In diesem Kapitel werden zentrale methodologische Gesichtspunkte der vorliegenden Studie erörtert. Dazu wird zunächst ein Überblick über das Feld, die Felderschließung und die Feldrolle des Forschenden gegeben (Abschn. 2.1). Im nächsten Schritt geht es um sämtliche für den Kontext dieser Arbeit relevanten sozialphänomenologischen Grundlagen von Lebenswelten (Abschn. 2.2). Anschließend werden die Bausteine der angewendeten Methoden und Herangehensweisen ausführlich beschrieben – etwa forschungspragmatische Überlegungen und die Vorgehensweisen gemäß der Grounded Theory – und im Kontext meiner Forschung sowie einer sozialphänomenologisch orientierten Perspektive erläutert (Abschn. 2.3). Das Herzstück der Methodik bildet das mehrphasige explorative Interview nach Anne Honer (Abschn. 2.4). Eine Selbstreflexion schließt den methodologischen Teil ab (Abschn. 2.5).

1 Feld und soziale Positionierung im Feld

Mein Feldaufenthalt begann Mitte 2015 als ehren- und hauptamtlicher Dolmetscher (Farsi und Dari) für verschiedene Behörden und Hilfsorganisationen in Berlin (unter anderem für die Caritas Flüchtlingshilfe, Charité hilft und Moabit hilft) auf dem Gelände des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten. In dieser Zeit entwickelte sich die Idee, eine Dissertation auf der Grundlage einer Forschung in Berlin zu schreiben. Von Januar 2016 bis Februar 2017 lag die offizielle Erlaubnis des Landesamtes Berlin vor, an sämtlichen Gesprächen zwischen Sachbearbeiter*innen und Asylbewerber*innen innerhalb der zuständigen Behörden – Liegenschaften in der Turmstraße, Bundesallee sowie in der Kruppstraße Berlin – teilzunehmen und dabei Kontakte zu knüpfen und Informant*innen zu rekrutieren. Zu Beginn der Forschungsphase befand ich mich meistens am Landesamt in der Turmstraße und dolmetschte zudem in einer Notunterkunft am Landesamt. Diese Zeit war sehr wertvoll, da ich bereits die ersten wichtigen Kontakte knüpfen und sogar einige der späteren Protagonist*innen meiner Fallstudien treffen konnte. In den folgenden Monaten verschaffte ich mir einen umfassenden Überblick über die Institution Asyl. Von 2016 bis 2018 war ich als Sprach- und Kulturmittler in der Psychiatrischen Clearingstelle Charité und im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) tätig. Dies ergänzte mein Wissen im Kontext des Forschungsprojekts substanziell. In der Bundesbehörde übersetzte ich etwa 80 Anhörungen in einem Jahr, davon ca. drei Viertel für afghanische Asylbewerber*innen. Vereinzelt wurde ich von der Bundespolizei oder von anderen Behörden zum Dolmetschen gerufen. Seit 2016 übersetze ich ebenfalls regelmäßig am Zentrum für ÜberlebenFootnote 1, das sich ebenfalls auf dem Gelände des Landesamts befindet.

Die erwähnten unterschiedlichen Behörden, Einrichtungen und staatlichen Apparate des Asylsystems bilden das „Feld“ meiner Forschung. Alle Stellen des Asylprozesses, die Asylbewerber*innen durchlaufen müssen, fasse ich als „mein Feld“ auf, ganz gleich, wie unterschiedlich sie sein mögen – vom Asylantrag beim BAMF bis zum Antrag auf Winterbekleidung im Sozialamt. Dieses umfassende Konzept des Asylsystems mit all seinen auch nicht staatlichen Armen und Apparaten wird in dieser Arbeit unter Bezug auf Goffmans Konzept der totalen Institution als „Institution Asyl“ bzw. „totale Institution Asyl“ bezeichnet. Angesichts meiner Dolmetschertätigkeit und iranischen Abstammung erlebte ich relevante Situationen stets aus einer hybriden Perspektive. Auf diese Weise traf ich regelmäßig eine recht große Anzahl afghanischer Asylbewerber*innen in den unterschiedlichsten Kontexten – mal als Dolmetscher, mal als ehrenamtlicher Helfer und mal als Forscher. So ergaben sich im Laufe meiner Forschung vielfältige Gespräche, die mein Erfahrungswissen ergänzten. Darüber hinaus gewann ich über Kolleg*innen, meist Sozialarbeiter*innen, Ärzt*innen, Psychiater*innen oder Dolmetscher*innen, wertvolle Einblicke in aktuelle Fälle und Schieflagen, die ebenfalls in den empirischen Ergebnissen festgehalten werden. Aus meiner hybriden Rolle und Position heraus verfügte ich über einen recht umfassenden Zugang zur Welt des Personals als auch zur Welt „der Anderen“ innerhalb der Institution Asyl.

2 Sozialphänomenologische Grundlagen: Lebenswelten

“Life-World; also World of everyday life. The total sphere of experiences of an individual which is circumscribed by the objects, persons, and events encountered in the pursuit of the pragmatic objectives of living. It is a ‘world’ in which a person is ‘wide-awake’, and which asserts itself as the ‘paramount reality’ of his life” (Schütz 1970: 320).

Die Philosophie des Begründers der Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) versucht die Wissenschaften auf ein neues Fundament zu stellen, indem sie die Philosophie als „strenge Wissenschaft“ etabliert (Bedorf 2011: 83). Das Besondere an diesem Ansatz ist, dass er sich auf das natürliche Bewusstsein bezieht, ohne Grundannahmen über das Wesen und die Funktion des Bewusstseins vorauszusetzen (ebd.). Die Lebenswelt im Sinne Husserls ist in ihren Manifestationen in unendlicher Vielfalt den Subjekten als deren einzig wirkliche Welt zugeordnet, eine Welt,

„in welcher Subjekt und Objekt sich derart verschränken, dass es weder ein reines und objektloses, also auch welt- und geschichtsloses Subjekt, noch eine reine, nämlich subjektfrei vorfindbare Objektivität – das Idol neuzeitlicher Wissenschaft – gibt, sondern nur deren gegenseitige Bedingung die Ganzheit unserer konkreten Verständniswelt bildet“ (Coreth 1986: 47).

Husserl betont, dass die Phänomenologie „auf die erkennende Subjektivität als Urstätte aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltungen zurückgeht“ (Husserl 1936: 102). Objekte sind demgemäß immer auf Subjekte bezogen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass „kein reines Bewusstsein“ existiert, sondern immer ein Bewusstsein von etwas. So steht die Welt bzw. Welterfahrung im Vordergrund, zu der sich das Subjekt mithilfe des Bewusstseins in Beziehung setzt (Abels 2010: 64). Der aus der Phänomenologie stammende Begriff der Lebenswelt stellt so keinen genuin soziologischen Terminus dar (Hitzler 2008: 131) und wird in der Fachliteratur unterschiedlich verwendet (vgl. Novi 1999: 248). Für die vorliegende Arbeit sind primär die Arbeiten von Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1979/84) sowie Anne Honer (insbes. 2004) ausschlaggebend. Die phänomenologische Soziologie ist direkt mit Alfred Schütz (1899–1959) verbunden, der die erste systematische Verknüpfung von Phänomenologie und Soziologie vorlegte (Fischer 2012: 31). Zeit seines Lebens spielte Schütz, der Ende der 1930er Jahre über Paris in die Vereinigten Staaten flüchtete, selbst eine hybride Rolle als Justiziar und Wissenschaftler. Neben Husserl war er stark von Max Weber (1864–1920) beeinflusst (ebd.). Im Zentrum seines Interesses stand die Konstitution eines Handlungssinnzusammenhanges (ebd.). Aktuelles Erleben sowie relevante Erlebnisse aus der Vergangenheit und Erwartungen bzw. Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft bilden den Kern der alltäglichen Lebenswelt (Honer 2011: 12). Ausgehend vom individuellen Subjekt wird eine Aufschichtung der Lebenswelt mit dem Hauptaugenmerk auf der alltäglichen Wirklichkeit beabsichtigt (Dreher 2007: 8). Phänomenologie will Strukturen subjektiver Orientierung beschreiben (Luckmann 1979: 8), es geht ihr nicht darum, die „objektive Welt zu erklären“ (Abels 2004: 63). Jede gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit beruht letztlich auf subjektiven Orientierungen (vgl. Berger/Luckmann 1969). Dies ist, wie Honer bemerkt, im Grunde kein sozialwissenschaftlicher Ansatz, sondern vielmehr eine „proto-soziologische Unternehmung“ (1993: 14), die auf den Arbeiten von Alfred Schütz und seinen Schülern Peter L. Berger und Thomas Luckmann beruht. Maßgeblich ist hierbei die Unterscheidung zwischen Alltag und Lebenswelt, wobei der lebensweltlich-ethnografische Ansatz durch die alltägliche Erfahrung des Subjekts zu dessen persönlicher Einstellung sowie anderen Relevanzstrukturen durchdringen möchte (Honer 1993: 14). „Lebenswelt“ meint die unhinterfragte Wirklichkeit jeder Person, die sowohl Schauplatz als auch Ziel des Handelns ist. Schütz definiert die alltägliche Lebenswelt als jenen Ausschnitt der Realität,

„den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit ‚schlicht gegeben‘ bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist“ (Schütz/Luckmann 2003: 29).

Zentral ist, wie Menschen Erfahrungen machen und wie diese den konkreten Umgang mit der Welt beeinflussen (Abels 2010: 65). Die Lebenswelt wird als „natürliche Einstellung“ bezeichnet, weil das Subjekt sie unreflektiert erlebt (Fischer 2012: 51). An diesem Punkt setzt die phänomenologische Sozialforschung an, beabsichtigt sie doch die Deskription der „universalen Strukturen subjektiver Orientierungen in der Welt“ (Luckmann 1979: 198). Von Interesse sind daher alle Vorgänge und Prozesse, die aufzeigen, wie im Bewusstsein einer Person die Konstruktion ihrer Wirklichkeit vonstattengeht (Abels 2010: 66). Schütz und Luckmann orientieren sich an subjektiven Wissensvorräten und betonen die Relevanz von Situationen für die Aufdeckung von Lebenswelten (2003: 149). Jede Situation wird mithilfe von Wissensvorräten definiert und bewältigt. Subjektive Wissensvorräte bilden daher das genetische, funktionale und strukturelle Bindeglied zu Situationen bzw. situationsgebundenen Erfahrungen (ebd.). Die Auslegung der Lebenswelt orientiert sich dabei an einem subjektiven Wissensvorrat, der seinerseits mit typologisch strukturierten Wissensvorräten verbunden ist (Schütz/Luckmann 1979: 133). „Wissensvorrat meint das ‚Produkt‘ der in ihm sedimentierten Erfahrungen; die Situation ist das ‚Resultat‘ der vorangegangenen Situationen“ (Schütz/Luckmann 2003: 163). Im Wissensvorrat sind Erfahrungen abgelagert, weshalb Schütz von „Sedimentierungen“ spricht (zit. in Abels 2004: 71). Der subjektive Wissensvorrat eines Subjekts ist kein homogenes Gebilde, das sich systematisch-theoretisch organisiert (Fischer 2012: 41). Er konstituiert sich aus drei Elementen: den Grundelementen des Wissens (a), dem Routine- oder Gewohnheitswissen (b) und dem explizitem Wissen (c). Die sogenannten Grundelemente des Wissens werden als ein Phänomen verstanden, das jeder Erfahrung zu jeder Zeit inhärent ist und nicht durch zusätzliche Erfahrungen seitens des Subjekts „bestätigt, modifiziert oder widerlegt“ werden muss (Schütz/Luckmann 1979: 146). Sie beziehen sich auf die Begrenztheit der Situation und die unumstößlichen Konditionen subjektiver Erfahrungen. Gemeint sind pragmatische Gesichtspunkte alltäglicher Situationen, denen man zwangsläufig unterliegt, zum Beispiel zeitliche oder räumliche Limitierungen usw. Aber nicht nur die Grundelemente des Wissens, sondern auch das Gewohnheitswissen wird als Element verstanden, das in Form von präreflexivem Erleben (Stadelbacher 201: 83) automatisch und dauerhaft gegeben ist, auch wenn es leichte Abänderungen zulässt. Das Routine- oder Gewohnheitswissen, das wiederum in Fertigkeiten, Rezeptwissen und Gebrauchswissen kategorisiert wird (Schütz/Luckmann 1979: 141), kann zwar auch erlernt werden, ist jedoch im Erleben automatisiert, so dass Routinewissen nicht mehr vom Subjekt als „gewusstes Wissen“ empfunden wird. Es nimmt daher eine Mittelstellung ein. Explizites Wissen hingegen wird als „gewusstes Wissen“ wahrgenommen und ordnet sich nach den Kriterien der Vertrautheit, Bestimmtheit und Glaubwürdigkeit (Honer 2011: 13). Erwähnung findet auch ein potenzielles Wissen, das sich in der Regel auf die beiden zuvor genannten Bausteine bezieht (ebd.). Der Wissensbegriff beruht aus Sicht der Phänomenologie im Wesentlichen auf Prozessen der Konstitution von Sinn (Knoblauch 2004: 280). Der Sinn, aus dem heraus Wissen erwächst, lässt nach Luckmann und Schütz eine Struktur erkennen, die sie als Struktur der Lebenswelt beschreiben (ebd.). Der Alltag ist dabei der Bereich des Handelns und Kommunizierens innerhalb der Lebenswelt, also der Bereich impliziten Wissens. Implizites Wissen – das sich aus den Grundelementen des Wissens und dem Routine- oder Gewohnheitswissen zusammensetzt – ist darüber hinaus durch die prinzipielle Situationsgebundenheit der Erfahrung und ihre Subjektivität gekennzeichnet (ebd.). Subjektivität gehört unumgänglich zur menschlichen Praxis, die im Wesentlichen eine kommunikative ist (Luckmann 1980: 93 f.). Honer zufolge bedeutet dies, dass die Lebenswelt des Subjekts potenziell weitaus mehr Erfahrungsmöglichkeiten bietet, als das Subjekt auswählen kann (2004: 14–15). Jedes Subjekt ist ohne Unterlass damit beschäftigt, aus diesem Meer der Möglichkeiten Wahrnehmungen auszuwählen und sie mit Sinnhaftigkeit zu vervollständigen (ebd.: 15). Im Wahrnehmungsprozess der Menschen müssen Objekte nicht als vollständige Formationen von Strukturen und Farben wahrgenommen werden, um als solche erkannt zu werden. Fehlende Elemente hochkomplexer Muster werden unmittelbar ergänzt, das Gehirn konstruiert gewissermaßen beim Wahrnehmen mit (vgl. Newen 2016). Relevant ist dieser Umstand mit Blick auf den Sinnaufbau. Sinn ist mithin die

