Schlüsselbegriffe

1 Entstehungskontext

(Zukünftige) Lehrkräfte der wirtschaftsberuflichen Bildung sind mit dem so zu bezeichnenden Lernfeldparadoxon konfrontiert. So setzt sich der Lernfeldansatz als Curriculum der beruflichen Bildung aus folgenden zwei Perspektiven zusammen, die sich beispielsweise im Hinblick auf Nachhaltigkeit zu widersprechen scheinen (vgl. ausführlich Fischer und Hantke 2019; Hantke 2020, S. 19 f.):

Auf der einen Seite steht das Lernfeld-Konzept, in dem sich eine transformatorische Bildungsidee (vgl. exemplarisch Koller 2012, S. 15 ff.) im Kontext nachhaltiger Entwicklung identifizieren lässt. So wird unter anderem die Befähigung der „Auszubildenden zur Erfüllung der Aufgaben im Beruf sowie zur nachhaltigen Mitgestaltung der Arbeitswelt und der Gesellschaft in sozialer, ökonomischer, ökologischer und individueller Verantwortung“ (Kultusministerkonferenz 2018, S. 10) postuliert. Das hierbei adressierte mehrdimensionale Handeln erfordert „eher integrative, sozialwissenschaftliche Zugänge“ (Fischer und Hantke 2019, S. 94). Diese Perspektive findet sich in der KMK-Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen und in den Präambeln der Rahmenlehrpläne.

Auf der anderen Seite existieren an betrieblichen Situationen orientierte Lernfeld-Vorgaben, in denen von den Lernenden beispielsweise gefordert wird, „die wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten der Wirtschaftssubjekte im Modell des Wirtschaftskreislaufes“ (Kultusministerkonferenz 2002, S. 17) zu erklären und daraus „die Einkommensentstehung, -verwendung und -verteilung“ (ebd.) abzuleiten. Dadurch wird „eher monoperspektivisch ausgerichtetes betriebswirtschaftlich-kaufmännisches und volkswirtschaftliches Denken und Handeln gefördert […], das vor allem auf systematischem wirtschaftswissenschaftlichem Wissen basiert“ (Fischer und Hantke 2019, S. 94). Diese Perspektive findet sich überwiegend im Abschnitt der konkreten Unterrichtsinhalte der jeweiligen Rahmenlehrpläne der wirtschaftsberuflichen Bildung.

Lehr-Lern-Arrangements der wirtschaftsberuflichen Bildung sollten curricular intendiert sowohl der Perspektive des Lernfeld-Konzepts als auch der Perspektive der Lernfeld-Vorgaben entsprechen. In den Worten der Lernfeld-Vorgaben sind Lehrerinnen und Lehrer der wirtschaftsberuflichen Bildung somit dazu aufgefordert, eine „ganzheitliche Sichtweise auf komplexe Problemstellungen und die Erarbeitung zukunftsverträglicher Lösungen […] neben der Orientierung an Geschäftsprozessen als durchgängiges Unterrichtsprinzip zu berücksichtigen“ (Kultusministerkonferenz 2002, S. 7). Sloane (2003) spricht in diesem Kontext von „‚produktiver Lehrplanrezeption‘“ (ebd., S. 3) und betont damit, „dass es sich hier um kein einfaches Anwendungsproblem handelt, sondern um ein komplexes Implementationsproblem, für das Schulen Lösungen selbst (kreativ) produzieren und nicht Lösungen (naiv) übernehmen“ (ebd., S. 2) müssen. Anders formuliert: Beim widerspruchsbeladenen Umgang mit beiden Perspektiven des Lernfeldansatzes geht es um eine „bildungstheoretische Re-Interpretation“ (ebd., S. 3) von (wirtschafts-)beruflichen Qualifikationsanforderungen. In diesem Prozess rücken die „Gestaltungsideen und -interessen“ (ebd.) der (zukünftigen) Lehrerinnen und Lehrer in den Mittelpunkt der Curriculuminterpretation.

