In diesem Buch beschäftige ich mich mit dem Zusammenhang von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung. Fragen nach dem historischen Verhältnis von Organisation und Gesellschaft sind in der Soziologie mehrfach als Desiderat benannt worden. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Ausdifferenzierung von Organisationen, verstanden als eigenlogische Sozialform, anhand eines vormodernen Falls konzeptionell und empirisch zu erschließen. Mit diesem Anspruch versuche ich, die Dichotomie von „Organisationsanalysen ohne Gesellschaft“ und historisch interessierten „Gesellschaftsanalysen ohne Organisation“ (Tacke 2001a, 7 f.) aufzubrechen (siehe auch Kneer 2001a, 408). Die Untersuchung leistet dabei einen Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch reflektierten Organisationssoziologie, die an der Entstehung und den Strukturbesonderheiten ihres Gegenstandes interessiert ist. Ein derartiger Zuschnitt lässt sich innerhalb einer historisch-soziologischen Organisationsforschung verorten. Für eine solche wird in dieser Arbeit zugleich ein programmatisches Plädoyer vorgestellt (siehe auch Schwarting 2017a; 2019).

1.1 Organisationsbildung in einer „unorganisierten Gesellschaft“

Empirisch widme ich mich dabei einem Gegenstand der Frühen NeuzeitFootnote 1, der erstaunlicherweise ausschließlich in der Geschichts- und Rechtswissenschaft behandelt wurde: dem Reichskammergericht. Das Reichskammergericht (im Folgenden: RKG) wurde im Jahr 1495 im Rahmen einer umfassenden Reichsreform unter dem Reichsoberhaupt Kaiser Maximilian I. und den Reichsständen als oberstes Gericht des Heiligen Römischen Reiches (im Folgenden: Altes Reich) gegründet und existierte bis zu seiner Auflösung im Jahr 1806. Die Aufgabe des Gerichts bestand darin, eine gewaltvolle Konfliktausübung durch ein schriftlich geregeltes Entscheidungsverfahren zu ersetzen. Bis zur Gründung des RKG setzte die Rechtsprechung die Anwesenheit des obersten Herrschers voraus. In einer Art „Reisekönigtum“ (Aretin 1983, 5–13) wurden vom ihm rechtliche Entscheidungen weitgehend vom Sattel aus getroffen (vgl. Diestelkamp 1995a, 11).Footnote 2 Infolge langjähriger Kriegszeiten Mitte des 15. Jahrhunderts war die oberste Rechtsprechung von Unterbrechungen gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund der Abwesenheit des Königs und des damit verbundenen Rechtsvakuums im Alten Reich wurde mit der Gründung des RKG eine ständige Rechtsprechung an einem vom Kaiserhof in Wien getrennten Ort eingerichtet. Nach mehrfachen Standortwechseln (u. a. nach Frankfurt am Main, Worms, Augsburg und Nürnberg) residierte das RKG von 1527 bis 1688 in Speyer und schließlich von 1690 bis zu seiner Auflösung 1806 in Wetzlar.

Warum sollte sich die Organisationsforschung heute mit dem über 300-jährigen Bestehen eines Gerichts in der vormodernen Gesellschaft beschäftigen? Interessant ist am RKG, dass mit dessen Einrichtung eine Rechtsprechung etabliert wurde, die nicht mehr – wie zuvor am Reichshofgericht (1235–1451) und dem Königlichen Kammergericht (1415–1495) am Wiener Kaiserhof – in der „Kommunikation unter Anwesenden“ (Kieserling 1999) aufging. Vielmehr wurden am RKG universitär ausgebildete Richter (Assessoren) eingestellt, die sich durch einen Amtseid bestimmten Verhaltensvorschriften und besonderen Schriftlichkeitsmaximen verpflichteten. Als Mitglieder des Gerichts repräsentierten sie die dualistisch geteilten Rechtsprechungsrechte von Reichsoberhaupt und Reichsständen „in corporeFootnote 3 (JRA 1654 §165; zit. nach Jahns 2011, 191). Im Vergleich zu der interaktionsbasierten Rechtsprechung im Spätmittelalter, so meine soziologische These, lässt sich mit der Gründung des RKG eine Umstellung der Bedingungen der Rechtsprechung von Interaktion auf Organisation beobachten. Mit der Ausgangsannahme einer Organisationsförmigkeit des RKG ist in dieser Arbeit der Anspruch verbunden, die besonderen Strukturausprägungen einer organisierten Rechtsprechung in einer stratifizierten Gesellschaft aufzuzeigen.

Die Untersuchung des RKG geht dabei nicht nur in ihrem zeitlichen Umfang über eine konventionelle Organisationsanalyse hinaus. Mit dem Interesse, den historischen Zusammenhang von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung empirisch zu fundieren, sucht sie vielmehr einer genuin soziologischen Verunsicherung gerecht zu werden, und zwar „das jeweils andere eines Ansatzes, einer Forschung, einer Analyse […] mit zu besprechen“ (Scheffer 2017). Das heißt, wenn in dieser Arbeit eine Organisation im Fokus steht, wird zugleich auch gefragt, wie sich diese zur Gesellschaft verhält und welche Formen und Funktionen die Situationsdefinitionen und Rollenauffassungen in der gesellschaftlichen Interaktion annehmen.

Um sich dem Zusammenhang von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung empirisch genauer zu widmen, bietet sich das RKG aus verschiedenen Gründen an. Ausschlaggebend für die Wahl des RKG war erstens in gesellschaftsbezogener Hinsicht der Befund, dass sich „der Umbau der ständischen in die moderne Gesellschaft mithilfe des Rechts vollzogen“ (Luhmann 1995a, 25) hat. Für eine eingehende Untersuchung der Entstehung von Organisationen in der vormodernen Gesellschaft lohnt sich der Blick auf das RKG zweitens deshalb, weil Rechtsorganisationen im Vergleich zu Unternehmen, Parteien, Schulen, Krankenhäusern oder Vereinen einen Organisationstyp darstellen, der in der Organisationsforschung weitestgehend vernachlässigt wird. Die Arbeit zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass Gerichte durch eine besondere Rechtsbindung geprägt sind. Ein spezifisches Organisationsproblem von Gerichten liegt darin, dass diese auf ein Aktivwerden der Streitparteien angewiesen sind. Damit verbunden bewältigen Gerichte eine hohe Unsicherheit über den eingehenden Geschäftsanfall.

In organisationstheoretischer Hinsicht knüpft die Arbeit drittens an die Kritik der „Banalisierung des Organisationsbegriffs“ (Friedberg 1995, 7, zit. nach Tacke 2010, 355; 2015b, 277) an. Aktuelle Strömungen der Organisationsforschung plädieren beispielsweise dafür, diesen aufzulösen und auf andere gesellschaftliche Sozialformen zu erweitern. Mit dem Vorschlag, einen empirisch größeren Phänomenbereich abzudecken, wird der Anspruch verknüpft, die Erkenntnisse der Organisationsforschung in Kontakt mit anderen Disziplinen zu bringen (z. B. Ahrne/Brunsson 2011; Ahrne et al. 2016; zur Kritik daran siehe Tacke 2010; 2015b; Apelt et al. 2017). Empirisch lässt sich ein solcher Vorstoß zwar als Impuls hin zu genetischen und transitorischen Perspektiven zum Verhältnis von Organisation und Gesellschaft verstehen. Gleichwohl – so wird in dieser Arbeit argumentiert – sind mit der Auflösung eines allgemeinen Organisationsbegriffs forschungspraktische Unschärfen für eine historische Organisationssoziologie verbunden.