„Bezeichnung einer bestimmten Blickrichtung auf ein eigenes Erlebnis, welches wir, im Dauerablauf schlicht dahinlebend, als wohlumgrenztes nur in einem reflexiven Akt aus allen anderen Erlebnissen ‚herausheben‘ können. Sinn bezeichnet also eine besondere Attitüde des Ich zum Ablauf seiner Dauer. Dies gilt grundsätzlich für alle Stufen und Schichten des Sinnhaften“ (Schütz 1981: 54).

Sinn entsteht demgemäß in der reflexiven Bewegung des Subjekts zu sich selbst, und zwar indem es seine Situation subjektiv erkennt und definiert. Die Konstitution lebensweltlicher Strukturen eröffnet einen Zugang, diesen Sinn nachzuvollziehen (Thomas 2015: 596). Der phänomenologisch-lebensweltliche Ansatz liefert darüber hinaus eine epistemologische Grundlage für das Thomas-Theorem (Hitzler 2008: 132). Letzteres wird auf William Isaac Thomas (1863–1947) zurückgeführt und gilt innerhalb der Sozialwissenschaften als eine „Grundüberzeugung“ (Esser 1996: 3). Es besagt, dass jedem Handeln eine subjektive Definition der Situation vorausgeht: „Wenn die Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real“ (Thomas 1965: 114). Das verweist auf die handlungsleitende Bedeutung sozial geteilter Bezugsrahmen. Entscheidend für die Definition einer Situation sind demnach nicht objektive Sachverhalte, die man entsprechend erheben muss, sondern vielmehr das subjektive Erleben (Hitzler 2008: 132). Für das Verstehen der Lebenswelt einer Person bedarf es daher nicht einer langen Liste an „objektiven“ Sachverhalten, sondern eines Zugangs zu ihrer Lebenswelt. Nur dadurch erschließt sich der forschenden Person, weshalb Bedeutungen und Sinnzusammenhänge entstehen und sich wandeln. Dies ermöglicht es, wichtige Bausteine der konstruierten Wirklichkeit des untersuchten Subjekts zu rekonstruieren. Die Sinnhaftigkeit kann situationsgebunden und flüchtig oder aber gänzlich unabhängig von der erlebten Situation und dauerhaft sein (Honer 2011: 15). Es ist demnach möglich, dass sie vollständig subjektiv ist, aber auch, dass sie von anderen im sozialen Raum geteilt wird. Von Bedeutung ist dies für die methodologische Reflexion, weil aus diesem Grund alle „Konkretionen lebensweltlicher Strukturen“ (ebd.) intersubjektiv erfahren werden. Das heißt, es wird implizit die Geltung sozialer Sinnzuschreibungen vorausgesetzt. Die grundlegende, unhinterfragte Annahme der Geltung sozialer Sinnzuschreibungen besteht darin, dass andere Menschen die Dinge im Wesentlichen gleich auffassen (Honer 2011: 15). Zugleich nehmen wir an, die individuelle Perspektive unserer Bezugspersonen seien unterschiedlich, was sich beispielsweise in differierenden Positionen und Meinungen ausdrückt (ebd.: 16). In diesen nicht thematisierten, da als selbstverständlich erscheinenden Grundannahmen sieht Schütz die Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven (1971: 12). Lebenswelten – und damit Deutungsschemata und Relevanzsysteme – überschneiden sich so vielfach und in unterschiedlicher Art und Weise. Das Prinzip der Intersubjektivität beruht auf dem Prinzip der Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven. Wenn die Korrelate des eigenen Erlebens mit denen anderer Subjekte übereinstimmen, so geschieht es, dass subjektive Lebenswelten, mit ihren individuell-biografischen Sinnstrukturen, empirisch betrachtet bloß „relativ originell“ (Honer 2011: 16) sind. Zwangsläufig muss man auf soziohistorisch anerkannte Interpretationsrahmen zurückgreifen, um eigene subjektive Erfahrungen im Kommunikationsprozess mit anderen Lebenswelten abzugleichen (ebd.). Es geht insofern darum, nachvollziehen zu können, wie Wirklichkeit generiert und verändert wird und inwiefern sie unter welchen Umständen und Bedingungen als objektiv verstanden werden kann. Wie entsteht aus subjektiv gemeintem Sinn objektive Faktizität (ebd.)? Die konstruktivistische Erwiderung gründet sich auf der Annahme, dass ähnliche Lebensbedingungen ähnliche Lebenswelten generieren (Berger/Luckmann 1969: 65). Die Andersartigkeit verschiedener Lebenswelten korreliert mit dem unterschiedlichen Zugang zu sozialen Wissensvorräten bzw. mit den Chancen auf einen solchen Zugang. Deshalb beginne Ungleichheit bereits im „vorsozialen Bereich“ (Honer 2011: 17). Im Unterschied zu den in „archaischen“ Gesellschaften vorherrschenden Weltdeutungsschema, auf welche Schütz und Luckmann hinweisen (1979: 232), sind die Relevanzstrukturen verschiedener Gesellschaftsmitglieder in „modernen Gesellschaften“ viel heterogener. Dies drückt sich darin aus, dass im fortlaufenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozess die Wissensbestände ebenfalls heterogener werden. Menschen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts gezwungen, höchst unterschiedliche und mannigfaltige Weltdeutungsschemata zu handhaben, sich ständig neu- und umzuorientieren, um am sozialen Leben – etwa einer Stadt wie Berlin – teilnehmen zu können.

Honer differenziert weiter zwischen „kleinen sozialen Lebens-Welten“ (2004: 22 f.), die sie im Unterschied zu Werner Marx nicht als Zweckwelten (1987: 128 f.) betrachtet, da dies bedeute, die Lebenswelt mit der alltäglichen Lebenswelt gleichzusetzen. „Kleine soziale Lebens-Welten“ haben die Bedeutung in sich strukturierter Fragmente einer Lebenswelt: „Eine kleine soziale Lebens-Welt ist das Korrelat des subjektiven Erlebens der Wirklichkeit einer Teil- bzw. Teilzeit-Kultur. ‚Klein‘ ist eine solche Lebens-Welt aber nicht etwa deshalb, weil sie grundsätzlich nur kleine Räume beträfe oder nur aus wenigen Mitgliedern bestünde. (Das ‚klein‘ betrifft nicht diese Dimensionen.) ‚Klein‘ nennen wir eine kleine soziale Lebens-Welt deshalb, weil in ihr die Komplexität möglicher Relevanzen reduziert ist auf ein bestimmtes Relevanzsystem“ (Honer 2011: 23, Herv. im Orig.). Angesichts der vielen kleinen sozialen Lebens- und Sinnwelten mit ihren diversen Sinnangeboten, die sich aus dieser Dynamik moderner Gesellschaften herausbilden, schlägt Honer vor, Lebenswelten als ein „Insgesamt von Sinnwelten“ (2004: 23) zu bezeichnen. Die ethnografische Grundhaltung geht davon aus, dass Sinn bzw. Bedeutung aktiv erzeugt wird. Die Aufgabe von Ethnograf*innen bestehe deshalb darin, die „natürlichen Bedeutungshabitate“ (Dwelling/Prus 2012: 54) von Menschen aufzusuchen und die Generierung von Bedeutungen des gewöhnlichen Alltags zu beobachten. Der Begriff „natürlich“ bezieht sich – im Unterschied zu formalen Interviews und Fragebögen – auf die ungekünstelte Umwelt der zu untersuchenden Gruppe (ebd.). Nimmt man die berühmte Metapher des „Lebens als Theater“ von Goffman, so ist es das Ziel von Ethnograf*innen, Zugang zur „Hinterbühne“ zu erhalten (Dwelling/Prus 2012: 56). Das Geschehen dort ist jedoch nicht „wahrer“ als jenes auf der Vorderbühne. Zugleich wird die Vorderbühne, auf der nach außen dargestellt wird, was die Subjekte im Feld machen, nicht als Repräsentation ihres wahren Kerns verstanden. Vielmehr muss durch Eintauchen in die Lebenswelt anderer (Immersion) eine Intersubjektivität mit dem Feld entwickelt werden, um Definitionen, Aushandlungen und Fixierungen erlebter Situationen im Sinne der Feldsubjekte nachvollziehen und wiedergeben zu können (Dwelling/Prus 2012: 53). Die Immersion ist somit ein Mittel, um die Feldrealität in eine soziologische Studie zu übersetzen (ebd.). Um dies zu erreichen, benötigen Ethnograf*innen ebenso eine Bindung zu wissenschaftlichen Konzeptionen, Theorien und Gemeinschaften. Es ergibt sich demnach eine „doppelte Intersubjektivität“ (ebd.) der forschenden Person – jene mit dem Feld und jene mit der wissenschaftlichen Disziplin –, welche die Forschung von Grund auf prägt. Nur auf diese Weise kann die Sinnstruktur im Gesamtgefüge dessen, was aus Vorder- und Hinterbühne, Schauspieler*innen sowie dem Publikum besteht, nachvollzogen und anschließend unter Berücksichtigung der doppelten Intersubjektivität sowie der eigenen Rolle (Selbstreflexivität) wiedergegeben werden. Das Element der Selbstreflexivität ist maßgeblich und deshalb stets hervorzuheben, da ansonsten wieder der Eindruck entsteht, es handle sich um eine objektive Wahrheit, die nachvollzogen und zum Ausdruck gebracht wird. Die phänomenologisch-lebensweltliche Grundlage bildet gemäß Honer (2004: 29 f.) die Rechtfertigung für die Vorgehensweisen einer lebensweltlichen Ethnografie. Das zentrale Merkmal der vorliegenden lebensweltlichen Ethnografie besteht in der Immersion in Form explorativer mehrphasiger Interviews. Der Primat der Intersubjektivität bedeutet in der sozialphänomenologischen Sicht, dass die Lebenswelt „weder meine noch deine private Welt, auch nicht beide Lebenswelten zusammenaddiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung“ (Schütz/Luckmann 2003: 109) ist.

Neben den erwähnten Grundelementen der Lebenswelt sollte der Aspekt der Idealisierung nicht unerwähnt bleiben. Eine Lebenswelt ist nicht „einfach da“, sondern sie wird in einem intersubjektiven und dynamischen Prozess kontinuierlich von unserem Bewusstsein ausgelegt (Abels 2004: 74). Doch

„jedes lebensweltliche Auslegen ist ein Auslegen innerhalb eines Rahmens von bereits Ausgelegtem, innerhalb einer grundsätzlich und dem Typus nach vertrauten Wirklichkeit. Ich vertraue darauf, dass die Welt, so wie sie mir bisher bekannt ist, weiter so bleiben wird und dass folglich der aus meinen eigenen Erfahrungen gebildete und der von Mitmenschen übernommene Wissensvorrat weiterhin seine grundsätzliche Gültigkeit behalten wird“ (Schütz/Luckmann 1975: 26).