Die Konzeption derartiger Lehr-Lern-Arrangements stellt für (zukünftige) Lehrkräfte der wirtschaftsberuflichen Bildung jedoch eine Herausforderung dar. Denn überträgt man das skizzierte Lernfeldparadoxon auf die Sozialisation der (zukünftigen) Lehrerinnen und Lehrer in der wissenschaftlichen Lehrerbildung, wird deutlich, dass diese – zumindest in ihrem Bachelorstudium, in dem die folgende Lehrinnovation erprobt wird – vorwiegend fachwissenschaftlich und nur zweitrangig fachdidaktisch sozialisiert werden. Beispielsweise setzt sich der Bachelorstudiengang „Wirtschaftspädagogik“ an der Leuphana Universität Lüneburg zu rund 39 % aus betriebs- und volkswirtschaftlichen Modulen und zu rund 17 % aus wirtschaftspädagogischen bzw. -didaktischen Modulen zusammen (Leuphana Universität Lüneburg 2019, S. 1).

Zumindest bezogen auf die Sozialisation im Rahmen des Bachelorstudiums ließe sich demnach die These formulieren, dass die fachwissenschaftliche Prägung der (zukünftigen) Lehrerinnen und Lehrer zu einer überbetonten Rezeption der vorwiegend betriebs- und volkswirtschaftlich ausgerichteten Lernfeld-Vorgaben führen und eine Re-Interpretation der Lernfeld-Vorgaben vor dem Hintergrund des bildungstheoretisch begründeten Lernfeld-Konzepts erschweren dürfte.

Um dieser Herausforderung zu begegnen, setzen sich zukünftige Lehrerinnen und Lehrer im Seminar „Wirtschaftsdidaktische Modelle und Konzepte zur Analyse, Planung und Beurteilung von Unterricht“ des Bachelorstudiums ‚Wirtschaftspädagogik‘ an der Leuphana Universität Lüneburg in einem gestaltungsorientierten Lern-Forschungs-Prozess exemplarisch mit der Konfiguration des Lehr-Lern-Arrangements ‚Systemische Visualisierung‘ auseinander. Systemische Visualisierungen sind räumlich-szenische Verfahren, mit denen Beziehungen zwischen Elementen wie beispielsweise Personen oder Paradigmen dargestellt und reflexiv zugänglich gemacht werden können. Hierbei stellen sich – kurz gesagt – Personen (Repräsentanten) stellvertretend für die jeweiligen Elemente im Raum auf und erörtern ihre Positionen, Blickrichtungen und Abstände zueinander. In diesem Prozess wird individuelles und gruppenbezogenes Lernen auf emotionaler, affektiver und (vgl. ausführlich Müller-Christ und Pijetlovic 2018).

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit diesem Lehr-Lern-Arrangement steht die Frage, wie Systemische Visualisierungen konfiguriert sein müssen, die im Kontext des Lernfeldparadoxons die Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Wissens- und Handlungsräume der Lernenden über ihre gegenwärtigen betrieblichen Lebenssituationen hinaus nachhaltigkeitsorientiert erweitern. Mit anderen Worten und allgemeiner formuliert: Wie müssen Systemische Visualisierungen konfiguriert sein, um als Lehr-Lern-Arrangement sowohl dem im Lernfeld-Konzept formulierten (Bildungs-)Anspruch an eine nachhaltigkeitsorientierte wirtschaftsberufliche Bildung gerecht zu werden, als auch dem in den Lernfeld-Vorgaben formulierten (Qualifikations-)Anspruch an eine wirtschaftsberufliche Bildung zu entsprechen, die sich an betrieblichen Situationen orientiert.

2 Innovative Lösung im Sinne einer pluralen, sozioökonomischen Hochschulbildung

Zur Auseinandersetzung mit der zuvor skizzierten Fragestellung wird design thinking als gestaltungsorientierter Lern-Forschungs-Prozess rekonzeptionalisiert.