Im Unterschied zu programmatisch interessierten Bestrebungen wählt die vorliegende Untersuchung einen entgegengesetzten Ausgangspunkt: Sie versucht, das soziologische Potenzial eines allgemeinen, systemtheoretischen Organisationsbegriffs an einem historischen Fall zu plausibilisieren. Die vorgelegte Analyse wirbt damit nicht nur für die vernachlässigte „Beschreibung von Organisationen in bislang wenig beachteten gesellschaftlichen Kontexten“ (Tacke 2010, 356). Sie verlagert den empirischen Fokus überdies in die stratifizierte Gesellschaft der Frühen Neuzeit und damit in eine Terra incognita der empirischen Organisationsforschung, denn die Organisiertheit eines Sozialphänomens in der stratifizierten Gesellschaft des 15. und 16. Jahrhunderts wird als relativ unwahrscheinlich angesehen.

Die gesellschaftstheoretische Relevanz der These, dass es sich beim RKG um eine Organisation handelt, besteht viertens auch darin, dass mit dem RKG ein historischer Fall vorliegt, der den Zusammenhang von gesellschaftlicher Differenzierung und Organisationsbildung zu konkretisieren erlaubt. Wenn man annimmt, dass sich Organisationen als eigenlogische Sozialform in ihren Verhaltenserwartungen gegenüber der Gesellschaft abgrenzen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese bei der Ausbildung von Organisationen umstandslos aus der Gesellschaft übernommen werden. Für den vorliegenden Fall ist ebenso wenig anzunehmen, dass sich organisierte Verhaltensweisen bruchlos in die ständische Gesellschaft einfügten. Das Phänomen einer Organisationsbildung in der vormodernen Gesellschaft ist deshalb auch für die Theorieentwicklung instruktiv. Der Befund einer formalen Organisation in der Vormoderne, deren interne Strukturen mit den gesellschaftlichen Hierarchien konfligierten, widerspricht dem Konsens in der Forschung: Vergleicht man die zentralen Aussagen über das Verhältnis von organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung innerhalb der soziologischen Großtheorien, so erscheinen diese weitgehend als Zirkelschlüsse. Im Sinne einer petitio principii wird formuliert, dass Organisationen erst in der modernen Gesellschaft mit der Ausbildung bürokratischer (Staats-)Verwaltungen, von Armeen, Universitäten, Krankenhäusern, Verbänden und Parteien entstanden seien, in denen die Mitglieder nicht mehr als ganze Person mit allen Rollenbezügen inkludiert waren. Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive heißt es umgekehrt, dass Organisationen evolutionäre Phänomene darstellen, die erst vor dem Hintergrund eines Primats funktionaler Differenzierung entstehen. In der Literatur wird diese Entwicklung weitgehend auf die sogenannte Sattelzeit bzw. die zweite Hälfte des 18. und 19. Jahrhunderts datiert. Mit derartigen Apriorisierungen ist ein nahezu unbeachtetes Problem der Organisationsforschung verbunden, nämlich dass diese bereits jene gesellschaftlichen Strukturbedingungen – das heißt die Existenz von Organisationen sowie eine funktional differenzierte Gesellschaft – voraussetzt, die ihren Gegenstand historisch überhaupt erst ermöglichen. Mit anderen Worten: Das Auftreten bestimmter Organisationen wird als Bedingung für gesellschaftlichen Wandel beobachtet oder es wird ein gesellschaftlicher Wandel mit Rekurs auf Organisationsbildungen erklärt. Der historische Zusammenhang zwischen sozialer und gesellschaftlicher Differenzierung bleibt für empirische Analysen dabei allerdings hinter einem abstrakten Bedingungsverhältnis verborgen.

Diese Arbeit stellt die Plausibilität eines tendenziell wechselseitigen Verhältnisses von Organisationsbildung und Gesellschaftsdifferenzierung nicht generell infrage. Sie behauptet gleichwohl, dass dieser Zusammenhang in den jeweiligen Theoriesträngen weitgehend unklar geblieben ist. Demgegenüber wird mit der Untersuchung der Organisationsbildung des RKG versucht, für die historischen Brüche innerhalb eines komplementären Verständnisses von Organisationsbildung und funktionaler Differenzierung zu sensibilisieren.

Jedoch sind Fallstudien zu den historischen Diskontinuitäten im Verhältnis von organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung – trotz der Tradition des Faches – weitgehend ausgeblieben. Nicht nur Norbert Elias (1983) hat den Rückzug der Soziologie auf die Gegenwart kritisiert. Auch für die Organisationsforschung wurde ein „gesellschaftstheoretisches Defizit“ (Wehrsig/Tacke 1992, 220) beklagt (siehe auch Tacke 2001a, 7 ff.; 2015b, 280; Nassehi 2002, 443 ff.; Drepper 2003, 13, 30; Kühl 2004, 67 ff.; Tyrell 2008, 87). Versuche, der Organisationssoziologie zu einer „Rückkehr der Gesellschaft“ (Ortmann/Sydow/Türk 2000, 15–43) durch „historische Einführungen“ (Türk/Lemke/Bruch 2006) zu verhelfen, sind weitgehend auf Organisationen im Plural beschränkt geblieben (siehe z. B. Kieser 1994, 608 ff.; Üsdiken/Kieser 2004, 321; Bucheli/Wadhwani 2014, 6). Der Beginn organisatorischen Denkens wird auch von Guiseppe Bonazzi (2014) an die industrielle Frage geknüpft. Phänomene vor dem 18. und 19. Jahrhundert haben entsprechend kaum einschlägige Beachtung gefunden.

Die hier vorgeschlagene gesellschaftstheoretische Reflexion auf das Thema Organisationsbildung unterscheidet sich zudem von wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen. In diesen sind Gründungsfragen weitgehend auf den Organisationstyp Unternehmen und die damit verbundenen Rechts-, Technologie- und Finanzierungsaspekte bezogen. Gesellschaftliche Fragen geraten dabei nur begrenzt in den Blick – nämlich vorwiegend aus der Sicht ihrer Einbettung und Ersetzung in bzw. durch Märkte (siehe insbesondere Chandler 1962, 1977; Williamson 1985). Das Interesse der Disziplin finden insbesondere solche Unternehmensorganisationen, die entweder einen beachtlich großen oder geringen wirtschaftlichen Erfolg verzeichnen.

Im Umgang mit diesen Forschungslücken plädiert diese Arbeit dafür, die Gründung selbst als Reaktion auf ein gesellschaftliches Problem zu untersuchen. Zwar zählt es heute beispielsweise bei Finanzierungsgesprächen mit potenziellen Investoren zum Kanon, dass danach gefragt wird, welches Problem das Start-up löse. Im Mittelpunkt stehen dabei die wirtschaftliche Nachfrage nach einem Produkt und das damit verbundene Geschäftsmodell. Ob und inwiefern es sich bei einem Phänomen um eine Organisation handelt und welches gesellschaftliche Problem genau mit einer Organisationsbildung gelöst wird, ist in der Forschung unklar. Unbeantwortet bleibt damit die Frage, was es im Einzelnen bedeutet, wenn der Bedarf für die Lösung eines gesellschaftlichen Problems nicht mehr durch Interaktionen – sei es in Familien oder Gruppen, durch Protestbewegungen oder Netzwerke – gedeckt wird, sondern durch die Herauslösung einer Organisation aus den bestehenden gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen. Ein solcher Zugang ist jedoch weder theoretisch ausgearbeitet noch anhand historisch-empirischer Forschungen rekonstruiert worden. Was vor diesem Hintergrund fehlt, sind organisationsbezogene Einzelstudien, die die historische Genese des Gegenstandes fundieren.