Mit dieser Idealisierung oder „Kontinuität“ (Natanson 1979: 73) ist die Beständigkeit des subjektiven Welterlebens gemeint. Das Individuum geht demnach davon aus, dass die Situation, in der es sich befindet und wie es sie erlebt, typischerweise so weiterverlaufen wird (Abels 2004: 74). Ohne diese impliziten Erwartungen des Subjekts wäre weder Erfahrung noch Handlung möglich (ebd.: 76). Der Anspruch des sozialphänomenologischen Ansatzes besteht darin, die verschiedenen Schichten einer subjektiven Lebenswelt in der Analyse freizulegen. Im Blick steht dabei nicht bloß die Routine des Alltagsdenkens (Abels/Stenger 1986: 56), sondern auch das „falsche Bewusstsein“ und die Macht der Ideologie (Abels 2004: 79). Luckmann verweist zudem auf eine anwendungsorientierte Dimension des Ansatzes, denn die praktische Relevanz von Theorien, die erfolgversprechende Lösungen für grundsätzliche Probleme des täglichen Lebens bieten, seien ein zentrales Anliegen der phänomenologischen Soziologie (Luckmann 1979: 200). Theorie sei zugleich Anschauung und Ordnung. Die zu generierende Theorie bringe insofern Ordnung, als sie versuche, „eine verständliche Klärung des Alltagslebens zu geben und die universale menschliche Basis aller Arten theoretischer Reflexion zu analysieren“ (ebd.). Auf der Grundlage dieses phänomenologischen Perspektivenwechsels, die vor allem auf Alfred Schütz zurückgeht, entstanden eine Reihe bedeutender Theorien, etwa die Sozialpsychologie im Anschluss an George Herbert Mead, der symbolische Interaktionismus nach Herbert Blumer und die Wissenssoziologie (Abels 2004: 80). Das Schlüsselwerk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, das die letztgenannte Richtung aufgreift, wurde von den beiden Schütz-Schülern Berger und Luckmann verfasst und beeinflusste die Sozial- und Kulturwissenschaften nachhaltig (ebd.: 81).

3 Grounded Theory

Aus der phänomenologisch begründeten Sicht ergibt sich gleichermaßen das epistemologische sowie methodologische Fundament, auf dem diese Studie aufbaut: Ihr Ziel bestand nicht etwa darin, die „Wahrheit über afghanische Geflüchtete“ in Berlin aufzudecken – im Kontext einer ethnografischen Analyse über „Wahrheit“ zu sprechen wäre ohnehin höchst naiv, insbesondere aufgrund der grundlegenden konstruktivistischen Perspektive dieser Studie –, sondern über eine theoriengenerierende qualitative Forschungsmethode vertiefte Einsichten in deren emotionale Erfahrungen zu erhalten. Im Folgenden wird ein Überblick über diese Forschungsmethode gegeben.

Zentrale Forschungsmethode dieser Arbeit ist die in den 1960er Jahren entwickelte Grounded Theory der beiden amerikanischen Soziologen Anselm Strauss (University of Chicago) und Barney Glaser (Columbia University). Die lebensweltliche Ethnografie knüpft unmittelbar an die Forschungsprinzipien der Grounded Theory an (Glaser/Strauss 1967), die Glaser terminologisch-methodologisch (1978) und Strauss methodisch-technisch (1991) ergänzt haben. Die Grounded Theory ist die klassische, Theorien generierende, qualitative Forschungsmethode schlechthin (Strübing 2008: 14). Sie ist eine spezifische Form des systematisch-experimentellen Wirklichkeitszugangs, die die zeitliche Parallelität und wechselseitige funktionale Abhängigkeit der Prozesse von der Datenerhebung, der Datenanalyse und der Theoriebildung berücksichtigt (ebd.). Zielsetzung der Grounded Theory ist die Generierung einer gegenstandsbezogenen Theorie bzw. eines Konzepts mittlerer Reichweite auf der Grundlage der empirischen Forschung. Dabei wird eine Theorie formuliert, die aus verschiedenen miteinander vernetzten Hauptkonzepten besteht. Diese Theorie muss geeignet sein, die beschriebenen Phänomene hinreichend zu erklären (Charmaz 2006). Da, wie die Darstellung des Forschungsstandes deutlich gemacht hat, zu dem hier betrachteten Themenbereich – insbesondere bezogen auf die afghanische Minderheit in Deutschland – kaum Studien vorliegen, besitzt diese Studie explorativen Charakter. Es gilt, die Sicht der Subjekte in den Mittelpunkt zu stellen und erstmals Geflüchtete aus Afghanistan zu Wort kommen zu lassen, es ihnen zu erlauben, ihre Standpunkte und Positionen aufzuzeigen, um auf diese Weise der Deutung ihrer Emotionen näherzukommen. Diese Studie möchte Einsichten über unterschiedliche Lebenswelten beschreiben, um auf dieser Grundlage eine gegenstandsbezogene Theorie über die soziale Wirklichkeit zu erstellen.

Die Grounded Theory bringt ein mehrstufiges Auswertungsverfahren empirischer Daten mit sich, das sogenannte „Kodieren“ (Strübing 2008: 18). Mithilfe der Auswertung wird das empirische Material aus der Logik der Datenerhebung in die der Theorie umgebrochen (Thomas 2019: 125). Die Leitidee des Kodierens besteht in der Methode des ständigen Vergleichens der Daten, um mittels deren systematischer Befragung Unterschiede und Ähnlichkeiten einzelner Phänomene herauszuarbeiten (Strübing 2008: 18). Dwelling und Prus setzen die „vergleichende Analyse“ sogar mit der Methode der Grounded Theory gleich; beide werden gemäß ihrer Ansicht lediglich verschiedenartig dargestellt (Dwelling/Prus 2012: 152). Das Kodieren wird in der Grounded Theory als ein Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem Material verstanden (Strübing 2008: 18). Mithilfe der Werkzeuge der Grounded Theory kann die offene Forschungsentwicklung durch eine forschungsbegleitende Kodierungspraxis strukturiert werden (Dwelling/Prus 2012: 152). „Kodieren stellt die Vorgehensweise dar, durch die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozess, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden“ (Strauss/Corbin 1996: 39). Kodieren ist demnach kein mechanischer Findungsprozess, sondern ein Vorgang zwischen Datensatz und Forscher*in, bei dem definiert wird, „worum es überhaupt bei den Daten geht“ (Charmaz/Mitchell 2001: 165). Der Kodierungsprozess ist immer auf einen bestimmten Kontext bezogen. Daher sprechen einige Ethnograf*innen bei der Herangehensweise der Grounded Theory von einer „Kunst der Interpretation“ (Bude 2000), die dazu dient, sich von fixen Formen reproduzierbaren und objektiven Erkenntnisgewinns abzugrenzen (Dwelling/Prus 2012: 153). Dabei stehen drei Kodierphasen im Zentrum des ständigen Vergleichens, das offene, das axiale sowie das selektive Kodieren. Das Kodieren bezweckt es im Prinzip, das Grundphänomen in der Lebenswelt der jeweiligen Akteur*in zu entschlüsseln und zu benennen. Im Unterschied zur Inhaltsanalyse als Auswertungsverfahren ergibt sich im Rahmen der Grounded Theory eine Vielzahl von Auswertungsmöglichkeiten (Charmaz 2006). Die 1996 durch das Kodierparadigma von Juliet Corbin und Anselm Strauss vorgenommene Erweiterung strukturiert die Methode der Auswertung und ist von der Grounded Theory als einem theoriegenerierenden Forschungsstil zu unterscheiden. Das offene Kodieren sammelt zunächst mögliche Lesarten, das axiale Kodieren dimensioniert diese und das selektive Kodieren fügt sie zu einer „Story-Line“ zusammen und verdichtet die Ergebnisse (Dwelling/Prus 2012: 154).

Offenes Kodieren stellt „den analytischen Prozess dar, durch den Konzepte identifiziert werden“ (Strauss/Corbin 1996: 54). In ihm können ähnliche Ereignisse und Vorfälle benannt und zu Kategorien gruppiert werden (Dwelling/Prus 2012: 154). Dieser kreative Prozess verknüpft soziologische Interessen der Forscher*in mit Konzeptualisierungen des Feldes, indem ein bestimmter Referenzpunkt zur Ordnung vielfältiger Notizen verwendet wird (ebd.). Dieser „Referenzpunkt der soziologischen Idee“ (ebd.: 159) entwickelt sich nicht mechanisch, sondern ergibt sich durch eine Mischung aus Bildung, Intuition und Feldkontakt (ebd.). Während des offenen Kodierens ist das theoretische Sampling (theoretische Stichprobenauswahl) nach Glaser und Strauss offengehalten, um so viele Kategorien und Dimensionen wie möglich zu entdecken (Schmidt et al.: 40). Die Maximierung der potenziellen Lesarten und Positionen von Erscheinungen und Prozessen im Feld sind in der ersten Kodierphase entscheidend (Strübing 2008: 31). Offenes Kodieren meint vor allem die Benennung und Kategorisierung der erlebten Phänomene. Im Vordergrund steht die Dimensionalisierung der Kategorie: Das empirische Material wird aufgebrochen, eingehend analysiert und auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin verglichen (Zöller 2007: 199). Dimensionalisierung meint also das Zerlegen einer Eigenschaft in ihre Dimensionen (Schmidt et al. 2014: 41). Im ersten Schritt steht die Konzeptualisierung der Daten im Vordergrund. Konkret bedeutet offenes Kodieren zunächst, den Text mühsam Zeile für Zeile zu lesen, um Textaussagen mit Konzepten und farbigen Markierungen zu versehen. Ideal sind hier die W-Fragen, um einen Grundbestand an Konzepten zu erhalten. Ist eine bestimmte Kategorie erarbeitet worden, wird sie in der Folge auf weitere Daten angewandt und beeinflusst die Suche nach weiteren Resultaten (Dwelling/Prus 2012: 154). Tritt die gefundene Kategorie im weiteren Verlauf der Forschung nicht mehr auf, so ist sie zu revidieren oder gänzlich zu verwerfen (ebd.).

Beim axialen Kodieren erfolgt die gezielte Verfeinerung und Differenzierung der in der ersten Kodierphase herausgearbeiteten Konzepte. Das axiale Kodieren kombiniert Daten auf eine neue Art, indem Verbindungen zwischen einer Kategorie und ihren Subkategorien (siehe weiter unten) ermittelt werden (Strauss/Corbin 1996: 86). In diesem Moment ändert sich also der Fokus des Samplings, da sich die Auswahl der Daten und Fälle hauptsächlich an den zuvor am Material erarbeiteten tentativen Zusammenhangshypothesen orientiert (Strübing 2008: 31). In dieser Phase werden Schritt für Schritt die Verhältnisse zwischen den vorhandenen Konzepten untersucht, um ein Zusammenhangsmodell zu erstellen (Strauss/Corbin 1996: 79). In einer rotierenden Bewegung „um die eigene Achse“ soll sozusagen um das Konzept herum kodiert werden, um die theoretische Fassung dessen zu erhalten, was im Kodierparadigma als „Phänomen“ bezeichnet wird (Strübing 2008: 27). Im Unterschied zum selektiven Kodierungsprozess, der letzten Kodierphase, bezieht sich das axiale Kodieren lediglich auf den unmittelbaren Bereich der Forschung. Es geht noch nicht um die Beantwortung der Forschungsfrage, sondern um die Aufdeckung und Untersuchung eines bestimmten Typs von Ereignissen (ebd.). Gleichzeitig sollen neue Konzepte entwickelt und verdichtet werden, um eine Ausdifferenzierung des bestimmten Typs von Ereignissen über Subkategorien zu erreichen. Somit befindet man sich in einer ständigen, pendelartigen Denkbewegung zwischen Induktion und Deduktion.

„Wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben, pendeln wir während des Kodierens ständig zwischen induktivem und deduktivem Denken hin und her. D. h., wir stellen beim Arbeiten mit den Daten deduktiv Aussagen über Beziehungen auf oder vermuten mögliche Eigenschaften und ihre Dimensionen, um dann zu versuchen, das, was wir abgeleitet haben, an den Daten zu verifizieren, indem wir Ereignis mit Ereignis vergleichen. Es ist ein konstantes Wechselspiel zwischen Aufstellen und Überprüfen. Diese Rückwärts- und Vorwärts-Bewegung ist es, die unsere Theorie gegenstandsverankert macht“ (Strauss/Corbin 1996: 89).

