Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert, in welchem Maße der bundesdeutsche Sozialstaat Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete integriert. Gezeigt wird, wie das sozialstaatliche Leistungsspektrum im System der Sozialen Sicherung in Deutschland auf der jeweiligen Statuszugehörigkeit der Leistungsempfänger*innen basiert. Am speziell auf den Status des Geflüchteten ausgerichteten Asylbewerberleistungsgesetz wird deutlich, welche sozialstaatlichen Leistungen Geflüchteten eröffnet, aber auch welche ihnen vorenthalten werden. Die Folgen der selektiven Zugänge für die gesetzliche Rentenversicherung sind schon jetzt vorhersehbar: die Leistungsäquivalenz in der Alterssicherung bedeutet für Menschen mit Migrationshintergrund Altersarmut – es sei denn der Sozialstaat ließe künftig Innovationen in Richtung einer universellen Ausrichtung der Alterssicherung zu.
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Notes
- 1.
Bei der begrifflichen Unterscheidung von Deutschen/Ausländer*innen, mit/ohne Migrationshintergrund resp. -erfahrung differenziere ich, wo explizit notwendig, entsprechend der Bestimmungen des Statistischen Bundesamtes (2017: Glossar) und der Migrationshintergrund-Erhebungsverordnung (MighEV) (Siehe auch BT-Drs. 18/10.610, S. 25 f.).
- 2.
- 3.
Der Begriff „Kategorialisierung“, wie ich ihn hier verwende, verweist zum einen auf den Umstand, dass jedes Sozialrecht Aussagen zum Adressat*innenkreis trifft, zum anderen jedoch auch auf den Umstand, dass ähnliche Bedarfslagen aus politisch-normativen Gründen rechtlich unterschiedlich bearbeitet werden. Eine fortschreitende Kategorialisierung ist somit das Gegenteil einer Universalisierung von Sozialleistungen.
- 4.
Die Frage, wer welche Armen zu versorgen hat, ist eine Grundfrage in der Geschichte der Armutspolitik. Sie steht zudem im Zusammenhang der mit Ausbildung des kapitalistischen Arbeitsmarktes notwendigen Freizügigkeit der Arbeitskräftemigration und der diesbezüglich kontraproduktiven Armutsfürsorge, die Ortsfremde ausschließt.
- 5.
Eingefügt im Vermittlungsverfahren zum Zweiten Haushaltsstrukturgesetz 1981 (BT-Drs. 9/1140; BGBl. I 1981, S. 1523) sowie mit dem Haushaltbegleitgesetz 1984. 1990 wurde der § 120 BSHG um eine Regelung zur Beschränkung der „illegalen Binnenwanderung von Ausländern“, also zur Durchsetzung einer Residenzpflicht erweitert (BT-Drs. 11/6321, S. 90). Bei Zuwiderhandlungen durften die Sozialämter „nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe leisten“ (Gesetz zur Neureglung des Ausländerrechts vom 09.07.1990).
- 6.
Stand September 1992 belegte das ehemalige Jugoslawien unter den zehn Hauptherkunftsländern mit 31,0 % aller Antragsteller*innen den ersten Rang; es folgten Rumänien mit 23,4 %, Türkei mit 6,4 %, Bulgarien mit 5,3 %, Nigeria mit 3,0 %, Vietnam mit 2,7 %, die ehemalige Sowjetunion mit 2,1 %, Zaire mit 1,9 %, Ghana mit 1,6 % und Afghanistan mit 1,6 % (BT-Drs. 12/3589, S. 2).
- 7.
Eigene Berechnungen auf Grundlage von Statistisches Bundesamt (2018a) und BMAS (2018). Die Statistik des Statistischen Bundesamtes enthält verschobene Werte der Empfänger*innenzahlen und der Bruttoausgaben für 2015/16, welche das Ergebnis einer Unter- respektive Übererfassung sind. Die beiden Maximalwerte zusammenbringend betrugen die Bruttoausgaben im Spitzendwert 9,42 Mrd. Euro und entsprechend 1,0 % des Sozialbudget bzw. 0,3 % des BIP.
