlegungen zu einem zunehmenden Hemmnis entwickelt hatten, denn qualifiziertes Personal zu gewinnen, das nicht auf eine geregelte Lebensplanung bauen konnte, war zunehmend schwierig geworden“ (Hausmann 2003, 156, siehe auch 1995, 110 ff.). König und Reichsstände einigten sich im Reichsabschied 1530 auf die Stadt Speyer als dauernden Gerichtsort und darauf, dass das RKG seinen Amtssitz bei existenziellen Bedrohungen bis zum Ende der Gefahr in eigener Verantwortung verlegen konnte. Dazu sollten entsprechende Kommissionen zur Begutachtung der Sicherheitslage in die potenziellen Städte entsendet werden (vgl. Hausmann 1995, 29). Diese Bestimmung wurde schließlich auch in die Gerichtsordnung von 1555 aufgenommen. Ergänzend trugen 1566 auch die Prokuratoren und Advokaten der Visitationskommission vor, dass sie bei einer Verlegung seitens der Assessoren gehört werden sollten, weil sie bei Umzügen „meinlich mit mehreren Gesind und Plunder, auch Nachführung ihrer Parteyen Sachen und Bücher beladen und beschwert“ (Anonymus, Geschichte der Verlegung § 14, zit. nach Hausmann 1995, 25 ff.) wurden. Dem stimmte die Visitation und anschließend die Reichsversammlung zu (vgl. Hausmann 1995, 25 ff.). Diese reichsrechtlich und in Form der Gerichtsordnung von 1548/1555 institutionalisierte Norm einer eigenmächtig bestimmbaren Verlegung kann organisationssoziologisch als ein Zuwachs an formaler Entscheidungskompetenz gewertet werden. An der Langwierigkeit der Formalisierung eines gerichtlichen Initiativrechts zur Verlegung des Gerichts wird zugleich deutlich, wie hoch die Rechtsbindung bzw. die Entscheidungsabhängigkeit des RKG von der reichsrechtlichen oberen Mitgliederumwelt war.

Speyer sollte jedoch nicht der letzte Sitz des RKG sein. 1689 kam es infolge der militärischen Bedrohung durch französische Truppen im Rahmen des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688–1697) zu einer Verlegung nach Wetzlar. „Ungeachtet des Versprechens des kommandierenden Generals, die Kameralen in ihren Funktionen nicht zu behindern“ (Hausmann 1995, 29), wurde das RKG von diesem geschlossen. Obwohl das RKG berechtigt gewesen wäre, angesichts der Kriegsgefahr eigenmächtig über die Verlegung zu befinden, wurde aus nicht überlieferten Gründen auf diese Option verzichtet. Vielmehr beantragte das Assessorenkollegium beim Reichstag, interimsweise nach Frankfurt ausweichen zu dürfen (vgl. Hausmann 1995, 28).

Nach der Zerstörung Speyers sowie angesichts der Untätigkeit und Uneinigkeit des Reichstags über die ersuchte Verlegung ergriffen die Assessoren schließlich selbst die Initiative und versandten Deputierte in verschiedene Städte, um die Ortsverhältnisse zu eruieren. Geprüft wurde beispielsweise, ob ein feuer- und feuchtigkeitssicheres Gebäude vorhanden war sowie eine ausreichende Anzahl an Handwerkern und Gewerbetreibenden. Zentrales Kriterium für die Wahl eines neuen Standortes war, dass in der Stadt katholische und protestantische Kirchen für den Gottesdienstbesuch ansässig waren, damit die Assessoren auch weiterhin paritätisch in beiden Konfessionen vertreten sein konnten, wie es seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 der Fall war (vgl. Hausmann 1995a, 29 ff.; siehe Abschn. 6.3.5).Footnote 11

Im Unterschied zu anderen Städten bewarb der Magistrat von Wetzlar seinen Standort und verwies dabei auf die angeblichen Vorzüge – wie die „gesunde Luft“ und „gute Einkaufsmöglichkeiten“ (Hausmann 1995, 33). Im Gegenzug versprach er sich von der Ansiedlung der Kameralen und den teilweise längerfristigen Aufenthalten der Streitparteien sowie ihrer Vertreter – der Prokuratoren – einen wirtschaftlichen Aufschwung (vgl. Diestelkamp 1995a, 17 f.). Allerdings konnten sich Kammerrichter und Assessoren mit dem Magistrat der Stadt Wetzlar auch nach mehrfachen Verhandlungen nicht über den Umfang der sogenannten Kameralfreiheiten – die insbesondere Steuerfreiheiten für das Gerichtspersonal umfassten (siehe Abschn. 6.4.1) – einigen. Man verständigte sich 1693 dagegen auf die Eröffnung des Gerichts in Form einer Zwischenlösung. Trotz der häufig diskutierten Umzugspläne blieb das RKG schließlich bis 1806 in der Stadt (vgl. Hausmann 1995, 34 ff.; ebd. 2003, 157, 159; Baumann 2006, 95).

In Wetzlar waren dann weniger existenzielle Bedrohungen als der bauliche Zustand des Gerichtsgebäudes Auslöser für weitere Gesuche an den Reichstag um Verlegungen. Die Interimsumzüge innerhalb der Stadt konnten formal nicht vom RKG entschieden werden, sondern bedurften der Zustimmung des Reichstags. Dessen „Nichtentscheidungen“ (Luhmann 2006, 129) über die Gesuche des RKG um Verlegung und Einhaltung der Zahlungszusagen verdeutlichen sich in der jahrzehntelangen prekären Gebäudesituation des RKG. Wurde im Mittelalter als Gerichtsraum auf bestehende Gebäude bzw. Zimmer in kommunalen Einrichtungen – insbesondere Räume in Rat- und Kaufhäusern – zurückgegriffen (vgl. Arlinghaus 2004a, 138, 141), nahm das RKG nunmehr zwar ein ganzes Gebäude in Anspruch. Angesichts seiner hohen Aufgabe fiel dieses jedoch äußerlich bescheiden aus. Die „Ärmlichkeit“ (Stollberg-Rilinger 2009, 213) der materiellen Ausstattung stand damit in Kontrast zu vergleichbaren obersten (Hof-)Gerichten in Europa, die zu dieser Zeit in Schlössern und Palästen residierten (vgl. Scheurmann 1995, 77 f.; Stollberg-Rilinger 2009, 191; ebd. 2013b, 103; Oestmann 2013, 43 ff.). Ähnlich wie die Reichsversammlungen nach ihrer Immobilisierung als Immerwährender Reichstag nach 1663 im Regensburger Rathaus stattfanden, erhielt letztlich auch das RKG kein eigenes, für seine Zwecke errichtetes Gebäude (vgl. Stollberg-Rilinger 2013b, 102 ff.).Footnote 12

Seinen ständigen Sitz bekam das RKG vielmehr in bestehenden, „adaptierten“ (Hausmann 1995, 45) Privatbauten zugewiesen: In Wetzlar zog das Gericht zunächst in das alte hölzerne Rathaus. Dieses als „Alte Kammer“ bezeichnete Gebäude wurde in den kommenden Jahren so baufällig, dass sogar die Deputierten bei der außerordentlichen Visitation 1713 nachdrücklich auf die Gefährdung der Akten durch Feuchtigkeit und Feuer hinwiesen. Da der Magistrat in Wetzlar die Mittel für einen Neubau nicht aufbringen wollte, sollten von Reichs wegen 128.000 rheinische Gulden (fl.) bewilligt werden (vgl. Hausmann 1995, 45). Ein Reichstagsbeschluss entsprechend der Visitationsempfehlung, nach der das RKG in Wetzlar ein eigenes Gebäude errichten sollte, wurde jedoch erst 1731 verabschiedet. Mehrere ArchitektenFootnote 13 legten Baupläne vor, die jedoch aufgrund der ausbleibenden Zahlungen seitens der Reichsversammlung nicht realisiert werden konnten (vgl. Hausmann 1995, 9 ff., 53–63; Scheurmann 1994, 210; 1995, 80; Baumann 2010, 51).Footnote 14

Als im Rathaus schließlich nach über 60-jähriger Nutzung durch das RKG Zuber aufgestellt werden mussten, um das Regenwasser aufzufangen, schlug das Assessorenkollegium dem Reichstag vor, in ein Privathaus – das sogenannte Beaurieuxsche Haus, das dem verstorbenen Assessor Beaurieux gehört hatte – zu ziehen (vgl. Hausmann 1995, 58 f.). Da der Kaiser und die Reichsstände abermals nicht reagierten und auch keine weiteren Zahlungen eingegangen waren, „schritt das RKG – audaces fortuna – zur Tat“ (Hausmann 1995, 61, Herv. i. O.) und die Assessoren entschieden 1756, das Gebäude aus den bestehenden Mitteln zu erwerben (vgl. ebd.). Auch das Beaurieuxsche Haus habe gleichwohl kaum „der hohen Würde des Teutschen Reichs“ (Stollberg-Rilinger 2009, 206) entsprochen. Die „Neue Kammer“ diente vor allem der Unterbringung der Senate und des Kanzleibetriebs. Der zweite Stock beherbergte jeweils ein weiteres Zimmer für den dritten und vierten Senat sowie die zu Beginn des 18. Jahrhunderts gegründete Bibliothek (siehe Abschn. 6.1.4). Die Audienzen mussten weiterhin in der Alten Kammer abgehalten werden.

Erst 1782 verkaufte das RKG die wiederum baufällig gewordene Neue Kammer und zog in das Ingelheimsche Palais um, ein dreigeschossiges Gebäude mit drei Flügeln. Dieses Haus hatte zuvor der Assessor von Ingelheim erbaut, „um es schließlich auf Ansuchen des RKG-Plenums zum gleichen Preis weiterzuveräußern“ (Hausmann 1995, 66). Zur Finanzierung des Umbaus des Ingelheimschen Palais hatte das RKG 1789 eigenmächtig entschieden, „auf die normalen Gerichtsgelder“ (Hausmann 1995, 69) zurückzugreifen. Für die Gerichtszwecke wurde das Gebäude umfunktioniert. Im Erdgeschoss war wie bisher die Gerichtskanzlei untergebracht. Im ersten Stock befanden sich sowohl die Räume für die Senate als auch der Audienzsaal (vgl. Scheurmann 1994, 212, 1995, 84). Die meisten Räume waren damals nur gestrichen und mit den Möbeln ausgestattet worden, die bereits in der Alten Kammer zum Inventar gehörten. Einzig den Audienzsaal ließ man „als sichtbares Zeichen des gewachsenen Ansehens“ (Mader 2005, 14) des RKG nach der letzten Visitation 1767–1776 vollständig neu errichten (vgl. auch Scheurmann 1994, 210 ff.; ebd. 1995, 85; Hausmann 1995, 64 ff.).

Zusammen genommen beschränkte die provisorische Unterbringung und die vergleichsweise notdürftige Ausstattung des RKG ein „kohärentes und ganz auf die Funktion hin orientiertes Repräsentations- und Ausstattungsprogramm“ (Scheurmann 1995, 81; vgl. auch Hausmann 1995, 63 f.). Verständlich wird der Kontrast zwischen der Rechtsprechung am RKG und der prekären Gebäudesituation vor dem Hintergrund, dass für die Einrichtung des Gerichts lediglich auf den Strukturhaushalt der ständischen Gesellschaft zurückgegriffen werden konnte. Erinnert sei an die begrenzte funktionale Spezifizierung der Rechtskommunikation vor der Gründung des Gerichts, deren Erwartungsbildung weitgehend auf der Ebene von Personen und Werten stattfand. Allgemein verdeutlichen die vielen Auseinandersetzungen über Standortfragen recht anschaulich die hohe Rechtsbindung und die damit verbundene Finanzierungsabhängigkeit des RKG von dessen Gründungsinstanzen.

6.1.4 Strukturanpassung durch Visitation: Bücherstreit 1775

Neben der Möglichkeit, dass sich die Assessoren selbst an die Reichsversammlung wandten, wenn – wie beim Sesselstreit oder bei den Standortverlegungen – Widersprüche in der Auslegung der Gerichtsordnung manifest wurden, zeigt sich mit den sogenannten Visitationen ein zweiter Kommunikationsweg, über den Bedarfe für Strukturänderungen an den Reichstag adressiert werden konnten. In den historischen Überlieferungen über das Visitationsgeschehen werden dabei ebenfalls Grenzziehungen zwischen gerichtlichen und gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen deutlich, wie sie für die Frage nach der Ausdifferenzierung einer Organisation zentral erscheinen (siehe auch Schwarting 2015, 2017a/b).

Als Visitationen wurden aufwendige Inspektions- und Kontrollbesuche bezeichnet, die von der mittelalterlichen römischen Kirche entwickelt worden waren und in der Frühen Neuzeit von kirchlichen wie weltlichen Obrigkeiten gleichermaßen genutzt wurden (vgl. Brakensiek 2010, 366; siehe auch Denzler 2012b, 17 f.; Baumann 2018, 3 ff.). Ihrem kirchlichen Ursprung nach bezweckten Visitationen eine Art Aufsicht über das ordnungsgemäße Verhalten der Kirchenangehörigen und den Zustand der kirchlichen Einrichtungen. Im weltlichen Sinne erstreckten sich Visitationen auf Würdenträger und Untertanen gleichermaßen (vgl. Denzler 2012b, 18).Footnote 15 Im Unterschied zu geistlichen Visitationen zeigen die Visitationen am RKG ein vergleichsweise hohes Maß an „Gründlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ (Denzler 2012b, 22).

Ausgehend vom Gründungsauftrag des RKG waren Visitationen schon früh durch den Reichsabschied von 1507 als verbindlich erklärt worden. Zum Zwecke der Visitation wurde eine Kommission mit Deputierten beauftragt, welche die Arbeit des RKG und die Einhaltung der Gerichtsordnung überprüfen sollte.Footnote 16 Gemäß der Gerichtsordnung sollten Visitationen einmal pro Jahr abgehalten werden (vgl. Denzler 2012b, 19; Mencke 1984, 7 ff.; Diestelkamp 1995a, 24; Troßbach 2010, 71; Baumann 2018, 3 ff.). Seit 1532 und endgültig mit der 1555 beschlossenen Gerichtsordnung war die Aufgabe einer jeden Visitation, „das keiserlich cammergericht an personen, vom obrigsten biß zum understen, und sonst in allen andern mengeln und gebrechen zu visitiren und zum besten ihres gutbedünckens zu corrigiren und zu reformiren“ (RKGO von 1555 Teil 1, L § 2, zit. nach Denzler 2012a, 75). Laut Fuchs entfalteten die Visitationen im Vergleich zu den Reformwerken des Reichstages „einen weit größeren Einfluss auf die Optimierung des reichskammergerichtlichen Prozesses“ (2002, 29).

Jeder zur Visitation deputierte Reichsstand war dazu verpflichtet, eine Visitationsdelegation, bestehend aus reichsständischen Subdelegierten – die paritätisch aus beiden Religionen besetzt waren –, einem Sekretär und einem Kanzlisten, an das Gericht zu entsenden (vgl. Baumann 2018, 40 f.). An der sogenannten letzten Visitation wirkten von 1767 bis 1776 beispielsweise rund 70 Reichsstände mit. Von diesen wurden insgesamt 24 Delegierte bestimmt, die neben einem kaiserlichen Kommissar in der Alten Kammer – jenem Gebäude, in dem zunächst der Stadtrat und von 1693 bis 1756 das RKG untergebracht war – tagten (vgl. Denzler 2012a, 74 f.; 2016, 209 ff.).

Die Visitatoren hatten laut Gerichtsordnung „kompromißlos für die Verwirklichung des positiven Reichsrechts am RKG Sorge zu tragen“ (Fuchs 2002, 141) und zu prüfen, dass die „eingeschlichenen Mängel gehoben werden“ (Schrötter 1768, zit. nach Denzler 2008, 62). Dabei sollten sie sich von „keiner Affection oder Bewegnus“ der Stände „verhindern noch irren lassen“ (RKGO I, 64 § 15, zit. nach Fuchs 2002, 141, Herv. i. O.). Der Gründungsauftrag sah dazu vor, dass alle am RKG tätigen Personen vom Boten bis zum Kammerrichter geheim zu haltende Befragungen durchlaufen mussten, um „Real- und Personalgebrechen“ (Denzler 2008, 32; 2012a, 73), insbesondere im Hinblick auf die Amtsführung der Assessoren, zu identifizieren. Zusätzlich wurden Beratungen unter Visitationsdelegierten abgehalten. Zu diesen kamen die Delegierten in der Regel dreimal pro Woche zusammen, um ihre Voten in ständisch-hierarchischer Ordnung nach dem Konsensprinzip abzugeben (vgl. Denzler 2012a, 73 ff.; 2012b, 18 f.). In Form von sogenannten Visitationsabschieden und Memoralien wurden die Voten über die Einhaltung der Gerichtsordnung verschriftlicht, bevor sie zur weiteren Verhandlung und Beschlussfassung an den Reichstag weitergeleitet wurden. Die daraus abgeleiteten Reichsabschiede galten als „verbindlich“ (Denzler 2008, 33). Die historischen Forschungen legen dabei nahe, dass sich ein konkreter Reformvorschlag erst durch die genannten Befragungen und Beratungen sukzessive verdichtete. Dem formalen Turnus jährlicher Visitationen wurde allerdings de facto nicht entsprochen. Vor allem aufgrund konfessioneller Spannungen konnten sich Kaiser und Reichsstände nicht auf eine Besetzung der Delegationen einigen. Die Einberufung von Visitationskommissionen sowie die Verhandlungen selbst werden in der RKG-Forschung denn auch als „eine Fortsetzung der Auseinandersetzung auf dem Reichstag“ (Fuchs 2002, 142) oder auch als „zweite[r] Reichstag“ (Baumann 2006, 43) umschrieben.

Eine Besonderheit, mit der die damit verbundene begrenzte Reformfähigkeit des Gerichts begründet wird, ist die „Weitläufigkeit“ (Denzler 2012a, 91; 2012b, 20 ff.; 2016, 129 ff.) des Visitationsanspruchs, eine „Reform nach Art des Reiches“ (Denzler 2016, 394) durchzuführen. Diese Weitläufigkeit spiegelt erneut die implizite Gründungsmaxime des RKG wider, die „gute Gesellschaft“ (siehe Abschn. 6.1.3) in der Gerichtsstruktur abzubilden. Konflikte auf der Reichsebene politisierten nicht nur die im Konsens zu treffenden Entscheidungen über die Umzüge, die Präsentation der Richter und die Finanzierung des RKG, sondern auch die Visitationen. Bei der Visitation im Jahre 1767 trugen beispielsweise die Gesandten protestantischer Fürsten immer wieder die komplizierten konfessionsparitätischen Regeln der Reichsordnung vor, um die Besetzung der Kommission zu hinterfragen. Sie verhinderten mit diesem Vorgehen den Fortgang der Visitation, denn wenn sich nur ein Deputierter auf den Standpunkt des Reichsrechts berief, ließ sich aufgrund der zunehmenden Inkonsistenzen der gesellschaftlichen Ranghierarchie fast jede kollektive Entscheidung blockieren (vgl. Stollberg-Rilinger 2013a, 20; siehe Abschn. 6.1.1).

Anhand der Weitläufigkeit der Visitationen lässt sich auch verstehen, dass die entsandten Delegierten gänzlich mit Aufgaben überfrachtet wurden. Diese sollten nicht nur visitieren, sondern gemäß des Jüngsten Reichsabschieds (JRA) von 1654 auch die in Revision gegangenen Prozesse abarbeiten. Deshalb fand die nächste und zugleich letzte ordentliche Visitation denn auch 1587 nach über 30-jähriger Unterbrechung statt. Erst im 18. Jahrhundert konnte sich der Reichstag noch einmal auf zwei außerordentliche Visitationen einigen. Die letzte außerordentliche Visitation von 1767 bis 1776 wurde gleichwohl nach über 1.000 Sitzungen ohne einen Beschluss bzw. Abschied aufgelöst (vgl. Diestelkamp 1999, 320 ff.; Fuchs 2002, 29 f.; Loewenich 2010, 174 f.; Denzler 2012a, 72 ff.; 2012b, 18 ff.).

Um die kommunikativen Grenzziehungen zwischen gerichtlichen und gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen im Einzelnen genauer zu veranschaulichen, widme ich mich exemplarisch der genannten letzten Visitation (1767–1776) am RKG, die insbesondere durch die Arbeiten von Alexander Denzler (2008, 2012a/b, 2014, 2016) dokumentiert ist. Die gute Quellenlage hängt vor allem auch damit zusammen, dass die letzte Visitation am RKG in der zeitgenössischen „Öffentlichkeit“ breit diskutiert wurde. Wie Denzler (vgl. 2008, 2012b, 2016) herausgearbeitet hat, war die Visitation Thema von über 120 Publikationen, z. B. von Reichstagskanzlisten, dem Reichsvizekanzler oder anderen reichsständischen Personen und Rechtsgelehrten (siehe auch Burgdorf 2003, 26).

Empirisch aufschlussreich für die Organisationsförmigkeit der Verhaltenserwartungen am RKG ist an der Visitation insbesondere der Streit um die Frage, „ob Assessoren Bücher schreiben durften“ (Denzler 2012a, 92). Zum Thema der Kommission wurde das Bücherschreiben im Jahr 1775 – nach bereits achtjähriger Visitation.Footnote 17 Diese Visitationsfrage nimmt bemerkenswerterweise Bezug auf ein Verhalten, dass sich am RKG seit dessen Gründung beobachten ließ und schon in der Speyerer Zeit umstritten war (siehe Baumann 2018, 44 ff.): Die Assessoren verfassten beispielsweise Kommentare zu den Gerichtsordnungen oder publizierten Sammlungen von Spruchmaterial oder Einzeltraktaten. In der historischen Forschung bekannt sind insbesondere die lateinischen Observationensammlungen der Assessoren Joachim Mynsinger von Frundeck (1514–1588) und Andreas Gail (1526–1587), die weniger die Gerichtsordnungen oder Reichsabschiede als vielmehr gerichtliche Urteile und das Prozessrecht kompilierten. Sie wurden entsprechend an Juristenfakultäten und von Territorialgerichten herangezogen (vgl. Troßbach 2010, 70 ff.; Holthöfer 2002, 196 ff.).

Beide Assessoren hatten in ihren Abhandlungen Mitte des 16. Jahrhunderts für eine Veröffentlichung der Entscheidungssammlungen des RKG plädiert (vgl. Diestelkamp 1999, 202 f.). Auch der Assessor Josef Karl Freiherr von Fahnenberg (1749–1827) begründete in den einleitenden Worten seiner „bis heute einzig vorhandenen Bibliographie zur Literatur des RKG“ (Denzler 2008, 15), dass selbst das „glücklichste Gedächtnis […] nicht alles behalten kann“ (Fahnenberg 1792, zit. nach Denzler 2008, 15, Herv. i. O.; siehe auch Holthöfer 2002, 194).Footnote 18 Der Assessor Johann Ulrich Cramer (1706–1773) hielt in seinen „Nebenstunden“ – einer 38 Bände umfassenden Zeitschrift – fest, „dass nur durch die Urteilsbegründung die Parteien davon überzeugt werden könnten, dass ihnen Gerechtigkeit widerfahren sei“ (Loewenich 2010, 181; siehe auch Fn. 78). Diese 1755 bis 1773 erschienene Entscheidungssammlung war wie die anderen genannten Arbeiten nicht im Auftrag des Gerichts verfasst worden, sondern ging auf die Initiative des Autors selbst zurück (vgl. Holthöfer 2002, 212 f.).

Seitens der Visitationskommission wurde das Bücherschreiben der Assessoren jedoch unterschiedlich bewertet. Die Schreib- bzw. Publikationstätigkeiten wurden als „Leidenschaft“ pathologisiert, mit ihm wurden „Gewinnsucht“ und „Ruhmerwerb“ (Denzler 2012a, 93) verbunden und die Verfasser als „politische Autoren“ (Mader 2005, 105) nahezu kriminalisiert. Der kursächsische Gesandte urteilte beispielsweise, dass die verschriftlichten „Nebenstunden“ des Assessors Cramer gar zu seinem „Haubt Geschäfft und Gewerbe“ (StadtAA RKG 57, 956, Session vom 26. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 93, Herv. i. O.) geworden seien und die Werke deshalb verboten gehörten (vgl. Denzler 2012a, 93). Für den speyerischen Gesandten stellte die Schreibtätigkeit der Assessoren zudem das Gerichtsgeheimnis infrage, wenn nämlich „des Bücherschreibens halber Protocolla, Relationen und dergleichen nach Hauß genomen, durch Bediente, auch sonstigen Personen ausgeschrieben, und hierdurch sowohl, als auch durch den hiernächst erfolgten offentlichen Druck das Secretum Camerale verlezt, verschiedens in facto theils irriges, theils ohnvollständiges verbreitet, auch mancher widerrechtlicher von mehrern Beysizern ein gutgeheisene Lehr Saz gleichsam als eine bey dem Gericht angenommene Regel aufgestellet“ (StadtAA RKG 57, 952, Session vom 24. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 92, Herv. i. O.) werde. Der kurmainzische Visitator führte das Bücherschreiben denn gar auf einen Profilierungsdrang der Assessoren zurück und argumentierte, dass dies der „wahren Ehre“ der Assessoren widerspreche, nämlich „einen fleißigen, rechtschaffenen, und ohn absichtn Richter in seinem Amte zu beweisen“ (ebd., Herv. i. O.).

Ebenso auf die formale Ordnung verweisend, urteilte der burgundische Vertreter, dass Arbeiten, „welche nicht Nebenstunden, sondern Haubt-Arbeitsstunden verschleudern, und die ohnehin mit Büchern überladene gelehrte Welt von Zeit zu Zeit mehrers an Kosten und Zeit Verlust beschädigen, abzustellen seyn“ (StadtAA RKG 57, 953, Session vom 26. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 93, Herv. i. O.). Diese Sicht wurde vom Gesandten der Reichsstadt Aachen geteilt, der ebenso bekräftigte, dass die Assessoren vielmehr „mit höchstem treuen Fleiß“ studieren, referieren und votieren sollten, „damit die Partheyen gefördert und abgefertiget werden mögen. Dieses ist der wahre und eigene Endzweck, warum C. G. Beysizere an das C: Gericht verordnet, und des Endes die Besoldung ihnen mehrmalen schon gebesseret worden“ (StadtAA RKG 57, 952, Session vom 26. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 93, Herv. i. O.) sei.

Auch der Visitationsgesandte des Hochstifts Augsburg hielt auf die formale Ordnung des RKG und betonte den Regenerationsbedarf der Assessoren zur Einhaltung ihrer Pflichten: „Ein C. G. Beysizer hat, wenn er seinem Amt nach denen Gesezen mit allem Fleiß obliegen will, wenige Nebenstunden. Und die er hat – denn einige muß er haben – sind ihm zu seiner Erholung, zur Ruhe, zur Ermunterung, und Stärkung deren durch […] Amts Arbeiten geschwächter Lebensgeister gegönnet […]. Nebenstunden aber, die man mit fremder eben wohl das Nerven System angreifender Kopfarbeit ausfüllet, sind zu jenem Endzweck nicht geschickt“ (StadtAA RKG 57, 953, Session vom 26. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 93, Herv. i. O.). Der Deputierte aus Rottweil votierte ebenfalls für bücherfreie Nebenstunden und sprach sich dafür aus, eine Entscheidung dazu „Kay. Majt. und dem Reich als der höchsten gesezgebenden Macht zu überlassen“ (ebd.). Demgegenüber urteilte allerdings der kurkölnische Gesandte, dass bei allen vorangegangenen Visitationen kein Verbot ergangen sei. Die Frage, ob nun etwas gegen das „Uebel“ (ebd.) unternommen werden solle, verneinte er. Die „Begierde, Bücher zu schreiben, ist für eine Leidenschafft zu rechnen: wer an dieser Leidenschafft krank lieget, wird das Bücherschreiben nicht lassen“ (StadtAA RKG 57, 952, Session vom 24. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 92, Herv. i. O.). Auffällig ist an den überlieferten Argumenten, dass das Bücherschreiben als eine private Angelegenheit kritisiert wurde, die nicht mit dem Gerichtszweck und der richterlichen Mitgliedsrolle vereinbar war.

Demgegenüber verwies der sachsen-altenburgische Gesandte auf den juristischen Wert der Veröffentlichungen und hob hervor, dass ein Verbot die „Cameral- Jurisprudenz ganz verwilderte“, wenn deren Bearbeitung nur noch den „academischen Gelehrten“ vorenthalten sei. Die Schriften des Assessors Cramer hätten „zuweilen den Nuzen geleistet […], Prozesse abzuschneiden“ (StadtAA RKG 57, 969, Session vom 2. Juni 1775, zit. nach Denzler 2012a, 94, Herv. i. O.). Auch könne nicht ausgeschlossen werden, so der Vertreter weiter, dass „einer von dem Werth ihrer Sachen eingenommenen und geblendeten Parthey durch die Cramer.en Schrifften die Augen geöffnet worden“ (ebd.). Noch weiter ging der Gesandte der Reichsstadt Ulm, der von einer „natürliche[n] Freyheit […] der Welt und seinen Mitbürger zu dienen“ (ebd.) sprach. Zudem „finden sich zuweilen solche glückliche Genie, welche ohne Abbruch ihrer Berufs Geschäffte, und ohne daraus zu hoffenden Nuzen oder Gewinn, dem wißbegierigen Publico durch brauchbare Neben Arbeiten zu dienen, und dadurch junge Leute zu einer edlen Nacheiferung zu ermuntern, im Stande sind“ (StadtAA RKG 57, 953, Session vom 26. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 94, Herv. i. O.). Letztlich konnte sich die Kommission nicht auf ein Verbot einigen, sodass der Bücherstreit „kein förmliches Ende“ (Denzler 2012a, 95) fand.

Einschlägig für die Frage nach der Organisationsförmigkeit und den Strukturbedingungen der Rechtsprechung am RKG ist der Bücherstreit, weil er deutlich macht, dass die Grenzen zwischen gerichtlichen und gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen seitens des Gerichts als formalisierbar betrachtet wurden. Die Äußerungen der Visitatoren lesen sich implizit als Beiträge zu der organisationssoziologisch wichtigen Frage, welches Verhalten (noch) als Teil der Mitgliedsrolle verstanden werden kann. Die inhaltliche Diskussion lässt sich aus dieser Richtung auf drei Fluchtpunkte verdichten, an denen zugleich manifest wird, wie die Visitatoren zwischen formalen, informalen und gesellschaftlichen Erwartungen differenzierten. Die richterlichen Veröffentlichungen über die Rechtsprechung am RKG wurden dabei entweder als Teil der besoldeten Arbeitstätigkeit, als eine informal geduldete Praxis oder aber als ein Verhalten bewertet, das einer anderen Rolle jenseits der Mitgliedsrolle am RKG zuzurechnen war. Diese drei Deutungen scheinen je nach (geheimen) Inhalt der Publikationen, ihrer zeitgenössischen Rezeption und des Aufwands für ihre Erstellung zu variieren.

Vieles spricht dafür, das Bücherschreiben als eine informale Praxis zu verstehen, die je nach Ausprägung gerichtlich brauchbare wie unbrauchbare (Neben-)Folgen mitführen konnte. Als informelle Regelabweichung (vgl. Bensman/Gerver 1973; Luhmann 1999a, 221 ff., 304 ff.) und zugleich als „illegal“ kann die angesprochene Schreibpraxis der Assessoren zunächst deshalb angesehen werden, weil dieses Verhalten den formalen Schweigepflichten widersprach (vgl. Luhmann 1999a, 304 f.). Laut Gerichtsordnung hatten Assessoren und Kammerrichter per Eid gelobt, „was in Rathschlägen und Sachen gehandelt wird, den Partheyen oder niemand zu eröffnen“ (RKGO 1613, Teil 1, Tit. 71, zit. nach Loewenich 2010, 176, Herv. i. O.; siehe auch Abschn. 6.3.5). In der Gerichtsordnung wurde angeordnet – und durch die Visitationsabschiede bestärkt –, dass die Assessoren die von ihnen bearbeiteten Akten nicht zu Hause für Dritte zugänglich liegen lassen und diese im Falle ihrer Abwesenheit zurück in die Kanzlei geben sollten. Auch die Schreiber der Assessoren mussten den Eid leisten, Schriften nur in der Kanzlei zu erstellen (vgl. Loewenich 2010, 176; siehe auch Schmauß 1973 [1794], 1180, § 85). Insbesondere die in den Senatsberatungen durch die lateinischen Voten der Assessoren formulierten Gründe für die Entscheidungsfindung galten als Gerichtsinterna und waren vertraulich zu behandeln (vgl. Diestelkamp 1999, 202 f.; Jahns 2011, 142 ff.; Baumann 2018, 44 f.).Footnote 19 Gaben die Kammerrichter, die Assessoren oder auch das Kanzleipersonal ihre Stellung am Gericht auf, „so waren sie […] zu ewiger Geheimhaltung verpflichtet“ (Loewenich 2010, 177). Bei Verletzungen der Geheimhaltungspflicht sah der speyerische Gesandte – wie oben zitiert – vor allem die Gefahr, dass das, was in den Schriften (weiter-)verbreitet wurde, im Widerspruch zur öffentlichen Wahrnehmung des Gerichts stehen und dann an anderer Stelle (weiter-)verwendet werden könnte. Die Auffassung, dass die Verpflichtung auf eine idealisierte Außendarstellung nicht einfach persönlicher Loyalität überlassen werden konnte, sondern einer generalisierten Normierung bedurfte – nicht zuletzt durch die Visitatoren –, lässt sich hier ebenfalls als Ausdruck für die Ausbildung einer kollektiv gesetzten Organisationsgrenze interpretieren.

Demgegenüber kann das Schreibverhalten der Assessoren auch als „brauchbare Illegalität“ (Luhmann 1999a, 304 f.) verstanden werden, insofern mit dieser Praxis gewisse Organisationsprobleme – insbesondere Ausbildungs- und Resonanzprobleme – des Gerichts gelöst wurden. Der Zugang zu den Urteilsentscheidungen wurde selbst seitens der Richter als unzureichend empfunden. Wollten die Assessoren in den Senatsberatungen einen Fall rekonstruieren, waren sie trotz der Dokumentation der Urteile weitgehend auf ihre eigene Erinnerung an vergangene Aktenrelationen oder auf eigene Aufzeichnungen angewiesen (vgl. Diestelkamp 2009, 115).Footnote 20 Faktisch kannte nur der jeweils vom Kammerrichter ernannte Assessor – der sogenannte Referent bzw. Korreferent – den Inhalt der Akten zu einem Streitfall genauer (vgl. ebd.). Die Gerichtsordnung sah vor, dass der Referent zu den fallrelevanten Akten einen schriftlichen Bericht – die sogenannte Relation – anfertigte und diese vor dem Senat zur mehrheitlichen Beurteilung vortrug. Eine Akte konnte insgesamt mehrere Meter handgeschriebenes Material umfassen (vgl. Diestelkamp 1995b, 118; 2009, 100 ff.; Loewenich 2012a, 30; 2013, 253 f.; Baumann/Schmitz 2014).

Ein umfassender Zugang zur „Entscheidungsgeschichte“ (Luhmann 2006, 183) des Gerichts war für die Assessoren, Praktikanten und andere Rechtsgelehrte insbesondere deshalb relevant, um die sachliche Konsistenz der Rechtsprechung erhalten bzw. nachvollziehen zu können. Neben den rechtstheoretischen Schriften, die nicht zuletzt „dem Universitätsunterricht dienten, dessen Lehrplan inzwischen auch die Grundlinien reichsgerichtlicher Prozesse umfasste“ (Holthöfer 2002, 210), enthielt die Kameralliteratur auch „sehr spezielle Erörterungen“, deren Themen „ähnlich wie in einem modernen Zeitschriftenaufsatz“ (ebd., 207) als Frage formuliert waren.