Relevant sind hier

  • die Ursachen, ohne die das Phänomen nicht vorhanden wäre;

  • der Kontext, der als Rahmen für das Phänomen fungiert und dessen Eigenschaften und Bedingungen beeinflusst;

  • die Strategien, mit denen Akteur*innen auf das Phänomen reagieren (Schmidt et al. 2014: 42);

  • die Konsequenzen der in Bezug auf das Phänomen unternommenen Handlungen und Strategien (Strübing 2008: 28);

  • intervenierende Bedingungen, also allgemeine soziokulturelle Einflüsse, die das Phänomen hemmen bzw. fördern (Schmidt et al. 2014: 42) (Abbildung 2.1).

    Abbildung 2.1
    figure 1

    (Quelle: Eigene Darstellung)

    Kodierparadigma nach Strauss.

Diese Subkategorien werden sozusagen um das primäre Phänomen herum angeordnet, um die Relationalität der vernetzten Kategorien zu verdeutlichen. Am Ende des axialen Kodierens stehen sorgfältig ausgearbeitete, inhaltlich zusammenhängende Kategorien, die im Zuge der letzten Kodierphase als Basis für die aus den Daten zu formulierende Theorie dienen (Strübing 2008: 43). Mit Blick auf die Datenauswertung ist zu beachten, dass ich bei Tonaufnahmen das Gesagte zumeist direkt beim Schreiben in die deutsche Sprache übersetzt habe. Alle anderen Notizen und Memos, die nach Ereignissen aufgeschrieben wurden, habe ich ebenfalls auf Deutsch notiert. Das Gesagte habe ich direkt auf Deutsch niedergeschrieben, um nicht im Nachhinein eine Übersetzung vornehmen zu müssen. Diese Vorgehensweise sorgte für Ordnung im oft unübersichtlichen mehrsprachigen Forschungsprozess. Bei ungenauen oder schwierigen Begrifflichkeiten oder Konzepten, die kaum oder schwer zu übersetzen sind, habe ich den Begriff oder die Passage auf Farsi festgehalten, bis eine geeignete Übersetzung gefunden wurde. In dieser Art wechselten sich Transkriptionen im Originalton und direkte Übersetzungen im Forschungsprozess ab.

In der letzten Phase des selektiven Kodierens gilt es, ein primäres Phänomen als Kernkategorie auszuwählen. Das Ziel des selektiven Kodierens besteht darin, das empirische Material so weit wie möglich zu verdichten, bis sich ein konzeptionelles Zentrum der gegenstandsbezogenen Theorie erkennen lässt. Das konzeptionelle Zentrum wird um die Kernkategorie herum angeordnet und systematisch mit dieser vernetzt (Breuer 2010: 76). Aus den Kategorien, die während des offenen und axialen Kodierens entstanden sind, muss eine kohärente Geschichte erzählt werden, die nicht bloß die gefundenen Kategorien einbezieht, sondern diese in eine breitere analytische Erzählung einbindet (Dwelling/Prus 2012: 155). Alle axial sortierten Kategorien werden beim selektiven Kodieren entlang einer Linie gereiht. Hierbei ist die Fixierung auf einen analytischen Rahmen entscheidend, um Kategorien nicht zusammenhangslos nebeneinander aufzulisten (ebd.: 156). Die gefundenen Kategorien werden vielmehr als Schritte auf dem Weg zu einer analytischen Erkenntnis vorgestellt, mittels derer Leser*innen im Forschungsfeld eine gewisse Bildung erfahren (ebd.). Ausgehend von der übrig gebliebenen Kernkategorie – hier „Die Unterwerfung des in der Institution gefangenen Menschen“ (siehe weiter unten) –, muss sich eine in sich stimmige Geschichte erzählen lassen, die alle anderen Kategorien und ihre wechselseitige Beziehungen berücksichtigt (Strübing 2008: 44). Dadurch wird das zentrale Phänomen – die Kernkategorie – der Forschung hervorgehoben.

Es gilt demgemäß anfangs, ganz allmählich nach theoretischen Gesichtspunkten „Daten zu fischen“ (Honer 2011: 45). Anstelle einer vor dem Beginn der Feldforschung festgelegten Auswahl der zu untersuchenden Fälle (Untersuchten- bzw. Befragtenpopulation) wird diese Auswahl im Verlauf der Forschung getroffen. Dies geschieht auf der Basis eines sich heranbildenden theoretischen Interesses seitens des forschenden Subjekts. Mittels dieser Vorgehensweise lässt sich die Datengenerierung zunehmend fokussieren und strukturieren, was zudem als der „forschungsökonomische Gewinn“ (Honer 2011: 44) des theoretischen Samplings bezeichnet werden kann. Zur selben Zeit erlaubt dies, flexibel und für unerwartete Ereignisse (Serendipität, siehe weiter unten) oder Interaktionskonstellationen offen zu bleiben. Feldpraktisch bedeutet dies, dass Forscher*innen in der ersten Phase der Exploration im Feld von einer fundamentalen Offenheit angetrieben werden und daher auch alle Arten von Daten und Informationen als potenziell relevant erachten sollten (Honer 2011: 33). Aus Interesse sprach ich am Anfang meines Feldaufenthalts mit Geflüchteten aus allen möglichen Gebieten, falls ihre Englischkenntnisse dies erlaubten. Wichtig war hier zunächst die nur scheinbar triviale sowie gänzlich unmethodische Frage „What the hell is going on here?“ (Geertz). So sprach ich mit etlichen Menschen aus Syrien, Eritrea, Nigeria, Libyen, Somalia und Pakistan und erfuhr und notierte viel über ihre Lebenslagen, weil ich Ende 2015 schlichtweg noch nicht wusste, in welche Richtung sich die Forschung bewegen würde, zumal die Stipendienzusage für meine Promotionsforschung noch nicht erfolgt war. Ausgangspunkt meiner Fallauswahl war in der Folge die sprachenspezifische Auswahl der Interviewpersonen, da sich umfassende und tiefgehende Gespräche mit Farsi bzw. Dari sprechenden Menschen ergaben. Von Interesse war hierbei im Grunde alles, was mir berichtet wurde. Theoretisches Sampling meint

„den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind.“ (Glaser & Strauss 1998: 53)

Auf der Grundlage der erhaltenen Informationen werden sukzessive Auswahlentscheidungen getroffen, welche Daten erhoben werden müssen. Die anfänglich erhobenen Daten werden zugleich mit der einschlägigen Literatur reflektiert. Der theoretische Zugang zu Beginn der hier dargelegten Forschung (Mitte 2015 bis Anfang 2016) bestand aus menschenrechtstheoretischen Überlegungen von Hannah Arendt, insbesondere aus dem „Recht, Rechte zu haben“ (Arendt 1949: 765; 1976; 1989), sowie aus Giorgio Agambens Ansätzen zum Ausnahmezustand (Agamben 2004). Strauss und Corbin bemerken in diesem Zusammenhang, dass jegliches kreative Bemühen durch das Studium der Literatur beeinträchtigt wird, und empfehlen, erst dann auf die Fachliteratur zurückzugreifen, wenn sich eine Kategorie als tatsächlich relevant erwiesen hat (1996: 33). Erst wenn eigene Konzepte aus dem Kontakt mit dem Feld emergieren und ein Set aus möglichen Richtungen ausgewählt wurde, kann bestehende Literatur herangezogen werden (Dwelling/Prus 2012: 70–71). Selbst feste soziologische Konzepte sollten gemäß Scheffer nur mit Vorsicht angewendet werden:

„[D]er Feldforscher kann nicht von durchgängigen Qualitäten ausgehen. Macht es Sinn, hier von ‚Subjekt‘, ‚Akteur‘, ‚Objekt‘, ‚System‘ zu sprechen? Selbst soziologische Grundbegriffe müssen sich im Feld erst als tauglich bzw. passend erweisen, d. h. auch als Ausprägungen oder Variable benutzt werden. Aus absoluten Begriffen werden relationale Verhältnisse“ (Scheffer 2002: 367).

Die konkreten Ziele der Forschung bleiben also bis zum Schluss offen. In der interaktionistischen Ethnografie verwendet man den Begriff der „sensibilisierenden Konzepte“ (Blumer 1969; Charmaz 2006: 16), um theoretisches Vorwissen, das an das Feld herangetragen wird, zu bezeichnen. Dieses theoretische Vorwissen wird im Sinne Herbert Blumers behandelt, der sich bereits im Jahr 1954 dafür aussprach, es innerhalb der qualitativen Forschung anzuwenden. Sensibilisierende Konzepte bilden gemäß Blumer einen Bezugsrahmen, anhand dessen sich die forschende Person den beobachteten Phänomenen im Feld annähern kann (Blumer 1954: 7). Im Unterschied zu definiten Konzepten verhindern sensibilisierende Konzepte nicht eine angemessene Beschreibung sozialer Gegebenheiten und ermöglichen den Forschenden, relevante Daten und signifikante Theorien überhaupt erst zu erkennen (Albrecht 2010: 116). Sensibilisierende Konzepte lenken die Aufmerksamkeit auf spezifische Phänomene, die am Ende der Forschung ihre ihnen durch das forschende Subjekt verliehene Bedeutung durchaus verändern können. Sie sind daher lediglich als vorläufige Ideen zu betrachten, die Forscher*innen Auskunft geben, welche Ereignisse bzw. Personen im Feld von Interesse sein könnten, vor allem jedoch „interessant in Relation sowohl zu soziologischen Interessen als auch zu den erwarteten Relevanzen des Feldes“ (Dwelling/Prus 2012: 71). Das theoretische Sampling beabsichtigt also, genau die Daten zu erheben, von denen man angesichts bisheriger Ergebnisse annimmt, sie seien für die Beantwortung der Forschungsfrage(n) relevant. Das interessierende Phänomen wird in möglichst vielen Zusammenhängen im Feld analysiert, bis eine theoretische Sättigung erreicht ist (Glaser/Strauss 1998: 69). Die Auswertung und Deutung der ersten Datensätze rückte im vorliegenden Fall ethnische Diskriminierung und Unterdrückung afghanischer Asylbewerber*innen in den Mittelpunkt. Nach den ersten Monaten grenzte sich von Juni 2016 an die Gruppe der Befragten auf erwachsene Asylbewerber*innen aus Afghanistan ein, deren Aufenthaltssituation heikel war. Nach den ersten Deutungen und Analysen ergab sich die These:

Asylbewerber*innen sind angesichts der Unterdrückungsmechanismen der Institution Asyl gezwungen, ihre Handlungen und Gefühle zu transformieren.