Mit der oben erwähnten These, dass mit der Gründung des RKG eine Umstellung in der obersten Rechtsprechung von den Bedingungen der Interaktion auf formale Organisation stattfand, ist zudem eine gesellschaftsbezogene Vermutung verbunden. Diese besteht darin, dass die Einrichtung des RKG als „originäre“ Organisationsbildung in einer vormodernen, „unorganisierten Gesellschaft“ verstanden werden kann. Eine originäre Organisationsgenese unterscheidet sich von der „massenhaft-spontanen Autokatalyse von Organisationen“ (Luhmann 1978a, 41, 44). Letztere vollzieht sich primär an den Funktionen und Folgeproblemen anderer Organisationen. Gegenüber einer solchen abgeleiteten Organisationsbildung markiert die Gründung des RKG insofern eine originäre Organisationsgenese, als dass das Gericht einen kollektiven Bedarf an höchstrichterlichen Entscheidungen in einer stratifizierten Gesellschaft deckte, die bislang unter den Bedingungen der Kommunikation unter Anwesenden standfanden. Die Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung richtet sich mit anderen Worten danach, auf welchen Problemkontext mit der Gründung einer Organisation reagiert wird. Sie verläuft dabei, so meine Lesart, implizit entlang der systemtheoretischen Ebenen- bzw. Typendifferenzierung von „Interaktion, Organisation und Gesellschaft“ (Luhmann 1975a; 2014).Footnote 4 Originäre Organisationsbildung im Sinne der Reaktion auf einen „situativ offensichtlichen Bedarf für Entscheidungen über kollektive Aktion“ (Luhmann 1978a, 44) lässt sich auf der Ebene von gesellschaftlicher Face-to-Face-Interaktion zuordnen. „Abgeleitet entstehen Organisationen durch Bezug auf Organisationen ihrer Umwelt“ (ebd.).

Luhmanns Überlegungen zur Organisationsgenese beschränken sich in seinem Werk allerdings auf den Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und abgeleiteter Organisationsbildung. Auch wenn sich punktuelle Hinweise auf die Existenz von formalen Organisationen vor dem Einsetzen eines Primats funktionaler Differenzierung finden, so haben diese Aussagen in der Organisationsforschung kaum Anschluss erfahren. Eine gesellschaftstheoretische Besonderheit lässt sich für Gerichtsorganisationen aus einem Nebensatz in Luhmanns Ausführungen zur „Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997) entnehmen. Darin notiert Luhmann, dass es in der stratifizierten Gesellschaft, „abgesehen von Gerichten, keine lokale Verwaltungsorganisation gab“ (Luhmann 1997, 700). Diese differenzierungstheoretische These einer ‚vorzeitigen‘ Organisation von gerichtlichen Entscheidungsverfahren – im Vergleich zu den kollektiven Erwartungs- und Entscheidungszusammenhängen der Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung – wird jedoch von Luhmann nicht weiter ausgearbeitet. Bemerkenswert bleibt sie dennoch, denn sie lässt die Tendenzannahme eines komplementären Steigerungszusammenhangs von funktionaler Differenzierung und Organisationsbildung wiederum als ergänzungsbedürftig erscheinen. Die Notiz kann zudem als Hinweis auf „abrupte […] Umstellungen“ (Luhmann 1994b, 262) in Form einer originären Organisationsbildung verstanden werden. Vor dem Hintergrund der skizzierten theoretischen und empirischen Unklarheiten über den historischen Zusammenhang von organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung kann sich die Untersuchung der Organisationsbildung des RKG in einer vormodernen Gesellschaft schließlich als Lehrstück für die weitere Theoriebildung zum Verhältnis von Organisation und Gesellschaft erweisen.

1.2 Vorgehen

Auf Basis dieser Vorbemerkungen zur Verortung der These einer formalen Organisationsförmigkeit des RKG und seiner originären Genese im Europa des 15. Jahrhunderts gliedert sich das Vorgehen der Arbeit in sechs weitere Kapitel. Zunächst wird der Forschungsstand innerhalb von zwei Forschungsfeldern sondiert (Kap. 2). Die Besonderheiten des Gerichts in seiner Entstehung und seinen Binnenstrukturen anhand historischer Forschungen herauszuarbeiten, erweist sich dabei sowohl in theoretischer Perspektive als auch empirischer Sicht als anspruchsvoll wie aufschlussreich: Zum einen finden sich innerhalb der Organisationsforschung kaum Arbeiten über die Ausbildung von Organisationen – sei es in der vormodernen oder in der modernen Gesellschaft (Abschn. 2.1.1). Zum anderen sind Rechtsorganisationen im Unterschied zu Unternehmen, politischen Parteien, Armeen oder Kirchen bislang auf kein breites Forschungsinteresse gestoßen. Im Vergleich zu den heutigen massenhaften Unternehmens-, Vereins-, Schul- oder Parteigründungen (einschließlich ihrer Auflösungen) mutet die Existenz des RKG in einer von mehreren Kriegen geprägten Zeit nahezu episch an. Während überdies unzählige Arbeiten zur Interaktion in Gerichtsverfahren vorliegen, gibt es nahezu keine Fallstudien, die sich dem Zusammenhang von Organisation, Recht und Verfahren widmen, und diesen am Beispiel historischer Fälle konkretisieren (Abschn. 2.1.2).

Die Frage nach der Organisationsförmigkeit des RKG in einer vormodernen Gesellschaft erschließt sich neben ihrer theoretischen Unbestimmtheit auch aus empirischen Gründen nicht selbstverständlich. Denn bei dem RKG handelt es sich angesichts seines über 300-jährigen Bestehens von 1495 bis 1806 um ein historisches Phänomen, das primär in das Untersuchungsfeld der Neuzeitforschung fällt – mit der Folge, dass sich mit dem RKG bislang ausschließlich Historiker beschäftigt haben. In der Geschichtswissenschaft wird das Gericht indes kaum aus einer organisationssoziologischen Perspektive analysiert (siehe Abschn. 2.2). Neben der Ausnahme eines Aufsatzes zur „Epoche der Formalisierung“, der das RKG als „Beispiel“ wählt (Stollberg-Rilinger 2013a, 11–21), liegen in der RKG-Forschung zwar einige bürokratietheoretisch interessierte Beiträge vor. Diese operieren jedoch mit Heuristiken und Begrifflichkeiten, die in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht unterkomplex bleiben und nicht genuin auf das Problem einer Organisationsbildung in der „unorganisierten Gesellschaft“ der Vormoderne zugeschnitten sind.

Angesichts der genannten Desiderata kann die Untersuchung des RKG als Fall einer Organisationsgenese im Bereich des Rechts, der vor dem Einsetzen einer primär funktionalen Differenzierung datiert, auf keine einschlägigen Vorlagen zurückgreifen. Die markierte Leerstelle einer historisch informierten und gesellschaftstheoretisch angeleiteten Organisationsforschung ist umso beachtlicher, je mehr man sich die Ubiquität von Organisationen in nahezu allen gesellschaftlichen Sphären vergegenwärtigt (siehe Etzioni 1961, 1978; Zald 1990). Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass die Untersuchung von Organisationen aus einer historisch-soziologischen Perspektive mit besonderen theoretischen sowie empirisch-methodischen Hürden verbunden ist.

Neben der gesellschaftstheoretischen Prämisse eines komplementären Bedingungsverhältnisses von Organisationsbildung und funktionaler Differenzierung problematisiere ich im Rahmen des Forschungsstandes einen kategorialen Strukturbegriff von Organisation. Mein Argument ist, dass bei diesem spezifischen Begriffsverständnis organisierte Verhaltenserwartungen in ihrer besonderen Eigenlogik nicht ausreichend von anderen Formen sozialer Ordnungsbildung unterschieden werden. Welche theoretischen bzw. begrifflichen Mittel sind demgegenüber geeignet, um die Ausdifferenzierung einer formalen Organisation der Rechtsprechung trennscharf – d. h. insbesondere in Abgrenzung zur Strukturbildung über Autoritäten, Personen oder Institutionen – beschreiben und verstehen zu können?