Im Zentrum dieses Lehr-Lern-Arrangements steht die Philosophie, dass die Studierenden forschend lernen, sich also – pragmatisch ausgedrückt – im Sinne konstruktivistischen Lernens Wissen selbstständig erarbeiten und konstruieren. Hinter dieser pragmatischen Vorstellung steht eine ausführliche Diskussion zum forschenden Lernen (nicht nur) im Rahmen der universitären Lehrerbildung, die an dieser Stelle jedoch nicht in ihrer Ausführlichkeit nachgezeichnet werden kann (vgl. exemplarisch Huber 2009).

2.1 Was kann unter forschendem Lernen verstanden werden?

Forschendes Lernen zeichnet sich dadurch aus, dass Studierende im Rahmen einer Lehrveranstaltung einen Forschungsprozess durchlaufen und hierbei eigene Fragestellungen – ggf. auf Basis einer übergeordneten Seminar-Forschungsfrage – bearbeiten sowie wissenschaftliche Erkenntnisse generieren und präsentieren bzw. veröffentlichen (Sonntag et al. 2016, S. 14 f.).

Forschendes Lernen lässt sich unterschiedlich gestalten und beispielsweise nach Healey und Jenkins (2009) im Hinblick auf den Inhalt der Lehre und die Aktivität der Lernenden wie in Abb. 1 dargestellt kategorisieren.

Abb. 1
figure 1

Quelle: Healey und Jenkins 2009, S. 7

The nature of undergraduate research and inquiry.

Grundsätzlich bringt der Prozess des forschenden Lernens zwei Erkenntnisprozesse zusammen: Den subjektiven Erkenntnisprozess des Lernens und den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess des Forschens. Wildt (2009) hat vor diesem Hintergrund ein Modell entwickelt, mit dem der Lernprozess und der Forschungsprozess gemeinsam betrachtet werden kann. Forschendes Lernen konzeptualisiert er hierbei als „didaktische Formatierung des Lernens durch Forschung“ (ebd., S. 5) und bezeichnet die Gestaltung der Bezüge zwischen Lern- und Forschungsprozess als „die eigentliche hochschuldidaktische Leistung“ (ebd.).

Nachfolgend werden nun kurz der wissenschaftliche Erkenntnisprozess der gestaltungsorientierten Forschung sowie der individuelle Lernprozess konstruktivistischen Lernens skizziert und im Rahmen eines Prozessmodells aufeinander bezogen. Auf dieser Basis wird in einem weiteren Schritt design thinking als gestaltungsorientierter Lern-Forschungs-Prozess rekonzeptionalisiert, mit dem Lernen durch Forschung – im Sinne der research-based-Kategorie (siehe Abb. 1) – hochschuldidaktisch ermöglicht werden kann. Letztlich wird dieser Prozess am Beispiel des Umgangs mit dem oben skizzierten Lernfeldparadoxon der wirtschaftsberuflichen Bildung konkretisiert.

2.2 Was kann unter gestaltungsorientierter Forschung verstanden werden?

Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess der gestaltungsorientierten Forschung, der auch als „Design-Based-Research“ bezeichnet wird, lässt sich vor allem durch ihr Ziel und ihren Ausgangspunkt von anderen Formen der Forschung abgrenzen. Bezogen auf die Bildungswissenschaft zeichnet sich gestaltungsorientierte Forschung im Hinblick auf ihr Ziel dadurch aus, „sowohl einen bildungspraktischen Nutzen zu stiften als auch theoretische Erkenntnisse zu gewinnen“ (Reinmann 2017, S. 50). Bezüglich ihres Ausgangspunkts zeichnet sie sich dadurch aus, dass dieser ein „praktisch relevantes Bildungsproblem [darstellt], für das erst noch eine Lösung zu entwickeln ist: z. B. ein Bildungs- oder Lehr-Lern-Konzept“ (ebd.). Demnach ist die Entwicklung von Lösungen Teil des Forschungsprozesses und diesem nicht etwa vorgelagert. Gestaltungsorientierte Forschung basiert demnach sowohl auf theoretischen als auch auf empirischen Explorationen und läuft grundsätzlich in Form eines iterativen Prozesses aus Analyse, Entwicklung, Erprobung und Evaluation in Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis ab (ebd., S. 51).