Darüber hinaus finden sich in den historischen Forschungen Hinweise dazu, dass die Schriften auch eine gewisse Übersetzungsleistung für die Streitparteien und Prokuratoren (als deren Prozessbevollmächtigte) erfüllten, indem sie über die gerichtsspezifischen Selektionskriterien des Rechtsweges informierten. Teile der Kameralliteratur dienten beispielsweise als eine Art Handbuch bzw. schriftliche Rechtsberatung. In diesem Sinne gaben sie Aufschluss darüber, an welchen prozessrechtlichen Erwartungen – z. B. hinsichtlich Form und Sprache der Eingaben – sich die Streitparteien zur erfolgreichen bzw. resonanzfähigen Kommunikation ihrer Rechtsanliegen orientieren konnten.Footnote 21 Gleichwohl muss bei dieser Interpretation daran erinnert werden, dass die Überlieferung der Schriften selbst noch nicht ausreichend belegt, ob und wie die Texte durch die zeitgenössischen Streitparteien genutzt wurden.

Auf die Brauchbarkeit bzw. Funktionalität der Schreibpraxis deutet implizit auch der Umstand hin, dass die jeweiligen Assessoren jahrzehntelang weder vom Kammerrichter noch von der hierarchischen Doppelspitze formal sanktioniert wurden. Der Einwand des kurkölnischen Gesandten, dass vom Gerichtsgeheimnis „doch mehr nichts, als der Name übriggeblieben“ (StadtAA RKG 57, 952, Session vom 24. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 92, Herv. i. O.) sei, belegt im Umkehrschluss, dass das Bücherschreiben der Assessoren eher eine gängige, „taktvoll ignorierte“ (Luhmann 1999a, 306) Abweichung war – wenngleich sich in der RKG-Forschung keine Nachweise dazu finden, dass diese Praxis durch andere Stelle – insbesondere des Kammerrichter – ausdrücklich toleriert worden wäre.

Neben der beschriebenen Informalität und angedeuteten (un-)brauchbaren Illegalität konkretisiert sich am Bücherstreit, wie mit dem Auftreten widersprüchlicher Verhaltenserwartungen am Gericht umgegangen wurde. Dabei lässt sich als organisationstypische Reaktionsweise beobachten, dass die Visitationsdeputierten – wie der oben genannte Gesandte aus Rottweil – um eine Einhaltung der Konsistenz der Formalstruktur am RKG bemüht waren und zur Lösung interner Konflikte auf den Kaiser und die Reichsversammlung als „der höchsten gesezgebenden Macht“ (StadtAA RKG 57, 953, Session vom 26. April 1775, zit. nach Denzler 2012a, 94, Herv. i. O.) verwiesen.

Letztlich entfiel ein „förmliches Ende“ (Denzler 2012a, 95) aufgrund von Unstimmigkeiten unter den Visitatoren, sodass für das Schreiben von Büchern keine klare Normierung formuliert wurde. Die möglichen Widersprüche in Bezug auf das Gerichtsgeheimnis konnten damit nicht eindeutig aufgelöst werden: „Der kurbraunschweigische Vertreter nahm […] die gesamte 968. Sitzung in Anspruch, um sein 92 Punkte starkes Votum zu Protokoll zu geben, bevor er mit anderen Stimmvertretern dafür eintrat, keinen Beschluss zu fassen. Kursachsen wiederum hielt sich mit anderen die Abstimmung zu einem späteren Zeitpunkt offen. Und die Vertreter der westfälischen und fränkischen Grafen beendeten ihre Voten jeweils mit dem Hinweis, dass das Votum der anderen Grafenbank nicht rechtens sei“ (Denzler 2012, 95). Diese Unterformalisierung der richterlichen Schreibpraxis nahm schließlich auch das Ende der gesamten Visitation vorweg. Aufgrund von mehrfachen Konflikten über die richtige – konfessionsparitätische – Besetzung der Kommission und der damit verbundenen „Selbstblockaden“ (Stollberg-Rilinger 2013a, 20) löste sich die Visitation 1776 auf. In der historischen Forschung wird der Bücherstreit denn auch als Scheindebatte beschrieben, die Ausdruck für die politischen Machtspiele zwischen den Reichsständen und Visitatoren war. Die Bedingungen, unter denen diese Reichskonflikte auf dem Boden des Gerichts verhandelt wurden, spiegeln gleichwohl eindrücklich wider, wie gerichtlich zwischen formalen, informalen und gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen unterschieden wurde.

Verlauf und Gegenstände der Visitationen am RKG zeigen nicht nur, dass sich informale Praktiken nur begrenzt (re-)formalisieren lassen. Erinnert man, dass die Visitationen angesichts der gesellschaftlichen (Repräsentations-)Erwartungen und des Verschriftlichungsanspruchs überfrachtet waren, lässt sich ihr Abhalten auch als „heuchlerische“ Suche nach gesellschaftlicher Legitimation und Akzeptanz verstehen (vgl. Brunsson 1989; Luhmann 1999a, 108 ff.).Footnote 22 Anhand der zitierten Fragmente aus der RKG-Forschung zeichnet sich aus dieser Sicht als organisationstypisches Strukturmerkmal ab, dass Bemühungen um ‚bessere‘ Entscheidungen tendenziell auf eine Vermehrung von Entscheidungen hinauslaufen. Am RKG wird dies anhand der unzähligen Sitzungen deutlich: Rationalisierung in Form der weitläufigen Entscheidungsbeteiligung erzeugte unintendierte Folgeprobleme, die nicht mitrationalisiert wurden (vgl. Luhmann 1978a, 19 ff.). Mit dem Ausbleiben einer Formalisierung der Schreibpraxis verdeutlicht sich dann auch, dass die Suche nach vermeintlich besseren Lösungen vorzeitig abgebrochen wird, wenn die sachliche und soziale Komplexität des Entscheidungswachstums zu hoch und dann nur noch entschieden wird, dass nicht weiter entschieden wird (vgl. Luhmann 1978a, 38 f.).

Allgemein lässt sich die Einrichtung der Visitationen am RKG vor dem Hintergrund der vorgebrachten Überlegungen als ein organisationsprobates Mittel verstehen, mit dem abweichende Verhaltenserwartungen behandelt wurden. Die Visitationen sollten der Identifikation von entscheidungs- bzw. reformbedürftigen Strukturen in der Rechtsprechung dienen und machten dabei zugleich die Interessenunterschiede der „guten Gesellschaft“ sichtbar. Dass es die Möglichkeit der Visitation gab, diente trotz aller Blockaden nach außen der Legitimation des Gerichts, denn auf diese Weise konnte die Änderbarkeit der formalen Gerichtsordnung aufrechterhalten und Verantwortlichkeiten für informales sowie illegales Verhalten zugerechnet werden (siehe zur Affäre Papius Abschn. 6.2.5). Visitationen stabilisierten damit die bestehende Gerichtsordnung. Neben der symbolischen Darstellung einer organisatorischen Lernfähigkeit, können die Visitationen auch Anlass für ein faktisches Anpassen der gerichtlichen Leistungs- und Anspruchsniveaus sein.

Ihrem ideellen Zweck und den Eigentümlichkeiten nach lassen sich zwischen den RKG-Visitationen damit Ähnlichkeiten mit heutigen Untersuchungsausschüssen und Kommissionen erkennen. Dazu zählen insbesondere „das Aufdecken von ‚Verfehlungen‘, die Wiederherstellung ‚öffentlichen Vertrauens‘ und die Beruhigung von ‚Skandalen‘“ (Scheffer et al. 2008, 430, Herv. i. O.). In geradezu widersprüchlicher Weise wird ihnen als nichtständigen Einrichtungen mit einer speziellen Zuständigkeit ein umfänglicher Auftrag zugeteilt, nämlich die Erwartungen bzw. Erwartungsdifferenzen der gesellschaftlichen Umwelt zu repräsentieren (siehe auch Nassehi et al. 2019) und deren Berücksichtigung in der Formalstruktur zu überprüfen. Zur Umsetzung der Ergebnisse stehen ihnen jedoch keine eigenen Zwangsmittel zur Verfügung. Heutige Reform-, Kontroll- und Prüfeinrichtungen versuchen ähnlich wie die Visitationen am RKG, je nach politischer Opportunität und wirtschaftlicher Rationalität organisiertes Fehlverhalten auf bestimmte Personalstellen, Regeln oder Kommunikationswege zuzurechnen.

6.1.5 Richterliche Formalisierungskompetenz: Gemeine Bescheide

Vor dem Hintergrund, dass umfangreiche Änderungen in der Formalstruktur des Gerichts während der über 300-jährigen Existenz vorwiegend über die genannten Reichs- und Visitationsabschiede möglich waren, ist es umso bemerkenswerter, dass einzelne Anpassungen nicht nur von der oberen Mitgliederumwelt bzw. ‚politischen‘ Spitze ausgingen. Die Bindung an (fehlende) Reichstagsentscheidungen wurde in Teilen durch eine „hohe Fülle“ (Oestmann 2011, 11) von sogenannten Gemeinen Bescheiden ausgeglichen. Derartige decreta communia markieren einen „Spagat zwischen einer weitgehend unabhängigen Gerichtsbarkeit und einer praktisch nicht vorhandenen gesetzgebenden Gewalt“ (ebd.).

Konkret war in der Gerichtsordnung des RKG bestimmt, dass die Richter selbst im Plenum die Regeln der Rechtsprechung anpassen konnten. Die Gemeinen Bescheide bezeichneten damit diejenigen Entscheidungen, die das Plenum der Richter selbst zur prozessrechtlichen Ergänzung formulierte. Als Kollegium konnten die Assessoren auf diese Weise Fehler in der Fallbearbeitung definieren und damit selbst die Konsequenzen von Urteilsentscheidungen absichern. Organisationssoziologisch lässt sich anhand der Gemeinen Bescheide deshalb verstehen, wie auf der Ebene der kameralen Mitgliederumwelt die Rechtsprechung von Entscheidungen über die Gerichtsstruktur getrennt war. In einem letzten Abschnitt zur formalen Ordnung des RKG verdient diese Strukturbesonderheit eine genauere Betrachtung.

Spezifisch war an den Gemeinen Bescheiden am RKG, dass diese in ihrem Geltungsgrad vom einzelnen Rechtsstreit gelöst waren und einen umfassenden Anwendungsbereich beinhalten konnten (vgl. Oestmann 2013, 10, 12, 91). Rechtshistorisch fallen die Gemeinen Bescheide dabei in das Spannungsfeld von Einzelfallentscheidung und prozessualer Normsetzung bzw. von Gerichtsurteil und Gesetzgebung (vgl. ebd., 2, 15, 28).

Die Gemeinen Bescheide gehörten seit der Gründung des RKG zum Verfahrensalltag. Ihre Einrichtung wird auf Bestimmungen aus dem seit dem 12. Jahrhundert gelehrten Gemeinen Recht – also dem römisch-kanonischen Recht – und damit aus einem „präpositivierten Recht“ (Riedel-Spangenberger 1995, 99, zit. nach Hecke 2017, 6; vgl. auch Luhmann 1972a, 132 ff.) abgeleitet, auf das bei der Gründung des RKG in vielfältiger Weise zurückgegriffen wurde (vgl. Oestmann 2013, 21). Qua Reichstagsbeschluss wurde diese Praxis später in die Gerichtsordnung des RKG eingeführt. Zwischen 1497 und 1806 wurden am RKG 334 Bescheide erlassen. Die ersten Gerichtsordnungen normierten lediglich, dass Gericht möge „für notwendig gehaltene Gesetzesänderungen sammeln und einmal jährlich an den Reichstag oder eine Kommission bzw. Deputation weiterleiten“ (Oestmann 2013, 21). Die in den ersten 60 Jahren knapp 50 erlassenen Bescheide enthielten entsprechend noch keine explizite „Ermächtigungsgrundlage“ für eine gerichtliche Normsetzung. Rechtshistorisch betrachtet wäre es „anachronistisch, an der Wende zur frühen Neuzeit nach einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage zu suchen“ (ebd., 21). Denn es entsprach dem stilus curiae – also den allgemeinen Formen der rechtlichen Konfliktregelung, wie sie am Papsthof im Mittelalter angewandt wurden –, wenn das RKG die notwendigen Regelungen vorläufig selbst traf (vgl. ebd., 21 f.).

Die erste wesentliche Grundlage zum Erlass der Gemeinen Bescheide durch das RKG war demgegenüber die Gerichtsordnung von 1555. Darin wurde explizit geregelt, dass das RKG selbst Normen setzen und Prozessrechtsänderungen vornehmen konnte, diese in der Audienz bekannt gab und die jeweiligen Bestimmungen bis zur nächsten VisitationFootnote 23 bindend waren. Überliefert ist, dass die Bescheide entweder mündlich in den Audienzen im Anschluss an die Urteile verkündet oder diese durch die Kanzlei handschriftlich vervielfältigt und in gedruckter Form verbreitet wurden (vgl. Oestmann 2013, 6 f., 77 ff., 485 f.).Footnote 24 Ein Jahr später folgte eine Ergänzung: Falls sich das Kameralkollegium in „einer streitigen Frage der Gerichtsordnung oder der Reichsgesetzte nicht einigen könne, sollte es die unklaren Rechtsfragen dem Mainzer Erzkanzler und Kurfürsten mitteilen. Er hatte diese Punkte sodann dem Kaiser und den Ständen vorzulegen“ (ebd., 24 f.).

Auf die Gemeinen Bescheide wurde später auch von der Reichsversammlung explizit bei Einzelfragen verwiesen. Im Jüngsten Reichsabschied von 1654 ermächtigte der Reichstag beispielsweise das RKG, dass das Kameralkollegium zum „schleunigen Lauff“ (JRA 1654 § 194, zit. nach Oestmann 2013, 28, Herv. i. O.) der Audienzen festlegen sollte, „zu welcher Uhrzeit es erlaubt war, Schriftsätze zu übergeben“ (Oestmann 2013, 29). Und diese Regelung hatte das RKG „durch gemeine Bescheide zu publiciren, einzuführen, und bis auf künfftiger Visitatoren, und darauf einer allgemeiner Reichs-Versammlung erfolgende Ratification oder Änderung darob zu halten“ (JRA 1654 § 194, zit. nach Oestmann 2013, 29, Herv. i. O.).

Der Institutionalisierungsgrad der Gemeinen Bescheide ging dabei wie erwähnt teilweise über den Mitgliederkreis des RKG hinaus. Sie konnten als „konkret-individueller Befehl“ an eine Person mit Namen gerichtet oder als „abstrakt-generelle Anordnung“ (Oestmann 2013, 69) formuliert werden. Wie noch dargestellt werden wird, genossen die Mitglieder des RKG sogenannte Kameralfreiheiten (siehe Abschn. 6.4.1), nach denen sie nicht der Obrigkeit des reichsstädtischen Rates unterstanden, sondern dem RKG selbst. Die von den Städten erlassenen Policeygesetze (siehe Abschn. 5.2.2) waren entsprechend nicht auf die Kameralen anwendbar. Als beispielsweise die Stadt Speyer 1666 „seuchenpoliceyliche Anordnungen“ traf, wurden diese für die RKG-Mitglieder erst verbindlich, als deren Inhalt in einem Bescheid wiederholt und damit rechtlich auf sie selbst übertragen wurde (vgl. Oestmann 2013, 68 f.). Manche Bescheide, wie über die Gewährung eines dreimonatigen bezahlten Sonderurlaubs, adressierten nur die Kameralen selbst. Andere Bescheide, etwa zum Ausschank in Wirtshäusern in der Stadt, betrafen auch die Stadtbürger. Offenbar trat das RKG als „Policeyobrigkeit auch gegenüber dem reichsstädtischen Rat selbst“ auf (vgl. ebd., 72). Insofern die Gemeinen Bescheide auch einen gesellschaftsweiten Verhaltensanspruch formulierten, können sie als eine variante lokale Rechtsstruktur verstanden werden – wohlgemerkt eine Rechtsstruktur, die nicht vom Reichstag, sondern von einem Gericht gesetzt wurde (siehe Abschn. 6.1.1). In dieser Hinsicht bildeten sie „eine Art gesetzgeberische Tätigkeit des Gerichts selbst“ (ebd., 10 f.). Als Gerichtstätigkeit verweisen sie gleichwohl auch immer auf die reichsrechtliche Bindung des Gerichts, von der die Geltung bzw. Verbindlichkeit der Bescheide ableitbar war.

Vor diesem Hintergrund sind die Gemeinen Bescheide auch für das Verständnis des Zusammenhangs von Organisation und Verfahren instruktiv, weil am RKG damit nicht nur ein Verfahren der Rechtsprechung, sondern auch der Rechtsetzung formalisiert war (vgl. Schwarting 2017a/b). Die Richter konnten sowohl über die Ausführung als auch über die Ausgestaltung des Prozessrechts in Teilen – wenngleich in unterschiedlichen Situationen – entscheiden. Luhmanns Argument, dass Gerichte als „unter der Herrschaft des Rechts gebeugte bürokratische Prozeduren“ (1983, 19) begriffen werden können, erscheint in dieser Hinsicht relativierungsbedürftig.Footnote 25 Trotz der hohen Rechtsbindung bestanden am RKG innerhalb der genannten Beschränkungen formale Möglichkeiten zur (organisatorischen) Prozessrechtsfortbildung.

Anschaulich für die Trennung von organisatorischen und gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen sind die Regelungen in den Gemeinen Bescheiden, in denen die Assessoren den Einfluss von gesellschaftlichem Status und Rang in der Rechtsprechung am Gericht zu begrenzen suchten. In einem Streit von 1675 zwischen den Prokuratoren und Advokaten auf der einen Seite und den Assessoren auf der anderen Seite ging es beispielsweise um die „Frage des Degentragens und der Kopfbedeckung“ (Oestmann 2013, 73). Das Kameralkollegium beklagte, dass sich die Prokuratoren und Advokaten nicht nur „getroffen und verabredet“ hätten, um „gleich denen Herrn Cammer-Richter; Praesidenten und Assessoren, mit ihren Degen unter den Mänteln in denen öffentlichen Audientzien zu erscheinen“ (GB RKG Nr. 195, 16. Juni 1675, zit. nach Oestmann 2013, 536, Herv. R. S.). Vielmehr unterstellten die Richter, dass die Kameralanwälte versucht hätten, ein „solches auch allbereits in gestriger Audientz also ins Werck zu stellen sich unternommen und sogar einige gesehen worden, welche auf denen Gassen und sonsten mit ihren Degen ohne Mantel daher gangen“ (ebd., Herv. R. S.). Das Tragen eines Mantels war zwar mit dem „Deputationsabschied von 1557 und einem Visitationsmemorial von 1575 vorgeschrieben“ (Oestmann 2013, 73). Die „symbolische Gleichstellung“ durch das Anlegen eines Degens war dagegen für das Beisitzerkollegium „nicht hinnehmbar“. Die Prokuratoren und Advokaten hätten „innerhalb und außerhalb des Gerichts“ (ebd., 536) ihren Degen abzulegen und sich „zu gebührender Ehr des höchsten Gerichts“ (GB RKG Nr. 195, 16. Juni 1675, zit. nach Oestmann 2013, 536, Herv. R. S.). zu verhalten.

Auf diese Einlassungen hin legten die Kameralanwälte bei den Assessoren noch am selben Tag eine „Denkschrift vor […], die ihren Anspruch auf äußerliche Gleichstellung untermauern sollte“ (Oestmann 2013, 537). Die Richter wiederum reagierten innerhalb weniger Tage mit einem bezeichnenden Zugeständnis. Dem Einwand, dass das Degentragen und die damit verbundene Gleichstellung den Assessoren dem „Herkommen“ (ebd., 538) folge, konnten sie nicht widersprechen. Sie wollten dieses Verhalten deshalb „geschehen lassen“ und bestimmten gleichwohl, „daß sie ihre Degen aller Orthen ausser denen öffentlichen Audientzien und Publicationen der Urtheln […] tragen mögen“ (GB RKG Nr. 197, 21. Juni 1675, zit. nach Oestmann 2013, 538, Herv. R. S.). Für die Anwesenheit in der Audienz formulierten die Assessoren eine weitere Lockerung: Hatte der Kammerrichter „sich von dann würcklich erhoben“ (ebd.), durften sie die Degen wieder anlegen. Ein Degenverbot in der Öffentlichkeit und bei der Audienz galt dagegen für die Protokollisten und Schreiber. Diese hatten sich lediglich „ständig mit Mänteln zu bekleiden“ (Oestmann 2013, 74).

Mit der Beschränkung des Degentragens stellten die Richter ihre Aufsicht über die Prokuratoren und Advokaten heraus. In der Reaktion der Kameralanwälte kommt zum Ausdruck, dass diese ihre Verhaltensanpassung auf die Rolle am RKG beschränkt wissen wollten. Dass die Anwälte der Anweisung der Richter erfolgreich widersprachen, kann in dieser Hinsicht als Differenzierung zwischen organisatorischen und gesellschaftlichen Erwartungen verstanden werden. Mit dem Bescheid stand das Degentragen außerhalb der räumlich begrenzten Außen- und Zweckdarstellung des Gerichts nicht (mehr) im Widerspruch zur Formalstruktur des Gerichts. Im Umgang mit den Einwänden bzw. Forderungen der Anwaltschaft zeigt sich zugleich ein kognitiver Erwartungsstil, insofern das RKG-Kollegium in seiner Formalisierungskompetenz auch lernbereit war und das Tragen des Degens außerhalb der Audienz nunmehr als konkurrenzfrei deutete.Footnote 26

Interessant ist an den Gemeinen Bescheiden auch, dass den Richtern an erkennbaren Querverweisen gelegen war. So wiederholten zahlreiche Bescheide ältere Formulierungen oder gesetzliche Anordnungen des Reichstags bzw. ergänzten diese (vgl. Oestmann 2013, 60 f.). Oestmann argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Assessoren bei den Kameralanwälten eine „Beherrschung und Beachtung“ (ebd., 61) der teilweise vor Jahrzehnten ergangenen Bescheide sowie eine „umfassende anwaltliche Rechtskenntnis“ (ebd., 62) voraussetzten. Rechtssoziologisch wird an dieser Stelle relevant, dass das „Finden der für die Entscheidung relevanten Texte“ ein „zentrales (oft übersehenes) Moment juristischen Könnens“ (Luhmann 1995b, 339) ist. Interpretieren und Argumentieren kann man jedoch nur, so heißt es bei Luhmann weiter, „wenn man die einschlägigen Texte bereits gefunden hat“ (ebd.). Die Besonderheit juristischer Auslegung liegt dabei in ihrem „Entscheidungsbezug“, und zwar einem „Bezug auf Entscheidungen in Angelegenheiten anderer“ (ebd., 364 f.), und diese intertextuale Bezugsfähigkeit schließt andere Fälle und andere Rechtsgrundlagen ein. Die Unbestimmbarkeit und Mehrdeutigkeit der Rechtsnormen bilden gerade das Ausgangsproblem juristischen Entscheidens, das sich nicht zuletzt darin äußert, dass sich die Herstellung von Rechtsentscheidungen von ihrer (nachträglichen) Darstellung unterscheidet (vgl. ebd. 1966b, 51 ff.).

Der Anspruch der Richter, neue Bescheide in einen Verweisungszusammenhang mit vorangegangenen Dekreten zu stellen, ist auch aus einer organisationssoziologischen Lesart bedeutsam. Erst im Bemühen um eine inhaltliche Widerspruchsfreiheit in der Rechtsprechung lassen sich konträre Erwartungen über die Gültigkeit bestimmter Normen festmachen, anhand derer dann die Grenzen erkennbar werden, bis zu denen Konflikte bearbeitet werden können. Dies setzt jedoch ein Wissen um eben solche Grenzen voraus. Und gerade hier wird deutlich, wie eine formale Gerichtsorganisation gewährleistet, dass über Personalwechsel hinweg eine kontinuierliche Fallarbeit möglich ist, die rechtlichen Gleichheitsansprüchen und der individuellen Komplexität der Fälle Rechnung trägt (vgl. Schwarting 2017b).

Dass die Grenzen des Rechts selbst wiederum rechtsförmig und innerhalb einer gerichtlich organisierten Rollenauffassung bearbeitet wurden, wird daran ersichtlich, dass am RKG auch für solche Fälle Entscheidungsvorkehrungen getroffen wurden, in denen die Rechtsgeltung nicht eindeutig war. Solche hard cases beschreiben Fälle, in denen die Kenntnis des geltenden Rechts nicht ausreicht, um zu entscheiden, wer im Recht und wer im Unrecht ist (vgl. Luhmann 1995a, 314) und für deren Bearbeitung notfalls das Recht selbst „erfunden werden“ muss (ebd., 317). Dies zeigt sich am RKG exemplarisch bei der Frage, wie mit den „Rechtsnachfolgern aufgelöster Territorien“ (Oestmann 2013, 49) umzugehen sei. Für diese Fälle gab es keine gesonderte Regelung. Die Assessoren entschieden sich interessanterweise bei dem Problem, wie Fälle zu behandeln waren, in denen aufgelöste Territorien die Streitpartei bildeten, dafür, diese „sterben zu lassen“ (ebd.). Diese Entscheidungspraxis leiteten die Assessoren aus dem Jüngsten Reichsabschied (JRA) von 1654 ab. Der Bescheid sah vor, dass beim Tod von Streitparteien ein Verfahren zum Stillstand kommen und von den Anwälten dann ein neues Mandat vorgebracht werden sollte, sofern die bestehenden Vollmachten nicht die Rechtsnachfolger umschlossen (vgl. Oestmann 2013, 49 f.). Dieses richterlich verfügte „Sterben der Streitparteien“ verdeutlicht nach Oestmann zunächst, dass das RKG versuchte, „die Verfassungsumwälzungen mit den altbewährten Mitteln des Zivilprozesses einzufangen“ (ebd., 49). Dass die Assessoren am RKG aufgelöste Territorien wie natürliche Personen behandelten, ohne dass dafür eine explizite Norm vorlag, zeigt deren Bemühen um den Erhalt gerichtlicher Entscheidungsfähigkeit. Dazu entwickelten sie einzelne Entscheidungsregeln und mussten selbst „Recht schaffen, postulieren, voraussetzen, ohne auf diese Weise sicherstellen zu können, daß über die Rechtskraft der Fallentscheidung hinaus auch deren Entscheidungsprogramm gilt“ (vgl. Luhmann 1995a, 314).

Auch die kamerale Umwelt der Assessoren selbst konnte also sachliche Entscheidungsprämissen setzen und verfolgte hier einen rechtsprofessionellen Anspruch. Im Wesentlichen oblag es dem Plenum der Richter, von ihrem „gegenüber dem Reichstag und den Visitationen subsidiären Verordnungsrecht durch Gemeine Bescheide Gebrauch zu machen und erforderliche Prozeßreformen eigenständig vorzunehmen“ (Fuchs 2002, 30, Herv. i. O.). Aus demokratietheoretischer Sicht mag die richterliche Aufgabenüberschneidung von Regelsetzung und Regelausführung als eine eingeschränkte Trennung bzw. mangelnde Unabhängigkeit der Rechtsprechung von der Rechtsetzung erscheinen. Allerdings waren der richterlichen Kompetenz zur Strukturänderung rechtliche Grenzen gesetzt. Die hohe Rechtsbindung des RKG – die nicht zuletzt auf die invarianten Teile des Reichsrechts und der vormodernen Gesellschaftsstruktur zurückgeht – zeigt sich wiederum darin, dass die Richter es auch auf Basis der Gemeinen Bescheide nicht vermochten, die gerichtseigenen Formalisierungs- und Reformkompetenzen selbst zu modifizieren. Sie waren mit anderen Worten nicht fähig, die „Reform zu reformieren“ (Luhmann 1971, 187). Aufgrund der Abhängigkeit von ‚politischen‘ Konsensbeschlüssen auf der Reichsversammlung konnten die Assessoren beispielsweise nicht über die Rechtsbindung, die Mitgliederstruktur oder den Zweck des Gerichts disponieren. Für einen Zuwachs an Entscheidungskompetenzen jenseits des Setzens der Gemeinen Bescheide war das Assessorenkollegium damit auf Zugeständnisse der Hierarchie bzw. der gerichtlichen Gründungsinstanzen angewiesen.

6.1.6 Zusammenfassung

Zur Beantwortung der Frage nach der Organisationsförmigkeit des RKG wurden aus der historischen Forschung verschiedene Beiträge und Quellen ausgewählt, an denen eine Trennung von organisatorischen und gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen deutlich wird. In diesem Abschnitt standen dabei Beschreibungen im Vordergrund, die Aufschluss darüber geben, inwiefern mit der reichsrechtlich verfassten Gerichtsordnung eine Formalstruktur eingerichtet war, die in Konfliktsituationen ein „Monopol auf Legitimität“ (Luhmann 1999a, 64) beanspruchen konnte. Insbesondere die RKG-Forschungen zum Sesselstreit (Abschn. 6.1.2) lassen eine generalisierte Selbstverpflichtung der Assessoren auf eine formale Mitgliedsrolle erkennen. Mit der zeitlichen, sozialen und sachlichen Trennung von Reichstags- und Gerichtsentscheidungen zeigt sich zugleich, dass die operative Rechtsprechung von den Entscheidungen über die Gestaltung der formalen Entscheidungsprämissen am RKG differenziert war.

Für die Mitgliederstruktur des RKG war spezifisch, dass mit der Gründung eine reichsrechtlich verankerte dualistische Spitze in die formale Hierarchie des Gerichts übertragen wurde, die zugleich die „gute Gesellschaft“ im Alten Reich repräsentierte. Die Reichs- und Visitationsabschiede und insbesondere die Gemeinen Bescheide können als Entscheidungsformen angesehen werden, über die die formalen Strukturbedingungen der Rechtsprechung am RKG kritisch reflektiert und angepasst werden konnten. Das Verfahren der Rechtsprechung wurde in dieser Hinsicht durch ein Verfahren der (weitgehend) gerichtsinternen prozessrechtlichen Rechtsetzung ergänzt. Sofern bei dem Erlass der Gemeinen Bescheide der richterliche Normsetzungsgrad über die gerichtlichen Organisationsgrenzen hinausging – wenn z. B. Verhaltenserwartungen gegenüber Nichtmitgliedern wie Stadtbürgern behandelt wurden –, leisteten auch die Gemeinen Bescheide einen Beitrag zur Positivierung des Rechts.

Überleitend zum nächsten Abschnitt ist zu berücksichtigen, dass ein alleiniger Fokus auf die formale Struktur der Rechtsprechung am RKG und ihre Variabilität die Fiktion mitführt, dass in Organisationen nur formal entschieden werden würde. Eine solche Perspektive unterläuft die erläuterte Einsicht, dass es sich bei formalen Erwartungen um eine partielle Erwartungsstruktur von organisierten Sozialsystemen handelt, die ergänzungsbedürftig ist (vgl. Luhmann 1999a, 28, 221, 308). Mit der Stabilisierung einer enttäuschungsfesten Formalstruktur ist deshalb verbunden, dass innerhalb gewisser Grenzen informale Abweichungen möglich sind. Solche Devianzen können als Ausgleich von formalen Rigiditäten und Spannungen verstanden werden; sie tangieren zugleich persönliche Einstellungen zur Mitgliedschaft. Informale Verhaltensweisen sind zwar an die Übernahme einer formalen Mitgliedsrolle geknüpft; sie leiten sich jedoch nicht direkt aus diesen ab. Ihre empirische Rekonstruktion ist besonders herausfordernd, weil sie oftmals ein Schattendasein fristen. Im Folgenden werden Beschreibungen aus der historischen Forschung zusammengeführt, die Hinweise auf die Ausbildung solcher informalen Verhaltenserwartungen geben.

6.2 Informale Strukturausprägungen

Abweichungen von der Gerichtsordnung sind für die Frage nach der Organisationsförmigkeit des RKG deshalb bedeutsam, weil sie im doppelten Sinne die Grenzen des Prinzips der Rollentrennung „als Funktion und Gegenstand formaler Organisationsregelungen“ (Luhmann 1999a, 227) offenlegen. Bevor die informalen Strukturbesonderheiten im Einzelnen veranschaulicht werden, ist es notwendig, ein Verständnis des erwähnten Kameralprozesses am RKG zu entwickeln. Diese Prozessart wurde aus dem römisch-kanonischen Recht abgeleitet und sah eine Urteilsfindung in geschlossenen Räumen (in camera) vor (siehe Fn. 46). Der neuzeitliche Kameralprozess unterschied sich damit von inquisitorischen Prozessen, in denen die Beweisführung und Urteilsfindung weitgehend mündlich und unmittelbar in der Interaktion vor einem Publikum stattfanden. Im Gegensatz dazu vollzog sich der Kontakt der Streitparteien mit dem RKG ausschließlich in Schriftform und war über die prozessbevollmächtigten Anwälte bzw. Prokuratoren geregelt.

Auffällig an der Rechtsprechung am RKG ist eine gerichtsspezifische Trennung zwischen den Audienzen einerseits und den geheimen Senatsberatungen andererseits. Der Einsatz von Schrift kann dabei als wesentliche Bedingung für eine räumliche, sachliche, zeitliche und soziale Trennung von Audienz und Senaten verstanden werden, anhand der sich das Verhältnis von Organisation und Verfahren verdeutlichen lässt: Die Legitimation der Rechtsprechung wurde am RKG auf zwei Ebenen hergestellt. Während in der Audienz Rechtsbehauptungen mit Blick auf die Erfüllung prozessrechtlicher Formfragen vorgefiltert wurden, fand in den Senaten die eigentliche Fallbearbeitung und Urteilsfindung der Richter statt (Abschn. 6.2.1).

Diese Trennung zwischen einer hochformalisierten, gleichsam verwaltungsförmigen Audienz und der eigentlichen Rechtsprechung im Senat war für die Zeitgenossen nicht selbstverständlich. Was wird in einer vorwiegend auf Anwesenheit beruhenden Gesellschaft sozial vorausgesetzt, wenn die Rechtsprechung in Schriftform stattfindet? Wie gingen die Streitparteien mit der rigiden Behandlung ihres Falls im Verfahren um? Welche strukturspezifischen Be- oder Entlastungen entwickelten sich an einem Gericht, das den Prozessparteien die mündliche Interaktion mit ihren Mitgliedern formal untersagte.

Hinweise auf die Ausbildung informaler Verhaltensweisen am RKG gibt zunächst ein Blick auf das öffentliche Audienzgeschehen. Während die Assessoren in der Audienz eine Art Zuhörerrolle hatten, nutzten die Prokuratoren diesen Ort für mündliche Einschübe. Anhand der informalen Ausführungen seitens der Prozessvertreter – die durchaus auch den Charakter von Ausschweifungen annehmen konnten – lässt sich organisationssoziologisch annehmen, dass nicht alle Spannungen und Unsicherheiten bei der Rechtskommunikation in der Audienz abgebaut werden konnten. Zugleich kann aus den Gemeinen Bescheiden, mit denen die Assessoren die hitzigen Ausführungen zu begrenzen suchten, abgeleitet werden, dass den formalen Rollenerwartungen Vorzug gegenüber informalen Abweichungen gegeben wurde (Abschn. 6.2.2).

Weitere Hinweise auf die Ausbildung informaler Verhaltenserwartungen lassen sich zudem aus der Beobachtung entnehmen, dass die Assessoren von der Präsenzpflicht in den Audienzen abwichen. Ihr regelmäßiges Fernbleiben im Gerichtssaal kann als brauchbar-illegaler Umgang mit den formstrengen Zeremoniellregeln, rigiden Umfrageordnungen und dem Schriftprinzip verstanden werden: Indem die Assessoren ihre Anwesenheit auf das rechtsprecherische Kerngeschehen in den Senatsberatungen fokussierten, konnten sie das hohe Prozessaufkommen und die Unterbesetzung am RKG ausgleichen (Abschn. 6.2.3).