Ein empirischer Blick auf die diskontinuierlichen Umstellungen setzt ein Beobachtungsinstrumentarium voraus, das nicht bereits einzelne organisationstypische Strukturaspekte (wie Rollendifferenzierung, Hierarchien und Aufgabenteilungen) oder gesellschaftsstrukturelle Vorgaben (wie Geldwirtschaft oder auch Schrift) als Ausdruck organisatorischer Differenzierung qualifiziert. Würde man das Vorliegen von organisationstypischen Strukturmerkmalen als Beleg für das Bestehen formaler Organisationen werten, ließen sich bereits für die Vormoderne Personenverbände, Verfahren, Gruppen und Netzwerke als Organisationen ausmachen. Mit einer solchen empirischen Gleichsetzung von unterschiedlichen Formen sozialer Ordnungsbildung wäre ihre begriffliche Abgrenzung obsolet. Mein Argument ist darüber hinaus, dass das Vorliegen einzelner organisationstypischer Strukturaspekte die Frage nach ihrer Formalisierung in Form einer generalisierten Mitgliedsrolle unbeantwortet lässt. Für die Untersuchung des RKG wird deshalb ein allgemeiner Systembegriff von Organisation verwendet. Dieser postuliert eine Organisationsförmigkeit nicht schon auf der Ebene einzelner oder mehrerer organisationstypischer Strukturmerkmale. Ein systemtheoretisches Organisationsverständnis bietet deshalb den Ausgangspunkt einer gründungsinteressierten Organisationforschung, die historische und gegenwärtige Formen von Organisationbildung vergleichend zu erschließen erlaubt.

Zum Umgang mit den genannten organisations- und gesellschaftstheoretischen Erkenntnishürden unternehme ich drei weitere Schritte (Kap. 3, 4 und 5), die darauf vorbereiten, den Fall einer originären Gerichtsgründung sowie die spezifischen Gerichtsstrukturen genauer zu bestimmen. Dazu entwickle ich zunächst ein entsprechendes theoretisches Forschungsdesign (Kap. 3): Eine wesentliche Voraussetzung für die Untersuchung eines historischen Organisationsphänomens in einer stratifizierten Gesellschaft scheint mir darin zu liegen, eine Theorieanlage zu wählen, die eine Pluralität von analytischen Referenzen in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen zu untersuchen erlaubt. Mit der luhmannschen Systemtheorie und ihrer gesellschaftstheoretisch eingebetteten Organisationssoziologie (Luhmann 1999a [1964], 1978a, 2006, 2018) liegt ein Beobachtungs- und Begriffsrepertoire vor, das diesem Anspruch Rechnung trägt. Organisationen werden hier einerseits in sozialtheoretischer Hinsicht eindeutig gegenüber anderen Ordnungsformen (z. B. Netzwerken, Familien, Bewegungen, Gruppen oder Institutionen) abgegrenzt. In gesellschaftstheoretischer Perspektive können Organisationen zudem im Verhältnis zur Ausdifferenzierung funktionaler Großkontexte (z. B. Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft) bestimmt werden. Da sich die Verwendung des systemtheoretischen Organisationsbegriffs weitgehend auf moderne Kontexte konzentriert, wurde dieses Potenzial bislang jedoch kaum entfaltet. Diese Lücke lässt sich füllen, wenn man die soziologische Systemtheorie weniger für gesellschaftstheoretische Präjudizierungen nutzt als für die empirische Frage, welche konkreten Verhaltenserwartungen an eine Person herangetragen werden. Das heißt: Welche sozialen Unterschiede und Geltungsansprüche werden verhandelt? Welche Rollenauffassungen und Situationsdefinition entfalten eine Drittwirkung und werden als dominant aufgefasst (Abschn. 3.1)?

Als instruktive Anleitungen stelle ich in einer organisationsbezogenen Sicht zunächst Konzepte und Begriffe vor, die es erlauben, die formalen Entscheidungsprämissen und informalen Strukturen einer organisierten Rechtsprechung gegenüber anderen Formen gesellschaftlicher Interaktion eindeutig zu unterscheiden. Zentral ist die Prämisse, dass die Ausdifferenzierung organisierter Sozialsysteme auf der Übernahme einer Mitgliedsrolle beruht. Die Kriterien für die Mitgliedschaft, ihre Beibehaltung und Auflösung werden dabei kollektiv (vor-)entschieden. Das Einlassen auf eine Mitgliedsrolle ist damit kein gesellschaftlich notwendiger Status, der primär durch Herkunft und sozialen Druck ableitbar wäre (vgl. Luhmann 1997, 829; 1999a). Die Mitgliedsrolle bezeichnet vielmehr diejenigen Rollenerwartungen, die mit der Übernahme formaler Verhaltenserwartungen verknüpft sind. Die damit verbundenen Selbstverpflichtungen führen eine normative Orientierung mit, die es verlangt, zwischen der Mitgliedsrolle und (eigenen) anderen Rollen zu unterscheiden (Abschn. 3.2). Empirisch lässt sich die Strukturierung von Organisationsentscheidungen anhand der sogenannten „Entscheidungsprämissen“ (Luhmann 2006, 222; siehe auch Simon 1947) spezifizieren. Die Mitgliedsrolle wird dabei als eine Stelle (Position) verstanden, in welcher sich programmatische Regeln mit den Fähigkeiten von (wechselnden) Personen und (änderbaren) Kommunikationswegen kombinieren lassen (Abschn. 3.2.1).

Das faktische Verhalten von Organisationsmitgliedern erschöpft sich mithin nicht in der Anerkennung formaler Erwartungen. Zum Ausgleich rigider Verhaltensweisen tragen in Organisationen Verhaltenserwartungen bei, die an konkrete Personen adressiert werden. Dazu gehören beispielsweise Normen der Kollegialität, der Dankbarkeit oder der Beachtung von Prestige. Formale und informale Erwartungen werden dabei als jeweils ergänzungsbedürftige Teilstrukturen desselben Systems „Organisation“ verstanden, deren situative und rollenmäßige Trennung dazu beiträgt, die potenzielle Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen Erwartungslogiken auszubalancieren (Abschn. 3.2.2).

Für die Bearbeitung der Frage nach der Organisationsförmigkeit des RKG in einer vormodernen Gesellschaft sind neben organisationsbezogenen Begriffsmitteln ergänzende gesellschaftstheoretisch eingebettete Unterscheidungen zentral (Abschn. 3.3). Vor diesem Hintergrund gilt es zunächst, ein Verständnis der gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen zu gewinnen, auf denen Organisationsbildungen historisch beruhen. Neben dem Aufkommen von Recht und Geldwirtschaft stellen Schul- und Berufserziehung sowie der Zugang zu Arbeitsmärkten drei wesentliche gesellschaftliche Strukturbedingungen für die Ausdifferenzierung von Organisationen dar (vgl. Luhmann 1978a, 41 ff.).