Das Sampling orientiert sich in dieser Phase an aufkommenden theoretischen Fragen, wobei gleichzeitig die zu entwickelnde Theorie die Datenerhebung kontrolliert (ebd.). Eine forschende Haltung entfaltet sich in diesem Zuge nur dann, wenn in der frühen Phase der Feldforschung eine möglichst unstrukturierte Datenerhebung erfolgt (Reichertz 2016: 156). Eine zu frühe theoretisch-analytische Durchdringung des empirischen Materials würde die Qualität der Theoriebildung negativ beeinflussen. Ein weiterer Aspekt der ethnografischen Haltung besteht daher darin, möglichst naiv ins Untersuchungsfeld zu gehen und Daten zu sammeln. „Naivität“ meint hier, dass das bislang gesammelte Wissen sowie bestehende Vorannahmen beiseitegelassen bzw. ignoriert werden. Um der Gefahr einer zu großen Naivität zu entgehen, gehört zur Einstellung auch eine verinnerlichte Skepsis der forschenden Person (Reichertz 2016: 158). Allmählich rückten im vorliegenden Fall jedoch Emotionen und emotionale Ausdrucksweisen in den theoretischen Fokus. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass in der Praxis eine Studie ganz ohne theoretische Vorannahmen kaum möglich ist. Dies ergibt sich schon aus pragmatischen Gründen, denn jede Forschung ist zeitlich begrenzt und kann darüber hinaus nicht ohne Finanzierung durchgeführt werden. Eine Finanzierung – in meinem Fall ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung – wird zum Beispiel nur dann gewährt, wenn im Forschungsantrag fundierte Kenntnisse über das zu untersuchende Thema vorgewiesen werden. Die akademische Wirklichkeit zwingt Forschende daher in den meisten Fällen dazu, das Gebot der radikalen Offenheit und der theoretischen Unvoreingenommenheit zu missachten. Dennoch werden keine relevanten Annahmen in hypothesenprüfenden Verfahren a priori an den untersuchten Forschungsgegenstand herangetragen, sondern erst in der Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsfeld und in Kombination mit theoretischem Wissen in einem zirkulären Prozess von Fall zu Fall aufgedeckt (Albrecht 2010: 113). Das Grundprinzip forscherischer Offenheit, das sensibilisierenden Konzepten zugrunde liegt, heißt Serendipity bzw. Serendipität (ebd.: 74). „Serendipity heißt, man findet, was man gar nicht gesucht hat“ (Bude 2008: 262). Das Serendipitäts-Prinzip ermöglicht es, die Welt nicht gänzlich durch die Brille eigener, „mitgebrachter“ Kategorien zu sehen (Dwelling/Prus 2012: 73). Es zielt nicht auf Verifikation bzw. Falsifikation von Hypothesen ab, die man als Forscher*in vor der Feldstudie erwartet, sondern möchte vielmehr überraschen. Deshalb setzt das Serendipitäts-Prinzip forscherisch gerade bei seltsamen und merkwürdigen Gegebenheiten an (ebd.: 74). Es veranlasst im Idealfall eine spontane Forschung, die nicht geplant werden kann, und zeigt auf, wie man sich von bestimmten Ideen abstrakter Wissenschaftlichkeit und der daraus resultierenden Erkenntnisarmut lösen kann. Aus dieser Freiheit heraus, die ebenfalls als Grundzug der erwähnten forschenden Haltung angesehen werden kann, agierte ich im Feld, stellte spontan Fragen, ging bei Kontaktaufnahmen meiner Intuition nach, probierte viele Arten des Kommunizierens in meinen unterschiedlichen Rollen aus, verwarf rasch Ansätze, die nicht funktionierten, etc. Zu Beginn meiner Forschung fragte ich mich aus dem pragmatischen Gefühl der Freiheit: „Was kümmert mich das Feld eigentlich?“ Mithilfe dieser Frage und der anschließenden selbstreflexiven Bezugnahme gelangte ich leichter zu relevanten sensibilisierenden Konzepten. Aus den ständig neu gewonnen Daten werden Memos produziert, die wiederum die Basis für Arbeitshypothesen bilden (Honer 2011: 33). Die forschungsleitenden Hypothesen bestimmen die nächste Untersuchungsphase und -person, woraus sich die folgenden Memos und damit ebenfalls die nächsten Arbeitshypothesen bilden – jedes Mal stringenter und dichter als zuvor –, bis sich typische Fallstrukturen offenbaren (ebd.). Diese Methode ermöglicht eine zunehmende thematische Fokussierung und Strukturierung und gewährleistet gleichzeitig eine Offenheit für unerwartete Beobachtungen und Phänomene (Serendipität). Ein Vorteil der Vorgehensweise ist die Tatsache, dass das aus dem offenen Zugang resultierende, thematisch sensibilisierende Chaos im Feld geordnet wird. Ungesicherte Spekulationen werden darüber hinaus durch die unentwegte Rückbindung der Theorie an das empirische Material unterbunden (ebd.). Der Verlauf der Datenerhebung wird von Honer deshalb als „trichterförmig“ bezeichnet (ebd.: 46). Die gesamte Architektur des explorativen Interviews verläuft parallel zu der Trichterstruktur der Grounded Theory. Das mehrphasige explorative Interview basiert auf diesem „Trichterprinzip“ (ebd.). Sobald sich Beispiele, Dimensionen oder Phänomene wiederholen, ist davon auszugehen, dass eine Kategorie „gesättigt“ ist. Sättigung bedeutet im Zuge der theoretischen Stichprobenauswahl, dass keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden, die ein tieferes Verständnis dieser Kategorie ermöglichen, bis sich die Hauptkategorien verdichtet haben. Die konzeptuell dichte Verbindung der Hauptkategorien konzentriert diese schließlich in der Kernkategorie während des selektiven Kodierens. Die Kernkategorie „Unterwerfung des in der Institution gefangenen Menschen“ durchdringt alle Hauptkategorien gleichermaßen. Die Hauptkategorien bilden gleichsam die Hauptkapitel des empirischen Teils und den roten Faden dieser Studie. Die unterschiedlichen Formen der Unterwerfung lassen vielfältige Arten an Reaktionen, Emotionen und Handlungsstrategien entstehen, die überblicksartig in der folgenden Abbildung dargestellt sind (Abbildung 2.2).

Abbildung 2.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Überblick des Forschungsdesigns.

Theoreme bzw. Theorien werden in zwei Schritten herangebildet. Zunächst werden aus dem konkreten Datenmaterial Theorien mittlerer Reichweite, das heißt Theorien, die sich auf den untersuchten Gegenstandsbereich beziehen, gebildet. Darauf aufbauend werden, durch die Technik der konstanten Komparation von Theorien mittlerer Reichweite, formale Theorien generiert (Honer 2011: 45). Die Stringenz im Ableitungszusammenhang macht dabei das Wesen einer guten Theorie aus (Thomas 2019: 135). Der gesamte empirische Teil sollte sich demnach anhand der Kernkategorie in jede Richtung explizieren. Die Kernkategorie „Unterwerfung des in der Institution gefangenen Menschen“ zeigt sich auf allen Ebenen sämtlicher Fallstudien als Sozio-Logik des empirisch untersuchten Feldes.

4 Das mehrphasige explorative Interview

Die grundlegende Methode der vorliegenden Untersuchung ist das mehrphasige explorative Interview. Anne Honer definiert dessen zentrale Vorgehensweise wie folgt:

„Das Interview wird hier verstanden als eine seiner Struktur nach asymmetrische, funktionsorientierte Kommunikationsform. Die explorative Variante unterscheidet sich von anderen Interviewtypen dadurch, dass sie verfahrenstechnisch vollständig darauf ausgerichtet ist, innerhalb der die Forscherin interessierenden Thematik, möglichst weite ‚unbekannte‘, auch latente Wissensgebiete der Befragten zu erschließen. Das explorative Interview, das prinzipiell in drei fragetechnisch divergenten Phasen verläuft – quasi-normales Gespräch, narratives und/oder Experteninterview, reflexive Fokussierung –, eignet sich aufgrund seiner Komplexität eher als Instrument zur Erfassung subjektiv-typischer als zur Erzeugung objektiv- repräsentativer Daten und mithin eher zum Theorie-Aufbau als zur Hypothesen-Prüfung. Aufgrund seiner situativen Flexibilität kann es sowohl zur Rekonstruktion biographischer Deutungsschemata als auch zur Rekonstruktion von Sonderwissensbeständen eingesetzt werden“ (Honer 2011: 41).

Honer umreißt in ihren Ausführungen zunächst Besonderheiten der Kommunikationsform des Interviews und weist auf zwei zu unterscheidende Formen von Erzählungen hin: funktionale und nicht funktionale Erzählungen. Interviews evozieren im besten Fall funktionale Erzählungen. Bei ihnen handelt es sich im Anschluss an Elisabeth Gülich um Erzählungen, die eine spezifische Funktion im übergeordneten Handlungsschema erfüllen (1980: 335). Dabei entspricht die Reihenfolge der Erzählung den vergangenen Ereignissen. Das Erzählte wird typischerweise sinnhaft mit dem übergeordneten Handlungszusammenhang verknüpft. Nicht funktionale Erzählungen haben hinsichtlich des Gesprächsinhalts keine Funktion, sondern nur in Bezug auf die Beziehung zwischen den Kommunikationspartner*innen. In ihnen orientiert sich die Erzählung also weniger am tatsächlichen Ablauf eines Geschehens, sondern vielmehr an dramaturgischen Kriterien in Form von Rückblenden, Ausschmückungen und Pointen (ebd.). Im Anschluss an die Definition des explorativen Interviews und der Absicht, funktionale Erzählungen zu evozieren, die eine Rekonstruktion der Lebenswelt erlauben, ist im Rahmen der explorativen Interviews vor allem von Interesse, was die Befragten selbst als Rekonstruktion ihrer thematisch einschlägigen Wissensbestände betrachten (Honer 2011: 43). Die Rekonstruktionen beruhen auf unterschwellig oder offenkundig wirklichkeitsfeststellenden Ausdrucks- und Handlungsweisen des Subjekts. Der „wirklichkeitsfeststellenden“ Form des Kommunizierens wird deshalb ein normativer Charakter zugeschrieben, der rekonstruktiven kommunikativen Prozessen eine besondere Bedeutung vermittelt (Luckmann 1986: 200). Was als wichtig kommuniziert wird, hängt zudem oft von Zufälligkeiten in der Alltagssituation ab, in der das Gespräch stattfindet. Alltägliche und häufig wiederkehrende Gesprächsthemen sind daher „sowohl Komponenten der Rekonstruktion des Ereignisses im Interview als auch, in ihrer Bedeutung, Komponenten des rekonstruierten Ereignisses“ (Luckmann 1988: 27). Dabei ist auf die Verflochtenheit der thematischen und motivationalen Relevanz zu achten. Der Zeitpunkt, an dem ein bestimmtes Thema angesprochen wird, steht in Beziehung zur Bedeutung des angesprochenen Themas (Honer 2011: 44). Das heißt, wann ein bestimmtes Thema aus welchen Gründen berührt wird oder nicht, korreliert mit der dem Thema zugeschriebenen Bedeutung (Verflochtenheit der thematischen und motivationalen Relevanz). Die durch biografische Elemente beeinflusste subjektive Einstellung des Individuums sowie die prinzipielle Situationsgebundenheit seiner Erfahrung, beides Bausteine der weiter oben erwähnten Grundelemente des Wissensvorrates, konstituieren das Handeln des Subjekts in den zu untersuchenden Situationen. Handlungen richten sich immer nach „übergeordneten Planhierarchien“ (Schütz/Luckmann 2017: 465) aus, die nicht explizit ausgesprochen werden, doch für eine angemessene Auslegung und Interpretation der Handlungssituation essenziell sind. Aus diesem Grund ist eine deutende Rekonstruktion des forschenden Subjekts erforderlich (Honer 2011: 44). Bezeichnend für die Interviews der vorliegenden Studie ist demgemäß die Absicht, Erzählungen hervorzulocken, die in der Vergangenheit geschehen und im Zuge des Interviewens rekonstruiert werden müssen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird das explorative, mehrphasige Interview angewendet. Diese zeitlich sowie kommunikationsstrategisch flexible Methode hilft dabei, zahlreiche günstige Gelegenheiten zu kreieren, in denen die Gesprächspartner*innen sich mitteilen können. Dazu orientiert sich die forschende Person an den jeweiligen Relevanz- und Bedeutungszusammenhängen ihrer Gesprächspartner*innen und bemüht sich, die erforschten Subjekte in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommen zu lassen. Das Konzept der Mehrphasigkeit und die Vielfalt der angewendeten Kommunikationsstrategien ermöglichen eine enorme Flexibilität und Pragmatik beim Forschen. So werden etwa Typisierungen und theoretische Annahmen, welche direkt aus dem empirischen Material gewonnen werden, im Zuge der konstanten Komparation im Verlauf der Forschung ständig reflektiert (ebd.). Dies ermöglicht es der forschenden Person, sich für jedes folgende Gespräch im Feld zu sensibilisieren.