In einem vierten Abschnitt veranschauliche ich die Ausbildung informaler Kontaktsysteme an den Grenzstellen des RKG. Exemplarisch steht dabei der persönliche Kontakt zwischen den Deputierten dörflicher Bauerngemeinden und dem RKG-Personal im Vordergrund. Auf dem formalen Rechtsweg am RKG waren die Durchsetzungschancen und Konzessionsanforderungen gerade für juristisch ungeschulte Prozessparteien kaum antizipierbar. Die Bedeutung der bäuerlichen Deputierten kann darin gesehen werden, dass über die von ihnen gepflegten Kontaktsysteme der Schriftprimat sowie die damit verbundenen Unsicherheiten über den Urteilsausgang ausbalanciert werden konnten. Am Beispiel der Kontaktaufnahme der Gemeinde Neuwied-Wied mit dem Kaiser wird deutlich, dass die aus den persönlichen Beziehungen gewonnenen Kenntnisse der Deputierten sich nur eingeschränkt für den formalen Verfahrensgang übersetzen ließen (Abschn. 6.2.4). Die Empfindlichkeit informaler Kanäle zeigt sich zudem beim Auswechseln der bäuerlichen Deputierten (siehe Abschn. 6.2.5).

Die rechtlichen Grenzen informaler Kontaktsysteme werden darüber hinaus auch am Beispiel der Affäre Papius Mitte des 18. Jahrhunderts sichtbar. Bei dieser Affäre handelt es sich um einen Fall bezahlter Einflusskommunikation. Diese bestand darin, dass der Kammerrichter – abweichend von der formalen Senatsordnung – im Austausch gegen materielle Gefälligkeiten ausgewählte Streitsachen an Referenten übertrug, von denen eine für die jeweilige Streitpartei genehme Verfahrensentscheidung zu erwarten war. Der rechtlich wie organisatorisch sanktionierende Umgang des Gerichts mit der bezahlten Bevorzugung bestimmter Streitparteien liest sich als weiteres Indiz für die Dominanz formaler Rollenauffassungen am RKG (Abschn. 6.2.5). Schließlich lässt sich an der Entwicklung der sogenannten „Sollizitatur“ am RKG beobachten, wie eine zunächst informal-brauchbare Praxis zur Verfahrensbeschleunigung gerichtlich formalisiert wurde (Abschn. 6.2.6). In einem abschließenden Teil werden die Einsichten zu den informalen Strukturmerkmalen einer organisierten Rechtsprechung am RKG gebündelt (Abschn. 6.2.7).

6.2.1 Interne Differenzierung von Entscheidungsverfahren

Mit der Frage nach dem Verhältnis von Organisation und Verfahren steht der sogenannte Kameralprozess am RKG im Fokus. Bei dieser aus dem römisch-kanonischen Recht entstammenden Prozessart wurden Urteile wie erwähnt in camera – also in geschlossenen Räumen – beraten und gefällt. Der Verzicht auf Mündlichkeit war für frühneuzeitliche Gerichte nicht selbstverständlich: Der Kameralprozess unterschied sich insbesondere von inquisitorischen (Straf-)Prozessen, in denen die Beweisführung und Urteilsfindung weitgehend unmittelbar in der Interaktion vor einem Publikum verhandelt wurden. Demgegenüber sah die Gerichtsordnung am RKG vor, dass die Rechtsprechung der Maßgabe des gemeinrechtlichen Grundsatzes „Quod non est in actis, non est in mundo“ (Oestmann 2013, 52, Herv. i. O.; siehe auch Luhmann 1972a, 142) folgte.Footnote 27 Angesichts des daraus abgeleiteten „Primat[s] der Schriftlichkeit“ (Denzler 2012a, 95) war am RKG lediglich die Audienz öffentlich, in der die prozessbevollmächtigten Prokuratoren die Eingaben an das RKG-Personal übergaben. Aufgrund des Anwaltszwangs war den Streitparteien die Zuschauerrolle hinter einer Gerichtsschranke vorbehalten.Footnote 28 Gemäß der Gerichtsordnung von 1555 wurden dreimal pro Woche nachmittags für zwei Stunden bei offener Tür Audienzen abgehalten.Footnote 29 In symbolisch-ritueller Hinsicht stellte sich das RKG mit dieser Außendarstellung in die Tradition (spät-)mittelalterlicher Gerichte und des Reichstags.Footnote 30

Im Vergleich zu kaiserlichen Thronbelehnungen und der Reichsversammlung fiel die Audienz am RKG „bemerkenswert unprätentiös und schlicht“ aus (Stollberg-Rilinger 2009, 191). Zu Beginn traten der Kammerrichter – bei dessen Abwesenheit der RKG-Präsident als sein Vertreter – und die Assessoren in den Gerichtssaal ein. Ihnen vorweg ging der sogenannte Pedell, der den Kammergerichtsstab trug, und dem es oblag, die Einhaltung der Audienzordnung zu kontrollieren. Beim Eintritt warteten die Advokaten und Prokuratoren auf den für sie vorgesehenen Bänken. Die Protokollisten der Gerichtskanzlei führten an einem dafür aufgestellten Tisch die Protokollbücher. Der Kammerrichter setzte sich an der Stirnseite des Gerichtssaals auf den thronartigen, mit karmesinrotem Samt bezogenen Sessel, der um drei Stufen erhöht und unter einem Baldachin stand. Links und rechts zu den Füßen des Kammerrichters nahmen die Assessoren auf den um eine Stufe erhöhten Bänken Platz. Die Bänke, auf denen die Prokuratoren und Advokaten mit ihren Schreibern saßen, glichen „Kirchenbänken“ (Mader 2005, 14).Footnote 31 Der Pedell überreichte dem Kammerrichter den Gerichtsstab, mit dem Kaiser Maximilian I. dem RKG bei seiner Einrichtung 1495 seine Rechtsprechungsgewalt übertragen hatte, und bat um Ruhe.Footnote 32 Der Stab wurde während des Gerichtsbestehens nicht gewechselt und symbolisierte die Verkündung der Urteile durch den Kaiser. End- und Zwischenurteile wurden dabei ohne Begründung bekannt gegeben und von den Boten (siehe Abschn. 6.3.2) an die Streitparteien im Reich übermittelt. Die Richter selbst waren von der mündlichen Interaktion in der Audienz ausgenommen. Die räumlichen Grenzen des Audienzsaals bildeten damit die formalen Grenzen des von den Nichtmitgliedern einsehbaren Entscheidungsprozesses (vgl. Diestelkamp 1995b, 97 f., 114; 2009, 105–115; Mader 2003, 14 ff.).

Insbesondere im Vergleich zur spätmittelalterlichen Rechtsprechung (siehe Abschn. 5.1) lässt sich die gerichtliche Audienzinteraktion am RKG als Verfahrensinteraktion mit sequenzieller Arbeitsweise verstehen. Im Unterschied zum äußerlichen Ablauf der Audienzen, der mit Blick auf die Amtskleidung, Sitzordnung und Bestuhlung innerhalb des 300-jährigen Bestehens „weitgehend gleich“ (Oestmann 2009b, IX) blieb, wurde die Audienzordnung zum Zwecke der (Verfahrens-)Beschleunigung im Laufe der Jahre mehrfach angepasst. Organisationssoziologisch betrachtet dienten die Abläufe in der Audienz vorwiegend der prozessrechtlichen Aufbereitung bzw. Verwaltung sowie der (Außen-)Darstellung der Gerichtsentscheidungen. Die richterliche Urteilsfindung und Fallbearbeitung fand dagegen in den Senaten unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter strenger Geheimhaltungs- und Erledigungspflicht statt. Spezifisch für die Rechtsprechung am RKG war dabei eine interne Differenzierung zweier gesonderter „Entscheidungsorgane“ (Luhmann 1983, 175), zu denen neben der Audienz die Senatsberatungen zählten. Ähnlich einer Aufteilung von Hinter- und Vorderbühne (vgl. Goffman 1998) waren Audienz und Senatsberatungen sachlich, zeitlich und sozial voneinander getrennt.Footnote 33 Mit Luhmann gesprochen ermöglichte die Trennung zwischen Audienz und Senat am RKG, dass die Präsentation der Ergebnisse juristischer Fallarbeit nicht mehr „ein Abbild oder Modell“ der „faktischen Entscheidungstätigkeit“ (Luhmann 1966b, 51) war. Die Bedingungen der richterlichen Entscheidungsfindung wurden auf diese Weise organisatorisch von den Bedingungen differenziert, nach denen Rechtsentscheidungen von den Streitparteien abgenommen bzw. akzeptiert wurden.

In der historischen Forschung finden sich verschiedene Indizien, die auf die Ausbildung einer strukturellen Verfahrensautonomie in der Rechtsprechung am RKG hindeuten. Um dies nachvollziehen zu können, wird zunächst der römisch-kanonische Kameralprozess genauer erläutert. Charakteristisch für diesen war eine Gliederung nach Sequenzen: Die prozessualen Handlungen wurden dabei als eine schematische Abfolge von Terminen betrachtet. Eine Audienz oder Senatssitzung befasste sich insgesamt mit verschiedenen Streitfällen in unterschiedlichen Entscheidungsständen, zu denen Zwischen- und Endurteile angefertigt wurden. Das Einreichen der unterschiedlichen Schriftsätze, Anträge und deren Verlesen selbst verlief dabei nach dem genannten Umfrageprinzip. Bei dieser Ordnung wurden die Streitfälle je nach Verfahrensstand aufgerufen und zum nächsten geführt, indem ausstehende Informationen oder offene Fragen abgehandelt oder erneut terminiert wurden.Footnote 34

Die Verfahrensstände von Audienz und Senat waren auf diese Weise miteinander verschachtelt. Für jeden Prozessakt innerhalb eines Verfahrens (z. B. Anklage, Ladung, Stellungnahme, Aktenschluss) gab es bestimmte Zeitpunkte, Rollen und personenunabhängige Regeln. Die Stellungnahmen und Eingaben der Prokuratoren hatten jeweils einen Nachrichtenwert und wirkten als formale Vorbedingung für weitere Sequenzen innerhalb des jeweiligen Verfahrens. Diese Konditionierung der Fallbearbeitung übte zugleich einen Erwartungsdruck auf die Assessoren aus, dass jede Klage gemäß der Gerichtsordnung als Entscheidung zu beantworten war. Ein solcher für die Ausdifferenzierung des Rechts und die Zentralstellung von Gerichten spezifischer „Entscheidungszwang“ (Luhmann 1995, 306 ff.) war am RKG als Mitgliedschaftsbedingung formalisiert. Mit dem Amtseid hatten sich die Assessoren „zu rascher, verzögerungsfreier Justizgewährung“ (Fuchs 2002, 38, Herv. i. O.) verpflichtet. Die Zeitknappheit wurde mehrfach betont. Im Visitationsabschied von 1713 heißt es beispielsweise, dass Abwesenheit und Urlaubszeiten zu vertreten, die Anträge „fleißig“ und „mit Eil“ zu bearbeiten (Visitationsabschied 1713, in Schmauß 1973 [1794], § 42 bzw. § 91, 1160 bzw. 1183, Herv. i. O.), die Akten ordnungsgemäß zu verwalten und zu übergeben seien – auch bei Versterben der Amtspersonen. Verstöße konnten mit Geldstrafen, Ehrverlust und Suspendierung geahndet werden (vgl. ebd., § 12, § 13, § 46, § 47, 1144, 1163). Mit diesen Bestimmungen wurde eine interaktionsübergreifende Fallarbeit geregelt. Die Gerichtsorganisation leistete für das Verfahren, dass relativ komplexe Fälle auch bei Personalwechsel nach einem rechtlichen Unabhängigkeits- und Gleichheitsgebot bearbeitet werden konnten. Diese Verfahrensprämissen waren in der Frühen Neuzeit für die Streitparteien nicht als subjektive Rechte institutionalisiert, sondern als Mitgliedschaftsbedingung im Amtseid der Richter und Anwälte formalisiert.

Die Verfahrensstrukturen waren dabei nicht mit dem Verfahren selbst identisch. Wie eingangs dargelegt (Abschn. 2.1.2; Schwarting 2017a/b), trägt zur Legitimation eines Verfahrens nicht allein der korrekte Ablauf kettenförmiger Handlungen und Termine bei, sondern insbesondere die durch gesetzte Rechtsstrukturen ermöglichte Offenheit über ihren Ausgangs. Diese Unsicherheit über das Entscheidungsergebnis ist erst durch das Eigenrecht des Verfahrens als Interaktion gewährleistet, die es von ritualisierten Handlungen abgrenzt (vgl. Luhmann 1995a, 364 ff.; 1983, 36 ff.). Sie zeigt sich am RKG insbesondere in dem Interpretationsbedarf, den ein kollektives Anschließen bei der aktenförmigen Fallarbeit und Urteilserstellung erforderte. Die legitimationsstiftende Offenheit wird zudem in der Unsicherheit deutlich, mit der die Streitparteien im Verfahren konfrontiert waren und die sie durch persönliche Kontakte und mündliche Selbstdarstellungen abzubauen versuchten (siehe Abschn. 6.2.4. und 6.2.5).

Das Einzelverfahren am RKG verlief vereinfacht wie folgt: Zunächst reichte der Prokurator die Klageschrift seines Mandanten ein. Daraufhin wurde veranlasst, dass dem Beklagten durch die Boten eine Ladung zugestellt wurde. Anschließend hatte der Kläger die Zustellung nachzuweisen, indem er dem Gericht die Ladungsurkunde mit dem Zustellungsbericht des Boten vorlegte. Die betreffenden Prokuratoren hatten sodann ihre Vollmachtsurkunde zu den Akten zu geben, um ihre Berechtigung zur Vertretung der jeweiligen Streitpartei nachzuweisen. Zudem hatten die Parteien einen Eid zu schwören, die sogenannte „Litis Contestatio“ (Schlinker 2009), durch den sie sich den Prozessregeln und der Offenheit der Urteilsentscheidung unterwarfen. In diesem Eid manifestiert sich die Legitimation des Verfahrens. Die Termine setzten sich über den Austausch weiterer Schriften und eventuelle ZeugenbefragungenFootnote 35 fort, bis die Prokuratoren in einem Schlussvortrag ihr Plädoyer für ein Urteil referierten, einen Antrag auf Aktenkomplierung stellten sowie die Kanzleigebühren beglichen.

Erging ein Gesuch zur Schließung der Akte, wurde vorab vom BescheidratFootnote 36 extrajudizial geprüft, ob die sachliche Zuständigkeit und förmliche Zulässigkeit der Sache vorlagen. Im Falle einer Entscheidungsreife wurde die Akte durch den Kammerrichter an einen Judizialsenat und einen bestimmten Referenten – und damit zur eigentlichen Rechtsprechung – weitergeleitet. Der Referent hatte daraufhin einen Urteilsvorschlag anzufertigen, über den die Assessoren im Senat berieten. Die Zwischen- und Endurteile wurden schließlich vom Protonotar im Namen des Reichsoberhaupts in der Audienz verkündet und von den Boten an die Streitparteien übermittelt (vgl. Diestelkamp 1995a, 109 f.; 1999, 262 f., 307 ff.; Fuchs 2002, 25, 43, 115; Oestmann 2001, 37–49). Diese Trennung von Extrajudizial- und Judizialsenat kann insofern als funktional für das RKG angesehen werden, als sie verhinderte, dass es zur Bearbeitung von Fällen kam, die nicht den formalen Richtigkeitsbedingungen des RKG genügten. Diese sachliche Konsistenzprüfung trug zur Entscheidungsabwehr und Konzentration auf das Kerngeschehen in der rechtlichen Fallentscheidung bei.

Neben der Legitimation der (prozess-)rechtlichen Einzelentscheidungen wurde in der Audienz eine ergänzende – organisationsmäßige – Akzeptanzbeschaffung geleistet. Mit der ausdruckskontrollierten und von ständischen Repräsentationssymbolen geprägten Abwicklung des Außenverkehrs wurde ein „Systemvertrauen“ (Luhmann 1999a, 71; 2009, 60) in die Rechtsprechungsfähigkeit des Gerichts geschaffen.Footnote 37 Diese gerichtsspezifische Darstellung der Zweckausrichtung nach außen war für das RKG deshalb relevant, weil es auf ein Aktivwerden der Streitparteien (z. B. schriftliche Eingaben, Anträge auf Prozessbeschleunigung oder auch informale Anfragen) angewiesen war. Zwar konnte das Gericht nicht direkt um ein Publikum werben, dieses jedoch zum Kontakt anregen, indem eine Erwartungssicherheit darüber erzeugt wurde, dass Urteile gemäß der Gerichtsordnung bearbeitet wurden.

Bezeichnend war in diesem Zusammenhang, dass alle Schriften, die in der Audienz eingereicht wurden, an den Kammerrichter als Grenzstelle an der Spitze des Gerichts adressiert wurden. Alle Schriften, die das RKG im Prozessverlauf ergänzend anfertigte und über die Boten an die Streitparteien nach außen versandte, waren mit der Intitulation des Kaisers als Oberhaupt der Rechtsprechung und Teil der Hierarchiespitze des RKG überschrieben (vgl. Scheurmann 1994, 140 f.; Diestelkamp 1995b, 107 ff.; 1999, 299; siehe zu den Boten Abschn. 6.3.2). In dieser Unterscheidung wird deutlich, dass das Gericht bei der Außendarstellung stärker an ständisch tradierten Repräsentationserwartungen orientiert war als bei der internen Entscheidungsfindung (siehe auch Abschn. 6.4).

Auch wenn die öffentliche Audienz auf der einen und die nicht einsehbare Aktenrelation in den Schreibstuben und Senatsberatungen auf der anderen Seite zeitlich, sachlich und sozial getrennt waren, ist es wichtig zu betonen, dass beide Interaktionssysteme operativ Teil des Rechtsprechungsverfahrens am RKG waren. Mit der funktionalen Trennung von Audienz und Senat war deshalb keine asymmetrische Unterscheidung bzw. Hierarchie zwischen einer rechtlichen Entscheidungsherstellung und Entscheidungsdarstellung verbunden. Die Unterscheidung von Herstellung und Darstellung ist in allen rechtlichen Kommunikationen wirksam – nicht zuletzt, weil jeder Kommunikation unterschiedliche Informations- und Mitteilungsaspekte zugerechnet werden können (vgl. Luhmann 1984, 191 ff.; Japp/Kusche 2004). Vielmehr zeigt sich in der intraorganisatorischen Verschachtelung der einzelnen Verfahren zwischen den Audienz- und Senatssitzungen, dass verwaltungsartigen, verfahrensrechtlichen und materiellen Gesichtspunkten jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein relatives Primat zukam. Durch diese interne Differenzierung erscheint die Informationsverarbeitung bei der Rechtsprechung am RKG im Vergleich zu einer auf Selbstjustiz und Gewaltanwendung basierten Rechtskommunikation von personalen Ansprüchen entlastet, zeitlich beschleunigt sowie an sachlicher Konsistenz ausgerichtet.

Auch wenn die Legitimation und Verbindlichkeit der Gerichtsurteile weitgehend dem Recht zuzusprechen ist, lässt sich eine Organisationsleistung des Gerichts für das einzelne Verfahren daraus ableiten, dass die Gerichtsmitglieder die rechtlichen Prämissen ihrer Fallarbeit verfahrensspezifisch aktivierten (vgl. Schwarting 2017b; siehe Abschn. 2.1.2). Angesichts der Vielfalt an konkurrierenden Rechtsnormen war in der Gerichtsordnung vorgesehen, dass die Assessoren darüber entschieden, welche Rechtsquellen in einem Fall vorrangig waren. Damit verbunden war ein relativ hoher Handlungsspielraum der Richter. Nach der Gerichtsordnung war bestimmt, dass die Richter das römisch-kanonische Recht (Gemeines Recht bzw. Reichsrecht) gegenüber dem Partikular- und Gewohnheitsrecht nur subsidiär anwenden sollten (Landesrecht bricht Reichsrecht). Faktisch kehrte sich dieses Verhältnis in der Rechtspraxis am RKG jedoch um und dem Gemeinen Recht wurde ein Vorrang zugesprochen. Denn: Der römisch-rechtliche Lehrsatz „das Gericht kennt das Recht“ galt nur für diejenigen Normen, die dem Gericht offiziell insinuiert, also zur Kenntnis gebracht wurden. Entsprechend musste von den Prozessparteien, die sich auf eine Rechtsquelle beriefen, diese erst allegiert, d.h. behauptet und gegebenenfalls wie eine Tatsache bewiesen werden.Footnote 38 Die Richter hatten in einem solchen Fall zu bestimmen, welche der von einer Streitpartei vorgebrachten Normen – ungeschriebene Herkommensnormen oder kodifizierte Rechtsmaterien – primär geltend waren. Weil die Allegation mit hohen Unsicherheiten sowie Dokumentations- und Informationspflichten verbunden war, wurden von den Richtern wie auch von den Streitparteien selbst die ungeschriebenen Normen in der Praxis weniger stark herangezogen (vgl. Oestmann 2013, 368, 661; Stollberg-Rilinger 2013a, 12 f.).

Diese zunächst implizite Bevorzugung von Schriftquellen wurde 1662 gerichtlich formalisiert, sodass die partikularen Statuten ohne Beweislast seitdem für sich galten. Für das ungeschriebene Gewohnheitsrecht galt weiterhin, dass diese erst mittels Zeugenvernehmung und Präjudizien bewiesen werden mussten. Die Rolle des RKG bei der Rezeption des Gemeinen Rechts lässt sich angesichts der strukturellen Hürden beim Rückgriff auf Gewohnheitsrechte als unintendierte Nebenfolge verstehen.Footnote 39 An dieser Stelle zeigen sich zugleich die Legitimations- und Formalitätsvorteile von schriftlich fixierten Informationen für die Anfertigung bindender Entscheidungen – und zwar in rechtlicher wie organisatorischer Hinsicht: Die Mediatisierung von Erwartungen verleiht diesen eine hervorgehobene kollektive Geltung, die über die Einzelsituation und die physische Anwesenheit hinausgeht. Schrift eröffnet damit besondere Möglichkeiten der Verteilung von Verantwortlichkeiten, der Verhaltenskontrolle und der Konfliktbearbeitung (vgl. Luhmann 1999a, 74 ff., 358 ff.; 1984, 511 ff.). Anhand von Dokumenten lassen sich beispielsweise buchstäblich Wissensabdrücke einer – gleichwohl lückenhaften und interpretationsbedürftigen – Entscheidungsgeschichte eines Verfahrens bzw. einer Organisation nachzeichnen. Die Verschriftlichung formaler Erwartungen (insbesondere in der verfahrensmäßigen Fallarbeit) ist deshalb immer auch mit Konsistenzanforderungen verknüpft, die wiederum hohe Entscheidungslasten mitführen. In Anbetracht der Formstrenge des Audienz- und Senatsablaufs und der Unsicherheit des Verfahrensausgangs stellt sich schließlich die Frage, welche informalen Folgeprobleme sich im Umgang mit diesem ausbildeten. Denn wenn die beiden Funktionen – Herstellung und Darstellung – gerichtlicher Rechtsprechung in einem Verfahren untergebracht und kombiniert werden, sind damit in der Regel Spannungen verbunden (vgl. Luhmann 1983, 227).

6.2.2 Ausschweifungen in der Audienz

Die Ausdruckskontrolle zeichnete sich in den Audienzen insbesondere durch die erläuterte rigide und sequenzielle Umfrage- bzw. Terminordnung ab, nach der Rechtsbehauptungen schriftlich insinuiert werden sollten. Dass am RKG ein Schriftlichkeitsgrundsatz herrschte, bedeutete nicht, dass keine mündliche Kommunikation stattfand. Allerdings hatten die Prokuratoren bei der Vertretung ihrer Mandanten nur begrenzte Möglichkeiten, zu den verkündeten Urteilen Stellung zu beziehen, Prozessschriften zu verlesen, Anträge zu diktieren oder ergänzende Tatsachenbestände vorzutragen. Formal sollten sie Prozesshandlungen (z.B. Vorträge, RezesseFootnote 40 und Beschlüsse) soweit wie möglich vorab schriftlich formulieren.Footnote 41 Dies war offenbar „keineswegs selbstverständlich“ (vgl. Diestelkamp 2009, 107). In der historischen Forschung finden sich in diesem Zusammenhang mehrere Hinweise darauf, dass die Audienzen häufig von „hitzigen“, „lebhaften“ und „weitläufigen“ mündlichen „Ausschweifungen“ seitens der Prokuratoren geprägt waren. Überlieferte Quellen liegen dazu lediglich für die Wetzlarer Zeit vor (siehe Diestelkamp 1995b, 112 ff.; 1999, 301 f.; 2009, 108 ff.).

Meine These in diesem Abschnitt ist, dass die Prokuratoren mit der „Weitschweifigkeit“ (Diestelkamp 2009, 108) ihrer Ausführungen versuchten, die Routinen der Audienz zu lockern, um diejenigen Handlungsspielräume des Verfahrens abzutasten, die zu nutzen im Rahmen des formalen Ablaufs und in Form schriftlicher Eingaben nicht möglich war. Organisationssoziologisch aufschlussreich ist umgekehrt, dass die Assessoren auf unverhältnismäßig lange und „beschwerliche“ (Diestelkamp 2009, 109) Einschübe der Prokuratoren mit Verweisen auf die formale Gerichts- bzw. Audienzordnung reagierten. In einer Reihe von Gemeinen Bescheiden wiederholte und erweiterte das Richterkollegium die Anweisungen zu einem knappen, bescheidenen Audienzstil.

Diese Problemdynamik von informalen Verhaltensabweichungen und formalen Anpassungen lässt sich an einem Beispiel plastisch machen: Der Rechtshistoriker Bernhard Diestelkamp erwähnt, dass am 11. April 1595 ein Gemeiner Bescheid erging, der zur Prozessbeförderung darauf zielte, das langwierige Diktieren einzustellen. Offensichtlich hatte „die Zahl der Neuzugänge rapide zugenommen“, sodass nach Ansicht der Assessoren „das bis dato übliche ins Protokoll Diktieren nicht mehr beibehalten“ (Diestelkamp 2009, 108) werden könne. Der Bescheid folgt dem allgemeinen Schriftlichkeitsgebot bei der Rechtsprechung am RKG und untermauert die oben begründete Funktion der Audienz, eine ausdruckskontrollierte Abwicklung des Außenverkehrs zu erfüllen. Zur Gewährleistung eines zügigen Audienzablaufs wurden die Prokuratoren im Juni 1625 ergänzend angewiesen, bei ihren mündlichen Stellungnahmen „unehrbare und unziemliche Gebärden, Worte und Handlungen zu vermeiden sowie alles schimpfliche, unnütze Reden vor Kammerrichter, Präsidenten und Beisitzern wie nicht weniger alles mündliche Replicieren zu unterlassen, sondern ihre Sachen bescheiden, kurz und mit dienstlichen Worten ohne alles Gezänk und Disputieren vorzutragen“ (Des hochloeblichen kayserlichen und heiligen römischen Reicchs Cammer-Gerichts gemeine Bescheide und andere Raths-Schlüsse vom Jahre 1497 bis 1711 …, Wetzlar 1724, 39 f. Nr. CIX, zit. nach Diestelkamp 2009, 108). Im Oktober 1642 sowie im November 1647 wurden die Prokuratoren erneut in einem Gemeinen Bescheid ermahnt, die mündlichen Prozesshandlungen nicht „hitzig“ oder „weitläufig“ ausfallen zu lassen (vgl. Diestelkamp 2009, 109; Oestmann 2013, 53 f.).

Organisationssoziologisch betrachtet können die mündlichen Ausschweifungen der Prokuratoren nicht einfach als querulante Abweichung oder Desinteresse pathologisiert werden. Die Ausführungen lassen sich vielmehr als eine Problemlösung im Umgang mit dem rigiden, schriftfokussierten Audienzablauf verstehen. Dabei konnten die Prokuratoren vom „Eigenrecht der Interaktion“ (Luhmann 1999a, 295) Gebrauch machen und abtasten, welche Informationen seitens des Gerichts als relevant und resonanzfähig anerkannt wurden. Die Vermutung ist – denn über die genauen Mitteilungsaspekte liegen soweit hier ersichtlich keine Überlieferungen vor –, dass die Prokuratoren in der verlängerten Interaktion versuchten, bedeutungsarme Schriftstücke mit Informationen über den Entstehungskontext anzureichern – zumindest dort, wo sie Chancen für deren Berücksichtigung sahen. Die Ausschweifungen können vor diesem Hintergrund als Indiz für die Unsicherheit hinsichtlich des Verfahrensausgangs gesehen werden und dafür, dass diese Unsicherheit zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Verfahrens bestand. Die Brauchbarkeit der mündlichen Audienzkommunikation hatte allerdings ihre Grenzen in beleidigenden Äußerungen und Redundanzen. Gemäß den Gemeinen Bescheiden konnten diese unterschiedlich scharf sanktioniert werden, sei es mit der Versetzung vor die Gerichtstür, mit Geldzahlungen oder aber auch mit dem Entzug der Anwaltszulassung am RKG (vgl. Oestmann 2013, 42 ff.).

Die weiterführende Frage, inwiefern das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Akzeptanz von Verfahrensentscheidungen selbst beeinflusst, kann hier nicht pauschal beantwortet werden und bedarf vergleichender Untersuchungen. Einerseits finden sich in der soziologischen Forschung vielfältige Hinweise darauf, dass die schriftliche Materialisierung von Erwartungen tendenziell die Verhaltenskontrolle der Beteiligten fördert und Beweislasten reduziert. Es gibt allerdings „keine schriftliche Fixierung des geltenden Rechts, ohne daß dadurch ein Interpretationsbedarf entsteht“ (Luhmann 1995b, 362). Ausgelegt werden Texte für ihre „Verwendung in kommunikativen Zusammenhängen, wie immer selektiv dann Ergebnisse, Gründe, Argumente vorgetragen werden und wie immer die Sicherheit, weitere Argumente nachschieben zu können, zur Inanspruchnahme und Anerkennung von Autorität beiträgt“ (Luhmann 1995b, 363). Dabei wird nicht nur unterstellt, dass die an der Kommunikation Beteiligten denselben Text vor Augen haben. Neben identischen Quellen verlangt eine ‚gleiche‘ Anwendung des Rechts – und damit verbunden auch die Legitimation von Verfahren – eine personenübergreifende, einheitliche Fallarbeit, die durch formale Organisation ermöglicht wird.

Andererseits vermag das Eigenrecht der Situation im Verfahren legitimatorische Nebenwirkungen auf die Akzeptanz der Verfahrensstrukturen und die Fallentscheidung selbst zu entfalten. Im Unterschied zu Schrift besteht ein professionssoziologisch relevanter Vorzug bei der Kommunikation unter Anwesenden darin, dass über physische Wahrnehmungen auf personale Schemata und einfache Heuristiken (vgl. Tversky/Kahneman 1984; Gigerenzer/Engel 2006; Gigerenzer 2006) zurückgegriffen werden kann. Durch Mimik, Gestik, Intonation und Wechselrede lassen sich insbesondere widersprüchliche Angaben und mehrdeutige Selbstdarstellungen (z.B Ironie oder Schweigen) reduzieren. Face-to-Face-Interaktion ist damit weniger voraussetzungsvoll, als es schriftlich-standardisierte Eingaben und Formulare sind, in denen bestimmte Kontexte und Medien als bereits bekannt und akzeptiert unterstellt werden (vgl. Goffman 1982, 97–254; Luhmann 1972a, 227 ff.; 1984, 511 ff.; 1999a, 358 ff.; siehe auch Tacke/Borschers 1993, 134 ff.; Heintz 2014, 234 ff.). Da Schrift die Kommunikation zeitbeständig vom ursprünglichen Interaktionskontext entkoppelt, können die Chancen für physisch erweiterte Selbstdarstellungen umso relevanter werden, je widersprüchlicher oder bedeutungsärmer die schriftlichen Angaben sind. Interaktive Kognitionsleistungen und Glaubwürdigkeitsbelege erscheinen gerade zur Validierung rechtlicher Fallentscheidungen erforderlich, die existenzkritische Lagen von konkreten Personen hervorrufen und dabei Verlierer hinterlassen können. Solche nicht mit Geldzahlungen zu kompensierenden Zumutungen sind insbesondere im Strafverfahren zu erwarten (vgl. Schwarting/Ulbricht 2019).

Werden Routinen durch persönlich gefärbte Einschübe aufgelockert, besteht allerdings die Gefahr (wiederholter) taktloser Entgleisungen, durch die die zuvor gewonnenen Vorteile (z. B. persönliche Sympathien) in ihr Gegenteil umschlagen können (vgl. March/Simon 1958, 141 ff.; Luhmann 1999a, 229 f.). Darüber hinaus ist die Informationsverarbeitung in der Face-to-Face-Interaktion strukturell begrenzt, da Themen nur sequenziell angesprochen werden können. Das Unmittelbarkeitsprinzip, wie es im Strafprozess in England und Frankreich und ab 1806 auch in Deutschland eingeführt wurde, identifiziert André Krischer denn auch als „Komplexitätsschranke und Entlastungshemmnis“ (2014, 221). Auch Cornelia Vismann spricht in Bezug auf den Übergang zur mündlichen Beweiswürdigung durch die Napoleonische Prozessordnung und die darauffolgenden Strafrechtsreformen von einer „stimm- und authentizitätsversessenen Justiz“ (2011, 120); sie weist zugleich auf die wechselseitige Bedingtheit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin. Dass schließlich in Kontinentaleuropa an die angloamerikanischen Verfahrensprinzipien der Mündlichkeit angeschlossen wurde, wird in der Rechtshistorie damit begründet, dass der römisch-kanonische Aktenprozess zunehmend in Konflikt mit subjektphilosophischen Aufklärungsmaximen geriet, die sich demgegenüber an altgermanischen und antiken Öffentlichkeitsidealen orientierten. Die Kritik an der frühneuzeitlichen Rechtsprechung bei der Neugestaltung der Prozessordnungen galt dabei weniger der Schriftlichkeit als solcher. Vielmehr wurde in der Formstrenge der Beweisführung ein leeres obrigkeitliches Ritual gesehen (vgl. Vismann 2011, 99 ff., 112, 126).

6.2.3 Abwesenheit in der Audienz als (un)brauchbare Illegalität

Weitere Hinweise darauf, dass am RKG von den formstrengen Verfahrensregeln abgewichen wurde, zeigen sich darin, dass die Richter oft nicht in formal vorgesehener Anzahl zur Audienz erschienen. Wie zuvor erwähnt, konnten die Streitparteien und andere Nichtmitglieder die Audienz hinter der Gerichtsschranke verfolgen. Das Publikum wurde dabei Zeuge davon, dass sich weder der Kammerrichter noch die Assessoren während der Audienz zu den vorgetragenen Streitsachen äußerten: Gemäß der Gerichtsordnung waren die Assessoren von der mündlichen Interaktion in der Audienz ausgenommen, sodass die Urteile im Senat als eine Folgerung aus rechtlichen Normen und Fakten erscheinen konnten. Die richterliche Fallarbeit fand demgegenüber auf der Hinterbühne statt.

Je nach den von der Reichsversammlung bewilligten Planstellen waren am RKG zwischen 17 und 38 Richtern tätig (siehe Abschn. 6.3.4). Die Gerichtsordnung sah für die Audienz die physische Anwesenheit von vier bis acht Assessoren vor. Die Anzahl der teilnehmenden Richter hing vom ständischen Rang der Streitparteien ab. De facto war es jedoch schon zu Anfang des 16. Jahrhunderts „nicht mehr praktikabel“ (Diestelkamp 1995b, 106), Audienzen stets in voller Besetzung abzuhalten. Vielmehr erschienen häufig nur ein oder zwei Assessoren (vgl. Mader 2003, 13 ff.; Diestelkamp 2009, 113 ff.; Loewenich 2010, 165; 2012b, 65; Oestmann 2013, 55).