Zur Konkretisierung dieses grundsätzlichen Prozesses wurden verschiedene Modelle erarbeitet (exemplarisch Euler 2014; McKenney und Reeves 2012; Plomp 2007). Das in diesem Beitrag vorgestellte Lehr-Lern-Arrangement basiert auf dem Sechs-Phasen-Modell von Euler (2014, S. 20 zit. n. Reinmann 2017, S. 52), der zwischen Wissenschaft und Praxis wie folgt abläuft:

  • Präzisierung des Problems unter anderem durch die Formulierung begründeter Forschungs- und Gestaltungsfragen.

  • Auswertung von Literatur und Erfahrungen zur Erstellung eines theoretischen Bezugsrahmens.

  • Entwicklung und Verfeinerung des Designs durch die Erarbeitung von Prototypen.

  • Erprobung und formative Evaluation des Designs.

  • Generierung von Gestaltungsprinzipien.

  • Ggf. (erneute) Verfeinerung in Form eines Re-Designs bis die Intervention ggf. summativ evaluiert und ein neu aufkommendes Problem präzisiert werden kann.

Wichtig zu betonen ist, dass gestaltungsorientierte Forschung stets der Frage nachgeht, „wie gut das im Fokus stehende lokale Problem gelöst oder die anvisierte Herausforderung bewältigt werden kann“ (Reinmann 2017, S. 53). Somit geht es im Rahmen gestaltungsorientierter Forschung nicht originär um die Generierung dekontextualisierter Allgemeingültigkeiten. Eine Generalisierung muss demnach – falls angestrebt – „theoretisch erfolgen oder aber empirisch über die sukzessive Ausweitung von Kontexten in der Implementierungsphase“ (ebd., S. 57).

2.3 Was kann unter konstruktivistischem Lernen verstanden werden?

Um den individuellen Lernprozess konstruktivistischen Lernens zu veranschaulichen, kann auf Ausschnitte eines Kognitionsmodells von Rebmann (2001) zurückgegriffen werden, das sich auf Vertreter des radikalen Konstruktivismus bezieht und unter anderem folgende miteinander verbundene Komponenten umfasst (Rebmann und Tenfelde 2008, S. 36 ff.):

  • Perturbationen sind subjektiv wahrgenommene Störungen, Irritationen, Konflikte, Überraschungen oder Widersprüche, die zu sogenannten Krisen führen. Beispielsweise kann bereits die Konfrontation von Lernenden mit ‚schlecht‘ strukturierten Lernaufgaben eine krisenauslösende Perturbation bedeuten, da die Lernenden hierbei zunächst vor die Herausforderung gestellt werden, sich ihre eigene (Aufgaben-)Struktur zu erarbeiten (Fischer und Hantke 2017, S. 181 ff.). Im Prozess der Krisenbewältigung werden „kognitive Strukturen eines subjektiven Erfahrungsbereichs weiterentwickelt“ (Rebmann und Tenfelde 2008, S. 38) oder „ein neuer subjektiver Erfahrungsbereich“ (ebd.) ausgebildet. Perturbationen können nicht intendierte Veränderungen herausbilden. Wie Perturbationen wirken, ist somit abhängig vom perturbierten Individuum.

  • Wahrnehmungen, die von Perturbationen ausgelöst werden, sind somit Konstruktionen, die erstens „nicht von außen an Individuen herangetragen werden [können] und zweitens von ihrer Vielfalt her bereits im Nervensystem vorhanden“ (ebd., S. 39) sind.

  • Erfahrungen basieren zum einen auf den von Perturbationen ausgelösten Wahrnehmungen und zum anderen auf durch Sprache assimilierte Situationen, Gegenstände etc. Erfahrungen entstehen somit „aus aktuellen Wahrnehmungen, die mit Erinnerungen an vergangene Wahrnehmungen verkettet werden“ (ebd.). Erfahrungen sind also im eigenen Tun verankert und erzeugen damit individuelle – und nicht vorgegebene – Wirklichkeiten.