Exploratives Interview: Phase I

Die erste Phase des explorativen Interviews bietet zunächst Raum, gemeinsame Gesprächsthemen zu eruieren. Ausschlaggebend ist es in dieser ersten Phase, eine Vertrauensbasis zu etablieren, um verlässliche Daten zu erhalten. Angesichts der Brisanz des vorliegenden Feldes und der Fragehoheit als totalitäres Merkmal der Institution Asyl (siehe Fußnote 2 weiter unten) scheitert das Ziel, Vertrauen zu gewinnen, recht häufig. Der Ankunftskontext Berlin stellt für die meisten afghanischen Geflüchteten nicht die ersehnte Rettung dar, sondern die nächste Hürde. Denn ihr Aufenthalt ist im Unterschied zu Personen, die etwa aus Syrien einwandern, äußerst problembehaftet. Selbst wenn ein Aufenthalt gewährt wird, bleiben etliche Barrieren und bürokratische Fallstricke bestehen, so dass sich das Aufdecken gemeinsamer Themen und der Vertrauensaufbau als sehr diffizil herausstellen. Mein persischer Hintergrund spielte überdies eine zentrale Rolle beim Vertrauensaufbau. Viele Afghan*innen leben in der Islamischen Republik Iran als Geflüchtete und damit als Bürger zweiter Klasse. Soziale Ausgrenzungsmechanismen, die in anderen Staaten subtil und schleichend verlaufen, treten im Iran ganz offen zutage. Feindseligkeit, Konflikte und Konkurrenzkämpfe zwischen der afghanischen Minderheit und der Mehrheitsbevölkerung Irans sind an der Tagesordnung und bilden so eine wichtige Seite der Lebenswelt afghanischer Geflüchteter. Es verwundert mich nicht, dass mehr oder minder jedes Gespräch im Feld mit der Frage „Was bist du?“ bzw. manchmal, etwas höflicher, „Was sind Sie?“ begonnen hat. Dabei richtete sich die Frage an mich und rief dazu auf – ganz ähnlich, wie ich dies bei der deutschen Mehrheitsbevölkerung gewohnt bin –, meine ethnische, nationale oder sonstige Zugehörigkeit aufzusagen. Häufig kam es in Bezug auf meine Herkunft aufgrund meines deutschen Vornamens zu Verwirrungen, so dass mehrfach nachgefragt wurde. Vergingen die ersten Minuten harmonisch und ohne aggressive Untertöne, hatte bereits der erste Selektionsschritt meiner Gesprächspartner*innen stattgefunden. Das ständige und penetrante Nachfragen angesichts der Kombination meiner Namen empfand ich als belästigend. Zudem schien das Sprechen über meine Herkunft und Ethnizität keinen Fortschritt zu bringen, was die Rekrutierung von Interviewpartner*innen betraf. Ich verkürzte deshalb nach einigen Monaten Forschung diese „Kategorisierungsgespräche“, indem ich mich schlichtweg als „Deutschiraner“ vorstellte und, vorerst, nicht mehr über mich preisgab. Auf diese Weise wurde meine Ethnizität weder exponiert noch hintangestellt. Die folgenden Kontaktaufnahmen gelangen mit dieser Methode deutlich besser. Auf den eher zufällig stattfindenden ersten Kontakten aufbauend, konnte in den folgenden Wochen festgestellt werden, ob die ausgesuchten Personen aufgeschlossen waren für mehrere, längere Zusammenkünfte und Interviews. Praktisch war hier, dass meine Kontaktpersonen ohnehin aufgrund diverser Anträge und Termine ständig im Landesamt erscheinen mussten. Da jeder Termin Hand in Hand mit Wartezeiten einherging, konnte ich relativ häufig den zweiten Schritt wagen. Voraussetzung dafür war, dass die offene Frage, die ich anfangs stellte, nämlich „Wie fühlen Sie sich hier in Berlin?“, präzisiert werden konnte. In der Zwischenzeit hatten meine Kontakte genügend Zeit gehabt, sich Gedanken zu machen, was sie mitteilen wollten. Ein beträchtlicher Teil meiner Feldforschung umfasste dieses Erkundungsstadium. Es war mithin sehr mühselig, Treffen auszumachen und meinen Kontakten hinterher zu telefonieren, um festzustellen, dass sie zu „höflich“ waren, abzusagen. Hinzu kommt, dass die meisten Geflüchteten keine gleichbleibende Telefonnummer besitzen und äußerst selten per E-Mail zu erreichen sind. Die Kommunikation über diverse Apps funktionierte auch nicht zuverlässig, da sich hier in ähnlicher Weise permanent Nummern ändern. Bis sich mir jemand anvertraute, vergingen teils Wochen, und es kam durchaus vor, dass ich nichts mehr von einer Person hörte. Zahllose vielversprechende Kontakte, die mir wichtige Informationen zuspielten, verschwanden beispielsweise plötzlich oder wurden im Zuge des Dublin-Verfahrens abgeschoben. Ich war in der ersten Phase des explorativen Interviews gezwungen, ständig zu improvisieren. Darüber hinaus durfte ich mich von den vielen furchtbaren Schicksalen nicht berühren lassen, um weiterhin im Feld als Dolmetscher sowie als Forscher zu arbeiten. Dies erwies sich allerdings als äußerst schwierig und stand nicht immer unter meiner Kontrolle.

Quasi-normale Gespräche

Die weiter oben angesprochene Bedeutung der Situationsdefinition ist von entscheidender Bedeutung für die Methode der „Interviews als Gespräche“. Situationen werden je nach Kontext unterschiedlich definiert und fixiert. Wird ein klassisches Interview geführt, stagniert gewissermaßen das eigentliche Alltagsleben zum Zweck der Interviewführung (Dwelling/Prus 2012: 112). Klassische Interviews haben aus diesem Grund Ausnahmecharakter und sind insofern zweifelhaft (ebd.). Führt man sich überdies das spezifische Feld dieser Studie und die dazugehörige Dimension der existenziellen Krise von Geflüchteten vor Augen, wirken klassische Interviews geradezu absurd. Von Interesse sind doch gerade Denk–, Rede- und Handlungsweisen, die auch tatsächlich im Feld auftreten, und nicht eine untypische Rekonstruktion der Handlungssituation. Eine solche Rekonstruktion orientiert sich nicht an Zielen und Sinnzusammenhängen der eigentlichen Handlungssituation und der beteiligten Akteur*innen, sondern an Zielen und Kontexten der Interviewsituation (ebd.: 115). Dabei drohen die unterschiedlichen Perspektiven und Interpretationen der Welt in den häufig wechselnden Situationen des Lebens sowie die mit ihnen verbundenen Rollen des Selbst des Subjekts vereinheitlicht zu werden (ebd.). Die Selbstpräsentation der Subjekte ist zudem überwiegend darauf ausgerichtet, dem Ankunftskontext zu „gefallen“, was in einer „klassischen Interviewsituation“ – also mit Aufnahmegerät an einem Tisch sitzend, während ich Notizen mache, aufmerksam nicke und Fragen stelle – deutlich zum Vorschein kommt. Am Anfang meiner Forschung experimentierte ich noch mit verschiedenen Interviewformen und merkte rasch, dass ein klassisches (strukturiertes) Interview, selbst wenn ich mich nicht für eine lebensweltliche Ethnografie entschieden hätte, nutzlos ist. Das in den Fallbeispielen herausgestellte totalitäre Merkmal der bereits angemerkten FragehoheitFootnote 2 innerhalb der Institution Asyl und die mit ihm einhergehenden sozialen und emotionalen Verwicklungen offenbarten sich bereits in der ersten Zeit der Feldforschung. Versuche, mit Geflüchteten strukturierte Interviews zu führen, um Einblick in die allgemeine Situation zu nehmen, waren fruchtlos. Die allgemeine Skepsis seitens der Geflüchteten gegenüber Menschen, die ihnen persönliche Fragen stellen, ist verständlicherweise immens. Meistens wird befürchtet, das BAMF schicke Spitzel, um die „wahren Gründe“ der Flucht der Asylbewerber*innen herauszufinden. Es wird entweder ein übertrieben positives Selbst mit einem entsprechenden Narrativ präsentiert, oder Gespräche werden vermieden. Hinzu kam, dass mein Feldaufenthalt in den Anfangsmonaten angesichts der desaströsen Bedingungen zu einem überwiegenden Teil aus ehrenamtlicher Arbeit bestand. So half ich bei der Kleidungs- und Essensausgabe und wurde zwischendurch zu medizinischen Fällen gerufen, wenn auf Dari oder Farsi übersetzt werden musste. In dieser Phase begegnete ich verschiedenen Akteur*innen im Feld und erfuhr aus erster Hand, was die Menschen bewegte. Solche aufgeladenen Situationen eigneten sich nicht für standardisierte Befragungen – zumal ich als Ethnograf neben dem, was mir gesagt wird, natürlich auch eingehend beobachten möchte, ob und inwiefern sich das Gesagte im Handeln – vor allem bezogen auf emotionale Ausdrucksweisen – der Forschungssubjekte widerspiegelt. Die Aussagen sozialer Akteur*innen aus den Interviews sollten nicht als angemessenes Substitut für die Beobachtung tatsächlichen Verhaltens betrachtet werden (Gobo 2008: 5). Aus diesem Grund gilt laut Jo Reichertz das „klassische Interview“ innerhalb der Sozialanthropologie nicht als Königsweg, sondern als „überschätzte Abkürzung“ (zitiert in Dwelling/Prus 2012: 114). Teilnehmendes Beobachten hilft, die Vermischung von situationaler Fixierung und Innerlichkeit, also Vereinheitlichung, zu vermeiden (ebd.). In Gesprächen hörte ich beispielsweise das Wort افسردهFootnote 3 ungewöhnlich oft. Dies überzeugte mich jedoch nicht tatsächlich von der depressiven Niedergeschlagenheit der jeweiligen Person. Im Unterschied zu Psycholog*innen analysieren pragmatisch orientierte Ethnograf*innen das Handeln als Serie von wechselnden Realitätskonstruktionen und als „Selbstpräsentation“ in wechselnden Situationen mit wechselnden Besetzungen (ebd.: 115). Diesem Ideal folgend, bemerkte ich, dass es sich in Wahrheit um andere Emotionen handelte als um tief empfundene Traurigkeit (z. B. Nuancen von Verunsicherung, Angst). Neben der Mehrphasigkeit haben sich der theoretische Ansatz von Jack Katz und das multidimensionale Emotionsmodell dabei als fruchtbar erwiesen, das Problem der Vereinheitlichung zu vermeiden. Laut Katz (siehe Abschn. 4.2.3) addiert sich nämlich eine dramaturgische Perspektive bei der Bildung von Emotionen, die das soziale Drama des Individuums in Situationen und nicht dessen Charakter fokussiert. Denn es geht nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern um „Situationen und ihre Menschen“ (Goffman 2010).

Der überwiegende Anteil der ethnografischen Interviews ist terminlich oder räumlich nicht begrenzt und geschieht in Form offener Gespräche, den „quasi-normalen Gesprächen“, insbesondere in Phase I des explorativen Interviews. Das Ziel von quasi-normalen Gesprächen in meiner Forschung war, zunächst die Asymmetrie zwischen mir und meinen Gesprächspartner*innen zu reduzieren. Diese Kluft stand in diesem Setting einem Austausch auf Augenhöhe entgegen. Daher war mein erstes und wichtigstes Anliegen, eine vertraute, „normale“ Atmosphäre zu schaffen. Die Herausforderung lag darin, dass sich meine Kontakte in einer Lage befanden, die das Gegenteil von normal und vertrauensstiftend war. Manchmal fanden Gespräche in den Massenunterkünften statt, in denen Lautstärke und Luftqualität ein tiefgehendes Gespräch gar nicht zuließen. Zudem war die Asymmetrie zwischen uns in den Unterkünften am deutlichsten. Ich musste mich der extremen Situation ergeben und versuchte durch persönliche Informationen über mich selbst das Aus-sich-Herausgehen (Honer 2011: 48) meiner Kontakte zu stimulieren. So wurde inmitten einer extrem ungewöhnlichen Situation ein Stück Normalität geschaffen, indem ich das authentische Interesse meiner Kontakte hervorrief. Dabei widersprach ich auch bisweilen und spielte nicht eine Person, die einfach nur zu allem nickt, um an Daten zu gelangen. Gerade vor dem Hintergrund meiner iranischen Herkunft folgten hier beispielsweise Dialoge über Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Afghanistan und im Iran. Ich teilte meinen Kontakten mit, dass mein Leben in Deutschland ebenfalls von diskriminierenden Erfahrungen geprägt ist. Manchmal verlangten meine Interviewpartner*innen, dass ich ausführlicher von solchen Begebenheiten erzähle, was tatsächlich ein „Aus-sich-Herausgehen“ meinerseits bewirkte. Die Atmosphäre, die ich zu schaffen bemüht war, sollte vermeiden, dass meine Kontaktperson in ein für sie fremdes, externes Relevanzsystem gepresst wurde (ebd.: 49). Wenn meine Gesprächspartner*innen ihre Lebensgeschichten und privatesten Gefühle aussprachen, sollte sich dies natürlich anfühlen, wie bei einer freundschaftlichen Begegnung, bei der üblicherweise ebenfalls zunächst Interaktionsbarrieren abgebaut werden müssen. In Phase I traf ich meine Kontakte ein- bis zweimal für insgesamt zwei bis drei Stunden. Manche kannte ich bereits einige Monate und traf sie zufällig wieder, so dass Phase I gleichsam wie von selbst vonstattenging. Die hier gewonnenen Informationen wurden in den ethnografischen Fallstudien (Teil II) festgehalten. Ethnografische Gespräche geschehen als „Gespräche“ täglich und sind demgemäß Bestandteil des mit der erforschten Gruppe geteilten Alltags (Dwelling/Prus 2012: 116). Solche Gelegenheiten nutzte ich, um gerade nicht in die leblose und angesichts der skizzierten epistemischen Basis absurd wirkende Schale „des objektiven Wissenschaftlers“ oder des „Außenstehenden“ (ebd.) zu verfallen. Vielmehr spielte ich den „Dummen“, indem ich immer wieder nachfragte (ebd.: 117; Hitzler 1991, 1986) oder mir zum wiederholten Male einen Sachverhalt erklären ließ. Dies gestaltete sich bei manchen Kontakten spielend leicht (z. B. Fallbeispiele 4 und 6), bei manchen war es gar nicht möglich (etwa Fallbeispiel 2). Im Grunde war jedes Gespräch und jede Handlung von der Absicht beseelt, das „unentwegt stattfindende Interview“ wie ein normales Gespräch aussehen zu lassen und mein Gegenüber gleichzeitig zum Erzählen (zu funktionalen Erzählungen) zu animieren. So entstand eine Art Steuerungsmöglichkeit des Gesprächsverlaufs, ohne aktiv zu „kontrollieren“ (ebd.). Ein weiterer nützlicher Gesichtspunkt für Phase I war es, gemäß dem Leitfaden nach dem „Wie“ zu fragen und nicht nach dem „Warum“ (ebd.). Das zentrale Element in Phase I des explorativen Interviews waren das Kennenlernen und der Vertrauensaufbau sowie die Anregung von Narrationen subjektiver Sichtweisen meiner Kontakte bezüglich der interessierenden Themen.