Organisations- und rechtssoziologisch interpretiert, wird anhand der Unterpräsenz der Richter in der Audienz deutlich, wie diese auf personale Anforderungsprobleme reagierten. Im Widerspruch standen offenbar die Repräsentationspflichten einerseits und die richterlichen Entscheidungskapazitäten andererseits. Ein Audienzdienst nach Vorschrift hätte dazu geführt, dass weniger Assessoren zur Fallbearbeitung in den Senaten zur Verfügung gestanden hätten. Angesichts des hohen Prozessaufkommens lässt sich die informale Abwesenheit in der Audienz als eine „brauchbar-illegale“ (vgl. Luhmann 1999a, 304) Anpassung an das Organisationsproblem der Unterfinanzierung deuten. Abstrakt gesprochen zeichnet sich hier ein Strukturmerkmal von Organisationen ab, das darin besteht, dass die Außendarstellung auf der einen Seite und die inneren Abläufe auf der anderen Seite durch die Knappheit von Ressourcen (Aufmerksamkeit und Personal) in Konkurrenz geraten. Die Assessoren am RKG versuchten, diesen Zielkonflikt dadurch zu lösen, dass sie die Kräfte der Zweckdarstellung zugunsten der Zweckverfolgung abzogen (vgl. Luhmann 1999a, 100, 110). Die Senatsberatungen und Aktenrelationen betrafen gerade den Zeitraum des Verfahrens, der vom Gericht „den größten Arbeitseinsatz“ (Fuchs 2002, 76) erforderte. Mit ihrem Fernbleiben gaben die Richter der Prozesserledigung Vorrang gegenüber der symbolisch-expressiven Inszenierung einer korporierten Rechtsprechung auf der Vorderbühne.

Im Gegensatz zur Abwesenheit der Assessoren von den Audienzen lässt sich das Fehlen des Kammerrichters in den Senaten als dysfunktional bzw. unbrauchbar beschreiben. So beklagten die Assessoren im behandelten Sesselstreit von 1757 (siehe Abschn. 6.1.2): „Wenn durch seine fortdauernde Abwesenheit alle in pleno zu berathschlagende hochwichtige Angelegenheiten unbesorgt liegen blieben, dann seien unausbleibliche […] Zerrüttung und Verfall dieses Gerichts ohnfehlbar vorauszusehen“ (HHStA Wien MEA RKG 237a, Beilage N.7: Kayl. May. Allergändigstes Rescript, Wien, 19. April 1757, Copia Schreibens an eine hochlöbliche Reichsversammlung zu Regensburg von dem Collegio Camerali datum 7. Junii 1757, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 209, Herv. R. S.). Implizit nahmen die Assessoren dabei Bezug auf den Umstand, dass das Gericht 1704 aufgrund des „chronischen Mangel[s] an Oberaufsicht“ (Jahns 2011, 111) geschlossen werden musste – ein Zustand, der sieben Jahre anhielt. Der Audienz durfte der Kammerrichter nur aus besonderen Gründen fernbleiben. Für diesen Fall hatte er einen ihn vertretenden Präsidenten – einen adligen Assessor – einzusetzen. In Abwesenheit des Kammerrichters im Senat hatte zudem der ranghöchste Assessor die Umfragen zu führen. Für die Verteilung der Akten auf die Richter und die Ernennung der Referenten (siehe Abschn. 6.3.1) gab es demgegenüber weder eine formale noch eine brauchbar-informale Zwischenlösung (vgl. Diestelkamp 1995b, 106; Loewenich 2010, 161 ff.; 2012a, 63 f.).

Ähnlich wie auf der Reichsversammlung lagen die regelmäßigen Absenzen des Kammerrichters insbesondere darin begründet, dass das Amt zwischen der Mitte des 16. und dem Beginn des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich in Personalunion mit geistlichen Ämtern oder Aufgaben als Landesherrn ausgeübt wurde – so insbesondere durch die Bischöfe von Speyer oder die Kurfürsten von Trier. Aber auch im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahm der Kammerrichter trotz seines Aufenthalts in Wetzlar nur selten an den Audienzen teil. Weil auch die Präsidenten oft abwesend waren, wurde der Kaiser während der meisten Audienzen nicht mehr repräsentiert (vgl. Diestelkamp 1995b, 106; Loewenich 2010, 161; Jahns 2011, 108 f.).

Die häufigen Fehlzeiten von Kammerrichter und Präsidenten wurden in den Visitationsabschieden von 1713 und 1776 kritisiert und das Gericht ermahnt, dass bei jeder Audienz zumindest ein Präsident anwesend sein müsse, „um ‚Ehr und Hochachtung des Gerichtes‘ zu mehren“ (Schmauß 1973 [1794], 1168, § 55, zit. nach Loewenich 2012b, 64, Herv. R. S.). De facto blieb es jedoch bei dem regelmäßigen Abwesenheiten von Assessoren, Präsidenten und Kammerrichter. Gleichwohl verringerte sich das Prozessaufkommen im 18. Jahrhundert nur geringfügig und auch der fehlende Personalbestand wurde nur leicht ausgeglichen und den formalen Ansprüchen angepasst. Der feierlichen Symbolik der ersten Audienz, der noch der Kaiser persönlich beiwohnte und bei der er dem Kammerrichter den Gerichtsstab als Insigne der Rechtsprechungsgewalt an das RKG übertrug, wich vor diesem Hintergrund einer pragmatisch-sachlichen Priorisierung – wie sie schließlich auch in den bildlichen Audienzdarstellungen erkennbar wird (siehe Abschn. 6.4.3).

6.2.4 Überspringen formaler Kommunikationswege

Neben den Assessoren und Prokuratoren stellt sich darüber hinaus aus der Sicht der Streitparteien die Frage, wie diese mit der Formstrenge des Audienzablaufs und der Abdeckung der richterlichen Fallarbeit umgingen. Aus der historischen Forschung lassen sich dazu am Beispiel der persönlichen Kontakte, die die Nichtmitglieder mit dem Gerichtspersonal suchten, Hinweise auf die Grenzen der Isolierung von Einzelverfahren gewinnen (vgl. Luhmann 1983, 75 ff.; 1999a, 237, 403; Kieserling 2010, 120). Anhand der informalen KontaktsystemeFootnote 42 zwischen Gericht und Nichtmitgliedern wird erneut deutlich, dass sich die Ansprüche an die Darstellung von Rechtsbehauptungen in der vormodernen Anwesenheitsgesellschaft (Schlögl 2004a/b/c; 2014b) von der Formalstruktur des RKG unterschieden.

Die Pflege guter Beziehungen zum RKG war insbesondere für die historisch neue Prozessgruppe der bäuerlichen Untertanen relevant. Die Vorstellung, dass nichtadlige Bauern als Prozessgegner gegen Adlige auftreten konnten, war in einer auf die Bewahrung von ständischem Rang und Hierarchie bedachten Gesellschaft ungewöhnlich. Wie oben erwähnt, waren im Alten Reich keine allgemeinen und gleichen Bürgerrechte institutionalisiert.Footnote 43 Auch angesichts der prekären Rechtsdurchsetzung ist bemerkenswert, dass am RKG gleichwohl ein oberster Rechtsweg für den „Gemeinen MannFootnote 44 geschaffen wurde. In den damit verbundenen Untertanenprozessen (vgl. Schulze 1983; Troßbach 1985, 1990, 1991, 2009, 2010; Maurer 1996; Sailer 1999; Bähr 2011; 2012a/b) spiegelt sich ein Inklusionsanspruch wider, der deutlich macht, dass das RKG kein Standesgericht des Adels war.Footnote 45

Untertanen bekleideten im Alten Reich keine Funktionsämter und waren von den Kenntnissen der gerichtlichen Leistungsträger abhängig. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Bauern ihre Rechtsanliegen häufig kollektiv vertraten. Für bäuerliche Untertanen lagen die Hürden dabei hoch – nicht zuletzt, weil Prozesse im Allgemeinen kostspielig waren.Footnote 46 Alternativ und ergänzend schickten dörfliche Gemeinden sogenannte Deputierte aus den eigenen Reihen, die persönliche Kontakte zum Gerichtspersonal aufnahmen. Die dörflichen Deputierten blieben mitunter mehrere Monate am RKG. Überliefert ist, dass sie nicht nur vor dem Gerichtsgebäude das zuständige Personal – von den Gerichtsschreibern über die Sekretäre bis hin zu den Präsidenten – abfingen, sondern auch „weniger einsehbare Gelegenheiten“ nutzten (Troßbach 2009, 92). Bei den Kontakten suchten die Deputierten beispielsweise in Erfahrung zu bringen, „welcher Richter für einen einzelnen Fall als Referent zuständig war, wie dieser allgemein Untertanenklagen gegenüberstand, welcher Reputation er sich im Kollegium erfreute und schließlich, ob er für Beeinflussungen – auch materieller Art – zugänglich war“ (ebd., 97; siehe auch Troßbach 1990, 133; 2006, 97 f.).

Wie oben beschrieben, war die Herausgabe von „Interna“ (Diestelkamp 1999, 202 f.) seitens des Personals, insbesondere der Referenten, formal unzulässig. Das Verhalten an den Außengrenzen des Gerichts erforderte deshalb von den Mitgliedern und Nichtmitgliedern besondere Unterscheidungs- und Interpretationsleistungen. Hinweise auf die Differenzierung gerichtlicher und gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen lassen sich empirisch insbesondere anhand der begrenzten Übersetzbarkeit informal gewonnener Personenkenntnisse in formale Gerichtsentscheidungen erkennen.

Zur Veranschaulichung der damit verbundenen Erwartungsgrenzen greife ich auf die historischen Arbeiten Werner Troßbachs über Untertanenprozesse zurück (1985, 1987, 1990, 2000, 2009). Diese beziehen sich zwar weitgehend auf den RHR; wie der Autor festhält, können die Beobachtungen jedoch ebenso als repräsentativ für das RKG angesehen werden (vgl. Troßbach 1990, 134; 2009, 85): Der Agrarhistoriker betont, dass persönliche Begegnungen mit den Reichsgerichten von den bäuerlichen Prozessparteien als „äußerst stimulierend“ (ebd. 1990, 133) für das weitere Prozessgeschehen eingeschätzt wurden. Im Umgang mit den Reichsgerichten sei dabei der anfänglich vielfach zu verzeichnende „naive Monarchismus“ (Friedrich Engels, zit. nach Troßbach 2006, 96; 2009, 88) einer „realistischen Einschätzung“ des Verfahrensgangs gewichen. Für die Zeit ab dem 18. Jahrhundert lasse sich eine „allgemein größere Sachlichkeit, geradezu Routine“ (ebd. 1990, 133) beobachten.

Beispielhaft für diese Entwicklung lässt sich aus den Studien eine Begegnung zwischen Bauern und Kaiser herausgreifen. So sei es den Bauern der Karber Mark bei Frankfurt gelungen, „den neu gewählten Kaiser Karl VI. im Frankfurter Stadtwald mit 300 Mann abzupassen und ihn fußfällig um Hilfe gegen ihre Obrigkeit, die Burg Friedberg, zu bitten. Der Kaiser habe, so berichteten die Bauern später, die Gunst gehabt, unß von auß zu versichern, daß sie unß erhören und erreten wollen“ (ohne Originalquelle, zit. nach Troßbach 1990, 133, Herv. i. O.). Der entsandte Vertreter schrieb trotz negativer Rechtsbescheide an seine Gemeinde: „Bleibet bey Eurem Bescheid, den euch der Kaiser gegeben hat!“ (ebd., Herv. i. O.). Im Prozessverlauf entpuppte sich das kaiserliche Versprechen indes als nicht einlösbar.

Ohne die Originalquellen befragen zu können, bleibt bei diesem Fragment offen, was die Inhalte der Rechtskommunikation waren und wie das genaue Prozessgeschehen verlief. Trotz dieser methodischen Einschränkungen, mit denen das Nachzeichnen informaler Verhaltenserwartungen typisch verbunden ist (siehe Abschn. 3.2.2), lassen sich anhand der Überlieferungen einige organisationssoziologische Einsichten anbringen. Zunächst zeichnet sich an dem Beispiel ab, dass die Bauern mit der kaiserlichen Begegnung die Adressierung persönlicher Interessen und Einflusserwartungen verbanden. Vergleicht man vor diesem Hintergrund die Logiken von Schriftlichkeit und Mündlichkeit (siehe Abschn. 6.2.2), so kann das persönliche Abpassen des Kaisers und sein Verwickeln in ein Gespräch als strategischer Zug gedeutet werden. Im Unterschied zur Schriftkommunikation lässt sich anhand der Kontaktaufnahme mit dem Kaiser im Wald vermuten, dass dieser die Bitten der Bauern in der Situation nur schwer abwehren konnte. Mit einem räumlichen und zeitlichen Abstand scheint es demgegenüber ungefährlicher gewesen zu sein, sich von dem Zugeständnis zu distanzieren.

Dass die gerichtliche Rechtsprechung das Versprechen des Kaisers an die Bauern nicht einlösen konnte, verweist implizit auf die organisatorische Eigentümlichkeit, dass informale und insbesondere mündliche Zugeständnisse nur begrenzt widerstandsfähig gegenüber Dritten sind (vgl. Luhmann 1999a, 44). Gerade weil das persönliche Versprechen des Kaisers unspezifisch und unverschriftlicht blieb, hätte es zusätzlicher Motivation bedurft, die offenbar seitens der Bauern im schriftlichen Nachgang nicht ausreichend mobilisiert werden konnte. Ohne formale Handlungsanleitung musste die Erwartung an das Gericht als illegitim und partikularistisch angesehen werden, denn sie unterlief den formalen Rechtsweg über das Gerichtspersonal.

Weitere Hinweise auf die Ausbildung informaler Kontaktsysteme bei der Rechtsprechung am RKG lassen sich anhand der historischen Zeugnisse über den Deputierten Niclas Diemer aus der Gemeinde Hungen entnehmen. Laut Troßbach (1987, 221–251; 2006, 98; 2009, 94 ff.) ging der Deputierte bei dem gegenüber Untertanen „wohlgesonnenen“ Referenten „Linker“ und einem Präsidenten „ein und aus“. Durch „behutsame Erkundungen“ habe Diemer dabei fallspezifische Einschätzungen einholen können. In einem Briefwechsel mit der Gemeinde notierte dieser: „Bin auch zu nih manttem gekommen als zuhm H. Bressedenten und zu H. Linker und vor Reichs Hoffrath durch Zettel offentsichtlich sollzidirth, bei Hn Bersedentten (!) angehalten umb die Sach vorzunehmen und beim H Linker das Conklus gezeiget. Mit einem Diener des Präsidenten hatte er etlich mahl…gefrühstüket, damith er mir geholfen zum H Bressedentten zu kommen, wih auch etlich mal mith unserm Sollizidattor gefrühstüket“ (ohne Originalquelle, zit. nach Troßbach 1990, 136, Herv. i. O.; siehe auch 2006, 98). Solche Begegnungen, wie sie hier am Beispiel des RHR entnommen sind, die aber wie erwähnt auch für das RKG als vergleichbar angesehen werden, lassen erkennen, dass Bauern eigene (Erfolgs-)Erwartungen im Hinblick auf die gerichtlichen Verfahrensweisen entwickelten. Troßbach zufolge sei das „bäuerliche Syndikat“ teilweise zu einem „geschickten Sachwalter“ (Troßbach 2004) geworden. Die historische Literatur belegt in vielfältiger Weise, dass Bauern Rechtswege und Rechtsurteile als einen eigenen Verhaltensbereich mit eigenen Logiken und Eigenzeiten ansahen, dem sie nicht passiv untergeordnet waren.

Die Erfahrung der Deputierten, dass das Anbahnen von Kontakten mit dem Gericht besonderer Vertrauensmaßnahmen und Vorkehrungen bedurfte, stellte allerdings die Geduld der Gemeinden auf die Probe. Für ein solches Verständnis zu werben, erforderte gegenüber den Auftraggebern eine delikate Überzeugungsarbeit. Nicht selten verloren die Gemeinden das Vertrauen in die Kontaktaktivitäten der Gesandten. Als beispielsweise der besagte Deputierte Diemer zur weiteren Beziehungspflege neue Geldforderungen stellte, beschloss die Gemeinde, ihn auszutauschen. Diemer habe sich darüber enttäuscht geäußert: „als dette ich nichts, als mith grossen Leuten Diener über Felt spazieren gehen 2 bis 3 Tag“ (ohne Originalquelle, zit. nach Troßbach 2009, 94, Herv. R. S.). Seine Nachfolger hätten ihm gegenüber geäußert, er habe „den Prozess verspielt“, er „hette alles beim Achenten lassen ligen und nichts eingegeben“ (ebd., Herv. R. S.). Aus den weiteren Nachzeichnungen bei Troßbach lässt sich annehmen, dass die neu entsandten Deputierten jedoch die Belastbarkeit des von Diemer unterhaltenen Kontaktgefüges verkannten und zu unbedacht nach einem Urteil verlangten (vgl. Troßbach 1987, 246–253; 2009, 94 ff.).

An den gleichwohl fragmentierten Zitaten wird ersichtlich, dass Deputierte in der Gruppe der bäuerlichen Gemeinden als „men in the middle“ (Gouldner 1954, 153) zwischen zwei Stühlen agierten. Ihre Rolle verlangte ein Doppeltes, nämlich die Erwartungen seitens der Gemeinde zu erfüllen und zugleich die Möglichkeiten informaler Einflussnahmen gegenüber dem Gerichtspersonal nicht überzustrapazieren. Ähnliche Rollenkonflikte wie sie Luhmann für die Grenzarbeit der Mitglieder in Organisationen als typisch beschreibt (vgl. 1999a, 226 f.), lassen sich vor diesem Hintergrund auch für die Kontakte der Nichtmitglieder mit dem RKG beobachten. Wenngleich das Handeln der Deputierten schichtspezifische Grenzen hatte, manifestiert sich darin eine personengebundene Rollendifferenzierung.

6.2.5 Formale Sanktionen informaler Einflussnahmen: Affäre Papius

Hinsichtlich des formalen Umgangs mit informalen Kontaktsystemen bei der Rechtsprechung am RKG sind darüber hinaus die historischen Arbeiten über die sogenannte „Affäre Papius“ (vgl. Scheurmann 1994, 205 f.; Fuchs 2002, 200–221; Baumann 2006, 86 f.; Baumann/Eichler 2012, 83) aufschlussreich. Die Affäre firmiert in der RKG-Forschung als „größter Bestechungsskandal“ (Loewenich 2012a, 29; 2013, 255). Der Vorgang selbst lässt sich auf die Zeit zwischen 1750 und 1760 datieren; untersucht wurde er während der oben erwähnten „letzten Visitation“ von 1769 bis 1771 (siehe Abschn. 6.1.4).

Konkret handelte es sich bei der Affäre Papius um eine Reihe von Prozessen, in denen der Kammerrichter Philipp von Hohenlohe-Bartenstein bestimmte Assessoren für die Fallbearbeitung auswählte, die einen für eine Prozesspartei opportunen Ausgang unterstützen sollten. Die Namen der Assessoren, bei denen in Abweichung zu den formalen Regeln eine bevorzugte Behandlung einer Partei erwartbar war, wurden ihm durch seinen HoffaktorFootnote 47 Nathan Aaron Wetzlar genannt. Hohenlohe und die jeweiligen Assessoren erhielten für ihre Gefälligkeitsurteile von Wetzlar Geldzuwendungen in Höhe von drei- bis vierstelligen Guldenbeträgen, die dieser von den jeweiligen Streitparteien erhalten hatte. Die letzte Visitation enthob die betreffenden Assessoren ihrer Ämter und forderte die Reichsstände auf, für die abgesetzten Richter Nachfolger vorzuschlagen. Der Kammerrichter Hohenlohe war bereits 1763 verstorben. Sein ehemaliger Hoffaktor Wetzlar wurde zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und einer Geldbuße von über 230.000 fl. verurteilt (vgl. Fuchs 2002, 202 f., 215 f.; Loewenich 2012a, 32; 2013, 255 f., 263 ff.).Footnote 48

Wie oben erwähnt, hatten sowohl der Kammerrichter als auch die Assessoren bei ihrer Einsetzung per Eid gelobt, „was in Rathschlägen und Sachen gehandelt wird, den Partheyen oder niemand zu eröffnen“ (CRKGO 1613, Teil 1, Tit. 71, zit. nach Loewenich 2010, 176, Herv. i. O.). Zudem sollte geheim gehalten werden, welche Assessoren als Referenten oder Senatsmitglieder mit der Bearbeitung eines Falls beauftragt und an der Urteilsentscheidung beteiligt waren (vgl. Loewenich 2010, 176; Fuchs 2002, 43 ff.). Darüber hinaus sollte „verhindert werden, dass jemand die Verhandlungen in den Senaten belauschen konnte, weshalb der Pedell stets darauf achten sollte, dass die Türen der Senatsräume fest verschlossen waren“ (Loewenich 2010, 177). Auch die Annahme von Geschenken, Geld und sonstigen Diensten war zwischen Parteien und Kameralen auf beiden Seiten verboten (vgl. ebd. 2010, 168; 2013, 253; 2014, 424 f.).

Neben den besagten Auftragsdiensten für den Hoffaktor Wetzlar unterstützte Hohenlohe Prozesse von Verwandten und Freunden, für die er auf Anfrage ebenfalls ihnen gewogene Referenten und Assessoren einsetze. Dieses Vorgehen beruhte auf Dankeserwartungen: Die informalen Ansprüche, die an die Rolle des Kammerrichters gestellt wurden, lassen sich exemplarisch den Forderungen der Streitparteien entnehmen. In einem Schreiben habe ein Bekannter 1755 „ausdrücklich auf die zahlreichen Gelegenheiten“ hingewiesen „bei denen er selbst bereits zugunsten des Hauses Hohenlohe gehandelt habe“ (Loewenich 2013, 262). Ein anderer Bekannter wies auf die „zahlreichen Proben seiner Freundschaft gegenüber dem Haus Hohenlohe hin“ (ebd. 2010, 180, Herv. i. O.). Für die Erfüllung entsprechender Reziprozitäts- und Loyalitätserwartungen konnte der Kammerrichter beispielsweise auf „Fürsprachen“ (ebd. 2014, 420) hoffen, z. B. für ein Amt an fürstlichen Höfen oder für eine Standeserhöhung durch den Kaiser (vgl. ebd. 2013, 260).Footnote 49

Die in der Verurteilung genannten Verletzungen hinsichtlich der gerichtlichen Erwartungen über die Aktenverteilung und Referentenordnung lassen sich vor diesem Hintergrund als informale Abweichungen von der gerichtlichen Formalstruktur lesen. Die damit verbundenen Verhaltensweisen können organisationssoziologisch insofern als illegal verstanden werden, als die partikulare Parteinahme des Kammerrichters bei der Besetzung der Senate und der Verteilung der Prozessakten auf die einzelnen Assessoren im Widerspruch zu den Mitgliedschaftsbedingungen am RKG stand. Die Entlassung der betroffenen Stelleninhaber, die Inhaftierung des Hoffaktors wie auch die Fälle einer gescheiterten Einflussnahme untermauern darüber hinaus die Dominanz formaler Rollenauffassungen.

Die Bestechlichkeit des Kammerrichters lässt sich allerdings zu einem gewissen Teil auch als „brauchbar“ deuten, sofern die Annahme von Geldzuwendungen nicht mit einer Verletzung der Referenten- oder Senatsordnung einherging. Unabhängig von dem speziellen Bestechungsfall waren Geld- und Naturalgeschenke an das RKG-Personal keine Seltenheit, wie in der RKG-Forschung erwähnt wird.Footnote 50 Nicht immer war damit eine inhaltliche Einflussnahme verknüpft, sondern oftmals die Erwartung an die Aufnahme bzw. Aufrechterhaltung der Fallbearbeitung (vgl. Loewenich 2013, 257; siehe auch Fuchs 2002, 203). Geld- und Sachzuwendungen erlaubten den Kammerrichtern – angesichts der teilweise monatelang ausbleibenden Saläre – innerhalb gewisser Grenzen auch, ihre Repräsentationsfunktion gemäß der Gerichtsordnung auszufüllen. Wie hinsichtlich des Sesselstreits angesprochen wurde und im Zusammenhang mit der Kleiderordnung weiter ausgeführt wird, gehörte es zu den Aufgaben des Kammerrichters, die Würde des Kaisers als Mitgründer und obersten Rechtsprecher des Reichs sowie das Gericht als Ganzes mit einer standesgemäßen Lebensführung nach außen zu repräsentieren (vgl. Loewenich 2014, 412; Dieselkamp 1995a, 18 f.; Stollberg-Rilinger 2009, 204 ff.; Jahns 2011, 104 ff.).Footnote 51

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verdienten die Kammerrichter jährlich ungefähr 8.000 fl. bis 10.000 fl.Footnote 52 Diese Summe lag deutlich unter den Ausgaben, die für Kammerrichter gewöhnlich mit ihrem Amt am RKG verbunden war. Wollten sie eine dem kaiserlichen Rang sowie seinem jeweiligen Geburtsstand entsprechende Hofhaltung und Residenz in Wetzlar unterhalten, mussten sie die Differenz aus ihrem privaten Vermögen – meist durch Einkünfte aus ihren Herrschaften – ausgleichen (vgl. Loewenich 2012a, 32; 2013, 257 f.; 2014, 411 f.; Mauerer 2005, 7 ff.; Mader 2003, 58, 352; Jahns 2011, 124). Der Kammerrichter Hohenlohe-Bartenstein verfügte im Vergleich zu seinen Vorgängern nur über ein kleines Territorium und damit über ein relativ geringes Vermögen. Seine finanzielle Situation habe es ihm erschwert, die hohen Kosten des Amtes zu kompensieren, weshalb er anfällig für Zuwendungen gewesen sei, die ihm sein Hoffaktor Wetzlar hatte zukommen lassen (vgl. Loewenich 2012a, 32; 2013, 258 ff.).

Auch wenn der Kammerrichter repräsentative Gründe hatte, von den formalen Erwartungen an seine Rolle abzuweichen, hielt das RKG an ihrer Einhaltung fest. Im Rahmen der letzten Visitation 1767–1776 wurde die Gerichtsordnung als Reaktion auf den Skandal respezifiziert und die Entscheidungskompetenzen des Kammerrichters in zweifacher Weise eingeschränkt: Die Senate sollten erstens – wie schon in der Gerichtsordnung von 1555 vorgesehen – als ständige Entscheidungsorgane eingerichtet werden. Nur noch unter bestimmten Umständen und in Rücksprache mit den Assessoren sollte der Senat ad hoc vom Kammerrichter zusammengesetzt werden können. Zweitens sollte die Verteilung der Akten auf die Senate nicht mehr allein von ihm bestimmt werden. Fortan hatte der Kammerrichter vielmehr „jeden Samstag unter Beisein des Kanzleiverwalters und einiger Assessoren die zu verteilenden Prozessakten auf drei gleichwertige Stapel“ (Loewenich 2013, 264) zu legen, die qua LosFootnote 53 den Senaten zugewiesen werden sollten.Footnote 54 In Bezug auf die Auswahl der Referenten für den Vortrag eines Votums wurden seitens der Visitationskommission keine Neuregelungen getroffen (vgl. Loewenich 2010, 178 f.; 2013, 263 f.; Jahns 2011, 113 ff.). „Gerichtsintern einigte man sich aber darauf, dass die Akten in den Senaten beginnend mit dem ranghöchsten Assessor reihum ausgegeben werden sollten“ (Loewenich 2013, 264). Was an dieser Stelle genau mit „gerichtsintern“ gemeint ist, erschließt sich nicht unmittelbar aus der historischen RKG-Forschung. Vermutet werden kann aus einer organisationssoziologischen Perspektive, dass die Rotationsregel dazu beigetragen haben mag, das Fallaufkommen in erwartbarer Weise zu bearbeiten. Bei unregelmäßigen Losziehungen ist dagegen anzunehmen, dass die damit verbundenen Unsicherheiten über die Verteilung der Akten eine höhere Aufmerksamkeit banden.

6.2.6 Formalisierung informaler Praktiken der Verfahrensbeschleunigung: Sollizitatur

Als ein letzter Hinweis auf die Ausbildung informaler Verhaltenserwartungen im Umgang mit der rigiden Gerichtsordnung ist der Fall der sogenannten Sollizitatur aufschlussreich. An dieser Einrichtung lassen sich charakteristische Schwierigkeiten des Außenverkehrs einer organisierten Rechtsprechung beobachten. Im Vergleich zu anderen Mitteln der Prozessbeschleunigung – wie Anträgen oder Stellungnahmen in der Audienz – bezeichnete das Sollizitieren am RKG eine mündliche oder schriftliche Bitte um die Fortführung der Fallbearbeitung jenseits der Audienz (vgl. Fuchs 2002, 4 ff., 18, 44, 51 f.; Nève 2010). Diese Anfragen hatten „nahezu keine Formerfordernisse und die schwächsten rechtlichen Wirkungen“ (Fuchs 2002, 19 f.). So gab es zu den Gesuchen keinen „ordentlichen Akteneingang“ (ebd. 2002, 27, 12). Vielmehr fanden diese außerhalb der eigentlichen Prozessführung bzw. der „förmlichen Gerichtsaudienz“ (ebd. 2002, 10) und „eher im Antichambre oder auf der Straße“ (ebd.) statt. Wie Barbara Stollberg-Rilinger hervorhebt, entzieht sich damit die Sollizitatur einer eindeutigen verfahrensrechtlichen Einordnung (2013a, 18; siehe auch Fuchs 2002, 183). Organisationssoziologisch betrachtet deutet sich dabei eine informale Praxis an, die es genauer zu beschreiben gilt.

In der Regel fand das Sollizitieren nach Aktenschluss statt, d. h. nach der Vergabe der Akte an einen RKG-Assessor, und damit in einer Situation, in der formal kein weiterer „Sachvortrag“ (Fuchs 2002, 43) möglich war. Zu diesem Verfahrenszeitpunkt galt zudem eine strenge Geheimhaltung hinsichtlich der für die Fallbearbeitung zuständigen Referenten und Senate (vgl. ebd., 33 ff.). Formal war beispielweise untersagt, „was in rathschlegen und sachen gehandelt wird, den partheyen oder niemandts zu eröffnen vor oder nach der urtheyl“ (Oestmann 2001, 19, Herv. i. O.; siehe Abschn. 6.1.4). Damit die Parteivertreter am RKG nicht heimlich Akten oder Protokollbücher in der Kanzlei einsahen, durften sie die Audienz nur bis zu der erwähnten Schranke betreten und sollten während ihres Aufenthalts stets unter Aufsicht gehalten werden (vgl. Loewenich 2010, 176).

Sofern die rechtliche Urteilsentscheidung der Assessoren gemäß den formalen Richtigkeitsbedingungen des Kameralprozesses verlief, stellte das Sollizitieren in zweierlei Hinsicht eine brauchbare Problemlösung dar: Aus der Innenperspektive des Gerichts lässt sich die Sollizitatur als eine Regel zur „Vordringlichkeit des Befristeten“ (Luhmann 1971, 143 ff., 246) verstehen. Die bisherigen Maßgaben zur Fallbearbeitung erlaubten zwar dem Kammerrichter, das Prozessaufkommen gleichmäßig zu verteilen. Unbestimmt blieb in der Gerichtsordnung jedoch, nach welchen zeitlichen und sachlichen Relevanzkriterien die Richter die zugeteilten Fälle bearbeiten sollten. In einer Situation hoher Arbeitsbelastung bestand das Problem selektiver Aufmerksamkeit auf der Seite der Mitglieder insbesondere in der Unsicherheit darüber, zu entscheiden, welcher der Fälle zu priorisieren war.Footnote 55 Für die Assessoren fungierte die Sollizitatur wie eine Art Entscheidungssperre bzw. Stoppregel im Sinne einer „procedural rationality“ (Newell/Simon 1972, 124 ff.; Simon 1978, 9; siehe auch Luhmann 1971, 133 f.), mit der nicht sollizitierte Fälle selegiert werden konnten.Footnote 56 Die Sollizitatur kann demnach als eine Anpassungsleistung an einen gerichtsbedingten Zielkonflikt gefasst werden. Dieser lag darin, dass infolge der Unterbesetzung und des hohen Prozessaufkommens die formalen Zwecke des Gerichts auseinanderfielen – nämlich die Einhaltung der Richtigkeitsbedingungen in der Fallbearbeitung einerseits und der raschen Prozesserledigung andererseits. Wohlgemerkt erforderten am RKG gerade das Erarbeiten der Urteilsvorschläge und die Senatsverhandlungen den größten Arbeitseinsatz. Durch den Fokus auf sollizitierte Fälle konnte der gerichtstypische Entscheidungszwang aufrechterhalten und die Aufmerksamkeit der Richter auf eine rechtlich zulässige und personaltechnisch leistbare Rechtsprechung gerichtet werden.

Als brauchbar erscheint dieser Umgang mit zeitlicher Knappheit und sachlicher Richtigkeit auch deshalb, weil bei einer Priorisierung sollizitierter Rechtsbehauptungen die Fallarbeit an Prozessen, „an denen die Parteien – aus welchen Gründen auch immer – kein Interesse mehr hatten“ (Fuchs 2002, 225), verhindert werden konnte. Das Nicht-Sollizitieren eröffnete mit anderen Worten einen „gesichtswahrenden Rückzug aus einem Prozess, den keine Partei mehr für aussichtsreich hielt“ (Stollberg-Rilinger 2013a, 18). Aus Sicht der am Fortgang des Prozesses interessierten Nichtmitglieder bedeutete die Sollizitatur umgekehrt einen aktiven Umgang mit den unbestimmten Verfahrenszeiten. Die Sollizitatur ähnelte in dieser Hinsicht auch der Einführung einer (sekundären) Warte-Liste.Footnote 57 Beim Außenverkehr konnte insofern eine Art Gegenhandeln der Prozessparteien berücksichtigt werden (vgl. Luhmann 1966a, 19; Levin 1957, 96 ff.), nämlich dass regelgebunden eingerechnet wurde, dass Nichtmitglieder das Interesse an einem Urteil verlieren. Damit wird der Blick von einer Urteilszentriertheit auf die vielfältigen Möglichkeiten außergerichtlicher Konfliktbearbeitung im Rahmen bereits anhängiger Prozesse gelenkt (vgl. Fuchs 2002, 73; siehe zu außergerichtlichen Konfliktregelungen im Alten Reich Cordes 2015; Amend-Traut 2015): Das RKG wurde nicht nur in Erwartung auf ein rechtliches Endurteil hin adressiert, sondern auch bei Konflikten mit politischem Hintergrund zur Disziplinierung der Parteien genutzt (vgl. Bähr 2012b, 282 ff.; Stollberg-Rilinger 2013a, 18). In den genannten Hinsichten erschließt sich die Sollizitatur denn auch als ein die „öffentliche Akzeptanz förderndes Phänomen“ (Fuchs 2002, 225), mit dem sich Proteste abwehren ließen und der Gerichtszweck nach außen legitimiert wurde.Footnote 58 Mit Bezug auf die Frage nach der Organisationsförmigkeit der Rechtsprechung am RKG ist das Sollizitieren auch deshalb instruktiv, weil die Nichtmitglieder damit ihre kollektive Anerkennung der Gerichtsordnung ausdrückten. Indem sich die Streitparteien in Form der Sollizitatur quasi als wartendes Gerichtspublikum erkennbar machten, demonstrierten sie zugleich, dass sie den Zweck und die Regeln der Rechtsprechung am RKG – insbesondere eine rasche Behandlung und eine Urteilsentscheidung – teilten.