  • Wissen oder ein Wirklichkeitskonstrukt kann vor diesem Hintergrund nur durch Wissen oder andere Wirklichkeitskonstrukte validiert werden. Eine derartige Überprüfung kann „lediglich dazu führen, dass Wirklichkeitskonstrukte anschlussfähig sind“ (ebd., S. 42) – also, dass das vorherige Wissen mit dem angeeigneten Wissen viabel ist. Diese Viabilität – also die Passung oder die Brauchbarkeit – des Wissens als individuelle Vorstellungen, Begriffe oder Ähnlichem ist abhängig von individuellen, sozialen und kulturellen Einflussfaktoren auf die Wissenden. Aus der Viabilität folgt jedoch nicht, „dass die Konstruktion von Wissen willkürlich oder beliebig“ (ebd.) ist. Vielmehr stellen individuelle Erfahrungen die Grundlage des Wissens dar. Aufgebaut wird das Wissen auf dieser Grundlage dann durch den Versuch, die individuellen Erfahrungen zu ordnen. Wissen kann demnach nicht instruktiv vermittelt werden. Vielmehr wird Wissen von Individuen „nur selbst in der handelnden Auseinandersetzung und auf der Grundlage ihrer aktuellen und bisherigen Erfahrungen“ (ebd., S. 44) erzeugt und schafft damit die Grundlage für Verstehen.

  • Handlungen sind im Hinblick auf die vorangegangenen Ausführungen Anwendungen des angeeigneten Wissens. Somit ist Wissen dann effektiv, „wenn es in Handlungen im Sinne von Anwenden bzw. tatsächliches Herstellen von Vorstellungen durch Tätigkeiten erprobt wird“ (ebd.). Umgekehrt ist Wissen gleichzeitig das Ergebnis von Handlungen, die alles umfassen, was getan wird. Somit ist beispielsweise auch Denken als Handeln und damit aktiver Prozess anzusehen, „bei dem kognitive Systeme ihr Wissen in Beziehung zu ihren früheren Erfahrungen in komplexen ‚realen‘ Lebenssituationen herstellen und an Kriterien des Erfolgs bzw. Misserfolgs bewerten“ (ebd., S. 46). Durch das Handeln wird den Individuen also Erkennen ermöglicht.

Werden die beiden zuvor in aller Kürze skizzierten Prozesse der wissenschaftlichen Erkenntnis im Sinne gestaltungsorientierter Forschung und des individuellen Lernens nun in Anlehnung an Wildt (2009) aufeinander bezogen, ergibt sich das in Abb. 2 dargestellte Prozessmodell des gestaltungsorientiert forschenden Lernens.

Abb. 2
figure 2

Quelle: eigene Darstellung

Gestaltungsorientiert forschen lernen.

Im Hinblick auf den vorangegangenen theoretischen Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie im Rahmen von Lehr-Lern-Arrangements Bezüge zwischen den Prozessen der wissenschaftlichen Erkenntnis und des individuellen Lernens hergestellt werden können, um gestaltungsorientiertes Forschen lernen zu können. Als Antwort auf diese Frage wird nun design thinking vorgestellt und am Beispiel der oben skizzierten Ausgangsfragestellung konkretisiert.

2.4 Was kann unter design thinking verstanden werden?

Design thinking ist nicht nur eine kreative und gleichzeitig systematische Innovationsmethode. design thinking ist vielmehr „eine Kultur des Denkens und Arbeitens, die größere Zusammenhänge aufdecken und sichtbar machen kann und den Menschen, seine Wahrnehmung und Erfahrung und seine soziale und kulturelle Umgebung in den Mittelpunkt stellt“ (Plattner et al. 2009, S. 59). Im Zentrum von design thinking steht demnach die Förderung gestaltungsorientierten Denkens und Handelns. Konkret werden im Rahmen von design thinking in möglichst multidisziplinären Teams, einem möglichst offenen Raum und in möglichst kurzer Zeit verschiedene Verfahren der Problemdefinition gegenwärtiger Zustände und der Lösungsfindung und -entwicklung miteinander kombiniert. Dieser Prozess besteht aus folgenden sechs Phasen, die grundsätzlich iterativ aufeinander rückbezogen werden (Plattner et al. 2009, S. 113 ff.):

  • Verstehen: Ziel dieser Phase ist es, auf theoretischer Basis die Problemstellung und ihren Kontext zu erfassen.