Offen bleibt bei dieser Betrachtung indes, wie genau die Übernahme von Mitgliedsrollen im Einzelnen ermöglicht wurde: Wie wurden aus standesspezifischen Dienstverhältnissen aufkündbare Arbeitsverhältnisse? Welche personenübergreifenden Verhaltenserwartungen wurden dabei mitgliedschaftsfähig und in diesem Sinne austauschbar? Mit dem Argument, dass die Ausbildung von Organisationen Beiträge verschiedener Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht und Erziehung voraussetzt (Abschn. 3.3.1), stellt sich zum Verständnis des abstrakten Bedingungsverhältnisses von funktionaler Differenzierung und Organisationsbildung umgekehrt die Frage, welche Leistungen Organisationen für die Gesellschaft bzw. deren Funktionssysteme erbringen (Abschn. 3.3.2). In dieser Hinsicht lassen sich drei „besondere Leistungen“ (Luhmann 2014, 11) unterscheiden, die sich als instruktiv für den Zugang dieser Untersuchung erwiesen haben, weil sie Organisationsbildung gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umwelt sichtbar machen. Dazu zählt erstens, dass Organisationen mit ihren „Entscheidungsprogrammen“ (Luhmann 1966b, 36 ff., 56 ff.; 2006, 256; siehe auch March/Simon 1958, 165 ff.) zur funktionalen Spezifikation gesellschaftlicher Kommunikation beitragen. Zweitens sind es Organisationen, die Verfahren veranstalten und eine personenübergreifende Fallarbeit ermöglichen (Schwarting 2017b). Drittens ermöglichen Organisationen in ähnlicher Weise wie Personen – aber im Unterschied zu funktionsspezifischer Kommunikation – eine unterstellbare Adressierbarkeit von Entscheidungen (Luhmann 1997, 834; Fuchs 1992, 1997).

Die gesellschaftsbezogenen Beobachtungsmittel für die Bearbeitung der Frage nach der Organisationsförmigkeit des RKG versuche ich darüber hinaus mit der Unterscheidung von sachlichen Verhaltensgeneralisierungen wie Personen, Rollen, Programmen und Werten (vgl. Luhmann 1972a, 80 ff.; 1984, 426 ff.) zu schärfen (Abschn. 3.3.3). Mit dieser Unterscheidung können nicht nur einzelne Systeme nach dem Grad ihrer strukturellen Komplexität weiter erschlossen werden. Die Verbreitung und Varianz sachlicher Erwartungskontexte gibt auch Aufschluss über die Differenzierungsform einer Gesellschaft. Insbesondere kollektive Strukturbildungen auf der Ebene von Rollen und Programmen markieren gesellschaftliche Voraussetzungen und Ausgangslagen formaler Organisation. Diese basieren dabei auf dem Strukturprinzip der Trennung von personenbezogenen und rollenmäßigen Verhaltenserwartungen und damit auf der Abgrenzung eigener anderer Rollen.

Für eine gesellschaftstheoretisch reflektierte und historisch interessierte Organisationsforschung, die den Zusammenhang von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung genauer zu bestimmen versucht, greife ich schließlich auf die erwähnte Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Ausdifferenzierung zurück (Abschn. 3.3.4). Historisch instruktiv ist diese Abgrenzung deshalb, weil sie erlaubt danach zu fragen, inwiefern die Gründung einer Organisation auf einen gesellschaftlich beobachteten Problemkontext hin zurechenbar ist – sei es beispielsweise im originären Sinne auf einen Mangel an kollektiv bindenden Entscheidungen oder abgeleitet auf bestehende Struktur- bzw. Folgeprobleme anderer Organisationen.

Mit Blick auf die theoretische Unwahrscheinlichkeit des Vorfindens einer Rechtsorganisation in einer vormodernen Gesellschaft und angesichts fehlender Vorarbeiten stellt sich die Frage, wie sich ein systemtheoretischer Organisationsbegriff im Sinne der Ausbildung von Mitgliedsrollen operationalisieren lässt (Kap. 4). Die vorliegende Arbeit geht dabei von einer wechselseitigen Bedingtheit von Theorie und Empirie aus, mit der die Möglichkeit einer theoretischen Neutralität ausgeschlossen wird. Der Anspruch ist vielmehr, „Theorien für die eigene Forschung zu aktivieren, so daß durch sie hindurch das empirische Material zum Sprechen gebracht und auf diesem Wege Theorie entfaltet werden kann“ (Kalthoff 2008, 20 f., Herv. i. O.).

Angesichts des 300-jährigen Bestehens liegt nicht nur eine ungewöhnlich hohe Fülle an überlieferten Primärdaten, sondern auch an historischen Forschungen zum RKG vor. Dieser unüberschaubare Bestand erfordert einen selektiven Forschungsansatz. Als empirisches Material lege ich den Schwerpunkt auf die Veröffentlichungen der historischen RKG-Forschung. In methodischer Hinsicht unternimmt die vorliegende Arbeit damit keine genuine Quellenkritik von unbekannten oder unerforschten Daten (Abschn. 4.1). Zur Operationalisierung der Forschungsfrage nach der Systemumstellung der Rechtsprechung von Interaktion auf Organisation nutze ich die „funktionale Analyse“ (Luhmann 1962a, 1964) als eine theoriegeleitete Methode (Abschn. 4.2). Mein Eindruck ist, dass eine Kombination aus systemtheoretischer Organisationssoziologie und funktionaler Analyse in besonderer Weise geeignet ist, aus dem historischen Material der RKG-Forschung und aus den darin genutzten Primärdaten Momente der Ausdifferenzierung eines Organisationssystems zu identifizieren: Denn nimmt man an, dass die Ausbildung der Systemgrenzen von Gesellschaft und Organisation sowie ihrer Teilsysteme auf dem Invarianthalten von sinngebundenen Verhaltenserwartungen basiert, so lassen sich Anhaltspunkte für Ausdifferenzierungen und Strukturumstellungen aus Erwartungskonflikten und Normbrüchen ableiten (Abschn. 4.3).

Zur Plausibilisierung der These einer originären Organisationsgenese des RKG wird in einem fünften Teil die Gerichtsgründung im Lichte gescheiterter Alternativen und zeitgenössischer Rechtseinrichtungen kontextualisiert (Kap. 5). Die Systemumstellung in der Rechtsprechung von den Bedingungen der Interaktion auf formale Organisation wird insbesondere vor dem Hintergrund vorheriger Formen der Rechtskommunikation im Spätmittelalter erkennbar (Abschn. 5.1). Leitend ist dabei die Frage, auf welches gesellschaftliche Problem mit der Einrichtung des RKG reagiert wurde: Als Hinweise auf organisationsgenetische Vorbedingungen greife ich auf theoretische Begriffsmittel zurück, die erlauben, die Veränderungen gesellschaftlicher Strukturbildungen zugleich sozialtheoretisch zu verorten (siehe Abschn. 3.3). Als solche nutze ich die erwähnte Differenz unterschiedlicher Abstraktionsgrade sachlich generalisierter Verhaltenserwartungen, die von Luhmann anhand der Trennung von Personen, Rollen, Programmen und Werten spezifiziert wird. Zentral ist dabei das Argument, dass strukturelle Schwerpunktverlagerungen in Richtung Rollen und Programme auf einen Zuwachs an sozialer Komplexität, Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung hindeuten. Dem entwickelten Forschungsdesign folgend stelle ich bei der Interpretation der historischen Forschungen über die Rechtseinrichtungen vor der Gründung des RKG bzw. während seines Bestehens dazu die Frage, inwiefern diese funktional auf rechtsförmige, personenunabhängige Rollen und Programme hin orientiert waren.