Exploratives Interview: Phase II

In der zweiten Phase des explorativen Interviews erfolgte die Zusage meiner Kontaktpersonen, an meinem Forschungsprojekt teilzunehmen. Honers Ansatz sieht vor, die zweite Phase des explorativen Interviews entweder klar von der ersten Phase und damit von der quasi-natürlichen Gesprächsführung zu trennen oder aber in einem fließenden Übergang aus der ersten Phase hervorgehen zu lassen und zudem die Kommunikationsstrategie des quasi-normalen Gesprächs beizubehalten (2004: 49–50). In der zweiten Phase gilt es, je nach Erkenntnisinteresse der forschenden Person, entweder Arbeitsweisen des Experteninterviews oder des biografischen Interviews anzuwenden. Ich griff ausschließlich auf Vorgehensweisen des biografischen Interviews zurück, also auf das von Fritz Schütze entwickelte, auf das Hervorlocken lebensgeschichtlicher Narrationen abzielende Gesprächsverfahren (Schütze 1977, 1976, 1983; Hermanns 1991). In Phase II bestand meine Hauptrolle als aktiver Zuhörer darin, nach der allgemeinen Frage zu Beginn des Gesprächs – unter anderem durch Mimik und Gestik – mehr als noch in Phase I Narrationen zu stimulieren. Der Erzählstimulus

Bitte erzählen Sie mir die Geschichte Ihres Lebens. Wichtig ist alles, was Ihnen ebenfalls wichtig ist.

evozierte nicht immer und nicht in derselben Art Narrationen. Eine Kontaktperson etwa, die männlich und in den Zwanzigern war (Fallbeispiel 4), belächelte eher diese förmliche Frage, während ein älterer Herr wie aus dem Lehrbuch seine Lebensgeschichte zu erzählen begann (Fallbeispiel 2). Die lehrbuchmäßige Anlage von Phase II erscheint daher im Nachhinein etwas gekünstelt. Dies liegt auch daran, dass die Beziehung zu meinen Interviewpartner*innen individuell höchst unterschiedlich war. Daraus ergaben sich verschiedene Arten des Umgangs, um authentische Narrationen anzustoßen. Manchmal wurde ich unterbrochen, obwohl ich den Erzählstimulus so natürlich wie möglich und nicht „wie auswendig gelernt“ aufsagte, und man stellte mir unzusammenhängende Fragen, so dass sich das Gespräch nicht so entwickeln konnte, wie ich es mir zuvor vorgestellt hatte. Herzstück von Phase II bildeten intensive Gespräche, die mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet wurden. Allerdings geschah es in Phase II und III angesichts der Skepsis zumeist, dass darum gebeten wurde, das Aufnahmegerät abzuschalten. Daraufhin wurden dann zum Beispiel private Angelegenheiten oder gar Geheimnisse, die mit der Flucht in Zusammenhang standen, ausgesprochen. So begann ich spätestens in Phase II zu improvisieren und den Honer’schen Ansatz notgedrungen abzuwandeln. Die wesentlichen Punkte vieler Gespräche wurden in Gedächtnisprotokollen fixiert und reflektiert, sobald mein*e Interviewpartner*in die Gesprächssituation verlassen hatte. Ich gab dabei stets dem Lauf der Situation den Vorrang (Honer 1993: 84). Zwar sorgten dies und die daraus folgende Uneinheitlichkeit im Forschungsgeschehen für ein unangenehmes Gefühl bei mir, doch musste mit den Verwirrungen, Verzögerungen und Terminabsagen im Feld umgegangen werden. Einzelne Sitzungen in Phase II dauerten üblicherweise eineinhalb bis zwei Stunden. Allerdings traf ich mich, abgesehen von Fallbeispiel 1, in Phase II nicht nur einmal mit meinen Interviewpartner*innen. Die Art und Weise der Treffen wird zu Beginn des deskriptiven Teils der Fallstudien beschrieben. Das mehrphasige Interview erschien spätestens zu diesem Zeitpunkt als methodenplurales und ausgesprochen zweckdienliches Verfahren zur Produktion verbalsprachlicher Daten. Die Kontaktpersonen aus den restlichen Fallstudien sah ich in der Hauptphase mindestens viermal für gut eine Stunde pro Interview. Die Idee der drei Phasen ist eher als Vorgabe zu verstehen (ebd.: 85). Gesichtspunkte wie Gender, Alter und Sympathie spielen ebenso eine gewichtige Rolle im Forschungsprozess. Ziel war es, später in Phase III ein dichtes kategoriales Raster aller relevanten Topoi zu gewinnen, um eine zuverlässige Basis zum Aufbau differenzierter Typologien von Verhaltens- und Ausdrucksweisen entwickeln zu können. Um dies zu erreichen, musste ich Situationen herbeiführen, die „dichte face-to-face-Konversationen“ (Stodulka 2014: 189) erlaubten. Entscheidend war, wie die Gefühle meiner Kontakte im Ankunftskontext beschaffen waren und wie ihre emotionalen Bewältigungsstrategien innerhalb der Institution Asyl ausgebildet waren. Hilfreich waren folgende Fragen:

  • Was sind die Hauptthemen des Alltags?

  • Wie wird gehandelt?

  • Welche Ausdrucksweisen stehen im Vordergrund?

  • Welche Handlungsstrategien sind erkennbar?

Im zirkulären Prozess der Forschung ergab sich in dieser Dynamik die Idee, Jack Katz’ dramaturgische Perspektive miteinzubeziehen, die für die Beschreibung emotionalisierender Episoden und zur Erfassung emotionaler Ausdrucksweisen wie Gestik, Mimik etc. geeignet ist. Der Begriff „emotionalisierende Episode“ (emotive episode) bezieht sich im Unterschied zum Begriff der „emotionalen Episode“ (emotional episode) auf William Reddys Konzept der emotives (1997). Emotionalisierende Episoden bzw. Narrative evozieren intensive Gefühle, sind aber auf Seiten der erzählenden Person nicht zwangsläufig „emotional“. „Emotionale Episoden“ sind demgegenüber durch Affekte, Gefühle und andere somatische Veränderungen gekennzeichnet (Stodulka 2014: 192). Hinzu kam der zeitliche Aspekt – die Theorie-Empirie-Pendelbewegung muss an einem Punkt auch zu Ende kommen, um die Theoriegenerierung realisieren zu können. Dem explorativen Interview liegt die empirisch fundierte Überlegung zugrunde, dass Erzählungen Orientierungsstrukturen faktischen Handelns reproduzieren (These von der Homologie von Erzählung und identitäts- bzw. handlungsrelevanter Erfahrung). Hierbei muss die Erzählung unvorbereitet (Stegreiferzählung) sein und von selbst erlebten Erfahrungen und Prozessen handeln. Jeder Mensch besitzt gemäß dieser Annahme die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Diese Narrationen repräsentieren Ereignisse aus der Vergangenheit in einer angemessen Weise, da sie „selbstverständlichen Zugzwängen unterliegen“ (Honer 2011: 50). Zugzwänge werden nach Schütze und Kallmeyer (1976) als Regeln des formalen Aufbaus von Stegreiferzählungen herausgearbeitet. Zu den Zugzwängen gehören der Detaillierungszwang, der Gestaltungszwang und der Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang. Der Detaillierungszwang besagt, dass erzählende Personen spezifische biografisch relevante Erlebnisse, die schon angesprochen worden sind, zwecks Plausibilisierung weiter ausführen müssen (Koch 2016: 89). Der Gestaltungszwang spornt Erzähler*innen an, einmal angefangene Narrationen zu Ende zu erzählen. Der Relevanz- und Kondensierungszwang meint die unvermeidliche Selektion bestimmter Themen angesichts begrenzter Zeit und des Drucks, inhaltlich überschaubar zu erzählen (ebd.). Die Selbstläufigkeit des unvorbereiteten Erzählprozesses verwickelt dabei die erzählende Person wie von selbst in die Zugzwänge des Erzählens (Bohnsack 2003: 94). Schütze (1983) betrachtet die Selbstläufigkeit sogar als eine Denkfigur neben anderen kognitiven Figuren. Die Herausforderung besteht darin, eine einigermaßen einheitliche Gestaltung der zweiten Phase des explorativen Interviews zu bewirken.

Exploratives Interview: Phase III

Im reflexiven letzten Teil des explorativen Interviews werden die thematisch relevanten Topoi der bisherigen Interviews auf ein gemeinsames Thema zurückgeführt (Honer 2011: 52). Ideal ist hier ein Leitfaden, um bis zu diesem Punkt aufgekommene Fragen in Phase III zu explorieren (ebd.: 53). Dies ermöglicht eine zuverlässige Konstruktion von Typologien von Handlungsabläufen und –strategien. Anne Honer betont für den letzten Teil des explorativen Interviews, dass dieses sich am Relevanzsystem der Befragten ausrichten muss und nicht, wie im Falle von standardisierten Interviews, an dem der forschenden Person (ebd.). In diesem Teil wird die interviewte Person mit Fragen und Themen konfrontiert, „die sie sich selber überhaupt nicht stellt, und die sie nun nicht nur zu bedenken, sondern auch sogleich zu entscheiden gezwungen wird“ (ebd.). Auch aus diesem Grund sind Fragebögen abzulehnen, weil es gilt, Assoziationsketten auszulösen, die nicht in einem Fragebogendesign vorgesehen sind. In der Kommunikation zwischen forschender und interviewter Person wird die alltägliche Kommunikationssituation entdramatisiert. Nur was die befragte Person als wichtig erachtet, wird von der forschenden Person gleichermaßen als relevant gesehen, und zwar bis in die Interpretation und Analyse hinein (ebd.). In diesem Sinne nutzte ich die letzte Phase, um alle Unklarheiten zu beseitigen, die während der Auswertung der bisherigen Interviews aufgekommen waren. In der letzten Phase traf ich mich zweimal für insgesamt drei bis vier Stunden mit meinen Interviewpartner*innen. Ausnahmen bildeten die Fallbeispiele 5 und 6, mit denen ich in Phase III schätzungsweise doppelt so viel Zeit verbrachte. Das explorative Interview ist als ein „Daten-Arten kumulierendes Verfahren“ (ebd.: 69) konzipiert, um zum einen den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht zu werden und zum anderen intersubjektiv geteilte Deutungsmuster (Thomssen 1980; Dewe/Ferchhoff 1984) kategorial zu erfassen. Dies dient dem Ziel, Lebenswelten zu rekonstruieren. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick der Interviewpartner*innen (Tabelle 2.1).

Tabelle 2.1 Liste der Interviewpartner*innen

5 Selbstreflexion: epistemologische und ethische Aspekte

Im Rahmen einer Selbstreflexion sollen in diesem Abschnitt zwei zentrale Dimensionen der vorliegenden Studie betrachtet werden. Zum einen werden epistemologische Gesichtspunkte ethnografischer Forschung reflektiert, die sich auf die Subjektivität der Forschung und die mit ihr verbundenen Dilemmata, Herausforderungen und Möglichkeiten beziehen. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht dabei der interpretative Erkenntnisprozess in der Sozial- und Kulturanthropologie. Er negiert weder die Subjektivität der forschenden Person, vermeidet es also, einem naiven Szientismus aufzusitzen, noch artikuliert er in relativistischer Selbstfragmentierung einen deutlichen Antiszientismus, auf dessen Grundlage häufig eine „Anything goes“-Perspektive postuliert wird, die jeglicher Erkenntnis gleichermaßen Wahrheit und Gültigkeit zuspricht. Vielmehr hält der interpretative Erkenntnisprozess der Anthropologie auf der Basis des reflexiven Realismus an den Potenzialen der Wissenschaft fest, um systematisches Wissen in Form von Theorien zu generieren. Zum anderen sollen die ethischen Aspekte einer Studie mit Menschen im Kontext von Asyl und Flucht reflektiert werden. Hier geht es um die Frage, inwiefern es vertretbar ist, im Rahmen einer wissenschaftlichen Forschung abgelehnte Asylbewerber*innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus über längere Zeit zu befragen und deren Aussagen und Handlungsstrategien aufzuzeichnen und zu analysieren. Darüber hinaus gilt es in diesem Kontext unmissverständlich auszusprechen, dass ich als Forscher fraglos von der Befragung und Erforschung einer Gruppe höchst vulnerabler Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, beruflich und damit auch finanziell profitieren werde. Dieser Punkt darf daher nicht achtlos ignoriert, sondern muss im Sinne des reflexiven Realismus in die Überlegungen einbezogen werden.