  • Beobachten: Ziel dieser Phase ist es, die Problemstellung zu konkretisieren, indem man sich beispielsweise mithilfe ethnografischer Forschung in die Lebenswelten der Betroffenen hineinversetzt.

  • Standpunkt definieren: Ziel dieser Phase ist es, die zuvor gewonnenen Erkenntnisse auszuwerten und zu interpretieren, indem beispielsweise ein idealtypischer, fiktiver Stellvertreter der Betroffenen („Persona“) entwickelt wird.

  • Ideen finden: Ziel dieser Phase ist es – beispielsweise durch den Einsatz der Brainstorming-Methode – in kurzer Zeit möglichst viele Ideen zu entwickeln, die zur Lösung des identifizierten Problems der „Persona“ beitragen könnten.

  • Prototypen entwickeln: Ziel dieser Phase ist es, Stärken und Schwächen der entwickelten Ideen im Hinblick auf mögliche Lösungsansätze mithilfe von Prototypen zu konkretisieren, sichtbar bzw. erlebbar und damit nachvollziehbar zu machen.

  • Testen: Ziel dieser Phase ist es, die in der vorangegangenen Phase konkretisierten Lösungsansätze mit den Betroffenen auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und Bedarfe für weitere Entwicklungen und Überarbeitungen aufzudecken.

Im Hinblick auf das oben formulierte Modell (Abb. 2) lassen sich mithilfe von design thinking die in Abb. 3 dargestellten Bezüge zwischen den Prozessen der wissenschaftlichen Erkenntnis und des individuellen Lernens herstellen.

Abb. 3
figure 3

Quelle: eigene Darstellung

design thinking als gestaltungsorientierter Lern-Forschungs-Prozess.

Design thinking kann vor diesem Hintergrund als gestaltungsorientierter Lern-Forschungs-Prozess verstanden werden.

2.5 Wie kann design thinking als gestaltungsorientierter Lern-Forschungs-Prozess konkretisiert werden?

Die sechs Phasen des design thinking beschreiben didaktisch eine sogenannte Makrosequenz, die sich in einzelnen Seminareinheiten je nach Anwendungskontext mikrodidaktisch konkretisieren lässt. Tab. 1 zeigt eine mögliche Konkretisierung des design thinking-Prozesses zur oben skizzierten Ausgangsfragestellung im Kontext des Umgangs mit dem Lernfeldparadoxon der wirtschaftsberuflichen Bildung. In der Umsetzung erfordert dieses Seminarkonzept ca. 14 Semesterwochenstunden Präsenz-Lern-Forschungs-Zeit (≙ sieben Seminarsitzungen) und ca. 24 Zeitstunden individuelle Lern-Forschungs-Zeit (≙ drei-vier Zeitstunden pro Semesterwoche).

Tab. 1 Makroplanung des Seminarkonzepts (eigene Darstellung)

3 Folgen und Wirkungen

Der zuvor am Beispiel des Umgangs mit dem Lernfeldparadoxon der wirtschaftsberuflichen Bildung konkretisierte Einsatz von design thinking als gestaltungsorientiertem Lern-Forschungs-Prozess wurde im Wintersemester 2019/2020 erprobt und konnte demnach bei Einreichung dieses Beitrags im Sommersemester 2019 noch nicht evaluiert sein.

Eingesetzt wurde design thinking als gestaltungsorientierter Lern-Forschungs-Prozess jedoch bereits in einem anderen Seminarkontext zur Frage, wie die Berufsschule der Zukunft gestaltet sein soll. Während des Prozesses führten die Studierenden ein selbstreflexives Forschungstagebuch, in dem sie unter anderem ihre subjektiven Erfahrungen mit design thinking schilderten. Im Folgenden werden diese auszugweise dargeboten, um einen Einblick in mögliche Folgen und Wirkungen des Einsatzes von design thinking als gestaltungsorientiertem Lern-Forschungs-Prozess zu gewähren:

„Schnell wurde mir klar, dass sich dieses Modul stark von den bisherigen Modulen unterscheiden würde.“ (Auszug aus einem Forschungstagebuch).