Die historische Ausdifferenzierung von Erwartungs- und Entscheidungskontexten der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung vergleiche ich dazu diachron und synchron anhand dreier einschlägiger Fälle. Konkret zählen dazu auf der Ebene der Rechtsetzung die Reichsversammlungen und der spätere sogenannte Immerwährende Reichstag (1663–1806) (Abschn. 5.2.1). Auf der Ebene der Rechtsdurchsetzung betrachte ich die territorialen Policey-Verwaltungen ab 1450 (Abschn. 5.2.2). Die Bedingungen der obersten Rechtsprechung zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit kontrastiere ich am Beispiel des Hofgerichts (1235–1451) und des späteren Königlichen Kammergerichts (1415–1495) (Abschn. 5.2.3). Die Einsichten aus den historischen Forschungen weisen exemplarisch darauf hin, dass sich im Unterschied zum Spätmittelalter – in dem die Rechtsprechung, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung situativ zusammenfielen – zögerlich, aber zunehmend funktional spezifizierte Kontexte rechtsförmiger Erwartungs- und Entscheidungsfindung ausbildeten. Insgesamt war die Adressierung und Bearbeitung von Rechtsfragen gleichwohl eng mit gesellschaftlichen Zugehörigkeitsfragen verknüpft, sodass kaum personen- und schichtunabhängige Verfahrensregeln und Rollen bestanden. Konsens und Einheit waren vielmehr die zentralen Wertvorstellungen, die in der Rechtsetzung und Rechtsprechung übergreifende Prämissen bildeten. Auf Basis der Strukturbedingungen in der Rechtskommunikation vor der Gründung des RKG wird gezeigt, dass sich die Entstehung des RKG als eine originäre Organisationsgenese verstehen lässt, mit der im Alten Reich auf einen gesellschaftlich ungedeckten Entscheidungsbedarf hinsichtlich einer höchstrichterlichen Rechtsprechung reagiert wurde (Abschn. 5.3).

Aufbauend auf der Kontextualisierung der Gerichtsgründung spezifiziere ich in einem sechsten Schritt die besonderen Strukturausprägungen der Rechtsprechung am RKG anhand konfligierender Situationsdefinitionen und Rollenauffassungen aus der historischen RKG-Forschung (Kap. 6). Die Bestimmung der zentralen gerichtlichen Strukturmerkmale nehme ich anhand von vier Unterfragen bzw. Abschnitten vor: Dabei frage ich zunächst danach, welche formalen (Abschn. 6.1) und informalen (Abschn. 6.2) Verhaltenserwartungen die Rechtsprechung am RKG im Allgemeinen bedingten. Im Anschluss arbeite ich einzelne empirische Strukturaspekte zu den drei formalen Entscheidungsprämissen – Personal, Programme und Hierarchien – im Besonderen (Abschn. 6.3.) heraus. In einem vierten Teil stelle ich darüber hinaus die wesentlichen Spezifika der Außendarstellung am RKG (6.4) vor. Durch die historisch-vergleichende Rekonstruktion wird versucht zu verstehen, wie die Verhaltenserwartungen am RKG auf die Funktion der Rechtsprechung ausgerichtet und durch gerichtliche Rollen und konditional-programmierte Entscheidungsregeln formalisiert wurde. Dabei arbeite ich heraus, dass die Bedeutung von Personen und Werten bei der Rechtsprechung auf die Ebene informaler Strukturbildung verlagert wurde.

Welche Strukturbesonderheiten des RKG lassen sich im Einzelnen anhand des entwickelten organisationssoziologischen Zugangs aus den historischen Forschungen ableiten? Charakteristisch für das RKG war insgesamt eine dreiteilige Mitgliederstruktur: Reichsoberhaupt und Reichsstände (bzw. die von diesen ernannten Reichstagsgesandten) bildeten die obere Mitgliederumwelt des Gerichts, die nicht nur über die Rechtsetzung im Reich, sondern auch maßgeblich über die Formalstruktur des Gerichts disponierten. Ein formales und zugleich invariantes Spezifikum des RKG bestand darin, dass mit der Gründung durch Reichsoberhaupt und Reichsstände diese zugleich als Doppelspitze des Gerichts institutionalisiert wurden. Durch die Inkorporation des reichsrechtlich verankerten Dualismus in die oberste Entscheidungseinheit des RKG wurde die ‚gute Gesellschaft‘ in die gerichtliche Organisationsstruktur übertragen. Mit der Übernahme einer gesellschaftsweiten Rechtsstruktur in die Organisationsordnung des Gerichts war verbunden, dass Änderungen hinsichtlich der gerichtlichen Formalstruktur von Konsensentscheidungen auf der Reichsversammlung abhängig waren. Konflikte auf der Reichsebene duplizierten sich dadurch selektiv als gerichtsspezifische Organisationsprobleme.

Neben der reichsrechtlich abgeleiteten Doppelspitze lassen sich die „Kameralen“ vor Ort unterscheiden, die die Rechtsprechung am Gerichtssitz leisteten. Zu dieser zählte einerseits das rechtsprechende Gerichtskollegium der Assessoren, über die der Kammerrichter die Disziplinargewalt hatte. Eine dritte, ebenfalls kamerale Mitgliederumwelt umfasste andererseits die Kanzlei, die die Arbeit und Beziehung der Richter zur Umwelt der Streitparteien verwaltete. Zu den ausführenden Kanzleistellen gehörten insbesondere die Pronotare, Notare, Leser, Schreiber und Boten, über die der Kanzleiverwalter die Aufsicht führte. Während das kamerale Gerichtskollegium über die Abgaben der Reichsversammlung besoldet wurde, finanzierte sich die Kanzlei durch eigene Taxeinkünfte und die Gebühren für Protokolle und Abschriften. Darüber hinaus lassen sich die Anwälte (Advokaten) und Prozessbevollmächtigten (Prokuratoren) unterscheiden, die der Dienstaufsicht der Assessoren unterstanden. Qua Zulassung fungierten sie als eine äußere, ‚mittlere‘ Grenzstelle, die zwischen den gerichtlichen Leistungsrollen und dem Publikum der Streitparteien vermittelten.

Mit der internen Trennung von Gerichtskanzlei und Gerichtskollegium zeigt sich am RKG eine Organisationsstruktur, wie sie heute etwa in Krankenhäusern, Landesrundfunkanstalten, (Hoch-)Schulen und Kirchen prägend ist. Dieser dreiteilige Organisationstypus zeichnet sich dadurch aus, dass er neben einer ‚politischen Spitze‘ und der damit verbundenen Rechtsbindung aus zwei übergreifenden Einheiten mit jeweils eigenen Rationalitäten besteht, die in einem Zielkonflikt stehen: Der eigentliche Kern der (medizinischen, journalistischen, pädagogischen, theologischen, usw.) Leistungen wird durch professionelle Standards, Entscheidungsverfahren und Rituale zusammengehalten, während sich der Verwaltungsteil um die Abnahme der im Kern erbrachten Arbeit bei einem spezifischen Publikum kümmert.