Allerdings war die Sollizitatur in der Ausgestaltung zunächst nicht eindeutig geregelt. Neben „Sollizitierzetteln“ finden sich vielfältige Hinweise auf persönliche Kontakte „unter Zuhilfenahme immaterieller wie materieller ‚Insinuationen‘“ (Stollberg-Rilinger 2013a, 19; siehe auch Fuchs 2002, 177 ff.). Während Untertanen beim Sollizitieren tendenziell darauf angewiesen waren, das RKG-Personal auf der Straße abzupassen und anzusprechen, beauftragten Fürsten meist einen sogenannten Sollizitanten, der einen persönlichen Kontakt zu bestimmten Assessoren und dem Kammerrichter aufgebaut hatte. Und gerade für Parteien mit Sollizitanten niederer Herkunft war mitunter das Personal der RKG-Kanzlei die einzige Kontaktstelle, zu der ein relativ ungehinderter Zugang möglich war (vgl. Fuchs 2002, 62 ff., 89, 159; Baumann 2006, 40 f.; Troßbach 2009, 92). Wie angemerkt durften die Prokuratoren nach ihrem Antrag auf Aktenschluss nicht wissen, in welchen Verfahrensstand sich der jeweilige Fall befand und wer für diesen zuständig war. Für die Untertanen und deren Vertreter bestand entsprechend die Frage, wie sie „am geschicktesten Kontakt zu den Assessoren herstellen“ (Fuchs 2002, 10) und diese beispielsweise „in eine Diskussion zur Sache selbst verwickeln“ (ebd., 59) konnten, ohne dass Dritte involviert wurden.

Adlige konnten sich demgegenüber einen eigenen Sollizitanten leisten. Aus einer Bestallungsurkunde lässt sich entnehmen, wie der Fürst von Löwenstein-Wertheim den Prokurator Caspar Friedrich Hofmann als Sollizitanten beauftragte: „Wie uns nun dessen Geschiklichkeit und gute Erfahrung besonders angerühmt auch dabey vorgetragen worden, dass derselbe die Besorgung unsere ihm aufzutragenden Angelegenheiten zu übernehmen bereit seye; So ersuchen wir demselben hiermit den Bevollmächtigten ihn zugleich in allen unseren an hochgenannten Reichs-Gericht pendenten Sachen, nach Maasgab der von uns oder von unserer fürstlichen Regierung ihm zugehen werdenden Instructionen behörigen Orten durch fleissige Sollizitatur unser Interesse zu beobachten in wichtigen Vorkommnissen mit unserem Agenten, dem Prokurator Lt. Besserer communication zu pflegen, und an unsere Regierung von Sachen, die uns betreffen umständlich und nach Beschaffenheit gutachtlichen Bericht zu erstatten“ (StA Wertheim, Löwenstein-Wertheim Rosenberg Lit B Nr. 1537, 2. Februar 1768, zit. nach Baumann 2006, 41, Herv. R. S.). Für die damit vereinbarte Tätigkeit als Sollizitant erhielt Casper Friedrich Hofmann jährlich 100 fl. (vgl. Baumann 2006, 41; Fuchs 2002, 64). Wie aus der weiteren Korrespondenz ersichtlich wird, konnte Hofmann einen engen Kontakt zu dem jeweiligen Referenten des Prozesses aufbauen und sogar – unter Verletzung der Gerichtsordnung – einen für den Mandanten vorteilhaften Assessor als Referenten zur Erstellung der Relation gewinnen (vgl. ebd., 64–70).

Das gerichtsspezifische Bedingungsverhältnis von formalen und informalen (Verfahrens-)Strukturen zeigt sich auch darin, dass infolge der Unterformalisierung der Sollizitatur die Grenzen zwischen einer zeitlichen und inhaltlichen Verfahrensbeeinflussung – und entsprechend zwischen brauchbar-illegalen und unbrauchbar-illegalen Erwartungen – fließend waren. Als ein unbrauchbar-illegales Sollizitierverhalten bei der Rechtsprechung am RKG kann der Fall bezeichnet werden, wenn neben den Geheimhaltungspflichten eine inhaltliche Einflussnahme auf die Entscheidung über Recht/Unrecht ausgeübt wurde. Als solches kann ein Sollizitieren angesehen werden, bei dem Rechtsurteile durch „gesamtgesellschaftliche Vorgaben […], etwa Rücksichten auf den sozialen Status der Parteien oder auf das soziale Netzwerk ihrer Beziehungen“ (Luhmann 1995a, 328) sowie übermäßigeFootnote 59 Geldzahlungen, entschieden wurden.

Im Unterschied zur Sollizitatur bei einem Referenten war zudem im Falle der Sollizitatur beim Kammerrichter oder Präsidenten nicht notwendig eine Verletzung des Referentengeheimnisses gegeben (vgl. Fuchs 2002, 33, 69). Das informale Ersuchen beim Kammerrichter um eine Auswechslung des Referenten war damit nicht a priori unbrauchbar, sondern erst, wenn die genannten Richtigkeitsbedingungen rechtlicher Urteilsfindung beeinträchtigt wurden. Diesen organisationssoziologisch relevanten Unterschied antizipierten offenbar auch die Prokuratoren selbst. Sie machten beispielweise die Grenzen der Einflussversuche gegenüber den Mandanten deutlich und wiesen deren Vorschläge explizit ab, bestimmten Assessoren „direkt vorzuschreiben, wie sie zu votieren hätten“ (Baumann 2006, 49). Zumindest belegen zeitgenössische Korrespondenzen, dass die Mandanten dies „jedenfalls nicht über den Anwalt“ (ebd.) ersuchen sollten. Umgekehrt zeigt sich, dass auch die Mandanten die Erwartungen an Geheimhaltung und richterliche Unabhängigkeit, die an die Prokuratorenrolle gerichtet waren, zu berücksichtigen suchten. In einem Schreiben von 1791 an den Prokurator Hofmann formulierte der Mandant, der preußische Minister Hertzberg, beispielsweise: „Ihr habt Euch zu bemühen, die Vota unsrer Praesentatorum zu erhalten, und solche zu unsrer Kenntniß einzusenden und geben Wir Euch die Versicherung, daß solche geheim gehalten, und Ihr auf keine Weise compromittiert werden sollet“ (SA Wetzlar, Nachlass Hofmann, Brief vom 26. Juli 1791, zit. nach Baumann 2006, 48, Herv. R. S.).

In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus aufschlussreich, dass dem Sollizitieren der Streitparteien nicht immer nachgekommen wurde. In der RKG-Forschung finden sich beispielsweise in Bezug auf Bitten des Kaisers um eine rasche Erledigung seines Falles Belege, dass sich das RKG diesen Gesuchen „unter Verweis auf seine mangelhafte Besetzung und den hohen Geschäftsanfall entziehen“ konnte (vgl. Fuchs 2002, 22). Durch implizite oder explizite Andeutungen auf Überlastungen und Zahlungsversäumnisse konnten die Assessoren offenbar gegenüber dem Kaiser Widerspruch leisten, ohne dass dadurch die formale Hierarchie oder der ständische Rang infrage gestellt wurden.

Ein weiterer empirischer Ausdruck für die Trennung von einer brauchbar-illegalen und einer unbrauchbar-illegalen Sollizitaturpraxis als auch der Dynamik zwischen informalen und formalen Bedingungen zeigt sich im Umgang des RKG mit den (Neben)Folgen. Zwischen 1495 und 1806 wurden insgesamt „ca. 80“ (Fuchs 2002, 2) Normierungen zur Sollizitatur beschlossen und in den Gerichtsordnungen, den Visitationsabschieden sowie in Gemeinen Bescheiden dokumentiert. Diese waren inhaltlich vor allem „negativ“ und als „begrenzende Vorschriften“ (ebd., 4) formuliert. Dass die oben als eine brauchbar-illegale Sollizitaturvariante beschriebenen Praktiken – wie das Vorbringen eines erneuten Sachvortrages oder die Verletzung des Referentengeheimnisses – „eher zurückhaltend“ (ebd., 191) bewertet oder kaum mit den vorgesehenen Sanktionen „und wenn überhaupt nur mit der Androhung einer Geldstrafe im Wiederholungsfalle“ (ebd., 179) geahndet wurden, kann als ein weiterer Hinweis auf die Funktionalität der Sollizitatur am RKG gedeutet werden.

Im Hinblick auf den Umgang des RKG mit der uneindeutigen Ausgestaltung und den illegalen Einflussversuchen sowie auf das Anwachsen des Prozessaufkommens lässt sich schließlich die positive Formalisierung der Sollizitatur verstehen. Mit dem Jüngsten Reichsabschied von 1654 wurde die Sollizitatur zur „Sachurteilsvoraussetzung“ (Fuchs 2002, 35, 73, 225) erklärt und damit als verfahrensrechtliche Norm fixiert. Eine Prozessverteilung fand damit nur noch nach erfolgter Sollizitatur statt. Die Bitten waren nunmehr an Kammerrichter und im Verhinderungsfalle bei den Präsidenten vorzubringen (vgl. ebd. 2002, 144). Der Kammerrichter erhielt im Rahmen seiner Entscheidungskompetenz über die Geschäftsverteilung nunmehr die Aufgabe zu entscheiden, welcher der sollizitierten Fälle zu priorisieren war. Der Ermessensspielraum richtete sich in der Praxis allerdings wiederum oft nach „der Intensität der Sollizitaturen“ (Fuchs 2002, 80; siehe auch Diestelkamp 1995b, 104, 118 f.; Loewenich 2010, 171; 2012a, 30; 2013, 254 f.).

Mit der Formalisierung wurde darüber hinaus eine Autorisierung der sollizitierenden Parteivertreter in Form einer „Sollizitantenvollmacht“ (Fuchs 2002, 116) und – ähnlich wie bei den Praktikanten (siehe Abschn. 6.3.3) – nach entrichteter Gebühr eine Immatrikulation in die Gerichtsmatrikel erforderlich. Über die Immatrikulation wurde in einer vom Kammerrichter eingesetzten Deputation aus zwei Assessoren entschieden, „die den Antragsteller persönlich zu examinieren hatten“ (ebd., 117). Bei positiver Antragsentscheidung wurde den Sollizitanten ein „Kameralpaß“ (ebd., 118) ausgehändigt, den sie dem Pedell vorzulegen hatten und der „nach Beendigung der Mission zurückgegeben“ (ebd.) werden sollte. Eine vollmachtlose Sollizitatur führte „grundsätzlich zur Unbeachtlichkeit“ (ebd., 116).

Die Sollizitatur ist in dieser Hinsicht nicht nur mit Blick auf die Ausbildung informaler Erwartungsstrukturen am RKG besonders instruktiv, mit denen sich die Rechtsprechung auf veränderte Ansprüche seitens der Nichtmitglieder einstellte. Sie kann zudem auch als Indiz für die Variabilität der Gerichtsordnung gelesen werden. Unklar bleibt bei der Formalisierung der Sollizitatur indes, wie der Grad an Intensität beim Sollizitieren vom Kammerrichter bewertet wurde und inwiefern dabei Konflikte mit den regulären Dringlichkeitsvorgaben entstanden. Offenbar entzog sich die Sollizitatur einer weiteren Formalisierung ihres Ausmaßes.

6.2.7 Zusammenfassung

Spezifisch für Organisationen im Allgemeinen ist, dass sich formale und informale Regeln in einem gewissen Bezug zueinander ausbilden und bedingen. In der Organisationsforschung findet sich vielfältiges Anschauungsmaterial darüber, wie ausführliche und starre Regeln informale Verhaltensweisen zu ihrer Umgehung und Entlastung zur Folge haben können. Charakteristisch für die Rechtsprechung am RKG war eine Differenzierung von Entscheidungsverfahren in Audienz und Senatsberatungen. Der rigide Ablauf der Audienzen, ihre räumlich-kommunikative Begrenzung und Abtrennung von den für Nichtmitglieder unzugänglichen Senatsberatungen sowie die ständisch-religiöse Symbolik verdeutlichen ihre Funktion für eine idealisierte, ausdruckskontrollierte Zweck- und Außendarstellung. Die Audienz diente rechtssoziologisch gesprochen der Abnahme von einzelnen Verfahrensentscheidungen bei den Streitparteien und aus einer organisationssoziologischen Perspektive der Legitimation der Rechtsprechungsfunktion des Gerichts als Ganzem. Dazu gehörten das feierliche Eingangszeremoniell mit den mittelalterlichen bzw. ständisch-religiösen Begleitsymbolen, spezielle Briefsiegel für den Schriftverkehr und die Verwendung einer eigentümlich-juristischen Sprache, durch die die jeweiligen Kompetenzen der Gerichtsmitglieder und ihre Entscheidungen „als einheitliche Veranstaltung für ein bestimmtes Publikum“ (Luhmann 1999a, 112 ff.; vgl. auch Goffman 1998, 48) dargestellt werden konnten. Dass die Prokuratoren auf begrenzte Ausdrucksmittel zur Darstellung der Rechtserwartungen ihrer Mandanten mit Ausschweifungen reagierten, kann als informaler Umgang mit der Formstrenge des Audienzablaufs und dessen Ausrichtung auf die Zweckdarstellung des Gerichts interpretiert werden. Die Abwesenheit der Assessoren von der Audienz erscheint vor diesem Hintergrund als Reaktion auf widersprüchliche Anforderungen: der Repräsentation des Gerichtszwecks nach außen und der Einhaltung der Rechtsprechungsfähigkeit nach innen.

Dass die formale Rechtskommunikation zwischen Prokuratoren und Gerichtspersonal in der Audienz offenbar nicht alle Unsicherheiten der Streitparteien über den Fortgang ihres Prozesses abbauen konnte, verdeutlicht sich auch anhand der Entsendung von Deputierten an den Gerichtssitz. Am Beispiel der persönlichen Beziehungen zwischen dörflichen Deputierten und dem Gerichtspersonal konnte angedeutet werden, dass die informale Kommunikation von Rechtserwartungen in solchen Kontaktsystemen besondere Interpretationsleistungen und Vorkehrungen in Bezug auf die Verwendung der dadurch gewonnenen Informationen erforderte.

Umgekehrt kann am Beispiel der Gemeinen Bescheide zur Reformalisierung der Audienzordnung sowie anhand der Neuregelungen zur Referierordnung und Aktenverteilung durch den Kammerrichter im Nachgang der Affäre Papius beobachtet werden, dass das RKG-Personal darauf bedacht war, gerichtsspezifische Verhaltenserwartungen bei der Rechtsprechung in ihrer Bindungswirkung formal zu stabilisieren. Schließlich konnte gezeigt werden, dass informale Praktiken wie die Sollizitatur in Anbetracht ihrer brauchbaren Effekte beim Umgang mit einem erhöhten Prozessaufkommen bzw. einer Unterbesetzung zunächst geduldet und als universelle Vordringlichkeitsregel formalisiert wurden.

6.3 Formale Strukturausprägungen im Besonderen: Personal, hierarchische Kommunikationswege und Programme

Nachdem in einem ersten Schritt zentrale Aspekte behandelt wurden, die für die Ausbildung formaler Verhaltenserwartungen bei der Rechtsprechung am RKG sprechen, die sich von den gesellschaftlichen Strukturverhältnissen unterschieden, und anschließend informale Praktiken aufgezeigt wurden, die sich als Reaktionen auf die Rigidität der Gerichtsordnung verstehen lassen, widme ich mich in einem dritten Schritt gesondert einigen formalen Strukturaspekten. Analytisch leitend sind dabei spezielle Fragen nach den Ausprägungen der Entscheidungsprämissen Personal, Hierarchie und Programme (siehe Abschn. 3.2.1): Durch welche Erwartungen waren Auswahl- und Beförderungsentscheidungen sowie Entlassungen am RKG bedingt? Welche formalen Kommunikationswege mussten beachtet werden? Durch welche Regeln war die Fallarbeit strukturiert?

Ein zentrales Indiz für die Ausbildung einer formalen Mitgliedsrolle im Sinne eines Arbeitsverhältnisses lässt sich dem Amtseid entnehmen. Den darin formulierten Verhaltenserwartungen wurde eine personen- und standesübergreifende Geltung zugesprochen. Im Unterschied zum mehrdeutigen sogenannten Antrittskompliment, das ein Reichstagsgesandter ablegte (siehe 5.2.1), enthielt der Amtseid am RKG eine generalisierte Selbstverpflichtung gegenüber einem Kollektivsingular. Die Amtsinhaber verpflichteten sich der Einhaltung der Gerichtsverfassung, in der die Erwartungen von Reichsoberhaupt, Reichsständen und Reich weniger getrennt als in corpore in einer Rolle gebündelt waren. Der Amtseid markierte in diesem Sinn die Erwartungsgrenze, von der alle internen Entscheidungen des Gerichts (einschließlich der Anerkennung von Weisungsbefugnissen) abhängig gemacht wurden.

In der RKG-Forschung werden dem zeitgenössischen „gedruckten Personalverzeichnis“ („Judicii Camerae Imperialis Personae“; Jahns 2011, 100, Herv. i. O.) zufolge 23 Ämter mit „dem Rang nach verschiedenen Kameralfunktionen“ (ebd., 101) unterschieden, die wiederum in drei Ranggruppen untergliedert waren. Zu diesen zählten erstens die besoldeten Ämter der Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren. Zweitens wurden die Kanzleiverwalter, Notare, Boten, Leser, Pfennigmeister, Pedelle und Kopisten aufgelistet. Einer dritten Gruppe werden zulassungs- und immatrikulationspflichtige Rollen zugeordnet, dazu gehören insbesondere die Prokuratoren, Advokaten und Praktikanten.

Die Ausdifferenzierung gerichtsspezifischer Mitgliedsrollen lässt sich anhand der verschiedenen (formalen und informalen) Verhaltenserwartungen veranschaulichen, die an die jeweiligen Personalgruppen sowie die Erfüllung der Kameralfunktionen gerichtet wurden. Bei dieser Analyse konzentriere ich mich exemplarisch für die rechtsprechende Mitgliederumwelt auf die Rollen des Kammerrichters, der Assessoren und Praktikanten, sodann der Boten als Teil der Gerichtskanzlei sowie im Anschluss auf die Grenzstelle der Prokuratoren und spezifiziere die für diese Stellen relevanten Entscheidungsprämissen (Tab. 6.1).

Tab. 6.1 RKG-Personalverzeichnis „Judicii Camerae Imperialis Personae“

Wie bereits angedeutet, hatte der Kammerrichter die Dienstaufsicht über das Assessorenkollegium (Abschn. 6.3.1). Der Kammerrichter selbst war von der Rechtsprechung im engeren Sinne ausgeschlossen. Er entschied vielmehr maßgeblich über die Verteilung des Prozessaufkommens. Laut Gerichtsordnung repräsentierte der Kammerrichter zudem das Gericht nach außen. Insbesondere in der Audienz verkündete er die Urteile im Namen von Reichsoberhaupt und Reichsständen. Mit der speziellen Ausrichtung auf einen „bestimmten Umweltsektor“ (Luhmann 1999a, 221) lässt sich seine Rolle als oberste Grenzstelle verstehen, in der er die reichsrechtliche Spitze am Gerichtsort vertrat. Für diese Repräsentation des Gerichts standen ihm in der stratifizierten Gesellschaft der Frühen Neuzeit standesartige bzw. schichtspezifische Erwartungen auf der Ebene von Werten bzw. Symbolen zur Verfügung. Stärker als andere Mitgliedsrollen war das Amt des Kammerrichters nicht nur den Erwartungen der Nichtmitglieder ausgesetzt, sondern stand auch intern im exponierten Kontakt mit der reichsrechtlich abgeleiteten Doppelspitze des Gerichts. Die faktische Grenzstellenarbeit des Kammerrichters verdeutliche ich am Beispiel des sogenannten Kalenderstreits. An der Hinhaltepolitik des Kammerrichters wird erkennbar, wie er als „Zwischenvorgesetzter“ (Luhmann 1999a, 213; 2018, 231) die formalen Anordnungen des Reichsoberhaupts zugunsten der Urlaubserwartungen der protestantischen Assessoren „unterwachte“ (Luhmann 1962b, 22; 2018, 420), um den Gerichtsbetrieb aufrechtzuerhalten.

Neben dem Kammerrichteramt lässt sich mit den Boten (Abschn. 6.3.2) und den Prokuratoren (Abschn. 6.3.5) eine untere bzw. mittlere Grenzstelle bei der Rechtsprechung am Gericht festmachen. Die Einrichtung hierarchisch abgestufter Grenzstellen ist insofern interessant, als sich darin eine interne Differenzierung des Außenverkehrs am RKG manifestiert. An dieser wird deutlich, dass „der Verkehr mit Außenstehenden nicht in gleicher Weise Sache aller Mitglieder“ (Luhmann 1999a, 220) war. Offenbar gab es am RKG einen relativ hohen Bedarf für Personal, welches das RKG sowohl nach außen zu repräsentieren als auch Ansprüche seitens der Nichtmitglieder nach innen zu übersetzen hatte. Die verschiedenen Grenzstellen können implizit als ein Strukturausgleich für das Kontaktverbot zwischen den Streitparteien und den Richtern verstanden werden. Spezifisch an der Rolle der Boten war demgegenüber, dass diese auf den direkten Verkehr mit den Streitparteien spezialisiert waren, sich selbst als „Vermittler reichskammergerichtlichen Ansehens“ (Mader 2003, 268) definierten und diese Stellung in Konkurrenz mit Notaren verteidigten.

Anhand der RKG-Praktikanten zeichnet sich darüber hinaus ab, dass für die Übernahme einer Richterstelle nicht nur ein juristisches Universitätsstudium als notwendige Einstellungsvoraussetzung formalisiert war, sondern auch belegbare Praxiserfahrungen in vergleichbaren Tätigkeiten (Abschn. 6.3.3). Dazu zählte insbesondere ein Praktikum, das am RKG im Rahmen einer akademischen „Pilgerreise“ absolviert wurde und das als Teil einer gerichtsspezifischen Sozialisation und Personalentwicklung verstanden werden kann. Dass die Praktikanten am RKG immatrikuliert und von Gerichtsmitgliedern unterrichtet wurden, verdeutlicht dabei, dass das RKG im Alten Reich nicht nur eine zentrale Rechtsadresse, sondern auch eine berufliche Ausbildungsstätte war.

Hinsichtlich der Assessoren ist für die Frage nach den formalen Strukturbedingungen der Rechtsprechung am RKG bedeutsam, dass über den Zugang zu diesen Stellen weitgehend vom Richterkollegium selbst entschieden wurde. Zwar sollten die Kandidaten vom Reichsoberhaupt und von den Reichsständen jeweils gemäß eines komplizierten Verteilungsschlüssels – nach Territorium, Stand und Konfession – vorgeschlagen werden. Die Entscheidung über die Annahme einer solchen sogenannten Präsentation wurde dagegen vom Assessorenkollegium nach leistungsbezogenen Kriterien getroffen: Neben einem juristischen Universitätsstudium hatten die Präsentierten eine Zulassungsprüfung in Form einer „Proberelation“ zu absolvieren. Bemerkenswert ist auch, dass an die Fallarbeit der Assessoren professionsartige Anforderungen gestellt wurden, wie sie insbesondere in der kollegialen Kontrolle sowie der Selbstverpflichtung auf eine Gemeinwohlorientierung zum Ausdruck kommen (Abschn. 6.3.4).

Wie oben angesprochen, wurde mit der Zulassungspflicht der Prokuratoren als Prozessbevollmächtigte am RKG ein Anwaltszwang eingerichtet. Der Zulassungseid fungierte dabei als Mitgliedschaftsbedingung, die eine richterliche Disziplinaraufsicht seitens der Assessoren über die Prokuratoren vorsah. Qua Zulassung und der Bestallungsurkunde durch die Streitparteien hatten die Prokuratoren eine mittlere Grenzstelle inne. In dieser Funktion und mit ihrem Wissensmonopol hinsichtlich der formalen und informalen Rechtsprechungsstrukturen am RKG vermittelten die Prokuratoren zwischen den gerichtlichen Leistungsrollen und dem Publikum der Streitparteien. Mit der damit verbundenen Rollendifferenzierung als Professionelle standen die Prokuratoren zudem in Konkurrenz zu den Advokaten einerseits und den Assessoren andererseits. Zugleich wiesen sie die Reichsstände an, wie diese die formalen Regeln bei der Präsentation von Kandidaten für das Richteramt und bei der Finanzierung des Gerichts einhalten konnten (Abschn. 6.3.5). Abschließend werden die wesentlichen Hinweise auf eine Organisationsförmigkeit des RKG zusammengefasst (Abschn. 6.3.6).

6.3.1 Kammerrichter als oberste Grenzstelle

Als Indiz für die Organisationsförmigkeit des RKG wird im Folgenden veranschaulicht, dass das Kammerrichteramt als eine formale Mitgliedsrolle verfasst war, die Direktorialaufgaben vorsah und an die insbesondere ständische Repräsentationserwartungen gestellt wurden. Plastisch wird die Ausbildung einer Mitgliedsrolle beim Kammerrichteramt anhand historischer Beschreibungen, in denen aus einer organisationssoziologischen Perspektive deutlich wird, wie dieser im Konfliktfall seine formale Rolle als dominante Verhaltenserwartung auffasste. Im Unterschied zum kaiserlichen Hofrichter, dessen Amtszeit mit dem Tod des Kaisers bzw. Königs endete, konnte der Kammerrichter am RKG auch vom nachfolgenden Kaiser nicht ausgetauscht werden. Gemäß der Reichsreform von Worms 1495 galt ein reichsständisches Vorschlagsrecht für die Besetzung des Kammerrichteramtes. Ab dem Jahr 1548, nach Abklingen der Reichsreformdebatte, lag die Kompetenz zur Ernennung des Kammerrichters und der zwei standesgleichen Vertreter aus der Richterschaft – der Präsidenten – allerdings beim Kaiser (vgl. Jahns 2011, 119 ff.; Loewenich 2014, 422).

Formal schrieb die Gerichtsordnung vor, dass der Kammerrichter mindestens dem Grafen-, Freiherrn- oder Fürstenstand angehören sollte. Dies entsprach zum einen der ständischen Norm, dass der geburtsmäßige Rang umso höher sein musste, je höher die Würde eines Amtes bzw. desjenigen war, den der Amtsinhaber repräsentierte. Zum anderen trug die Standesgleichheit des Gerichtsvorsitzenden dem Ebenbürtigkeitsprinzip des germanischen Rechts Rechnung, nach dem die höheren Reichsstände nur von Standesgleichen gerichtet werden konnten. Entsprechend sah die Gerichtsordnung vor, dass bei Urteilen gegen (Kur)Fürsten oder fürstenmäßige Reichsstände entweder der Kammerrichter in der Audienz anwesend sein musste oder einer der Präsidenten. Faktisch hatten die Kammerrichter ihr Amt im Schnitt zehn Jahre inne, bevor sie beispielsweise in den kaiserlichen oder fürstlichen Dienst wechselten oder verstarben (vgl. Scheurmann 1994, 208, 103 f.; Diestelkamp 1995b, 103 f.; Stollberg-Rilinger 2009, 204 f.; Loewenich 2010, 165 ff.; Jahns 2011, 106 ff.).

Zu einer weiteren Gemeinsamkeit zwischen Kammerrichteramt und der mittelalterlichen Richterrolle „im Sinne der altdeutschen Gerichtsverfassung“ (Diestelkamp 1995b, 103) zählte, dass der Kammerrichter keinen juristischen Abschluss vorweisen musste. Nach der mittelalterlichen Rechtstradition schlossen sich die Übernahme des Gerichtsvorsitzes in der Audienz und die Ausübung der Rechtsprechung gegenseitig aus. Letztere war entsprechend den Assessoren vorbehalten. Auch wenn der Kammerrichter selbst keine rechtliche Entscheidungsbefugnis bei den Voten in den Senaten hatte und damit nicht an der Fallarbeit und Urteilsfindung im engeren Sinne beteiligt war, wurden von ihm Kenntnisse des Gemeinen Rechts sowie Erfahrungen im Dirigieren von Aufgaben erwartet (vgl. Diestelkamp 1995b, 103 f.; 2011, 122 ff.; Oestmann 2011, 99 ff.).

Explizite Hinweise auf die Ausbildung einer Mitgliedsrolle – und damit auf eine Verlagerung der Strukturbildung hin zu abstrakteren Identifikationspunkten – finden sich bereits im reichsständischen Entwurf der Gerichtsordnung von 1486. Im Rahmen des Amtseids verpflichteten sich der Kammerrichter und die Assessoren nicht auf den Dienst für eine Person, sondern auf eine generalisierte Autorität und Aufgabenerfüllung, die darin bestand, „des reichs recht und die Übung des Hofes zu beachten und nach redlichen, erbarn und leidelichen ordenungen, statuten und gewohnheiten der fürsten-thümer, herrschaften und gericht, die für sie bracht werden, zu richten“ (RKGO-Entwurf 1486 Art. II, zit. nach Oestmann 2002, 53, Herv. i. O; vgl. auch Loewenich 2010, 168). Dieser Wortlaut wurde in der Gerichtsordnung von 1495 „unverändert“ übernommen und auch der Richtereid von 1555 „lehnte sich wörtlich daran an“ (Oestmann 2002, 53; siehe Abschn. 6.3.5).

Zusätzlich zur Verpflichtung auf die Rechtsnormen und Reichstagsbeschlüsse bestimmte die Gerichtsordnung, dass sich der Kammerrichter und die Assessoren von keiner anderen Pflicht als derjenigen ihres Amtes bei ihren Entscheidungen beeinflussen lassen sollten. Ab 1613 wurden sie deshalb nochmal von allen ihren früheren Eiden gegenüber Kaiser, Kurfürsten und Ständen explizit entlassen. Neben konkurrierenden Dienstverhältnissen war auch die Annahme von Geld und Geschenken untersagt. Zudem verwehrte die Ordnung den gesellschaftlichen Umgang mit den Prozessparteien und deren Vertretern. Umgekehrt konnte ein Prokurator beim Verdacht, dass ein Kammerrichter oder ein Assessor wegen Verwandtschaft oder Freundschaft mit einer der Prozessparteien befangen war, einen Ausschluss vom Verfahren beantragen (vgl. Loewenich 2010, 169 f.; 2013, 253 f.; Jahns 2011, 112, 145 ff., 190 ff.).

Neben der symbolischen Repräsentation des Kaisers als höchster Gerichtsherr im Reich übte der Kammerrichter Direktorialaufgaben aus. Ihm oblag die Verantwortung für die ordnungsgemäße Einhaltung der Prozesse. So hatte er zu kontrollieren, dass sich die Assessoren, Prokuratoren und Kanzleimitglieder gemäß der Gerichtsordnung verhielten, und gegebenenfalls Pflichtverletzungen zu ahnden. Sollte er beispielsweise bemerken, dass ein Assessor nicht sorgfältig arbeitete, konnte er diesen in Absprache mit den Assessoren verwarnen und bei wiederholtem Auftreten des Amtes entheben (vgl. Diestelkamp 1999, 291 ff.; Jahns 2011, 112 ff.; Fuchs 2002, 43; Loewenich 2010, 172 ff.).

Auch wenn der Kammerrichter nicht zum sogenannten Spruchkörper des Gerichts zählte, war seine Rolle strukturell für die Rechtsprechung im engeren Sinne bedeutsam: Er entschied darüber, welchem Senat ein Prozess zugeteilt wurde, welcher Assessor die Aktenrelation erstellte und diese als Referent vor dem Senat vorzutragen hatte. Zudem leitete er die Umfragen in den Senaten.Footnote 60 Wie oben angesprochen hatte der Kammerrichter dabei nur wenige formale Regeln zu beachten, die als Reaktion auf die Affäre Papius in der Visitation 1776 angepasst wurden. Mit der geringen Spezifizierung seiner Aufgaben war potenziell ein breiter Handlungsspielraum verbunden. Organisationssoziologisch interessant ist, dass der Kammerrichter seine formale Amtspflicht als primäre Erwartungsstruktur definierte. Aufschlussreich sind beispielsweise Loewenichs Ausführungen über den Kammerrichter Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch, der offensichtlich nicht bereit war, gegen die formale Gerichtsordnung zu verstoßen, und konfligierende Erwartungen abwehrte. Der Kammerrichter Fürstenberg-Meßkirch war von 1717 bis 1721 am RKG tätig und wechselte 1726 als Prinzipalkommissar an den Reichstag nach Regensburg. Während seines Amtes erhielt er „zahlreiche Gesuche um Beförderung von Prozessen“ (Loewenich 2013, 262). Er beantwortete diese in der Regel mit der Zusicherung, dass er alles tun werde, „was innerhalb des gesetzlichen Rahmens möglich“ sei (ebd.). Zugleich verwies er darauf, dass die Beschleunigung von Prozessen nicht sein persönlicher Verdienst sei, sondern „lediglich zu seinen Amtsgeschäften“ (ebd.) gehöre. Wenn eine Partei annahm, dass Fürstenberg sich in besonderem Maße für sie eingesetzt hatte, betonte er ausdrücklich, „keinen besonderen Dienst geleistet und nichts getan zu haben, was er von Amts wegen nicht sowieso hätte tun müssen“ (ebd.). In einer konkreten Situation habe Fürstenberg der Enttäuschung des Bischofs von Speyer über einen für ihn ungünstigen Prozessausgang entgegnet, dass eine Beförderung der Sache „wie sie dieselbe selbst gar wohl begreiffen in meinen händen nicht gestanden“ (FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14a, Froben Ferdinand Fürstenberg-Meßkirch an Damian von Speyer, Wetzlar 21. März 1721, zit. nach Loewenich 2013, 263, Herv. R. S.). Das Verhalten des Kammerrichters sollte als gerichtlich begründet gelten und nicht durch partikulare Motive der Benachteiligung oder Bevorzugung. Wenngleich solche Effekte unterstellt werden mögen – und insbesondere mit der Affäre Papius belegt sind –, waren sie gegenüber Nichtmitgliedern nicht darstellbar. Der Rückzug auf die formale Rolle lenkte am RKG die Vorwürfe wie Dankbekundungen der Streitparteien ins Persönliche, wo sie ohne formale Konsequenzen blieben (siehe auch Luhmann 1999a, 51 f.). In den historischen Fragmenten wird zugleich die Rolle des Kammerrichters als „Prellbock“ (Jahns 2011, 119) deutlich, womit ein „Balanceakt zwischen den verschiedenen Kräftefeldern innerhalb und außerhalb des RKG“ (ebd.) verbunden war. Bemerkenswert bleibt, dass der Kammerrichter den formalen Erwartungen und Situationsdefinitionen Priorität zusprach und diese gegenüber informalen Ansprüchen im Konfliktfall aufrechtzuerhalten versuchte. Trotz der formalen Ausdruckskontrolle sind bei einem „Neutralisieren“ (Luhmann 1999a, 269, 49 f.) von externen Ansprüchen auch unintendierte Nebeneffekte einzurechnen: Im Falle des Abweisens von Einflusserwartungen hatten die Kammerrichter zugleich mit Enttäuschungen und Sanktionen umzugehen. Dazu zählte das stille Ausbleiben von formal unerlaubten „Geschenken“ und „Gelegenheiten“ (Loewenich 2013, 262) oder der Hoffnung auf einen Wechsel in den fürstlichen oder kaiserlichen Dienst (vgl. ebd. 2013, 260).