„So viel Kreativität in einem Seminar, wo ich anfangs nicht mit gerechnet habe, finde ich spitze. Ich hoffe sehr, dass das in den nächsten Phasen beibehalten wird, denn es steigert meine Motivation enorm.“ (Auszug aus einem Forschungstagebuch).

„… was ich eigentlich noch sagen will ist, dass ich mir nach den ersten drei Vorbereitungssitzungen nicht wirklich vorstellen konnte, wie man den ganzen Forschungsprozess in nur einem Semester schaffen soll. […] Als wir in der Gruppe die Gedanken über unsere fiktive Persona verdichten und diese performativ darstellen sollten hat es bei mir einfach „klick“ gemacht. Auf einmal habe ich Zusammenhänge erkannt und war erstaunt wie zielführend die ersten beiden Sitzungen bereits waren. Ich habe jetzt eine Idee und Vorstellung wo das ganze hinführen kann und bin sehr gespannt auf die nächsten Phasen dieses Forschungsprozesses.“ (Auszug aus einem Forschungstagebuch).

„Im weiteren Verlauf des Seminars haben wir uns zunehmend in die Herausforderung hineinversetzt. Ursächlich hierfür ist meines Erachtens nach die unkonventionelle Seminargestaltung. Diese ist interaktiv, locker, teilweise sogar verspielt. Ich habe stets das Gefühl die Ergebnisse selber zu generieren, ganz im Stile des Konstruktivismus. Aufgrund ebendieser Vorgehensweise habe ich jedoch, insbesondere in den Anfängen des Prozesses, häufig das Gefühl gehabt mich im ‚luftleeren Raum‘ zu befinden. […] Ohne jeden Zweifel hat dieses Empfinden mit dem konstruktivistischen Ansatz zu tun, welchen ich in meiner persönlichen Schullaufbahn leider nur bedingt erfahren durfte.“ (Auszug aus einem Forschungstagebuch).

„Dieser ganze Design-Thinking-Prozess lässt in mir so viele Fragen aufkommen, für die ich bisher keine angemessene Lösung finden konnte. Um es gleich mal vorwegzunehmen: Das ist frustrierend. Immer, wenn ich aus dem Seminar komme, habe ich mehr anstatt weniger Fragen.“ (Auszug aus einem Forschungstagebuch).

Diese und weitere grundsätzlich inspirierende Auszüge aus den Forschungstagebüchern der Studierenden haben mich dazu bewogen, design thinking als gestaltungsorientierten Lern-Forschungs-Prozess in der oben konkretisierten Form einzusetzen (Tab. 1). Denn an den Rückmeldungen wird deutlich, dass in diesem Prozess ein Umgang mit Offenheit und Uneindeutigkeit gefördert wird, der kreativitätsfördernd wirken kann. Diese Erkenntnis lässt hoffen und vermuten, dass mithilfe von design thinking auch die für den Umgang mit dem Lernfeldparadoxon der wirtschaftsberuflichen Bildung notwendige Kreativität gefördert wird.

Gleichzeitig besteht Grund zur Annahme, dass meine grundsätzliche Erwartung eingelöst wird, mit dem oben skizzierten Seminarkonzept eine performativ-ästhetische (Hochschul-)Bildung ermöglichen zu können. Denn die Studierenden wurden mit dieser unkonventionellen Art von Hochschullehre – im konstruktivistischen Sinne – sichtlich perturbiert. Dadurch könnten ihnen ebendiese Resonanzerfahrungen (Rosa 2016, S. 298) zugemutet werden, die sie ihrerseits möglicherweise auch – durch den Einsatz der Systemischen Visualisierung – ihren wirtschaftsberuflich Lernenden zumuten.