Epistemologische Aspekte

Die ethnografische Forschung generiert keine Objektivität im Erkennen und Beschreiben beobachteter Phänomene. Die Prämisse des reflexiven Realismus ist, dass die Sozialwelt „draußen“, außerhalb des reflektierenden Individuums, sowohl in der Praxis als auch in der Theorie als eigene Realität existiert, jedoch nicht in Form von Fakten, die Forschende als natürlich auftauchende Daten einfach abschöpfen könnten (Thomas 2019: 146). Die soziale Wirklichkeit ist ausnahmslos interpretativ zugänglich, d. h. nur durch die Interpretation der forschenden Person. Die forschende Person in der ethnografischen Forschung hat immer wesentlichen Anteil am Forschungsprozess und beeinflusst diesen auf ihre spezifische Art, was Devereux als „angsterregende Überschneidung von Objekt und Beobachter“ (1973: 17) bezeichnet. Seit der epistemologischen Neuorientierung innerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie, die durch die Writing Culture-Debatte der 1980er Jahre angeregt wurde, herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass ethnographische Berichte keine Abbildungen der Wirklichkeit, sondern vielmehr performative Praktiken darstellen (Thomas 2019: 142), über die wissenschaftlich fundierte Repräsentationen der untersuchten Gruppen erstellt werden können (Denzin 2014). Diese Einsicht resultierte in der „Krise der ethnographischen Repräsentation“ (Berg/Fuchs 1993) und trug entscheidend dazu bei, den Szientismus sowie das Ideal naturwissenschaftlicher Objektivität zurückzuweisen (Thomas 2019: 142). Die Subjektivität der forschenden Person bildet einen fundamentalen Kern der ethnologischen Forschung (Dwelling/Prus 2012: 217). Die engen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen forschendem Subjekt und Forschung werden in der vorliegenden Studie daher nicht als „angsterregende Fallgrube“ der ethnologischen Disziplin, sondern als „epistemologische Fenster“ (Breuer 2009: 116) begriffen. Während der Forschung aufkommende Gedanken und Gefühle der forschenden Person stehen so gesehen im Zusammenhang mit der zu erforschenden Lebenswelt.

Die aus der Grundannahme des reflexiven Realismus resultierende Erkenntnis, dass die soziale Wirklichkeit eines Feldes ausschließlich interpretativ nachvollziehbar ist, impliziert in diesem Kontext, dass jede Interpretation konsequenterweise die Sichtweisen und Perspektiven unterschiedlicher relevanter Akteur*innen des untersuchten Feldes einbeziehen sollte. Diese Sichtweisen stehen in Form der erhobenen Daten zur Verfügung und sind letzten Endes ebenfalls der eigenen Interpretation unterworfen. Daher ist die Verwendung direkter Zitate und die vielfältige Beschreibung von Situationen, in denen Akteur*innen des Feldes handeln, eine elementare Säule ethnografischer Studien. Aus dieser Sicht bildet die reflexive Miteinbeziehung eigener Gefühle den Königsweg zu einer „eher authentischen als fiktiven Objektivität“ (Devereux 1973: 17), welche die soziokulturellen Spezifika des Feldes zu erfassen in der Lage ist. Die Subjektivität sollte deshalb als Erkenntnisinstrument verwendet und nicht etwa verdrängt oder heruntergespielt werden. Die Selbstreflexion innerhalb der Fallbeispiele in Form eigener Gedanken und Gefühle ist als epistemologisches Werkzeug zu begreifen. Sie beeinflusst den Stil der Arbeit, was bedeutet, dass die oft geforderte gesäuberte Abstraktion im Zuge vermeintlicher Wissenschaftlichkeit in Ethnografien gemieden wird (Dwelling/Prus 2012: 218). Dies gilt insbesondere für die vorliegende Studie, in der ich als iranisch-stämmiger Dolmetscher im Bereich Flucht und Asyl geforscht habe, in einem Feld, in dem Ethnizität und Identität höchst bedeutsam sind, wie weiter oben bereits im Zusammenhang mit dem ständigen Nachfragen hinsichtlich meiner Ethnizität und meines Namens erwähnt wurde. Ging ich zu ausführlich auf Fragen ein, die meine Zugehörigkeiten betrafen, verliefen Gespräche im Sande; beantwortete ich diese Fragen zu knapp, bildete sich kein Vertrauen seitens meiner Kontakte und das Rekrutieren misslang. In ähnlicher Weise stellt sich die Selbstreflexion im Schreibprozess dar. Dabei ist eine Balance zu finden, die Ich-Erzählungen von Abenteuern im Feld ebenso meidet wie das Verstecken des Forschungssubjekts (Dwelling/Prus 2012: 217). Diese Vorgehensweise ist Teil der ethnografischen Ehrlichkeit und bildet eine Säule der hier angewandten Methode. Die Selbstreflexion im empirischen Teil ist nicht als psychologisierende Nabelschau misszuverstehen. Vielmehr verbirgt sich hinter ihr ein analytischer Zweck, dessen Relevanz der Leserschaft nicht immer gleich ersichtlich sein mag. Zu beachten ist zudem die Form der jeweiligen Ethnografie; das Schreiben über sich variiert daher von Fallstudie zu Fallstudie (ebd.: 218). Der eigene und persönliche Schreibstil im empirischen Teil deckt eigene Entscheidungen und Ausrichtungen bezüglich des Feldes auf, etwa, wie sich meine eigene Rolle entwickelte, auf welche Art und Weise sich Zugänge zu bestimmten Personen und Orten ergaben, welche Probleme auftauchten und wie ich mit diesen umgegangen bin (Dwelling/Prus 2012: 190). Reflexionen und Informationen über das forschende Subjekt verstecken sich demnach auch in stilistischen Elementen und Wendungen. Auf diese Weise können eigene Stimmungen, Gefühle und Gedanken in die Beschreibungen eingeflochten werden, ohne das Forschungssubjekt zu exponieren. Dadurch wird die „Kalibrierung“ (ebd.) der eigenen Person als Forschungswerkzeug und damit ebenfalls die Immersion (siehe Abschn. 2.2) beschrieben, um die Feldwirklichkeit realitätsgetreu wiederzugeben. Es gilt zudem der lesenden Person so offen und verständlich wie möglich die untersuchte Lebenswelt zu vermitteln und klarzustellen, inwiefern das Herausgestellte soziologisch anschlussfähig ist, ohne eine komplexitätsvergrößernde Sprache zu verwenden (ebd.).

Ethische Aspekte

In diesem Abschnitt soll die ethische Dimension meiner Forschung im Zuge der kritischen Selbstreflexion angesprochen werden. Gemeint ist die bereits bemerkte problematische Tatsache, dass diese Studie mit einer Gruppe höchst vulnerabler Menschen durchgeführt wurde. Ist es nicht unethisch, schutzbedürftige Geflüchtete ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, insbesondere wenn eine erhebliche Asymmetrie zwischen Forscher und „Erforschten“ besteht, was vor allem bei abgelehnten Asylbewerber*innen zutrifft, deren Machtlosigkeit und Abhängigkeit verglichen mit anderen Geflüchteten mit gesichertem Aufenthalt deutlich größer ist? Um diese Frage zu beantworten, wird die erwähnte Asymmetrie zwischen forschender Person und „Erforschten“ näher betrachtet. Sie hat zweifellos Auswirkungen auf die unterschiedlichen Beziehungen in einer Forschung (Dilger/Dohrn 2016), weshalb Geflüchtete in der forschungsethischen Debatte als besonders vulnerable und mehrfach marginalisierte Menschen erachtet werden, deren Status bestimmte Herangehensweisen seitens der Forschenden erfordern (vgl. Block et al. 2016; Darling 2014; Hugman et al. 2011; Fichtner/Tran 2018; Krause 2016; Mackenzie et al. 2007; von Unger et al. 2014; von Unger 2018). Fluchtmigrierte sind häufig mit Gewalterfahrungen, Beziehungsabbrüchen, familiären Problemen und materieller Ressourcenknappheit konfrontiert (Berthold 2014; Butterwegge 2010; Deutsches Jugendinstitut 2016; Eisenhuth 2015; Lewek/Naber 2017). Sprachliche und kulturelle Barrieren sowie das fehlende Wissen zum Gesundheits- und Sozialsystem in Deutschland – diese Faktoren werden im empirischen Teil der Studie für jeden Fall ausführlich thematisiert und beschrieben – verschärfen die Asymmetrie zwischen forschender Person und Geflüchteten zusätzlich.

Die genannten Problemkomplexe und damit zusammenhängende Fragen von Macht und Ethik beeinflussen die Rolle der forschenden Person in ihrer Beziehung zu den „Erforschten“ (von Unger et al. 2014: 3). Angesichts meiner weitreichenden Arbeit im Bereich Asyl und Flucht waren mir diese Fakten bereits vor der Forschung vollauf bewusst. Die außergewöhnlich missliche Lage Fluchtmigrierter in der „Flüchtlingskrise“ 2015/2016 (zum Begriff „Flüchtlingskrise“ siehe Abschn. 3.3) und die mit ihr verbundenen gesellschaftspolitischen Verwicklungen und Herausforderungen waren sogar ausschlaggebend, meine ursprünglichen Pläne, in Israel eine Feldforschung unter persischen Juden durchzuführen, zu verwerfen und in Berlin zu bleiben. Ich erkannte in der angespannten Situation eine einzigartige Chance, meine wissenschaftlichen und sprachlichen Kompetenzen dafür zu nutzen, empirisch fundiertes Wissen über afghanische Geflüchtete zu generieren und diesen erstmals einen rhetorischen Raum zu eröffnen, in dem sie sich äußern konnten, was ein Novum in der (deutschsprachigen) Sozial- und Kulturanthropologie bildet. Die Vulnerabilität von Geflüchteten – ob mit oder ohne Aufenthaltsgenehmigung – und der vollkommen unqualifizierte Umgang seitens der Verantwortlichen stellten in dieser Zeit das hauptsächliche Movens meiner Entscheidung dar, im Bereich Asyl zu forschen und schutzbedürftige Asylbewerber*innen zu befragen. Durch meine Arbeit in diesem Sektor erlebte ich die skandalösen und schwer zu fassenden Missstände jeden Tag aufs Neue. Persönlich fühlte ich mich daher ganz und gar ethisch verpflichtet, diese für den Großteil der Bevölkerung kaum zugänglichen Zwischenräume, in denen Menschenrechte innerhalb Deutschlands systematisch missachtet werden, mit meiner Forschung in den Fokus zu nehmen. Ich beabsichtigte von Beginn an, diese kontroversen und unliebsamen Themen in einem Rahmen zu veröffentlichen, der sich von simplifizierenden Repräsentations- und ErzählmusternFootnote 4 distanziert, um der Forschung, aber auch den Verantwortlichen sowie der interessierten Öffentlichkeit neue Einblicke in den Problemkomplex zu gewähren. Letzten Endes zielen die Beschreibungen und Analysen auch darauf ab, die Situation der Geflüchteten innerhalb der Institution Asyl zu verändern. Das vorliegende Buch möchte aus Sicht der Sozial- und Kulturanthropologie einen Beitrag zu einer solchen Transformation leisten.

Schließlich soll der ökonomische Nutzeffekt der vorliegenden Forschung für den Forschenden nicht ausgeklammert werden, der noch einmal ein deutliches Licht auf die genannte Asymmetrie wirft: Wahrscheinlich werde ich beruflich und finanziell von meiner Promotion profitieren, der diese Arbeit zugrunde liegt. Meine akademische und berufliche Position habe ich während der Forschung zu keiner Zeit ausgeklammert und allen meinen Interviewpartner*innen klar kommuniziert. Jede Person wusste, dass sie dazu beitragen wird, mir Daten für eine Dissertation zu liefern, die zur Promotion führen und veröffentlicht werden wird. Sämtliche Teilnehmenden stimmten zu, dass ihre Daten anonymisiert verwendet werden dürfen. Meinen Interviewpartner*innen war also bewusst, dass sie mir indirekt zu einer höheren beruflichen Position verhelfen – ich habe sie in dieser Hinsicht nicht hinters Licht geführt oder gar angelogen. Für das Vertrauen, das mir mit Blick auf meine Forschung entgegengebracht wurde, bin ich allen Beteiligten dankbar. Sicherlich waren meine eigene Fluchterfahrung sowie meine ehrenamtliche Arbeit im Sektor Asyl hilfreich, das Vertrauen meiner Interviewpartner*innen zu gewinnen und authentische Daten zu erlangen. Eine wissenschaftliche Untersuchung unter Geflüchteten sollte diese Aspekte offenlegen und nicht unberücksichtigt lassen.