Dass der Kammerrichter formale und informale Rollenerwartungen situativ zu unterscheiden wusste, zeichnet sich zudem am sogenannten Kalenderstreit von 1723/1724 ab. Dabei handelte es sich um einen Konflikt um die Anerkennung der Osterfeiertage zwischen dem Kaiser und der protestantischen Assessorenschaft. In der historischen RKG-Forschung ist der Streit genauer von Maria von Loewenich (2014) untersucht worden. Mit dem Visitationsabschied von 1713 wurden die bis dahin nach unterschiedlichen Kalendern berechneten und entsprechend abweichenden Feier- und Ferientage für protestantische und katholische Assessoren am RKG vereinheitlicht. Jedoch setzten die Protestanten für sich weiterhin den Ostertermin unterschiedlich an. Dies führte 1724 zu einem abweichenden Feiertag und in der Folge zu einem Streit zwischen den Assessoren und dem Kaiser. Als Anfang des Jahres 1723 der Kaiser die von den protestantischen Assessoren geforderte Anpassung der Osterferien ablehnte, „beschlossen sie, an den protestantischen Festterminen nicht bei Gericht zu erscheinen“ (Loewenich 2014, 427). Der damalige Kammerrichter – Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein – wie auch die katholischen Assessoren fürchteten, der Konflikt könne das Gericht „arbeitsunfähig“ machen (vgl. ebd.). Der Kammerrichter bat deshalb die protestantischen Assessoren, bis zu einer Entscheidung des Reichstags die Gerichtsgeschäfte weiterzuführen. Vorsorglich wies er an den betreffenden Tagen keine protestantischen Richter für die Audienzen zu. „Gleichzeitig versuchte er gegenüber dem Kaiser den Konflikt auszusitzen“ (ebd.), obwohl von diesem bestimmt wurde, gegen die protestantischen Assessoren „ohne ruckfrag stärklich zu verfahren“ (HHStA Wien MEA RKG 194a, Kaiser Karl VI. an Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein, Wien 29. März 1724 (Kopie), auch in HHStA Wien MEA RKG 230, zit. nach Loewenich 2014, 427, Herv. R. S.). Als sich vier Tage vor dem protestantischen Ostertermin die evangelischen Assessoren erneut nicht zur Kooperation bereitfanden, beschloss Hohenlohe gemeinsam mit den katholischen Assessoren, den Kaiser abermals um Instruktionen zu bitten. Der Kaiser „durchschaute“ (Loewenich 2014, 427) offenbar Hohenlohes Taktik und habe sich „ungehalten“ (ebd.) über die „geringe Würckung“ seiner Befehle gezeigt; leitete jedoch keine weiteren Instruktionen an (vgl. HHStA Wien MEA RKG 194a, Kaiser Karl VI. an Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein, 6. Mai 1724, zit. nach Loewenich 2014, 428, Herv. R. S.), so dass die protestantischen Assessoren schließlich arbeitsfreie Ostertage hatten.

Was hier in der RKG-Forschung als „Hinhaltepolitik“ bezeichnet wird, lässt sich organisationssoziologisch in zwei Hinsichten interpretieren: Erstens wird am Kalenderstreit deutlich, wie der Kammerrichter innerhalb der Gerichtshierarchie als Grenzstelle agierte. Zweitens ist interessant, dass direkte Anweisungen des Reichsoberhauptes nicht umstandslos vom Kammerrichter ausgeführt wurden. Vielmehr suchte dieser eine Zuspitzung des Konflikts und ein damit verbundenes Ausfallen der Rechtsprechung am Gericht zu umgehen. Dies gelang dem Kammerrichter offenbar, indem er die oberen Anweisungen in der Zeitdimension zugunsten der unteren Stellen auflöste, und damit die Spitze gewissermaßen „unterwachte“ (Luhmann 1962b, 22; 2018, 420). Mit dem Begriff Unterwachung bezeichnet Luhmann den Umstand, dass auch Untergebene den Vorgesetzten lenken können. Bei diesem Mitgliedschaftsverhalten werden Informationen, die formal qua Hierarchie von unten nach oben weiterzuleiten sind, durch Verweise auf Überlastung – oder wie im genannten Fall: auf Unkenntnis über das weitere Vorgehen – zurückgehalten. Dabei mögen die Grenzen zwischen Lenkung und geschicktem Ausweichen mithin fließend sein.

Das Besondere der Unterwachung besteht darin, dass mit dem Hinweis auf Überlastung, Unkenntnis oder auch Unvermögen untere Ebenen gegenüber Vorgesetzen implizit ihren sachlichen Widerspruch kommunizieren können, ohne dass sie dadurch die Hierarchie infrage stellen. Dieser Effekt beruhte beim Kalenderstreit darauf, dass der Kaiser die zeitliche Streckung der Nachfragen des Kammerrichters nicht als Strategie überprüfen konnte – wenngleich er diese durchschaut haben mag. Ohne den Motivverdacht auflösen zu können, war der Kaiser wie ein Nichtmitglied gehalten, sich an „sekundären Zeichen der Zuverlässigkeit zu orientieren“ (Luhmann 1999a, 179). Der Kaiser war als Teil der oberen Mitgliederumwelt insofern kommunikativ isoliert, als er Informationen über die Assessoren i.d.R. nur vom Kammerrichter und damit vorgefiltert erhielt.

6.3.2 Boten als untere Grenzstelle

Das Botenwesen am RKG organisationssoziologisch zu reflektieren ist aufschlussreich, weil dieses die Einrichtung einer unteren Grenzstelle erkennen lässt, die auf den direkten Kontakt mit den lokalen Streitparteien spezialisiert war. Laut Gerichtsordnung durften die vom RKG ausgehenden Ladungen, Mandate, Urteile und sonstigen Gerichtsbriefe nur durch eigens für diese Aufgabe vereidigte Kammerboten persönlich zugestellt und verkündet werden. Um Klageschriften oder Ladungen auszuhändigen, mussten die Kammerboten die Beklagten dazu oft mühsam aufsuchen. Für das Passieren der zahlreichen Zoll- und Chausseestätten führten die Boten eigene „Kaiserliche Kammergerichts-Pässe“ (Oestmann 2013, 49, 800) mit. Bei einem hohen Geschäftsanfall wurden ergänzend notarielle Zustellungen beauftragt (vgl. Diestelkamp 1999, 300; Prange 2002, 58 f.; Mader 2003, 272).

Die Boten waren der Kanzlei zugerechnet und unterstanden einem Botenmeister. In den Kameralkalendern, in denen die Besoldung der Gerichtsmitglieder festgehalten wurde, waren sie in der untersten Rubrik – noch nach den „Kopisten“ und dem „Holzanschneider“Footnote 61 (Mader 2003, 289; Jahns 2011, 100) aufgeführt. Auch die Boten selbst hätten sich schließlich als „soldateske“ bezeichnet, „als niedrigeres Kriegsvolk des Kaiserlichen und Reichskammergerichts“ (Mader 2003, 289, Herv. i. O.). Der mit dem Botenwesen verbundene Anspruch, „als Vermittler reichskammergerichtlichen Ansehens“ (Mader 2003, 268) aufzutreten, war in der Gerichtsordnung fixiert und kam nicht zuletzt in ihrer Ausstattung zum Ausdruck. Mit ihren silbernen Schildern, die den Doppeladler mit der Krone und dem österreichischen Monarchiewappen zeigten, zeichneten sie sich einerseits als Mitglieder des RKG aus und verwiesen andererseits zugleich auf die Doppelspitze von Reichsoberhaupt und Reichsständen als den Gründungsinstanzen des RKG. Durch diese Insignien grenzten sie sich zugleich gegenüber den (einstigen) kaiserlichen Notaren ab (vgl. ebd., 275).

An die Boten wurden vor allem zu feierlichen Anlässen des Gerichts besondere Repräsentationserwartungen gerichtet. So hatten sie während der Audienzen und bei der Amtseinsetzung eines Kammerrichters mit Uniform und Schild am Gerichtshaus aufzuwarten. Bei Feierlichkeiten nahmen die Boten in einer Formation Aufstellung: „Von der untersten Treppe bis zur äußersten Türe des Kameralhauses bildeten sie zwei Reihen, zwischen denen ein Gang gelassen wurde“ (HHStA Wien, RK, RKG Visit. 378, Konvolute Amtseinsetzung Spaur und Reigersburg, zit. nach Mader 2003, 271, Herv. i.O.). In dieser zeremoniellen Formation sollte sich die Bereitschaft der Boten symbolisieren, das Gerichtsgebäude sofort zu verlassen, um die ergangenen Urteile und Ladungen im Reich zuzustellen (vgl. ebd., 271; siehe auch Diestelkamp 1999, 300; Loewenich 2010, 162 f.; Fuchs 2003, 263 f.).

Laut Gerichtsordnung hatten die Assessoren das Ernennungsrecht und die Aufsicht über die Boten. Unter diesen waren auch Fußboten, die für die Zustellung im näheren Umkreis des RKG zuständig waren. Sie erhielten einen festen monatlichen Sold, sollten lesen und schreiben können sowie sich selbst verköstigen. Über den monatlichen Sold hinaus wurden ihnen von der Partei, die den jeweils zuzustellenden Brief erwirkt hatte, die Reisekosten erstattet. Dabei waren die Boten – ähnlich wie die Prokuratoren und Advokaten – angehalten, keine überhöhten Forderungen zu stellen. Über den Verlauf ihrer Reisen und die bestätigte Zustellung bei den Adressaten hatten die Boten zudem einen Bericht – die sogenannte BotenrelationFootnote 62 – anzufertigen und dem Botenmeister weiterzuleiten (vgl. Smend 1911, 363 ff.; Sellert 1967, 202–235; Fuchs 2003, 251 f.). Beschwerden konnten vor das RKG gebracht werden, falls die Zustellung und Verkündung nicht der RKG-Ordnung entsprach (vgl. Prange 2002, 66) oder die „Höhe von Reit- und Verkündgeld“ (ebd., 67) beanstandet wurden.Footnote 63 Abweichungen vom Grundsatz der Zustellung durch die Boten sind laut RKG-Forschung keine dokumentiert (ebd., 65).Footnote 64

Die Boten standen bei der Auslieferung der RKG-Dokumente in Konkurrenz zu den Notaren (vgl. Smend 1911, 366). Nach 1560 mussten diese ein kammergerichtliches Examen als Voraussetzung des Eintrags in die Notariatsmatrikel ablegen (vgl. Prange 2002, 67 f.; Mader 2003, 278). Während die Notare jährlich zwischen 200 fl. und 1800 fl. verdienten, „belief sich der Lohn der reitenden Boten höchstens auf 150 fl.“ (Mader 2003, 289). Das karge Botengeld wurde 1802 schließlich Anlass einer Bittschrift an das Kameralkollegium und den Reichstag, die nicht folgenlos blieb. 1803 wurde im Rahmen eines Gemeinen Bescheids festgelegt, das Meilengeld zu erhöhen und die Boten auch für die bisher den Notaren überlassenen sogenannten Freisachen – d. h. die zeitlich bevorzugt zu behandelnden Streitsachen (vgl. Laufs 1976, 300f.) – heranzuziehen (vgl. Mader 2003, 289). Die Boten rechtfertigten ihren Vorrang als Zustellungspersonal des RKG damit, dass es dem „Ansehen des Gerichts zuträglicher sei“ (Mader 2003, 272), wenn Schreiben durch mit einem entsprechenden Schild versehene Kammerboten zugestellt würden, da diese bei den Streitparteien einen „weit größeren Eindruck“ (BAF, Fn 11, Akten, Obs. L., Tom. III. Bittschrift der Boten, 1802, zit. nach Mader 2003, 272, Herv. i.O.) machten. Auf eine reichsgesetzliche Grundlage konnten sie diese Begründung jedoch nicht stellen, da laut Gerichtsordnung hierfür auch Notare zugelassen waren (vgl. Mader 2003, 272).

Neben den Notaren standen die RKG-Boten zunehmend mit der Reichspost in Konkurrenz. Nicht zuletzt weil der Postweg spätestens im 17. Jahrhundert eine „billigere und weitaus zeitsparendere“ (Mader 2003, 274) Alternative darstellte, wurde im Zuge der letzten Visitation von 1767–1776 die Abschaffung des kammergerichtlichen Botenwesens diskutiert und insbesondere von den Prokuratoren vertreten. Diese Forderung wurde jedoch vom Kameralkollegium abgewiesen (vgl. ebd., 274 ff.; siehe auch Smend 1911, 366 ff.; Oestmann 2013, 60 f.).

Zusammenfassend zeigt sich mit dem beschriebenen Botenwesen am RKG zunächst die Ausbildung einer formalen Mitgliedsrolle gegenüber gesellschaftlichen Status- und Rangverhältnissen, die sich von den Auftragsverhältnissen der Kanzleinotare unterschied. Mit dem Botenpersonal sollte dabei eine verlässliche und einheitliche Außendarstellung bei der Zustellung von RKG-Dokumenten gewährleistet werden. Durch die Einrichtung von gerichtseigenen Botenstellen, die „als Teil für das Ganze“ (Luhmann 2014, 14) das Gericht nach außen vertraten, wurde – neben den Prokuratoren und Advokaten auf der mittleren Ebene (Abschn. 6.3.6) – auch auf der unteren Ebene die Handlungsfähigkeit des RKG nach außen vermittelt. Das RKG verfügte damit an seinen Grenzen über eine hierarchisch differenzierte Stellenstruktur.

6.3.3 Praktika als Stationen akademischer Pilgerreisen

An spätmittelalterlichen Stadtgerichten und am Königlichen Kammergericht vollzog sich die Ausbildung bzw. Erziehung der (Laien-)Richter vorwiegend durch persönliche Kontakte. Mit der Gründung des RKG lässt sich demgegenüber eine Umstellung hinsichtlich der Ausbildungs- und Rekrutierungserwartungen erkennen. Für die Mitgliedschaft als Richter am RKG wurde eine juristische Ausbildung zum formalen Zugangskriterium, bei der Kenntnisse über den „Reichsprozeß in seiner strengsten Form“ (Burgdorf 2003, 24) vorausgesetzt wurden (siehe auch Abschn. 6.3.5). Eine Richterstelle am RKG galt zudem als „Karrieresprungbrett“ (Baumann 2010, 48) und unterschied sich in diesem Sinne von gesellschaftlichen Rangplatzierungen. In der Regel sei es der eigenen Initiative der angehenden Richter und ihren finanziellen Möglichkeiten überlassen gewesen, wie sie sich auf die Anstellung vorbereiteten. Da das Prozessrecht am RKG für den RHR wie für die territorialen Gerichte paradigmatisch war, wurde ein Praktikum am RKG auch für die Amtsübernahme an anderen Gerichten oder eine Professur im deutschen Staatsrecht als „vorbereitend“ (Burgdorf 2003, 24) angesehen. Bei der ausgewiesenen RKG-Forscherin Anette Baumann heißt es dazu: Wer im Alten Reich „als Jurist Karriere machen wollte, sollte mindestens ein Praktikum am Reichskammergericht absolviert haben“ (2010, 48; vgl. auch Denzler 2014, 7 ff.; Scheurmann 1994, 142 f.; Burgdorf 2003, 24; Aretin 1983, 9).

Aus organisationssoziologischer Perspektive ist die Beobachtung, dass am RKG Praktika absolviert wurden, bemerkenswert. Für die Übernahme einer Mitgliedsrolle am RKG war ein Praktikum in zweierlei Hinsicht relevant. Erstens stellte es für angehende Assessoren eine Zusatzqualifikation dar, die eine hinreichende Bedingung für die Aussicht auf eine Richterstelle am RKG war. Die Historikerin Sigrid Jahns (vgl. 2011, 521 ff.) hebt hervor, dass von den 128 Assessoren zwischen 1740 und 1806 rund die Hälfte ein Praktikum am RKG absolviert hatten. Das Praktikum war dabei Teil einer „profanen Wallfahrt“ bzw. akademischen Pilgerreise – einer „peregrinatio academicaFootnote 65 (Burgdorf 2003, 26, Herv. i. O.), die als „Höhepunkt und Abschluß eines reichsrechtlichen Elitestudiums“ verstanden wurde (ebd.). Die damit verbundene Tradition der praktischen Ausbildung an den obersten Reichsinstitutionen reichte bis ins 16. Jahrhundert zurück (siehe auch Baumann 2019c, 43 ff.). Mitte des 17. Jahrhunderts wurden auch der Immerwährende Reichstag in Regensburg und der RHR am kaiserlichen Hof in Wien zu „spezifisch reichsrechtlichen Stationen“ dieser Pilgerreise. Nicht selten sei es vorgekommen, dass sich in Wetzlar kleinere Gruppen von Praktikanten zusammenfanden, um die Reise nach Regensburg und Wien gemeinsam fortzusetzen. Gleichwohl wurde „keineswegs immer die vollständige Tour absolviert“, aber das RKG galt offenbar als „die beste Vorbereitung auf die weiteren Stationen“ (Burgdorf 2003, 33; vgl. auch Aretin 1983, 9). Die reichsrechtliche Pilgerreise wird in der historischen Forschung denn auch mit der Grand Tour des frühneuzeitlichen europäischen Adels verglichen. Die Grenzen waren teilweise fließend; jedoch war für die adlige Grand Tour die soziale Herkunft und Stellung der Personen bedeutender (vgl. Burgdorf 2003, 56 f.). Zweitens wurde 1672 durch einen Gemeinen Bescheid ein mindestens zweijähriges Praktikum als formale „Zulassungsvoraussetzung zur Advokatur“ am Gericht institutionalisiert. Studenten, die den Beruf des Advokaten am RKG anstrebten, hatten sich demnach „mehrere Monate nach Wetzlar an das Gericht zu begeben“, um „dort durch Besuche […] und Hospitanz in den Schreibstuben der Richter und Anwälte die Gerichtsverfassung und den Kameralprozess kennenzulernen“ (Baumann 2006, 53; siehe auch 2019c, 43 ff.; Scheurmann 1994, 143).

Ohne einen entsprechenden familiären Hintergrund oder Unterstützung von anderer Seite war ein Praktikum am RKG – sei es für angehende Advokaten oder Assessoren – kaum finanzierbar, denn die Lebenshaltungskosten lagen in Wetzlar über denen der Universitätsstädte. Mittel durch Dritte konnten Praktikanten über sogenannte Reisestipendien bei Fürsten, territorialen Regierungen und reichsstädtischen Räten einwerben (vgl. Burgdorf 2003, 36). Für die Praktikanten bestand dabei die Pflicht, sich am RKG als solche immatrikulieren zu lassen. Adlige Praktikanten legten dazu ein eidesstattliches Handgelöbnis ab, mit dem sie sich zur strengsten Verschwiegenheit verpflichteten. Die bürgerlichen Praktikanten mussten, wie die Schreiber der Assessoren, einen förmlichen Eid, das „juramentum silentii“ (Burgdorf 2003, 38, Herv. i. O.) ablegen.Footnote 66 Letzteres war auch Voraussetzung für die temporäre Gewährung der Kameralprivilegien (siehe Abschn. 6.4.1). Denn im Unterschied zu anderen Universitätsstudenten ihrer Zeit wurden die RKG-Praktikanten durch den Eintrag in die Matrikel gewissermaßen „während ihres Aufenthaltes in Wetzlar des heiligen römischen Reiches Unmittelbare, und nur allein dem Gerichtszwange des Kammergerichts unterworfen“Footnote 67 (Burgdorf 2003, 38; Bergsträsser 1788, 91). Das Matrikelverzeichnis weist für den Zeitraum zwischen 1693 und 1806 beispielsweise 1732 Praktikanten auf. Die Zahl der Praktikanten betrug im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dabei 20 bis 30 Personen pro Jahr. Der Eintrag in die Praktikantenmatrikel wurde jedoch häufig umgangen, um den damit verbundenen Gebühren zu entgehen (vgl. Burgdorf 2003, 34 f., 39).

Zur Vorbereitung auf ein RKG-Praktikum findet sich in den zeitgenössischen Anleitungen für Praktikanten nicht nur der Hinweis, „hochkarätige Referenzschreiben“ (Burgdorf 2003, 44) zu sammeln, sondern auch die Empfehlung, „in Wetzlar selbst von einer intensiven Lektüre der Kameralliteratur abzusehen, da man diese an jedem Ort nachholen könne“ (ebd., 27). Dagegen könne man „nur in Wetzlar mit den Originalakten arbeiten und mit den Kameralen umgehen“, um zu erfahren, „welche vom positiven Recht abweichende Herkommen oder Usancen sich etabliert“ (ebd.) hätten. Zudem wurde „den jungen Juristen nahegelegt, sich mit den Prozessen ihrer Landesherren vertraut zu machen“, um im Anschluss an ein RKG-Praktikum „ihre Nützlichkeit für den landesherrlichen Dienst“ zu erhöhen (ebd., 28). Bei ihrer Ankunft am Gericht wurde den Praktikanten empfohlen, „propädeutisch die universitätsähnlichen Vorlesungen (‚collegia‘) zu besuchen“ (ebd., 32), welche die Advokaten und Prokuratoren gegen Entgelt anboten – und die auch rechtsinteressierten „non-university graduates“ zugänglich waren (vgl. Baumann 2019c, 54). In diesen Kursen wurde beispielsweise die Verfassung des Gerichts, die Theorie und Praxis des Kameralprozesses sowie das Protokollieren und Referieren (d. h. das Ausarbeiten von Schriftsätzen unterschiedlicher Gattungen) gelehrt. Zum Vorlesungsgegenstand an den Universitäten wurden „Theorie und Praxis des gemeinen und des Reichskammergerichtsprozesses“ dagegen erst im Laufe des 18. Jahrhunderts (vgl. Burgdorf 2003, 34 f.).

Die Vorbereitung in den Kollegs bzw. Vorlesungen am Gericht habe auch erlaubt, dass sich Praktikanten für die „zweite und intensivere Form des Praktikums in einer Schreibstube“ qualifizieren konnten (Burgdorf 2003, 39). Die „Schreibstubenbesuche“ wurden bei einem Prokurator, Assessor oder Hospizen der Kanzlei oder Leserei des Gerichts abgehalten. Für den Besuch einer Schreibstube bedurfte es Empfehlungen und Beziehungen aufseiten der Praktikanten sowie eines Entgegenkommens aufseiten der Kameralpersonen (vgl. ebd., 34, 37 ff.). In diesem Zusammenhang deutet sich an, dass eine Mitgliedschaft als Praktikant am RKG zugleich Voraussetzung für den Zugang zu informalen – ständisch geprägten – Kontaktsystemen und Personenkenntnissen war. In der „Praktikantenliteratur“Footnote 68 (ebd., 28) wurde neben dem Zugang zu Bibliotheken und Schreibstuben insbesondere die Bedeutung der gemeinsamen Abendessen mit Professoren, Assessoren, Hofräten oder Gesandten betont. Gelangten die Praktikanten – beispielsweise aufgrund von Empfehlungen oder besonderen Leistungen – in den „Genuß gemeinsamen Musizierens, Spazierens, Fahrens oder gar Wohnens mit den Mitgliedern der obersten Reichsinstitutionen, konnten sich die jungen Karrieristen den zu erwerbenden Habitus aus der bestmöglichen Position aneignen und hatten somit die besten Voraussetzungen für die Fortsetzung ihres Weges“ (ebd., 55).Footnote 69

Die Söhne von Kameralen hatten Vorteile, wenn sie eine ähnliche Karriere wie ihrer Väter verfolgten. In der RKG-Forschung wird auch von einer „Tendenz zur Selbstrekrutierung“ (Jahns 2011, 341, 520) am RKG gesprochen (siehe auch Baumann 2019c, 53 f.). Diese Anstellungspraxis war mithin bei den Assessoren durch das nach konfessioneller und regionaler Herkunft klassifizierte „Präsentationsschema“ (siehe dazu Abschn. 6.3.5) wie auch durch die gerichtliche Untersagung von Verwandtschaftsbeziehungen eingeschränkt (vgl. Burgdorf 2003, 34 f.).

Da insbesondere die Advokaten und Prokuratoren ihre Kenntnisse über den Kameralprozess nur aus der Parteiberatung und Prozessvertretung sowie aus den ihnen vom Gericht zugestellten Schriften erlangen konnten, war für diese ein Praktikum im Arbeitszimmer eines Assessors mit dem „größten Gewinn“ (Burgdorf 2003, 38) verbunden. Hier konnte der Praktikant die Gerichtsakten des Prozesses – von den Eingaben der Parteien über die Relationen und Voten bis hin zu den Senats- und Plenarprotokollen – einsehen. Gleichwohl war ein Praktikum am RKG – nicht zuletzt angesichts der Vielzahl an Praktikanten und der vergleichsweise wenigen Vakanzen für Assessoren am RKG – keine Garantie dafür, irgendwann ein Richteramt zu erhalten (vgl. Burgdorf 2003, 28 ff.; Jahns 2011, 536 ff.).

Insgesamt ähnelte das Praktikum am RKG gewissermaßen einer berufsqualifizierenden Ausbildung, wie sie heute für (Hoch-)Schulabsolventen institutionalisiert ist. Auch wenn es in formalen und informalen Aspekten ständische Differenzierungen zwischen bürgerlichen und adligen Praktikanten am RKG gab – die entsprechend mit sozioökonomischen Barrieren verbunden waren –, lassen sich die historischen Forschungen dahingehend interpretieren, dass die Erwartungen, die an Praktikanten am RKG gestellt wurden, personenunabhängig und austauschbar waren.

6.3.4 Assessoren als professionelles Entscheidungskollegium

Im Unterschied zum Reichshofgericht und zum Königlichen Kammergericht wurde das Urteilergremium am RKG nicht mehr allein vom Kaiser aus „königsnahen Personenverbänden“ (Diestelkamp 1999, 200) rekrutiert. Am RKG war die Übernahme eines kameralen Amtes als Assessor vielmehr an professionelle und formale Verhaltenserwartungen geknüpft, die sich von der gesellschaftlichen Standesordnung in vielerlei Hinsichten unterschieden. So sah die Gerichtsordnung vor, dass die Assessoren – wie der Kammerrichter – nicht durch gerichtsfremde Erwartungen bei der Entscheidungsfindung geleitet werden sollten: Beim Amtsantritt hatten sie einen Richtereid abzulegen, nach dem sie „den hohen und nidern, nach seiner besten verstentnuß gleich zu richten und keyn sach sich dagegen bewegen lassen; auch von den partheien, oder jemandts andern keyner sachen halben, so im gericht hangt oder hangen würde, keyn gab, schenk eynichen nutz durch sich selbst oder andere, wie das menschen sinn erdencken möchten, zu nehmen oder nehmen zu lassen“ (RKGO 1555 LVII. Von deß keiserlichen kammerichters und der beisitzer eydt., zit. nach Laufs 1976, 151, Herv R. S.; siehe auch RKGO 1495 § 3; Loewenich 2013, 253). Die Entscheidungen der Assessoren sollten damit als gerichtlich bzw. rechtlich geformt gelten und nicht durch Motive der persönlichen Benachteiligung oder Bevorzugung.

Für die Anstellung der Assessoren war am RKG durch den Reichsabschied von 1566 eine Mindestamtszeit von sechs Jahren (Sexennium) festgelegt. Bei einer Aufkündigung galt bis zum endgültigen Amtsabtritt ein sechsmonatiger „Nachdienst“ (RA 1566 § 78; Jahns 2011, 124, Herv. R. S.). Mit der Aufschwörung wurden die Assessoren zugleich von jeglichen Amtspflichten, unter denen sie vorher gestanden hatten – sei es beim Kaiser, bei Kurfürsten oder bei den Reichsständen – befreit. Ausnahmen von dieser Regel wurden geduldet, soweit diese Verbindungen auf lehensrechtlichen Titeln beruhten oder „nicht mit besonderen Pflichten, Diensten oder Besoldungen versehene Personalämter“ (Fuchs 2002, 186, Herv. i. O.) darstellten. Ebenso war es den Assessoren untersagt, in Prozessen vormaliger Dienstherren mitzuwirken. Wie erwähnt sollten die Assessoren nicht über Parteien richten, mit denen sie durch Verwandtschaft oder Freundschaft bekannt waren. Auch durften Assessoren und Prokuratoren nicht in Freundschafts- und Verwandtschaftsverhältnissen zueinanderstehen. Diese Bestimmungen machen deutlich, dass mit dem Eid am RKG keine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verbunden wurde. Vielmehr brachen die formulierten Erwartungen mit den gängigen gesellschaftlichen Normen und Regeln – insbesondere mit persönlichen und schichtspezifischen Loyalitätserwartungen. In der umfänglichen Arbeit über die Assessoren am RKG bezeichnet die Historikerin Sigrid Jahns den Amtsantritt am RKG denn auch als einen „radikalen Rollenwechsel“ (2011, 192).

Bei der Ausbildung von hauptamtlichen Mitgliedsrollen stellt sich das Problem der Zugangsregulierung und Nachfolgebesetzung. Spezifisch für die Einstellung des richterlichen Personals am RKG war dabei eine zweistufige Personalselektion: (a) Auf der ersten Stufe hatten zunächst Reichsoberhaupt und Reichsstände ein Vorschlagsrecht, indem sie geeignete Kandidaten präsentieren konnten. (b) Auf der zweiten Stufe oblag den Assessoren die Letztentscheidung über die fachliche Eignung der Kandidaten. Ähnlich wie der Kammerrichter bei der Geschäftsverteilung die zentrale Entscheidungsprämisse darstellte, lässt sich damit auch hinsichtlich der Assessorenschaft eine strukturprägende Entscheidungsbefugnis feststellen.

(a) Wie erwähnt bestellte das Reichsoberhaupt den Kammerrichter und die ihn vertretenden adligen Assessoren (Präsidenten). Die Reichsstände präsentierten ihre Kandidaten dagegen nach einem reichsrechtlich abgeleiteten Proporz (vgl. Baumann 2006, 67; Jahns 2011, 168), der ständische und konfessionelle Zugehörigkeiten berücksichtigte und mehrfach angepasst wurde. Die konkrete Anzahl an Assessoren, die die berechtigten Reichsstände präsentieren durften, bestimmte sich dabei nach der Gesamtzahl der vom Reichstag bewilligten „Planstellen“ (Jahns 2011, 267). In der ersten reichsgesetzlichen Ordnung war eine Anzahl von 16 Assessoren festgehalten. Von diesen wurden zwei vom Kaiser und die weiteren Bewerber jeweils von den (Kur-)Fürsten sowie gebündelt von den Reichsständen vorgeschlagen (vgl. Jahns 2011, 283). Dass die gesellschaftlich höheren Ränge über einen größeren Stimmenanteil verfügten, spiegelt erneut den im RKG inhärenten Anspruch wider, die „gute Gesellschaft“ des Alten Reichs in der Rechtsprechung zu repräsentieren.

Vorgesehen war darüber hinaus, dass in Abständen qua Reichstagsbeschluss auch Mittel für die außerordentliche und zeitlich befristete Anstellung von Assessoren bereit standen. Diese sollten beispielsweise entscheidungsreife Fälle ab- und Rückstände aufarbeiten. Allerdings blieben Stellen aufgrund ungenügender Zahlungseingänge seitens der Reichsstände oft unbesetzt. Bezeichnend für den Umgang mit der damit verbundenen Unterbesetzung am RKG und die gerichtliche Eigeninitiative ist, dass die Assessoren 1686 im Senat – trotz der aufgestockten Anzahl an Planstellen – selbst beschlossen, nicht mehr als 16 Assessoren zur gleichen Zeit anzunehmen. Damit konnte ein neu Präsentierter nur dann in das für ihn vorgesehene Amt aufrücken, wenn ein Assessor aus seinem Amt ausschied – sei es durch Tod, Alter oder Krankheit. Zugleich wurden Stellen eingerichtet, sogenannte „Supernumerarien, die ohne Gehalt arbeiteten, um sich so eine besoldete Planstelle zu erdienen“ (Jahns 2011, 101; siehe auch Tab. 6.1). Darüber hinaus wurde über einen Beschluss des Senats bestimmt, dass dieser auch Amtsenthebungen bzw. Kündigungen aussprechen konnte. Erst ab 1782 verbesserte sich die finanzielle Situation, sodass von den damals 27 Planstellen regelmäßig 25 besetzt werden konnten (vgl. Diestelkamp 1994a, 116; 1995a, 19 f.; 1995b, 106 f.; Jahns 2011, 168 ff.; Scheurmann 1994, 122 ff.).

Bei den Vorschlägen von Reichsoberhaupt und Reichsständen galt es zudem, fachliche Gleichstellungsgesichtspunkte einzuhalten. Laut Gerichtsordnung sollte „der halb theil der recht gelert und und der ander halb theil auß der ritterschaft“ sein (RKGO 1555, I. Wie das keyserlich cammergericht mit richtern und urtheilern besetzt und wievil derselben sein sollen, § 3, zit. nach Laufs 1976, 73, Herv. R. S.; siehe auch RKGO 1495 Tit. 1 § 1). Eine Differenzierung des Spruchkörpers in eine adlige und eine gelehrte Bank war zwar schon beim Königlichen Kammergericht Praxis, reichsrechtlich fixiert wurde diese Bedingung aber erst 1495 mit der Gründung des RKG (vgl. Diestelkamp 1999, 201). Faktisch waren am RKG bürgerliche Juristen gegenüber adligen Assessoren in der Mehrheit, weil es in den ersten Jahrzehnten des Gerichts einen Mangel an „römisch-rechtlich geschulten Juristen mit adliger Herkunft“ (Jahns 2011, 184) gab.Footnote 70 Erst mit der Gerichtsordnung von 1613 wurde geregelt, dass die adligen Assessoren mindestens fünf Jahre Recht an einer Universität studiert haben sowie praktische Erfahrungen an einem Gericht oder (kur-)fürstlichen Hof vorweisen mussten (vgl. Diestelkamp 1994a, 115; 1995b, 107; 1999, 201, 272).Footnote 71

Aufgrund der seltenen Kombination von adliger Herkunft und juristischer Qualifikation wurden vielfach auch Nobilitierungen der bürgerlichen Assessoren vorgenommen (vgl. Baumann/Jendorff 2014b, 16; Baumann 2011, 394). Für bürgerliche Juristen mit Doktortitel war das Adelsdiplom nicht nur eine Voraussetzung für sozialen Aufstieg, sondern auch für eine Beförderung am RKG, denn als Nobilitierte hatten sie Zugang zum Kammerrichteramt. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich unter den Assessoren eine Sensibilität für „Nicht-Karrieren“ (Duchhardt 1989), nach der das Ausbleiben oder Hinauszögern einer Nobilitierung als informelles Sanktionsmittel wirkte. Auch konnten die „politische und konfessionelle Gesinnung“ (Duchhardt 1989, 24) der Assessoren als informale Mobilitätsschranke fungieren.

Die Dominanz fachlicher Einstellungskriterien lässt sich auch daraus ableiten, dass Reichsoberhaupt und Reichsstände bei der Präsentation ihrer Kandidaten auf akademische und praktische Qualifikationen zu achten hatten (vgl. Diestelkamp 1999, 298). Die Gerichtsordnung betonte beispielweise, dass die Auswahl der Kandidaten „nicht aus Gunst geschehen dürfe“, sondern nach „Tauglichkeit und Geschicklichkeit“ (Loewenich 2010, 171) vorgenommen werden sollte. Gleichwohl gibt es Belege dafür, dass die Präsentationsberechtigten ihre Kandidaten auch nach persönlicher Loyalität und politischen Interessen vorschlugen: „Suchten die Reichsstände anfangs noch nach ihren besten Männern in den Territorien, die neben einem ausgezeichnet abgeschlossenen Studium auch Berufserfahrung in den heimischen Gerichten mitbrachten“ (Baumann 2010, 55), so waren ihre Vorschläge ab dem 17. und 18. Jahrhundert „stärker von politische[m] Kalkül“ (ebd.) geprägt. Als faktischer Hinweis auf ein Monopol formaler Rollendefinitionen kann mithin gewertet werden, dass die Assessoren fachlich ungeeignete Präsentierte zurückwiesen. Entsprach ein vorgeschlagener Assessor nicht den fachlichen Qualitätsansprüchen, schlugen die präsentierenden Reichsstände allerdings gelegentlich keinen Ersatzkandidaten vor, sondern versuchten, ihre Erwartungen über die Androhung ausbleibender Unterhaltenszahlungen des Reichskammergerichtszielers – der zweckgebundenen Steuer zur Finanzierung des RKG – durchzusetzen (vgl. Jahns 2011, 168, 184 ff.; Diestelkamp 1994a, 115).