Die Dominanz der reichsrechtlichen oberen Mitgliederumwelt (Reichsoberhaupt und Reichsstände) wird insbesondere im sogenannten Sesselstreit von 1757 deutlich. Im Konfliktverhalten des Kammerrichters und der Assessoren kristallisieren sich deren jeweilige formale Rollenauffassungen. Zu denen gehörte insbesondere die Erwartung, dass Inkonsistenzen in der gerichtlichen Formalstruktur gegenüber einer Umwelt von Nichtmitgliedern verdeckt werden sollten (Abschn. 6.1.2). Die Gerichtsordnung konnte in einzelnen Bereichen nicht nur durch Beschlüsse auf der Reichsversammlung angepasst werden. Qua Reichsabschied wurde den Assessoren zudem im 17. Jahrhundert beispielsweise zugestanden, im Falle „existenzieller Bedrohungen“ eigenmächtig über Standortwechsel bestimmen zu können (Abschn. 6.1.3). Eine weitere Möglichkeit zur Änderung der Formalstruktur am RKG waren neben der Rechtsetzung auf den Reichstagen die sogenannten „Visitationen“, mit denen Reformbedarfe eruiert werden sollten. Die Visitationsmitglieder setzten sich aus einer Kommission an Delegierten zusammen, die von den Reichsständen bzw. der Reichsversammlung bestimmt wurden. Im sogenannten Bücherstreit wurde im Rahmen der letzten außerordentlichen Visitation von 1767 bis 1776 über die Erlaubnis von Nebentätigkeiten verhandelt. An diesem Streit lässt sich beispielhaft nachzeichnen, dass uneindeutige Organisations- bzw. Erwartungsgrenzen einer Konsistenzprüfung und Respezifikation seitens der oberen Mitgliederumwelt bedurften (Abschn. 6.1.4). Die Formalstruktur des Gerichts konnte darüber hinaus durch die Assessoren selbst anhand von sogenannten Gemeinen Bescheiden angepasst werden. Diese betrafen insbesondere die prozessrechtlichen Anforderungen. Die Gemeinen Bescheide erscheinen auch deshalb bemerkenswert, weil sie teilweise in ihrem Institutionalisierungsgrad über den Kreis der Gerichtsmitglieder hinausgingen und sie in diesem Sinne auch die allgemeine Rechtsetzung am Reichstag ausgleichen bzw. ergänzen konnten (Abschn. 6.1.5).

Die Folgen der rigiden Formalstruktur und der Abhängigkeit des Gerichts von reichsrechtlichen Entscheidungen zeigen sich insbesondere in den informalen Praktiken und den darauf bezogenen Reformalisierungen seitens der Assessoren (Abschn. 6.2). Im Unterschied zu mittelalterlichen Stadtgerichten sah die Gerichtsordnung am RKG vor, dass sich die Rechtsprechung an der Maßgabe des gemeinrechtlichen Grundsatzes „Quod non est in actis, non est in mundo“ (Oestmann 2013, 52, Herv. i. O.; siehe auch Luhmann 1972a, 142) orientierte. Eigentümlich für das RKG war in diesem Zusammenhang eine Trennung von Audienz (Vorderbühne) und Senatsberatung (Hinterbühne). Während das Entscheidungsverfahren in der Audienz prozessrechtlichen Logiken folgte und nicht zuletzt in seiner Symbolik einer organisationsbezogenen Legitimation des Gerichts nach außen diente, fand in den Senaten die eigentliche verfahrensmäßige Legitimation der Rechtsprechung statt. Durch die gerichtsinterne Differenzierung von Audienz und Senatsberatung konnten die Assessoren die Aufmerksamkeit darauf legen, über diejenigen Streitfälle zu entscheiden, die den prozessrechtlichen Voraussetzungen genügten (Abschn. 6.2.1).

Durch die Einhaltung des formalen, schriftzentrierten Kommunikationsweges konnten in der Audienz nicht alle Spannungen und Unsicherheiten der Streitparteien über die Bedingungen der Rechtsprechung abgebaut werden. Die mündlichen Ausschweifungen der Prokuratoren in den Audienzen lassen sich in diesem Zusammenhang als informale Reaktion auf den Schriftlichkeitsprimat am RKG und die strikte gerichtsinterne Trennung von Audienz und Senat verstehen. Die Assessoren reagierten auf die hitzigen Ausführungen der Prokuratoren wiederum mit der Anpassung der Audienzordnung. In verschiedenen Gemeinen Bescheiden wurde dabei betont, dass die formalen Rollenerwartungen Vorzug gegenüber informalen Abweichungen genießen sollten (Abschn. 6.2.2).

Die formstrengen Erwartungen, die mit der Gerichtsordnung an das Rechtsprechungsverhalten am RKG gestellt wurden, hatten auch seitens der Assessoren unterschiedliche informale Praktiken zur Folge. Ein solcher Umgang wird in Bezug auf die Repräsentationserwartungen deutlich, die mit ihrer Rolle während der Audienz verbunden waren. Die Assessoren hatten in der Audienz passiv anwesend zu sein und erfüllten damit nur symbolische Funktionen. De facto erschienen die Assessoren in den Audienzen oft nur in geringerer Anzahl als formal vorgesehen. Organisationssoziologisch interpretiert verlagerten die Assessoren damit ihre Aufmerksamkeit von der Zweckdarstellung hin zur Zweckherstellung. Mit der Priorisierung der Rechtsherstellung vor der Rechtsdarstellung trugen sie dazu bei, dass das hohe Prozessaufkommen schneller abgearbeitet werden konnte (Abschn. 6.2.3).

Neben informalen Praktiken auf der Seite der Gerichtsmitglieder finden sich in den historischen Forschungen auch Belege für den Aufbau informaler Kontaktbeziehungen. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht, dass die Streitparteien eigene Kontaktpersonen an den Gerichtsort entsandten. Die Pflege informaler Kontaktsysteme zwischen Nichtmitgliedern und dem RKG-Personal löste das Problem, dass angesichts der Exklusivität schriftlicher Kommunikation und der rigiden Audienzordnung nur begrenzte Möglichkeiten zur Selbstdarstellung durch die Prokuratoren zur Verfügung standen (Abschn. 6.2.4). Beim Auswechseln der Kontaktpersonen wird deutlich, dass die informalen Beziehungen zum Gericht ein Wissen um die Trennung von formalen und informalen Kommunikationsschranken voraussetzten (Abschn. 6.2.5). In diesem Zusammenhang werden am Beispiel der Affäre Papius auch die Grenzen informaler Einflusserwartungen seitens der Streitparteien sichtbar. Die personale Einflussnahme von Streitparteien auf den Kammerrichter und bestimmte Assessoren wurde seitens des Gerichts als Abweichung wahrgenommen. Dies zeigt sich daran, dass am RKG eine dominante Erwartungsgrenze institutionalisiert war, bis zu der Konflikte zwischen gerichtlichen und gesellschaftlichen Erwartungen toleriert und Überschreitungen sanktioniert wurden. Als Reaktion auf die nach außen erkennbar gewordenen Verhaltensabweichungen von der Gerichtsordnung wurden die Grenzen zwischen gerichtlichen und gesellschaftlichen Erwartungen mehrfach angepasst. Dies geschah insbesondere bei institutionalisierten Anlässen zur Reformierung der Gerichtsordnung – wie den genannten Visitationen (Abschn. 6.2.6).

Vor dem Hintergrund unaufgelöster Spannungen zwischen formalen und informalen Erwartungen und der Einrichtung illegaler Kontaktsysteme lässt sich darüber hinaus die Praxis der sogenannten „Sollizitatur“ am RKG verstehen. Als Sollizitatur wurden Gesuche zur Prozessbeschleunigung bezeichnet. Das Sollizitieren am RKG macht deutlich, wie die Streitparteien mit unbestimmten Wartezeiten und Unsicherheiten über die Regeln der Prozessverteilung umgingen. Mit der Priorisierung sollizitierter Fälle konnten die Assessoren demgegenüber ihre knappe Aufmerksamkeit auf jene Prozesse richten, die für die Streitparteien (noch) von Interesse waren. Angesichts der Brauchbarkeit dieser Praxis wurde die Sollizitatur schließlich formalisiert (Abschn. 6.2.7).