Angesichts der Versuche, die „Subordination der Assessoren unter das RKG“ (Fuchs 2002, 31) aufzuweichen, wiederholten sowohl der Visitationsabschied von 1713 als auch die Verhandlungen der letzten Visitation 1767–1776, „dass ein Assessor nicht den Reichsstand repräsentierte, der ihn für die Richterstelle am RKG vorgeschlagen hatte, sondern gerade das gesamte Reich“ (Loewenich 2010, 179) bzw. Kaiser und Reichsstände „in corpore“ (JRA 1654 § 165, zit. nach Jahns 2011, 191, Herv. R. S.). Auch ein kaiserliches Reskript sowie der Reichsschluss von 1775 wiesen das Gericht bzw. die Reichsstände an, sich nicht länger „von einem Repräsentations-Geiste […] einnehmen zu lassen“ (R. Schl. 1775 § 26, Jahns 2011, 193, Herv. R. S.), da dieser „einer unpartheyischen gleich durchgehenden Justiz in mehrfältiger Art schädlich sey“ (ebd., Herv. R. S.).

(b) Formal hatten die Assessoren die Befugnis, jeden präsentierten Kandidaten im Plenum auf seine juristischen Fähigkeiten hin durch das Ablegen einer sogenannten Proberelation in Form einer Generalbefragung und einem Spezialexamen zu prüfen. Mit der fachlichen Eignungsprüfung wurde neben dem Präsentationsschlüssel seitens der Reichsstände eine zweite Stufe der Personalselektion aufseiten der Assessoren formalisiert. In der Generalbefragung wurde der Kandidat zunächst zu seiner akademischen und praktischen Qualifikation und zur Ehrbarkeit seiner Familienverhältnisse befragt. Beim Spezialexamen wurde dem Kandidaten dann eine Prozessakte vorgelegt, für die ohne Hilfe Dritter ein Bericht und ein Votum anzufertigen war.Footnote 72 Anschließend hatte die Prüfungskommission über die Aufnahme des Präsentierten zu entscheiden (vgl. Diestelkamp 1995a, 20 f.; 1995b, 110; Jahns 2011, 617 ff.; Loewenich 2010, 171).

Neben der Personalselektion lassen die gerichtlichen Regeln über die Rechtsprechungstätigkeiten der Richter verschiedene Momente einer juristischen Professionalisierung erkennen. Professionen bezeichnen Rollen für eine kognitiv anspruchsvolle und asymmetrische Arbeitskooperation, die unmittelbar mit anderen einzelnen Personen geleistet wird und die mit hohen Risiken des Misslingens verbunden ist. Die Situationskomplexität und Singularität der Fälle lassen sich dabei nicht nach standardisierten Regeln fassen. Weil sich die betroffenen Laien in eine folgenreiche und unsichere Behandlung begeben, die sie selbst nicht beurteilen können – die aber nur unter ihrer Mitwirkung gelingt – erfordert professionelle Arbeit besondere Absicherungen. Als vertrauensbildende Maßnahmen gelten neben der akademischen Aneignung epistemischen Wissens die Selbstverpflichtung auf berufsethische Werte, kollegiale Leistungskontrollen, Zugangsbegrenzungen und rechtliche Status-Zusicherungen (v. a. in Form von Privilegierungen und einer kollektiven Vertretung) sowie eine freie Wahl aufseiten der Betroffenen (vgl. Luhmann 1972a, 288; 1972c, 279; 2011, 18; siehe auch Stichweh 1992; Klatetzki/Tacke 2005; Schützeichel 2018).Footnote 73 Eine Trennung von organisatorischen Rollen und professionellem Handeln lässt sich für das RKG an der gerichtsinternen Verfahrensdifferenzierung und Separierung von Audienz und Senatsberatungen festmachen.

Die professionelle Prägung der richterlichen Rollenauffassungen zeigt sich auch darin, dass die Amtsübernahme an eine akademische Sozialisation und Ausbildung in gelehrten Wissensbeständen geknüpft war, wie sie mit dem universitären Rechtsstudium und dem RKG-Praktikum etabiliert wurde. Die Senate können darüber hinaus als eine kollegiale Arbeitsbeziehung im Sinne einer “company of equals” (Parsons/Platt 1973, 261) aufgefasst werden, in der implizites Wissen (vgl. Polanyi 1958, 1966) angesammelt und durch die Urteilsfindung wertmäßig absichert wurde. Auch dass am RKG eine Gleichbehandlung aller Streitparteien sowie eine Offenheit der dabei anzuwendenden Regeln im Vordergrund stand, konkretisiert sich darin, dass in der Gerichtsordnung eine Gemeinwohlorientierung fixiert war. So wurde im Reichsabschied von 1570 über die Arbeit in den Senaten bestimmt, „daß zwischen des Heiligen Reichs Stände und Unterthanen, in gleichen Fällen, gleich Recht und Proceß erkennt, und was einem mitgetheilet, dem andern nicht verweigert werde, damit also einem iedem gleich gebührlich Recht wiederfahren möge“ (RKGO 1613, Teil 1, Tit. 22 § 5, zit. nach Loewenich 2010, 168; Herv i. O.).

Schließlich ist für die professionelle Prägung der Rechtsprechung am RKG bezeichnend, dass mit dem Kammerrichter lediglich eine Personalstelle zur Kontrolle der Assessoren vorgesehen war. Damit wurde weitgehend darauf vertraut, dass sich die Richter entsprechend der Gerichtsordnung an dem Wohle der Streitparteien orientierten und dem „gemeinen Nutzen und d[er] Förderung der heilsamen Kraft der Justiz“ (Schmauß 1973 [1794], 1145, Herv. R. S.) verpflichtet waren. In dieser ethischen Gemeinwohlorientierung deutet sich eine zentrale aristotelische Maxime und ein Spezifikum richterlicher Fallgeneralisierung an, nachdem insbesondere Richter in der wiederholten Situation sind, gemäß identisch gehaltenen Prämissen gleich entscheiden zu müssen: Der Jurist entscheidet jeden Streitfall in einer „generalisierenden Optik“, die sich aus der Verpflichtung ergibt, nicht nur gleiche Verhältnisse gleich zu behandeln, sondern auch gleiche Fälle gleich zu entscheiden (vgl. Luhmann 1966a, 65; 1972a, 234; 1995a, 18). Das Kontrastieren von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Beziehung zu einem Vergleichsmaßstab erzeugt dabei erst den Fall als solchen (vgl. Luhmann 2013, 201 ff.). Für die historische Ausbildung einer juristischen Profession scheint dabei nicht nur das frühe Vorhandensein von Rechtstexten bedeutsam zu sein, die auf einen Fall angewendet werden können, sondern auch die schriftliche Fixierung der Fallarbeit selbst, auf deren Basis ein Vergleich mit anderen Fällen möglich wird (vgl. Schützeichel 2018, 18 f.; siehe auch Bergmann et al. 2012). In diesem Zusammenhang lässt sich auf die Gerichtsordnung von 1613 verweisen, mit der die Dokumentationspflichten sowie die sachlichen Systematisierungs- und Konsistenzansprüche bei der Urteilsfindung seitens der Assessoren festgelegt wurden. In der Ratsstube des Gerichts sollten in einem Buch alle Visitationsabschiede, Gemeinen Bescheide und Ähnliches einsehbar sein. Um eine einheitliche Haltung des Gerichts zu sichern, hatten umstrittene Fälle im Plenum erörtert und das Ergebnis anschließend in einem eigenen Buch festgehalten zu werden. Die Senatsprotokolle sollten dabei so gestaltet sein, dass leicht nachzuschlagen war, wie das Gericht zuvor ähnliche Fälle entschieden hatte (vgl. RKGO 1613 Teil 1, Tit. 16, § 3–5, zit. nach Loewenich 2010, 172; siehe Abschn. 6.1.4). Dass sich die Assessoren für die Auswahl, Bewertung und Weiterentwicklung ihres juristischen Sonderwissens sowie eines gerichtlichen „Gedächtnisses“ (Luhmann 2006, 43) verantwortlich sahen, lässt sich zudem mit Verweis auf die genannte Ausbildung von Praktikanten, die Einrichtung einer Bibliothek und die publizistischen Nebentätigkeiten annehmen (siehe Abschn. 6.1.4).

Insgesamt waren die Assessoren damit wesentlich für die Personal- und Fallentscheidungen bei der Rechtsprechung am RKG zuständig und reformulierten in Teilen auch deren Prämissen. Neben diesen strukturgebenden Funktionen weisen die Verhaltenserwartungen, die an die Rolle der Assessoren gerichtet wurden, verschiedene Attribute einer Professionalisierung auf. Inwiefern die Juristen im Alten Reich im Allgemeinen und die Assessoren, Prokuratoren und Advokaten am RKG im Besonderen eine eigene professionelle Berufsgruppe oder einen BerufsstandFootnote 74 bildeten, lässt sich nicht ausreichend anhand des ausgewerteten Material beurteilen und bedarf Anschlussforschungen. Bemerkenswert bleibt, dass für die RKG-Mitglieder ein eigener Gerichtsstand mit mitgliedschaftsabhängigen Kameralfreiheiten und Privilegien formalisiert war, der sich von ständischen Verhaltenserwartungen abgrenzte. Relevant wurden diese insbesondere bei der Außendarstellung des RKG (siehe Abschn. 6.4.1).

6.3.5 Prokuratoren als professionelle und mittlere Grenzstelle

Während am Reichshofgericht und späteren Königlichen Kammergericht sowie dem RHR die Streitparteien ihre Schriftsätze an der Pforte abzugeben hatten, wurde mit der Gründung des RKG 1495 ein Anwaltszwang eingeführt (vgl. Baumann 2006, 9 f.; Diestelkamp 1999, 285; Fuchs 2002, 90, 109). In der historischen Forschung finden sich verschiedene Hinweise auf die Ausbildung einer anwaltlichen Mitgliedsrolle. Drei Aspekte, an denen eine Trennung zwischen gerichtlichen und gesellschaftlichen Strukturhaushalten erkennbar wird, sind organisationssoziologisch besonders aufschlussreich. (a) Dazu zählt erstens, dass die anwaltliche Arbeit am RKG relativ klar zwischen Prokuratoren und Advokaten aufgeteilt war. (b) Zweitens zeigen sich an den formalen Zulassungsbedingungen Momente einer juristischen Professionalisierung. (c) Drittens können die Prokuratoren als eine mittlere Grenzstelle zwischen dem Gericht und den Streitparteien verstanden werden.

(a) Die Prokuratoren unterschieden sich von den Advokaten weniger durch ihre fachliche Qualifikation als durch ihre Zulassung als Prozessbevollmächtigte.Footnote 75 Während die Prokuratoren die Parteien in der Audienz vertraten, nahmen die Advokaten die Informationen zum Streitgegenstand entgegen, berieten die Mandanten außergerichtlich und verfassten die zur Vertretung geeigneten Schriftsätze. Im Jahr 1521 setzte die Visitation dazu erstmals eine Höchstzahl von 24 Prokuratoren als Prozessbevollmächtigte fest, die mit späteren Reichsabschieden erhöht wurde. Ähnlich wie es bei angehenden Richtern gehandhabt wurde, waren für eine Tätigkeit als Anwalt am RKG mehrere Prüfungen vor dem Kameralkollegium abzulegen. Seit dem Gemeinen Bescheid von 1672 setzte eine Bewerbung als Anwalt zudem ein zweijähriges Praktikum am Gericht voraus. Nach erfolgreichen Prüfungen konnte ein Advokat am RKG aufschwören und nach einigen Jahren die Prokuratur erreichen. Mit dem Eid bei der Zulassung verpflichteten sich die Prokuratoren, die Parteien nach bestem Gewissen und mit Fleiß zu beraten, sich an die Gebührenordnung zu halten, auf heimliche Hilfe zum Schaden der gegnerischen Partei zu verzichten sowie die Urteilsentscheidungen der Assessoren zu akzeptieren (vgl. Baumann 2003a, 164; 2003b, 180; 2006, 9).

Die Zulassungsbedingungen der Anwaltschaft konnten seitens der Richter über die Gemeinen Bescheide angepasst werden. Wiederholt wurde in diesen das „pünktliche und vollzählige Erscheinen“ der Prokuratoren angeordnet und angemahnt (vgl. Oestmann 2013, 56). Außerdem sollten „[b]eleidigende Äußerungen“, „schmähsüchtige Druckschriften“ oder „konfessionelle Beschimpfungen“ laut einem Gemeinen Bescheid von 1665 unterlassen werden (vgl. Oestmann 2013, 64 ff.).Footnote 76 Dabei wurde die Art der Sanktion jedoch nicht immer spezifiziert. Überliefert sind „Ordnungsstrafen“ (ebd., 67) wie Bußgelder, der Verweis aus der Audienz oder die Entziehung der Anwaltszulassung am RKG. Nicht selten konnten sich die Prokuratoren jedoch gegen Geldstrafen durch verschiedene „Ausreden“ (ebd.) schützen – auch ein solches Verhalten mahnten die Assessoren in Gemeinen Bescheiden an. In dieser (begrenzten) Regulierbarkeit von Abweichungen wird erneut die Eigenlogik und Problemdynamik von formalen und informalen Verhaltenserwartungen deutlich.

Im Unterschied zum Kammerrichter und den Assessoren waren die am RKG zugelassenen Prokuratoren nicht in die gerichtlichen Besoldungsverhältnisse eingebunden. Für die Prokoratoren galt es im Anschluss an die Immatrikulation vielmehr, eine möglichst große und bedeutende Kanzlei aufzubauen oder die bereits bestehende Kanzlei des Vorgängers zu übernehmen (vgl. Baumann 2006, 19). Im Vergleich zur Prozessvertretung für einzelne Personen war die Vertretung eines Reichsstandes „besonders begehrt“ (ebd.). Da diese wiederholt prozessierten, erhielten die Prokuratoren „unabhängig vom Prozessanfall eine Art Grundgehalt, das sogenannte Wartgeld, in unterschiedlicher Höhe – je nach Bedeutung des Anwalts oder Reichsstandes“ (ebd.). Die Wartgelder konnten die Besoldung der Assessoren teilweise um das Dreifache übersteigen (vgl. Diestelkamp 1995b, 95 f., 114 f.; Baumann 2003a, 163; 2003b, 190; Scheurmann 1994, 141 ff.).Footnote 77

Die Gerichtsordnung von 1555 sah zudem eine Bezahlung der Prokuratoren auf der Grundlage der von ihnen angefertigten Schriftsätze vor. Um zu vermeiden, dass Prokuratoren den Mandanten durch „unnötige Vielschreiberei“ (Fuchs 2002, 167) oder „übermäßig breite Seitenränder und zu großen Zeilenabstand“ (vgl. Oestmann 2013, 65) erhöhte Kosten berechneten, wurde die Gebührenordnung mehrmals angepasst. Nach der 1566 eingeführten Regelung richtete sich die Bezahlung der Prokuratoren dabei nach dem Arbeitsaufwand und der Schwierigkeit der Sache (vgl. Oestmann 2013, 65).Footnote 78 Die Taxordnung schrieb zudem vor, dass die Prokuratoren die von den Mandanten erhaltenen Gelder dem Gericht anzeigten. Eine Unterlassung sollte mit einem Bußgeld bestraft werden. Waren Streitparteien nicht mit einer Rechnung einverstanden, konnten sie das Gericht kontaktieren, um die Kosten zu prüfen und diese nach Ermessen neu festzusetzen (vgl. Fuchs 2002, 166 ff.; Baumann 2003a, 164; 2003b, 189; 2006, 19 f., 168).

Über die Erwartungen, welche die Mandanten an die jeweiligen Prokuratoren richteten, geben die mit dem Wartgeld vereinbarten „Bestallungsurkunden“ (Baumann 2006, 39) Auskunft. Auch wenn die Prokuratoren nicht als RKG-Personal besoldet wurden, mussten die Bestallungsbedingungen zwischen Streitpartei und Prokurator im Einklang mit der Gerichtsordnung stehen. Ähnlich wie bei den Vollmachten für einzelne Prozesse lagen die Bestallungsurkunden oft in nahezu gleichem Wortlaut und in gedruckter Form vor. Offenbar gab es eine Art Formular (vgl. Baumann 2006, 9 ff., 39 ff.). Bestallungsurkunden wurden „nur ausgestellt, wenn es sich um die mehrjährige Anstellung eines Prokurators […] handelte“, wobei es eine „vierteljährliche Kündigungsfrist“ (ebd., 39) gab. Mit der Unterzeichnung verpflichtete sich der Prokurator, der Streitpartei mit „besten Verstands und Fleises procurando zu dienen“ (NLA, HStA Hannover, Bestand Hildesheim Br.1, 575, 11. August 740, zit. nach Baumann 2006, 39, Herv. R. S.).

(b) Ähnlich wie bei der Assessorenschaft zeichnen sich zweitens auch bei der Anwaltschaft Momente einer juristischen Professionalisierung ab. Der hohe Grad an Verschriftlichung, mit dem Verhaltenserwartungen spezifiziert wurden, macht in dieser Hinsicht deutlich, dass die Beziehung zwischen Anwalt und Streitpartei durch eine Wissensasymmetrie und Erfolgsunsicherheit geprägt war. Diese bestand vor allem darin, dass die Streitpartei bei der Formulierung und Repräsentation ihres Anliegens von den anwaltlichen Fähigkeiten sowie insbesondere dessen Rechts-, Verfahrens-, Rollen- und Personenkenntnissen abhängig war. Ein Spannungsverhältnis zwischen professionellen und organisatorischen Verhaltenserwartungen kann für die Prokuratoren insofern angenommen werden, als sie auf der einen Seite verpflichtet waren, die Rechtsanliegen im Sinne ihrer Mandanten bzw. der vereinbarten Bestallungen und Vollmachten am RKG zu kommunizieren. Auf der anderen Seite hatten sie die Gerichtsordnung einzuhalten und in der Audienz insbesondere auf eine schriftliche Mitteilungsform und eine sachlich-bescheidene Wortwahl bzw. Argumentation zu achten (siehe Abschn. 6.2.2).

Neben der über den Eid abgesicherten Orientierung an den Interessen der Streitparteien im Rahmen der Prozessvertretung zeigen sich zudem Hinweise auf die Ausbildung eines professionellen „Corpsgeist[es; R. S.]“ (Baumann 2006, 30, siehe auch 3, 90, 156). Ein solcher deutet sich darin an, dass für die Versorgung von Prokuratoren-Witwen in einem Gemeinen Bescheid „verschiedene Strategien“ (Baumann 2006, 30) festgelegt wurden. Angehende Prokuratoren bzw. Advokaten versicherten beispielsweise gegenüber ihren Vorgängern, „im Falle des Todes die Witwe und ihre Kinder aus den ihnen zustehenden Wartgeldern der Mandanten zu versorgen“ (ebd., 30f.).

(c) Mit der Zulassung am RKG war nicht nur eine „Disziplinaraufsicht“ (Baumann 2006, 2, 180, 182; Oestmann 2013, 64 f.) durch die Assessorenschaft verbunden, sondern auch, dass die Prokuratoren zu einer exklusiven Grenzstelle im Außenbereich des Gerichts wurden. Als hervorgehobene Kontaktadresse für die Streitparteien übersetzten die Prokuratoren die formalen und informalen Erwartungen zwischen der oberen und unteren Mitgliederumwelt am RKG. In der historischen Forschung werden sie denn auch als das „Organ“ (Baumann 2006, 70) bezeichnet, über das die Reichsstände mit dem Kameralkollegium kommunizierten, denn „wenigstens offiziell hatte ja […] die Verbindung eines Assessors mit dem Reichsstand oder Reichskreis, der ihn präsentiert hatte, nach erfolgter Aufschwörung aufzuhören“ (ebd.). Als „Ratgeber“ (Baumann 2006, 52, 70) bei Personal- und Titularfragen informierten die Prokuratoren die Reichsstände beispielsweise über den genauen Wahlturnus, erläuterten ihnen die gerichtskonforme Vorgehensweise bei der Präsentation eines neuen Kandidaten und kontrollierten deren Einhaltung (vgl. ebd., 67 ff.). So unterrichtete der Prokurator Hofmann nach dem Tod des Assessors Zwernemann, „dass seitens des Kurfürsten ein Schreiben mit der Bitte formuliert werden müsse, dass das höchste Gericht nun die abgelegte Proberelation des Nachfolgers examinieren lassen müsste“ (ebd., 71). Die Reichsstände erkundigten sich vor allem bei ranghohen Prokuratoren mit einer größeren Kanzlei nach Präsentationsempfehlungen (vgl. Fuchs 2002, 66 f.; Baumann 2003b, 180 f.; 2006, 68 ff.). Die Prokuratoren fungierten in diesem Sinne als Dritte (vgl. Simmel 1992, 282–382; Luhmann 1972a, 64 ff.), die den Reichsständen halfen, mit der Unsicherheit über den Vorschlag geeigneter Kandidaten am RKG umzugehen.

Diese Funktion war interessanterweise seitens der Assessoren auch formalisiert worden. Ein entsprechender Gemeiner Bescheid sah vor, dass sich die Richter an die Prokuratoren wenden konnten, damit diese ihre Mandanten an die pünktliche Bezahlung des Kammerzielers oder die Begleichung etwaiger Rückstände erinnerten (vgl. Oestmann 2013, 43; Baumann 2003a, 176).Footnote 79 Das RKG beauftragte dazu die Prokuratoren, an den vertretenen Reichsstand ein „Erinnerungs-Schreiben abgehen zu lassen“ (Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Dessau, Abtl. Dessau B 3a Nr. 64, I 2. April 1763, zit. nach Baumann 2006, 77, Herv. R. S.). Um die versäumten Zahlungen einzufordern, mussten die Prokuratoren nicht selten ein besonderes Geschick beweisen (vgl. ebd., 76 ff.). Beispielsweise bat der Prokurator Hofmann den Reichsstand Kursachsen, nachdem der präsentierte Assessor neu aufgeschworen hatte, diesem bald „eine königliche allergnädigste Beysteuer von 3000 Rtl. wiederfahren zu lassen“ (SHStA Dresden, Geheimer Rat [Geheimes Archiv], Loc. 100099/2, 29. August 1718, zit. nach Baumann 2006, 71, Herv. R. S.), denn: „Er hat ja alles vor die Ehr Eurer Königlichen Majestät bißhero gethan und jährlich noch auf seiner Besoldung auß dem Seinigen vieles verzehrt“ (ebd., Herv. R. S.). Auch reklamierten die Prokuratoren bei den Reichsständen, „wenn die Kammerzieler in Währungen abgeliefert wurden, die der Reichspfennigmeister nicht akzeptierte, und zeigten sich teilweise sogar bereit, das fehlende Geld vorzustrecken“ (Baumann 2006, 77).

Schließlich ist organisationssoziologisch aufschlussreich, dass sich zwischen Assessoren und Prokuratoren eine starke soziale Abgrenzung entwickelte, die ihren Ausdruck in informalen Kommunikations- und Aufstiegsschranken fand. Ein Wechsel vom Prokuratoren- zum Assessorenamt war „bis etwa Anfang des 17. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches“ (Baumann 2006, 72). Selbst Assessoren hätten in das Advokatenamt gewechselt und gegenüber den Prokuratoren „Achtung“ (ebd.) gezeigt. „Sie liessen ihre Söhne Prokuratoren werden, und verheiratheten ihre Töchter an selbige“ (Anonymus, zit. nach Baumann 2006, 1, Herv. R. S.). Trotz gleicher Ausbildung und ähnlich hoher Einkünfte sei es den Prokuratoren zunehmend verwehrt gewesen, „gemeinsam mit den Assessoren an Festen, Empfängen, Konzerten und ähnlichen Ereignissen teilzunehmen“ (Baumann 2006, 2; siehe auch Fn. 126). Im 18. Jahrhundert hätten sich kaum mehr Adlige bemüht, Prokuratoren zu werden, und umgekehrt wurden nur wenige der Prokuratoren geadelt (vgl. Baumann 2006, 1, 190; Diestelkamp 1999, 286 f.). Der Ansehensverlust der Prokuratoren sei durch „fehlende Möglichkeiten des Aufstiegs in höhere Positionen“ (Baumann 2006, 156) bedingt gewesen. Vor diesem Hintergrund lässt sich in dem, was Anette Baumann als „Nivellierung und Umdeutung“ des „gesellschaftlichen und sozio-politischen Status“ (2006, 2) der Prokuratoren beschreibt, ein Hinweis auf einen Prozess professioneller Schließung vermuten. Die Beantwortung der Frage, inwiefern damit ein berufsständischer Wandel von einem „monoprofessionellen“ (Stichweh 2013, 7) zu einen biprofessionellen Rechtssystem verbunden ist, muss historisch-soziologischen Anschlussforschungen vorbehalten bleiben.

6.3.6 Zusammenfassung

Der Schwerpunkt dieses dritten Abschnitts lag darauf, die formalen Entscheidungsprämissen bei der Rechtsprechung am RKG historisch nachzuzeichnen. Die Einsichten zur Spezifik der gerichtlichen Formalstruktur im Allgemeinen (siehe Abschn. 6.1) konnten dabei noch einmal empirisch geschärft und angereichert werden. Im Besonderen konnte exemplarisch für die Stellen des Kammerrichters, der Boten, der Praktikanten sowie der Assessoren und der Prokuratoren gezeigt werden, dass der Amtseid als Eintrittsbedingung für die Übernahme einer arbeitsmäßigen Mitgliedsrolle am RKG definiert war. Mit dem Amtseid und den einzelnen Verpflichtungen, die in der Gerichtsordnung an die Übernahme der jeweiligen Stellen gebunden waren, wurde dabei eine nach funktionalen Sachaspekten spezifizierte Rollendifferenzierung eingerichtet, die sich von gesellschaftlich institutionalisierten Verhaltenserwartungen unterschied. Der Kontakt zur gesellschaftlichen Umwelt am RKG wurde zudem über eine hierarchische Grenzstellenstruktur geregelt. Neben dem Kammerrichter als Systemvertreter an der Spitze des Gerichts übersetzten die Boten und Prokuratoren auf der unteren bzw. mittleren Hierarchieebene zwischen gesellschaftlichen und gerichtlichen Erwartungen.

Mit der Gründung des RKG durch Reichsoberhaupt und Reichsstände war reichsrechtlich institutionalisiert, dass diese die Besoldung des Assessorenkollegs leisteten. Zum Organisationsproblem wurde es, wenn die Reichsstände diesen nicht in voller Höhe nachkamen oder sich die Kandidaten für das Richteramt an dem ständischen Repräsentationsgeist orientierten und damit innerhalb des Kollegiums eine informale Hierarchie nach der gesellschaftlichen Rang-Wertigkeit des jeweiligen Reichsstandes beförderten.

Neben der reichsrechtlichen Entscheidungsbindung und ihren Folgeproblemen ist für das RKG als einer Organisation in einer stratifizierten Gesellschaft bemerkenswert, dass für die Rechtsprechung ein juristisches Universitätsstudium und Praktika als notwendige bzw. hinreichende Einstellungsvoraussetzungen formalisiert waren. Gerichtsspezifisch und zugleich für die Rechtskommunikation im Alten Reich neu war dabei, dass am RKG mit der mehrstufig konditionierten Personalselektion die Assessorenschaft selbst nach leistungsbezogenen Auswahlkriterien über den Eintritt und Austritt der Kollegen sowie über die Zulassung der Prokuratoren entschied. Die Richter hatten demnach nicht nur ein Monopol auf die Anwendung der Unterscheidung von Recht und Unrecht, sondern auch auf die Selektion des an der Rechtsprechung beteiligten Personals. Eine Professionalisierung der Richterschaft am RKG zeigt sich darüber hinaus in der kollegialen (Selbst-)Kontrolle bei der Einhaltung sachlich-konsistenter Fallentscheidungen und der Selbstverpflichtung auf ein standesübergreifendes Gemeinwohl. Bei der Interaktion mit den Streitparteien durch die Advokaten und Prokuratoren kann zudem eine Autonomie in der Anwendung professioneller Wissensbestände angenommen werden. Für die Assessoren und die Prokuratoren stellte die Programmatik und Symbolik der Audienz- bzw. Senatsordnung vor diesem Hintergrund eine organisatorische Rahmung und Stilisierung des professionellen Handelns dar. Insgesamt deutet sich anhand der formalen Strukturausprägungen der Rechtsprechung am RKG an, dass diese vorzugsweise auf der Ebene der Rollen und Programme eingerichtet waren.

6.4 Darstellung des Gerichts für Nichtmitglieder

In einem vierten und abschließenden Teil zur historisch-empirischen Fundierung einer organisierten Rechtsprechung am RKG stehen ausgewählte Aspekte der Außendarstellung im Vordergrund. Mit der Entkopplung der Rechtsprechung von der Anwesenheit des Reichsoberhaupts stellt sich die Frage, an welchen Verhaltenserwartungen sich die Darstellung des Gerichts für Nichtmitglieder orientierte? Inwiefern konnte am RKG selbst über die Außendarstellung und die Abgrenzung gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt disponiert werden? Welche Rolle spielten gesellschaftliche Rechtserwartungen bei der Darstellung des Gerichts für Nichtmitglieder?

Unter der damit angesprochenen Außendarstellung verstehe ich im Anschluss an Niklas Luhmann (1999a, 108 ff.) „kommunikativ wahrnehmbare Ausdrucksformen“, die auf das Gericht als Ganzes zugerechnet wurden. Die Selbstdarstellung eines sozialen Systems kann dabei nicht als ein einseitiger Vorgang verstanden werden. Sie bedarf vielmehr der Mitwirkung und Akzeptanz ihrer Umwelt (siehe Goffman 1998). Bedeutsam ist die Außendarstellung einer Organisation deshalb, weil diese zu den hervorgehobenen Verhaltenserwartungen der Formalstruktur zählt, denen die Anerkennung nicht verweigert kann, ohne die Mitgliedschaft zu riskieren. Im Vergleich zu Einzelpersonen setzt der Prozess der Außendarstellung und Repräsentation einer Organisation damit ein weitaus höheres, kollektives Maß an Kontrolliertheit und Konsistenz voraus (vgl. Luhmann 1997, 834 f.; 1999a, 113, 189, 268 f.).

Gestützt auf die historischen Forschungen stelle ich drei Aspekte heraus, die für das Verständnis einer organisierten Außendarstellung des RKG gegenüber einer ständischen Gesellschaft aufschlussreich sind: Erstens war die Außendarstellung maßgeblich von der Repräsentation eines gerichtseigenen Standes bzw. eines Gerichtsstandes geprägt. Allen Gerichtsmitgliedern – einschließlich ihrer Familienangehörigen und Bediensteten als den „Kameralen im weiteren Sinne“ (Jahns 2011, 103) – wurden bestimmte Freiheiten und Privilegien zugesprochen (vgl. auch Hausmann 1989, 44 f.). Diese standesartigen Vorrechte galten für die Kameralen jedoch nicht qua Herkunft, sondern qua Mitgliedschaft. Als Repräsentanten des Gerichts hatten sie sich entsprechend standesgemäß darzustellen. Zur Außendarstellung des Gerichts wurde damit auf Strukturvorgaben der ständischen Gesellschaft zurückgegriffen. Die Herauslösung eines Gerichtsstandes aus der stratifizierten Gesellschaft konkurrierte mit gesellschaftlichen Rangvorstellungen. Dieses Spannungsverhältnis wird bei den Auseinandersetzungen mit den Stadträten – insbesondere bei der Umsiedlung – des Gerichts virulent. Die Konflikte um unterschiedliche gesellschaftliche Ranghierarchien und Rangkriterien machen sichtbar, wie sich ständische Sozialformen aus ihren gesamtgesellschaftlichen Wertschranken und herkunftsspezifischen Bezügen lösten (Abschn. 6.4.1).

Zweitens zeigt sich die Ausbildung einer gerichtseigenen Außendarstellung anhand der Kleiderordnung. Dass sich die Darstellung des Gerichts in der äußeren Form ebenfalls an standesartigen Repräsentationserwartungen orientierte, zeichnet sich darin ab, dass die Kleiderordnung für die Kameralen hierarchisch abgestuft war. In der gerichtlichen Vorgabe, die Amtstracht auch im Alltag zu tragen, verdeutlicht sich zudem, dass die Außendarstellung an der Person als Ganzer ausgerichtet war (Abschn. 6.4.2). Drittens widme ich mich den bildlichen Überlieferungen zum RKG. Die historischen Abbildungen behandeln als Thema ausschließlich die Audienz – und damit den einzigen für Nichtmitglieder formal einsehbaren Bereich. Organisationssoziologisch interessant ist dabei, dass sich die Audienzdarstellungen im Zeitverlauf wandelten. Meine abschließende Beobachtung ist, dass sich anhand der Bildkompositionen ein tendenzieller Wechsel von einer stark reichsständisch-religiösen Rechtssymbolik und Ikonografie hin zur Darstellung informaler Alltagspraktiken seitens der kameralen Mitgliederumwelt erkennen lässt (Abschn. 6.4.3).

6.4.1 Kameralfreiheiten und Gerichtsstandsprivilegien

Im Unterscheid zum älteren Königlichen Kammergericht sah die Gerichtsordnung am RKG vor, dass sowohl den Kameralen als auch deren Angehörigen und Bediensteten bestimmte Kameralfreiheiten und Gerichtsstandsprivilegien zugesprochen wurden. Grundlage dafür war, dass die Kameralen nicht der örtlichen Obrigkeit des reichsstädtischen Rates am Gerichtssitz unterstellt waren, sondern in einem reichsunmittelbaren Verhältnis zum Kaiser und den Reichsständen standen: Als Mitglieder des Gerichts übten sie die dualistisch geteilten Rechtsprechungsrechte von Reichsoberhaupt und Reichsständen, wie oben verdeutlicht, in corpore aus. Mit dem Gerichtsstandsprivileg wurde normiert, dass die Kameralen ausschließlich der Rechtsprechung des RKG unterlagen. Hinzu kamen im Laufe der Entwicklung weitere Rechte wie die Religionsfreiheit oder das Postprivileg (vgl. Hausmann 1989, 13 ff.; 1995, 26 f.; Fuchs 2002, 187; Jahns 2011, 98 ff.). Darüber hinaus genossen die Kameralen steuerliche Abgaben- und Zollfreiheiten sowie das Sicherheits- und Geleitversprechen von Reichsoberhaupt und Ständen. Damit verbunden war auch ein Verbot weiterer wirtschaftlicher Betätigung. Diese Vorrechte der Kameralen waren dabei nicht mit denen zu verwechseln, die Angehörigen des Hofes bzw. der Hoffamilie qua Herkunft zuteil wurden (vgl. Hausmann 1989, 16 ff.). Die berufs- und gerichtsbedingten Privilegien waren gerade nicht herkunfts- und personenabhängig. Ihre Geltung und Rangfolge hatten eine andere Logik als die des Adels.

Laut Jost Hausmann war die Ausstattung der Kameralen mit „Freiheiten“ und „Privilegien“ ein „Mittel zur Unabhängigkeit des Gerichtes gegen die Gaststadt“ und ihre Regelung bereits in den Entwürfen von 1486/1487 enthalten (vgl. 1989, 13). Die damit verbundenen Erwartungen und Ansprüche standen in Konkurrenz zu ständisch-städtischen Rang- und Autoritätserwartungen der stratifizierten Gesellschaft (siehe Abschn. 6.1.1). Zwar rekrutierten sich die Mitglieder des RKG – nicht zuletzt aufgrund des Präsentationsrechtes der Reichsstände zur Besetzung der Beisitzerstellen – aus dem gesamten Reich und umfassten vom Kammerrichter bis zu den Boten Personen unterschiedlicher Qualifikations- und Statusgrade. Diese Heterogenität der personalen Kompetenzen wurde allerdings durch die Gemeinsamkeit der Mitgliedschaft am RKG im Allgemeinen und die hervorgehobenen Freiheiten und Privilegien der Kameralen im Besonderen im Außenverhältnis gegenüber Nichtmitgliedern nivelliert.

Dass die gerichtsständischen Privilegien und Freiheiten quer zu den stratifizierten Strukturen im Alten Reich standen, wird an den Reaktionen der (reichs-)städtischen Räte und Magistrate auf die Anfragen des Reichstags sichtbar, den Sitz des RKG in ihrer Stadt einzurichten. Beispielsweise traf bereits die Entscheidung bei der Gründung des RKG, den Gerichtsort nach Frankfurt zu legen, auf rege Ablehnung. Insbesondere die gegenüber den Kameralen zu garantierenden günstigen Mieten und die Bereitstellung geeigneter Gebäude waren ein Streitpunkt der Verhandlungen zwischen den Assessoren und den Ratsmitgliedern. Für die Kameralen waren aufgrund ihrer Privilegien und Freiheiten insbesondere feste Preise für einzelne Waren vorgesehen, wie z. B. für Fleisch und Fisch. Andere Bedarfsgegenstände konnten sie zollfrei einführen. Die Miet- und Kaufprivilegien drohten die Einnahmen der Frankfurter Bürgerschaft – insbesondere während der Messezeiten – sowie die Steuerzahlungen für die Stadt zu mindern, so die zeitgenössische Bewertung der Magistrate. Weil die Kameralen, wie oben erwähnt, zudem der Jurisdiktionsgewalt der Stadt entzogen waren, konnten Streitigkeiten zwischen Frankfurter Einwohnern und Kameralen nicht vor der städtischen Gerichtsbarkeit, sondern nur vor dem RKG selbst verhandelt werden (vgl. Hausmann 1989, 13, 33; 2003, 148; Diestelkamp 1995a, 17; 1995b, 103; Joecker 2004, 6).

Auch bei der Umsiedlung des Gerichts von Speyer nach Wetzlar kam es zu Konflikten zwischen dem Stadtrat und dem RKG. Nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die Assessoren und der Magistrat bei den „Aufnahmeverhandlungen“ (Jahns 2011, 100) nur auf eine Interimslösung einigen konnten, war durch die Erwartung der Bürgerschaft geprägt, dass die Kameralen als „eine ständische Gesellschaft im Kleinen“ (ebd.) wahrgenommen wurden. Im Vergleich zu Frankfurt hätten jedoch die wirtschaftlichen Aufschwungserwartungen durch die Ansiedlung des Gerichtspersonals und seiner Angehörigen überwogen (vgl. Hausmann 1995, 33; Diestelkamp 1995a, 17). Viele der Kameralen ließen sich beispielsweise ein eigenes Palais bauen, sodass neben Gasthäusern auch Handwerker und Kaufleute von der gestiegenen Nachfrage in der Stadt profitierten. Als das Gericht nach Wetzlar umzog, zählte die Stadt 2.500 Einwohner. In der Folge der Ansiedlung stieg die Bevölkerung Mitte des 18. Jahrhunderts auf rund 6.000 Einwohner an. Darunter waren etwa 1.000 Kamerale, von denen ungefähr 85 bis 150 Personen zum RKG-Personal im engeren Sinne gehörten (vgl. Hahn 1991, 8 f.; Burgdorf 2003, 34; Jahns 2011, 102 f.).

Dass die Stadtgemeinde gleichwohl Anstoß an der gerichtlichen Autonomie bzw. ihrer rechtlichen und steuerlichen Bevorzugung nahm, veranschaulicht, dass die als Gerichtsstand formalisierten Repräsentationserwartungen nicht in eine konsistente Hierarchie mit der Ständestruktur der Stadt gebracht werden konnten. Die städtische Rangordnung kollidierte dabei nicht nur mit der gerichtlichen Hierarchie, sondern auch mit akademischen und landesherrlichen Statusansprüchen (siehe Abschn. 6.1.1). In diesem Zusammentreffen unterschiedlicher – gesellschaftlicher bzw. korporativer – Hierarchiekriterien wird die zögerliche und allmähliche Rollendifferenzierung im Alten Reich manifest. Der strukturelle Komplexitätszuwachs lässt sich konkret an den Rangfragen der Zeit veranschaulichen: „Rangiert in einer Stadt ein fürstlicher Kommissar, ein Amtsschreiber oder Titularrat vor den städtischen Räten oder Bürgermeistern?“ (Stollberg-Rilinger 2001, 398). Und ähnlich war es bei Fällen, „in denen Gelehrte mit einem geringen oder gar keinem städtischen Amt aufgrund ihrer literalitas Vorrang beanspruchten vor Angehörigen illiterater Berufsstände wie Handwerkern oder Kaufleuten, die aber hohe Funktionen in den städtischen Selbstverwaltungsgremien innehatten oder ehemals innegehabt hatten“ (ebd., Herv. i. O.).

Rangvergleiche wurden nicht nur dadurch problematisch, dass Ämter (auch) nach funktionalen Gesichtspunkten  an Personen mit ungleichen gesellschaflichem Status und Titel vergeben wurden. Zugleich widersprach es einer transitiven Ordnung der Gesellschaft, dass umgekehrt Personen mit unterschiedlichen Ämtern und Titeln (auch) nach Leistung zu Standesgleichen nobilitiert wurden. Die Konflikte um unterschiedliche gesellschaftliche Ranghierarchien und -kriterien machen letztlich sichtbar, wie sich ständische Sozialformen aus ihren gesamtgesellschaftlichen Wertschranken und personenbezogenen Logiken lösten. Sie lassen erkennen, wie sich die stratifizierte Differenzierungsform in Familien und Korporationen immer weiter ineinander verwickelte, und sich gerade durch diese Verwirrungen offenbar langsam in organisatorische, temporäre Hierarchien unter Mitgliedern einer Gesellschaft mit funktionalen, gleichrangigen Teilsystemen aufspaltete. Der „Ausweg aus der Rangfalle lag, so lautet die vereinfachte Antwort: in der Durchsetzung des Souveränitätsprinzips nach innen und außen und – damit verbunden – in der Trennung des sozialen Rangs vom politischen und rechtlichen Status“ (Stollberg-Rilinger 2014b, 222).

6.4.2 Gerichtliche Kleiderordnung

Kleiderordnungen waren in der Frühen Neuzeit ein allgemeiner Gegenstand von Reichstagsbeschlüssen – insbesondere (auch territorialer) Polizeyordnungen (siehe Abschn. 5.2.2). Diese waren auf ständische Gruppen bezogen und hatten einen gesellschaftsweiten Institutionalisierungsgrad. In der RKG-Forschung wird argumentiert, dass die strenge Kleidung der Kameralen „die Würde des Gerichts“ und „eine gewisse Distanz zur sozialen Umwelt“ symbolisierte (Stollberg-Rilinger 2009, 201 f.). Als personenfremde Ausdrucksform verwies die Kleiderordnung auf eine „übergreifende Ordnung“, von der die „Institution autorisiert“ war und „aus der jeder einzelne Akt seine Legitimation“ herleitete (Stollberg-Rilinger 2009, 194). Als übergreifende Ordnungseinheit fungierte beim RKG indes nicht mehr die ständische Autorität der Person des Reichsoberhaupts; für diese standen vielmehr die Gründungsinstanzen des RKG als Ganzes bzw. als Kollektivsingular. Dass es eine nahezu den ganzen Körper umfassende Kleiderordnung für die Kameralen gab, verweist zwar auf ständische Erwartungsschemata einer stratifizierten Gesellschaft, jedoch stimmte diese Kleiderordnung in Form und Inhalt nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungsschemata überein. Die hierarchische Abstufung der Amtstrachten spiegelte mit anderen Worten nicht personen- und herkunftsbezogene Normen wider, sondern an die Mitgliedschaft gebundene Repräsentationserwartungen. Sie war Teil einer als Gerichtsstand formalisierten Amtspflicht, die einen Beitrag zur Darstellung des Gerichts gegenüber Nichtmitgliedern leistete.

Eine Formalisierung der Kleiderordnung zum Zwecke der Repräsentation des Gerichts war in der Gerichtsordnung von 1555 konkretisiert. Diese enthielt eine Regelung über den „äußerlichen Schein“ (Stollberg-Rilinger 2009, 199) der Beisitzer.Footnote 80 Die damit verbundenen Verhaltenserwartungen sahen vor, dass die Assessoren das Gericht angemessen nach außen zu vertreten hatten: „in betrachtung, daß sie von der keiserlichen meyestat, auch churfürsten, fürsten und stenden deß heylgen römischen reichs an sollich hoch justitien verordnet und an ihrer stadt sitzen mit zierlicher, ehrlicher kleydung, auch sunst allem wesen und wandel vor andern also stattlich, erbarlich und dapferlich halten und erzeygen, damit sie, irer liebd und keiserlichen mayestatt und den stenden des reichs zu ehren, gegen menigklich in eusserlichem schein dafür angesehen wie billich, geacht und gehalten werden, wie sich auch ihrem standt nach wol zimbt und gebürt“ (RKGO 1555, Teil 1 Tit. VIII, S. 81 f., in: Laufs 1976, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 199, Herv. R. S.). Auch sollten die Assessoren am RKG „nicht ohne Diener“ ausgehen (Smend 1911, 309, zit. nach Stollberg-Rilinger 2009, 200 f.; siehe auch Diestelkamp 1995b, 93). Das Konzept der Gerichtsordnung von 1613 modifizierte die Anforderungen an die Kleidung nur geringfügig und spezifizierte die Tracht. Demnach sollten die Richter „zu Erhaltung Unserer und gemeiner Stände, auch des Gerichts und ihrer selbst Reputation, Hoheit und Authorität, im Rath, Gericht und sonst mit langer, ehrlicher und zierlicher Kleidung, und vestitu Rom. Senatore digno tragen“ (RKGO 1613, Teil 1, Tit. 9, zit. nach Loewenich 2010, 166, Herv. i. O.; siehe auch Diestelkamp 1995b, 93).

In der Formulierung einer solchen Kleiderpflicht offenbart sich die Empfindlichkeit des Gerichts für Darstellungsprobleme. Anhand der Bestimmungen wird deutlich, dass es bei der Wahl der Garderobe um die Ehre von Kaiser und Reich ging, in deren Namen Recht gesprochen wurde. Um diese Ehre aufrecht zu erhalten, war es erforderlich, dass die Beisitzer „angesehen wurden“ (Stollberg-Rilinger 2009, 200, Herv. i. O.) und den äußerlichen Schein wahrten (vgl. ebd.). Barbara Stollberg-Rilinger übersetzt den weiteren Wortlaut der Gerichtsordnung denn auch wie folgt: „[Z]ierlich hieß der Majestät angemessen; erbarlich bedeutete der Ehre gemäß; stattlich hieß dem Stand, dem Status entsprechend“ (2009, 200, Herv. R. S.). „Was dem Stand, der Ehre und Majestät des Amtes gemäß war, verstand sich offenbar von selbst“ (ebd.) und wurde nicht genauer formalisiert. In dieser fehlenden Spezifizierung werden organisationssoziologisch gesprochen die typischen Grenzen der Formalisierbarkeit von Amtspflichten deutlich (vgl. Luhmann 1999a, 79 ff.). Die Kleiderordnung lässt sich in diesem Sinne als „Tendenzerwartung“ (Luhmann 1999a, 120) verstehen. Die Beisitzer hatten nicht nur korrekt zu entscheiden, sondern auch korrekt zu erscheinen. Dass das RKG als höchstes Reichsgericht „erbarlich“ und „stattlich“ nach außen von seinen Mitgliedern vertreten werden sollte, bedurfte offenbar eines hohen Maßes an taktvoller Erwartungsleistung, die zwar durch formale Repräsentationserwartungen vorgezeichnet war, aber in ihrem Herstellungsprozess nicht vollständig normiert werden konnte.Footnote 81

Vom 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts lehnte sich die Amtskleidung der Kameralen an die spanische Hoftracht an (Abb. 6.1). Diese entsprach anfänglich der üblichen Hofkleidung und erinnert an das Hofgericht, an welchem die Beisitzer als Angehörige des Hofstandes galten (siehe Abschn. 5.2.3). Sie war weitgehend schwarz und bestand aus Kniebundhose, Weste, offenem Rock, schmalem Umhang, schwarzen Seidenstrümpfen und Schnallenschuhen sowie einem weißen Spitzenjabot und weißen Spitzenmanschetten. Seit dem späten 17. Jahrhundert war den Prokuratoren das Tragen eines Zierdegens beim Erheben des Kammerrichters in der Audienz nicht mehr gestattet (siehe Abschn. 6.1.5). Entsprechend dieser Bestimmung des Gerichts wird nachvollziehbar, dass die Prokuratoren auf den bildlichen Darstellungen anstelle des Degens eine Weste trugen.

An den Unterschieden in der Kleidung bzw. deren bildlicher Überlieferung materialisieren sich zugleich die Personalhierarchie sowie die damit verbundenen Erwartungen an die Repräsentation des Gerichts gegenüber Nichtmitgliedern. So trug der Kammerrichter beispielsweise vier Lockenrollen an der barocken Allongeperücke, die Präsidenten trugen drei und die Assessoren zwei. Das Mantelfutter konnte gemustert sein, Knopfleiste und Saum des Rocks waren beim Kammerrichter, den Präsidenten und Assessoren reich mit Borten und Tressen besetzt.Footnote 82 Das Gewand der Prokuratoren wies dagegen weit weniger Verzierungen auf. Mit dem Visitationsabschied von 1713 wurde die Kleidung der Beisitzer zwar etwas angepasst, jedoch im Vergleich zur moderneren Kleidung der Prokuratoren zunehmend als anachronistisch wahrgenommen (vgl. Diestelkamp 1995b, 92–97, 105; Baumann 2010, 53; Baumann/Eichler 2012, 74; Scheurmann 1994, 204 ff.; Mader 2005, 16 f.; Stollberg-Rilinger 2009, 200 ff.).Footnote 83 Dass die Kleiderordnung kaum an (neue) gesellschaftliche Erwartungen angepasst wurde, kann als weiterer Hinweis auf die faktisch rigide Formalstruktur des RKG gefasst werden, deren Varianz von Konsensentscheidungen der reichsständischen Mitgliederumwelt abhängig war.

Abb. 6.1
figure 1

Quelle Johann Martin Will (1727–1806); Kupferstiche

Amtskleidung des RKG-Personals spätes 18. Jahrhundert

Darüber hinaus ist es für das Verständnis des Gerichtsstandes und der formalen Repräsentationspflichten aufschlussreich, dass die Amtstrachten am RKG offenbar nicht nur als Arbeitskleidung getragen werden sollte, sondern auch außerhalb des Gerichts. Die gerichtsstandsgemäße Amtskleidung wird für die Außendarstellung des Gerichts gegenüber der Umwelt der Nichtmitglieder umso bedeutsamer, wenn man sich erinnert, dass das Gericht während seines über 300-jährigen Bestehens über kein eigenes, den Gerichtszweck repräsentierendes Gebäude verfügte (siehe Abschn. 6.1.3). Auch im ‚öffentlichen Leben‘ galt es, das Amt „standesgemäß“ zu repräsentieren und die Würde des Gerichts darzustellen (Stollberg-Rilinger 2009, 201).

Mit dieser Verhaltensnormierung lässt sich im Vergleich zu spätmittelalterlichen (Stadt-)Gerichten eine Umkehrung in der (visuellen) Differenzierung zwischen Amt und Person beobachten: An den Stadt- und Ratsgerichten entsprach die Kleidung der Richter zugleich deren gesellschaftlichen Status. Durch das damit verbundene Fehlen einer Trennung von Amt und Person war die Herkunft der Richter als Kaufleute und Angehörige des städtischen Patriziats im öffentlichen Raum „rund um die Uhr“ (Arlinghaus 2004a, 133) sichtbar. Dagegen zeigt die Kleiderordnung für das RKG umgekehrt, dass nicht der gesellschaftliche Status der Person, sondern die Darstellung der Mitgliedsrolle und der Stellenhierarchie des RKG auf das öffentliche Leben jenseits der Audienz ausgeweitet wurde.Footnote 84 Die gerichtsständischen Repräsentationserwartungen unterscheiden sich damit nicht nur von der spätmittelalterlichen Gesellschaft, sondern auch von Mitgliedsrollen in Organisationen primär funktional differenzierter Gesellschaften. Innerhalb letzterer ist in der Regel formalisiert, dass die berufliche Kleidung nach Ableisten der täglichen Arbeitszeit bzw. außerhalb der Organisationsräume abgelegt wird. Dass die Repräsentationserwartungen des Gerichts in ihrer Form organisationsbezogen normiert und in ihren Inhalten gleichwohl ständisch entlehnt waren, bringt in empirisch und theoretisch bedeutsamer Weise zum Vorschein, mit welchen vielfältigen, hybriden Ausprägungen bei der Untersuchung von Organisationsgenesen in der „unorganisierten Gesellschaft“ der Vormoderne zu rechnen ist.

6.4.3 Bildliche Audienzdarstellungen

Schließlich wird der Frage nachgegangen, wie das RKG jenseits der Kleider- und Audienzordnung nach außen dargestellt wurde. Die Macht von Bildern war im Alten Reich zur Abgrenzung von Herrschaft allgegenwärtig. Seit Beginn des 12. Jahrhunderts versinnbildlichten insbesondere Siegel und Münzen die herrschaftliche Autorität. Während Darstellungen von Heiligen die geistliche Gewalt der Bischöfe hypostasierten, standen Fahnen und Wappendarstellungen für die weltlichen Ansprüche. Die Darstellungen von Macht waren dabei weitgehend auf Personen bezogen. Interessanterweise finden sich in den historischen Forschungen auch bildliche Darstellungen des RKG. Auffällig bei den ikonografischen Überlieferungen ist, dass diese ausschließlich die Audienz bzw. den Audienzsaal als Motiv behandeln. Für die Wetzlarer Zeit sind dazu genauere Beschreibungen über den Audienzsaal dokumentiert. Dieser erstreckte sich über zwei Stockwerke und war ungefähr siebzehn Meter lang und elf Meter breit, mit hölzerner Lambris verkleidet und hatte zwölf Fenster (vgl. Mader 2005, 14).

Für die bildlichen Audienzdarstellungen lässt sich organisationssoziologisch beobachten, dass diese kaum einer gerichtlichen Entscheidung zugänglich waren. Sie verstehen sich daher weniger als Zeugnisse einer organisierten Außendarstellung denn als künstlerische und publizistisch verwendete Fremddarstellungen des Gerichts. Die überlieferten Darstellungen stammen aus der Zeit zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 18. Jahrhunderts. Bei sieben von ihnen handelt es sich um Druckgrafiken von Kupferstichen, von denen fünf als Frontispitze unterschiedliche Publikationen der Kameralliteratur zieren. Lediglich bei einer Darstellung handelt es um eine Tusche- bzw. Federzeichnung. Großformatige Gemälde sind nicht belegt (vgl. Scheurmann 1994, 107, 129, 178 ff.; 1995, 78 f.; Diestelkamp 1995b, 91 ff.; Stollberg-Rilinger 2009, 194 ff.; Baumann 2010, 48 ff.; Loewenich 2012b, 47 ff.).

Im Vergleich zum RHR, der zeitgenössisch als recht homogenes Beratergremium geschlossen an einer Tafel sitzend auf gleichen Stühlen abgebildet wurde, greifen die ikonografischen Darstellungen der RKG-Audienz in der zentralen Aussage auf die altdeutsche Tradition einer Gerichtsöffentlichkeit als Jüngstes Gericht zurück: Christus als Weltenrichter thront exponiert im Zentrum des Bildes, während die zwölf Apostel mit Maria und Johannes dem Täufer als Fürbitter rechts und links knien. Dieses Rechtsverständnis war im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit ubiquitär und insbesondere auf Kirchentüren, Tympana und Altarbildern präsent. Die Vorstellung eines gerechten Gerichts als ‚Jüngstes Gericht‘ spiegelte auch das architektonische Konzept des Audienzsaales in Wetzlar wider (vgl. Scheurmann 1995, 78; Stollberg-Rilinger 2009, 197 f.; Diestelkamp 1995b, 102). Es verwundert daher nicht, dass den überlieferten RKG-Darstellungen eine kompositorische Grundkonstellation gemeinsam ist. Man sieht die Situation einer öffentlichen Audienz wie in einer Guckkastenszene, gerahmt von Insignien der Reichsordnung. Der Reichsadler schwebt mit Zepter, Krone und Reichsapfel an der Spitze als Referenz für das Reichsoberhaupt und als Mitgründer des Gerichts über der Szene. Der Betrachter blickt auf die Stirnwand mit dem Kammerrichter, dem Iudex. Als Stellvertreter des Kaisers ist dieser in der Mitte mit dem Gerichtsstab in der Hand dargestellt und deutlich durch einen erhöhten Thron und einen Baldachin hervorgehoben. Daneben sitzen zur rechten und linken Hand die Assessoren. Über ihnen sind die Wappen der Reichsstände abgebildet, von denen die Assessoren vorgeschlagen wurden. Die Wappen der Kurfürsten stehen in der Reihenfolge ihres Ranges vor denen der Reichskreise (vgl. Diestelkamp 1995b, 97 f.; Scheurmann 1995, 86 ff.; Stollberg-Rilinger 2009, 195 f.; Baumann 2010, 51; Loewenich 2012b, 47 ff.).

Das Bildschema ist zugleich den feierlichen Eröffnungssitzungen in der Frühen Neuzeit entlehnt, wie dem Krönungsmahl oder der Eröffnung des Reichstages, bei denen der Kaiser im Kreis der Kurfürsten sitzt; deren Sitzordnungen waren mit dem Reichsgrundgesetz der Goldenen Bulle von 1356 festgeschrieben. Diese Art der Darstellung war seit dem 15. Jahrhundert auch in rechtlichen Kontexten verbreitet, z. B. als Frontispitz von Rechtsbüchern oder als Illustration auf Adelsdiplomen. Kaiser und Reichsfürsten standen dabei als handlungsfähige Einheit pars pro toto für das Reichsganze (vgl. Stollberg-Rilinger 2009, 197; Scheurmann 1994, 149, 253; Loewenich 2012b, 50). Dass die Audienz als einzig öffentlicher Ort am RKG auch das zentrale Thema der ikonografischen Überlieferungen war, untermauert die oben ausgeführte gerichtsinterne Differenzierung von Vorder- und Hinterbühne bzw. von Zweckherstellung und -darstellung in Audienz und Senat. In ihr vergegenständlichen sich damit die formale Ordnung des Gerichts.

Wenngleich die überlieferten Darstellungen aufgrund ihres Bildinhalts viele Gemeinsamkeiten aufweisen, können im Zeitverlauf auch Unterschiede festgemacht werden, die ich im Folgenden als drei Bildvarianten (siehe Abb. 6.26.4) vorstelle: Im Vergleich zeigt sich, dass sich die Darstellungen anfangs zunächst an mittelalterlichen bzw. göttlichen und damit gesellschaftlich institutionalisierten Erwartungen an eine gerichtliche Rechtsprechung orientierten. Insbesondere die in der jüngsten Abbildung aufgeführte lockere Gesprächsrunde ähnelt stark mittelalterlichen Vorstellungen von personaler kaiserlicher Herrschaft, bei der Recht unmittelbar in der Interaktion unter Anwesenden gesprochen wurde. Diesem ersten Typus lassen sich drei Werke zuordnen (exemplarisch für diese Bildvariante Abb. 6.2). Dazu gehört die früheste Darstellung der Audienz, bei der es sich um einen Kupferstich handelt. Sie befindet sich als Titelvignette auf einem Druck der Gerichtsordnung von 1555, der 1566 erschienen ist (vgl. Scheurmann 1994, 153; Diestelkamp 1995b, 123; Stollberg-Rilinger 2009, 195; Baumann 2010, 49; Loewenich 2012b, 47 f.). Mit ihren religiös-ständischen Bildkompositionen waren diese frühen Fremdbeschreibungen Ausdruck einer Kontinuitätsfiktion der mittelalterlichen Rechtsprechung und Rechtssymbolik. Angelehnt an das göttliche Weltgericht, standen diese Darstellungen im Kontrast zum faktischen und formalen Ablauf der Audienzen am RKG.

Abb. 6.2
figure 2

Quelle Titelvignette aus Noe Meurer, Cammergerichts Ordnung und Proceß: neben allerley desselben Formen und Exemplarn […], Frankfurt a. M. 1566; Kupferstich

Darstellung der Audienz am RKG 1566

Einem zweiten Typus (Abb. 6.3) können vier weitere Werke zugeordnet werden, die gegenüber der frühen Bildvariante als idealisierte und formale Fremddarstellungen des RKG erscheinen. Als solche lassen sich diese Abbildungen deshalb qualifizieren, weil die Anzahl der dargestellten Assessoren mit den formalen Anforderungen aus der Gerichtsordnung übereinstimmte, allerdings nicht ihre faktische Anwesenheit in den Audienzen widerspiegelte. So sind auf der Darstellung von 1735 zwölf Beisitzer abgebildet, auf der von 1668 sind es vierzehn; die von 1688 zeigt acht Assessoren. Tatsächlich waren i. d. R. nur ein oder zwei Vertreter der Assessorenschaft in den Audienzen anwesend (siehe Abschn. 6.2.3).

Inhaltlich folgen die Kompositionen der oben beschriebenen Bildtradition eines öffentlich zugänglichen Gerichtssaals, der in eine Scheinarchitektur mit auf einer Kette gereihten Wappen der Kurfürsten und Reichskreise umrahmt ist. Die Kette wird von einem doppelköpfigen, bekrönten Reichsadler gehalten. Zu sehen ist ein Gerichts- bzw. Audienzsaal, an dessen Stirnseite in der Mitte der Kammerrichter mit dem Gerichtsstab unter einem Baldachin thront und zu dessen beiden Seiten die Präsidenten sitzen. Daneben und auf Bänken an den hinteren Wänden haben die Assessoren Platz genommen, erkennbar an ihren bedeckten Häuptern. Auf der linken Seite und vor der Gerichtsschranke sitzen eckförmig die Protokollanten sowie vor diesen die Advokaten; auf der rechten Seite folgt nach den Protokollanten eine Bankreihe mit sechs Prokuratoren. In der Mitte des Saales ist das Kanzleipersonal zu sehen, welches das Geschehen in der Audienz protokolliert. Ein Prokurator verliest ein Schriftstück und der Pedell hält den Gerichtsstab in der Hand. Das Publikum ist im Vordergrund versammelt zu sehen durch eine Schranke getrennt vom Geschehen – bestehend aus unterschiedlich gekleideten Männern und Frauen. Drei der Zeugnisse zu dieser Bildvariante stammen aus unterschiedlichen Ausgaben von Wilhelm Rodings „Pandectae Iuris Cameralis“ (Speyer 1668; Frankfurt 1688; Wetzlar 1750), der ersten systematischen Darstellung des Kameralrechts. Letztlich unterscheiden sich die Abbildungen innerhalb dieses zweiten Bildtypus im Wesentlichen hinsichtlich der Frage, ob eine Legende, Wappen, Bibelzitate oder die Stadtansicht des Gerichtssitzes aufgeführt sind, und darin, wie viele Gerichtsangehörige stehend oder sitzend abgebildet sind (vgl. Scheurmann 1994, 107; Diestelkamp 1995b, 98; Stollberg-Rilinger 2009, 195–197; Baumann 2010, 49; Loewenich 2012b, 47–50).

Abb. 6.3
figure 3

Quelle Peter Fehr; Kupferstich: um 1735, 18,9 × 15,1 cm

Darstellung der Audienz am RKG 1735

Dass es sich streng genommen bei den erwähnten Audienzdarstellungen um verbildlichte Fremderwartungen handelte, wird sichtbar, wenn man diese mit der jüngsten Überlieferung kontrastiert (Abb. 6.4). Diese befindet sich auf dem Deckblatt von Friedrich Tafingers „Institutiones Iurisprudentiae Cameralis“ von 1754. Auch dieses kammergerichtliche Einführungswerk war weit verbreitet (vgl. Loewenich 2012b, 67). Die Abbildung selbst ist ein Kupferstich von Jacob A. Friedrich. In der Grundkomposition folgt sie den erwähnten Roding-Stichen. Im Vergleich zum faktischen Ablauf fällt diese Darstellung am realistischsten aus: Neben dem Kammerrichter sind lediglich vier Assessoren zu sehen. Diese Anzahl an Assessoren nahm gewöhnlich an Audienzen teil, bei denen Urteile gegen Reichsstände verkündet wurden (vgl. ebd., 65). Diese letzte und jüngste Bildvariante nimmt damit gewissermaßen die brauchbar-illegale Praxis der verminderten Präsenz der Assessoren in den Audienzen auf und offenbart – zumindest im Vergleich zu den anderen Abbildungen – deren formale Anwesenheitspflicht als Akt der „Heuchelei“ (Brunsson 1989, 194 ff.; siehe u. a. auch Ortmann 2004). Insgesamt dokumentiert dieser Bildtyp einen weitgehenden Verzicht auf die überbetonte sakrale, kaiserliche und reichsständische Symbolik sowie die damit verbundene Repräsentation der „guten Gesellschaft“. Denkwürdig ist dabei, dass die Symbole und Elemente zur Darstellung der oberen Mitgliederumwelt zugunsten der mittleren Mitgliederumwelt in Bild und im Schriftzug nahezu verschwanden. Die Repräsentation der reichsrechtlichen Mitgliederumwelt wurde auf die Darstellung der kameralen Mitgliederumwelt in der Audienz reduziert. Aus dieser ikonografischen Adaption lässt sich ein Bedeutungs- und Funktionsverlust der Repräsentation des reichsrechtlichen Überbaus ablesen. Die Rechtsprechung am RKG bedurfte offenbar keiner weiteren (symbolträchtigen) Verweise auf die ‚politische‘ Spitze im Alten Reich mehr und legitimierte sich zunehmend aus sich selbst heraus.

Abb. 6.4
figure 4

Quelle Titelvignette aus Friedrich W. Tafinger, „Institutiones iurisprudentiae cameralis“, Tübingen 1754; Kupferstich: Jacob A. Friedrich, 6 × 8 cm

Darstellung der Audienz am RKG von 1754

Dass die Darstellungen des Gerichts zunächst anachronistisch-mittelalterlich ausfielen, dann vor allem idealisiert an die formalen Bestimmungen und die Repräsentation der Gründungsinstanzen angelehnt waren und schließlich in der Spätphase die informale Audienzpraxis spiegelten, lässt sich nicht direkt auf gerichtseigene Entscheidungen zurückführen. Die Werke waren keine Auftragsarbeiten des Gerichts. Zumindest ist in den historischen Forschungen zum RKG nicht überliefert, dass Mitglieder selbst über die bildliche Gerichtsdarstellung disponierten. Vielmehr sprechen die Erzeugnisse selbst dafür, dass es sich um außergerichtliche Kommunikationen handelte. Es liegt allerdings nahe anzunehmen, dass sich die Künstler an der Kameralliteratur orientierten. Die Verwendung der Abbildungen als Frontispitz in der Kameralliteratur dokumentiert vor diesem Hintergrund, dass die Werke nicht für eine breite Öffentlichkeit bestimmt waren, sondern für einen „kleinen Kreis von Kennern, Praktikanten, Juristen“ (Baumann 2010, 56) sowie für „Parteien, die sich als Kläger oder Beklagte gezwungen sahen, mit dem Reichskammergericht in Kontakt zu treten“ (ebd., 54).

Insgesamt kann die Kontinuität der inszenierten Bildelemente und der angesprochenen formalen Gerichtsordnung als Hinweis auf die Strukturbesonderheiten des RKG gesehen werden: auf seine hohe Rechtsbindung. Ihren Ausdruck fand diese vor allem in der Immobilität des Rechtsprechungszwecks, einer veraltet anmutenden Rechtssymbolik sowie der Indisponibilität der Stellenhierarchie. Die relative Invarianz der Gerichtsstrukturen bzw. die geringe Entscheidungsautonomie des RKG erscheinen hier bildlich als Folgeprobleme der reichsrechtlich abgeleiteten Gründung und der damit verbundenen Abhängigkeit formaler Strukturanpassungen von Konsensentscheidungen auf dem Reichstag.

6.4.4 Zusammenfassung

In der Außendarstellung des RKG reflektieren sich inhaltlich die Umwelterwartungen einer stratifizierten Gesellschaft. Zur Herstellung der Legitimation des Gerichts wurden ständische Privilegien in die Mitgliedsrolle integriert und als Amtspflichten formalisiert, die der Darstellung eines einheitlichen Gerichtstandes dienten. Mit der äußerlichen und rechtlichen Hervorhebung der kameralen Mitgliederumwelt als einer Art Stand wurde auf eine Strukturform zurückgriffen, die innerhalb der stratifizierten Gesellschaft vorherrschend war. Erinnert sei an dieser Stelle an die begrenzte strukturelle Komplexität bei der Rechtskommunikation vor der Gründung des Gerichts, die sich weitgehend auf die sachlich-generalisierten Identifikationspunkte von Personen und Werten beschränkte (siehe Kap. 5).

An den gerichtsständischen Privilegien und der Kleiderordnung zeigt sich, dass das RKG eine formalisierte und damit von der gesellschaftlichen Umwelt abgegrenzte einheitliche Außendarstellung aufwies. Der kamerale Gerichtsstand war jedoch nicht mit der gesellschaftlichen Rang- und Statusordnung gleichzusetzen. Der Zugang zu den damit verbundenen Vorrechten war vielmehr an die Übernahme einer aufkündbaren und variablen Mitgliedsrolle am Gericht – und nicht an die Herkunft einer Person – gebunden. Die Konflikte bei der Gerichtsverlegung zwischen den ständisch-städtischen Oberschichten und der kameralen Mitgliederumwelt zeugen hier von der organisatorischen Integration bzw. Adaption standesähnlicher Repräsentationserwartungen. Spezifisch für das ‚Ständische‘ in der Außendarstellung des Gerichts war insbesondere die kamerale Kleiderordnung. Ähnlich wie die Privilegien und Freiheiten war diese an den kameralen Mitgliedsstatus geknüpft. Weniger in ihrer organisationsbezogenen Form als in ihrem inhaltlichen Ausdruck und ihrer Symbolik waren die Kameralprivilegien und -kleider ständisch angelehnt, und zwar nicht zuletzt in dem Sinne, dass sie de facto kaum angepasst wurden und auch außerhalb der Arbeitszeiten in der Öffentlichkeit galten.

In der Gesamtbetrachtung der bildlichen Darstellungsinhalte zum RKG zeichnet sich ab, dass diese weitgehend auf formale, idealisierte Strukturaspekte des Gerichts bezogen waren. Die Überlieferungen dokumentieren mit der Audienz den einzig für Nichtmitglieder zugänglichen Bereich des Gerichts. In dieser werden die unterschiedlichen Mitgliederumwelten sowie die Abgrenzung dieser zu den Nichtmitgliedern deutlich. Die Ikonografie folgte hier der Architektur und Rechtssymbolik vor Ort. Bildlich betont wurden insbesondere jene formalen Strukturspezifika, die invariant waren. Dazu zählt die ‚politische‘ Doppelspitze von Reichsoberhaupt und Reichsständen, deren Abwesenheit über immobile Elemente (Wappen, Insignien, Porträts) symbolisiert wurde. Die Abbildungen können vor diesem Hintergrund als Ausweis der Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Außendarstellung des Gerichts gesehen werden. Anhand der Abnahme einer religiös-reichsrechtlichen Ikonografie zugunsten der Darstellung der kameralen Mitgliederumwelt lässt sich schließlich auch ein Bedeutungs- und Funktionsverlust der Repräsentation des reichsrechtlichen Überbaus festmachen: Die Rechtsprechung am RKG kam im Zeitverlauf zunehmend ohne bildliche Verweise auf ihre Ermöglichungsbedingungen – die kollektive Gründung durch Reichsoberhaupt und Reichsstände – aus und legitimierte sich vielmehr durch die kamerale (Zweck-)Darstellung und deren Rechtsherstellung.