Mit Blick auf die Formalstruktur im Besonderen – auf die genannten Entscheidungsprämissen (siehe Abschn. 3.1) – zeichnet sich in Anbetracht des Schriftlichkeitsprimats am Gericht ein Schwerpunkt in der Ausbildung von Grenzstellen, professionellen Rollen und konditionalen Programmen ab (Abschn. 6.3). Der Zugang zu den kameralen Mitgliedsrollen war durch das Ablegen eines Amtseids formalisiert, mit dem die Mitglieder die Gerichtsordnung akzeptierten und sich einer abstrakten, entpersonalisierten Gerichtsgewalt unterwarfen. Der Amtseid am RKG unterschied sich damit vom sogenannten Antrittskompliment der Reichstagsdeputierten, die sich nicht nur dem Reich als Ganzem, sondern auch dem Reichsoberhaupt sowie den jeweiligen Reichsständen in persona verpflichteten. Die kameralen Mitgliedsrollen und Kommunikationswege waren dagegen nach einer eigenen Gerichtshierarchie differenziert. Neben der formalen Entscheidungsspitze aus Reichsoberhaupt und Reichsständen waren Stellen für den Kammerrichter und seine Vertreter sowie für eine Vielzahl von Richtern bis hin zu den Boten und Kopisten formalisiert. Die Aufgaben der Mitglieder am RKG waren dabei auf den Zweck der Rechtsprechung spezifiziert.

Besondere Repräsentationsanforderungen wurden an die Rolle des Kammerrichters als oberstem Vorgesetzten und höchstem Repräsentanten des Gerichts vor Ort gestellt. Für die Vertretung der königlichen bzw. kaiserlichen Rechtsprechungsrechte hatte sich der Kammerrichter an standesartigen bzw. schichtspezifischen Erwartungen zu orientieren (Abschn. 6.3.1). Stärker als andere Mitgliedsrollen war das Amt des Kammerrichters nicht nur den Erwartungen der Nichtmitglieder ausgesetzt, sondern stand auch intern im exponierten Kontakt mit der Doppelspitze des Gerichts. Die Grenzstellenarbeit des Kammerrichters zwischen der oberen und der unteren Mitgliederumwelt wird am Beispiel des Kalenderstreits deutlich. Aufschlussreich ist dieser Streit um die Regelung der konfessionellen Urlaubstage deshalb, weil der Kammerrichter dabei als eine Art Zwischenvorgesetzter die persönlichen Einflusserwartungen des Kaisers „unterwachte“ (Luhmann 1962b).

Neben dem Kammerrichteramt lassen sich mit den Prokuratoren (Abschn. 6.3.6) und den Boten (Abschn. 6.3.2) eine mittlere bzw. untere Grenzstelle bei der Rechtsprechung am RKG unterscheiden. Die Einrichtung hierarchisch abgestufter Grenzstellen ist insofern interessant, weil sich darin eine Differenzierung des Außenverkehrs bei der Rechtsprechung am RKG manifestiert. Am RKG gab es offenbar einen Bedarf für eine besondere Personalstruktur, die das Gericht sowohl nach außen repräsentierte – und dabei überzogene Ansprüche abwehrte – als auch gewisse Anpassungserwartungen nach innen übersetzte. Die hierarchisch differenzierten Grenzstellen trugen insgesamt dazu bei, das Kontaktverbot zwischen Streitparteien und Richtern auszubalancieren.

Im Unterschied zur spätmittelalterlichen Rechtsprechung war der Zugang zu den Anwalts- und Richterstellen am RKG durch eine akademische Ausbildung beschränkt (Abschn. 6.3.3). Zwar wurden die Kandidaten von Kaiser, Kurfürsten und Reichsständen jeweils gemäß einem speziellen Verteilungsschüssel – insbesondere nach Territorium, Stand und Konfession – vorgeschlagen. Über die Annahme einer solchen „Präsentation“ entschied jedoch das Assessorenkollegium gemäß sach- bzw. leistungsbezogenen Kriterien (6.3.4). Neben einem Universitätsstudium hatten die Anwärter praktische Erfahrungen nachzuweisen und eine fachliche Einstellungsprüfung abzulegen. Zugleich wiesen die Mitgliedsrollen der Assessoren und Prokuratoren hohe Anteile einer juristischen Professionalisierung auf (Abschn. 6.3.5). Organisatorisch stilisierte Einschränkungen erfuhr das professionelle Handeln der Prokuratoren und Assessoren indes durch die gerichtsinterne Differenzierung der Rechtsprechung in Audienz und Senat. Mit Blick auf die Entscheidungsprämisse der Programme zeigt sich am RKG, dass der Ablauf der Audienzen wie auch die Rechtsfindung in den Senaten an sachlichen Konsistenzanforderungen, Entscheidungsgeboten und Dokumentationspflichten orientiert waren. Der Anspruch auf inhaltliche Widerspruchsfreiheit war damit nicht auf formale Strukturänderungen beschränkt, sondern betraf auch das Rechtsprechungsgeschehen bzw. Gerichtsverfahren selbst.

In Bezug auf die Außendarstellung des RKG lässt sich schließlich die gerichtsinterne Hervorhebung ständischer Repräsentationserwartungen noch einmal genauer betrachten (Abschn. 6.4). Bemerkenswert ist, dass bei der Definition derjenigen Amtspflichten, die die Vertretung des Gerichts nach außen tangierten, auf ständische Erwartungslogiken zurückgegriffen wurde: Der kameralen Mitgliederumwelt wurden sogenannte Kameralfreiheiten zugesprochen, durch die sie als ein eigener Gerichtsstand hervortraten (Abschn. 6.4.1). Die Arbeits- und Alltagsgarderobe unterschied sich zudem von der ständischen Kleiderordnung. Mit den Jahren wurde diese jedoch zunehmend als veraltet wahrgenommen. Die anachronistische Amtstracht verdeutlicht, dass die an die Mitgliedschaft gebundenen Repräsentationspflichten von der ständischen Erwartungsstruktur der Gesellschaft entkoppelt waren (Abschn. 6.4.2). Die Konflikte zwischen gerichtlichen und städtischen Ranghierarchien bzw. Rangkriterien machen ebenfalls sichtbar, wie sich ständische Sozialformen aus ihren gesamtgesellschaftlichen Wertschranken und personenbezogenen Erwartungslogiken lösten. Ähnliche Rangfragen traten zunehmend auch zwischen Würdenträgern und Amtsinhabern in anderen Bereichen der Gesellschaft auf. Sie lassen erkennen, dass sich die stratifizierte Gliederung der vormodernen Gesellschaft in Familien und Korporationen immer weiter in sich selbst verwickelte und diese rangmäßige Verstrickung allmählich durch organisatorische und funktionale Differenzierungen aufgebrochen wurde.

Vergleicht man darüber hinaus die bildlichen Audienzdarstellungen im historischen Zeitverlauf, so wird offenkundig, wie sich diese von einer reichsständisch-religiösen Ikonografie hin zur Abbildung brauchbar-illegaler Verhaltensweisen gewandelten. In der Reduzierung der Zweckdarstellung auf die kamerale Mitgliederumwelt versinnbildlicht sich, dass die Rechtsprechung am RKG zunehmend ohne Verweise auf die reichsrechtliche Entscheidungsabhängigkeit bzw. die obere Mitgliederumwelt auskam (Abschn. 6.4.3).

Im Schlussteil fasse ich die gewonnenen Einsichten im Hinblick auf die Ausgangsfrage nach den formalen und informalen Strukturausprägungen einer organisierten Rechtsprechung am RKG zusammen. Darauf aufbauend werden historisch interessierte Forschungs- und Vergleichsperspektiven vorgestellt, die erlauben, das bisher weitgehend aus gesellschaftsbezogener Sicht formulierte Verhältnis von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung weiter aufzuschlüsseln. In der Rückschau auf den problematisierten Forschungsstand betreffen diese neben historisch-empirischen Fragen zur Ausdifferenzierung von Organisationen nicht zuletzt die Besonderheiten von Rechtsorganisationen. Dabei setze ich das programmatische Plädoyer für einen Systembegriff von Organisationen (sowie Verfahren) fort.