- 8.
„Asylpaket I“: Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz v. 20.10.2015; „Asylpaket II“: Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren v. 11.03.2016.
- 9.
Dass auch als „universalistisch“ geltende Sozialstaaten Unterschiede entlang nationaler Kategorien machen, sei hier ergänzend erwähnt. Unter anderem unter dem Stichwort „welfare chauvinism“ wird dies für Dänemark von Jørgensen und Thomsen 2016, für Schweden von Norocel 2016 und für Finnland von Keskinen 2016 analysiert und diskutiert.
- 10.
Privilegiert außen vor stehen bis heute Beamt*innen.
- 11.
Die Leistungsunterschiede wurden mit der 1911 eingeführten Hinterbliebenenversorgung ausgebaut: Während den Witwen von Arbeitern nur im Falle eigener Invalidität eine Witwenrente zugesprochen wurden, erhielten Witwen von Angestellten vorbehaltlos eine Witwenrente, da ihnen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht unbedingt zumutbar gewesen sei (Köhler 1990, S. 67, 71; Haerendel 2011, S. 23).
- 12.
Für Arbeiter: Reichsversicherungsordnung; für Angestellte: Versicherungsgesetz für Angestellte.
- 13.
- 14.
Ein einschlägiges Beispiel für die produktivistische Neuausrichtung ist die Familienpolitik. Markiert wird dies z. B. am begrifflichen Wandel vom Familienlasten- zum Familienleistungsausgleich, mit dem nicht mehr die finanzielle Belastung für die Familie, sondern die durch die Familie erbrachte gesellschaftlich, demografisch und vor allem wirtschaftlich funktionale Leistung im Fokus staatlicher Familienpolitik steht. Jüngstes Beispiel ist das sogenannte „Gute-Kita-Gesetz“ (Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung). Auch wenn in der Begründung des Gesetzentwurfs sehr wohl kinderpolitische und auch gesellschaftspolitische Argumentationsfiguren zu finden sind, die für einen Qualitätsausbau der Kitas und eine Kostenentlastung für einkommensschwache Familien sachlich ausreichend gewesen wären, werden prominent wirtschafts- und bevölkerungspolitische Argumentationsfiguren herangezogen. Mit Bezug auf die Europa- 2020-Strategie der EU betont die Bundesregierung die Bedeutung der frühkindlichen Bildung für die spätere Beschäftigungsfähigkeit der Kinder (BT-Drs. 19/4947, S. 13). Im investiven, produktivistisch gewendeten Begründungszusammenhang sind Ausgaben für Kitas vor allem als Investitionen zu werten, weil renditeträchtig: Mit Bezug auf das Bundeswirtschaftsministerium hebt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf die „fiskalische Rendite von quantitäts- und qualitätsfördernden Ausgaben“ in der frühkindlichen Bildung hervor, welche in diesem Bereich „rund 8 %“ und gesamtwirtschaftlich „mindestens 13 %“ betrage. Zum Effekt durch eine aktuelle „anteilige Gegenfinanzierung über die signifikante Erhöhung des Arbeitsangebots der Eltern“ würden langfristig „positive Beschäftigungseffekte für Eltern“ treten, die zu einem höheren BIP führten. Zudem würden langfristig „die künftigen Erwerbschancen der Kinder verbessert“ und sich weitere, nicht-fiskalische Effekte „wie z. B. eine erhöhte Lebenszufriedenheit, verringerte Kriminalität oder eine höhere Bereitschaft für gesellschaftliches Engagement“ ergeben (BT-Drs. 19/4947, S. 13 f.). Zu den Argumentationsfiguren in der Familienpolitik Kaufmann (1993, S. 142 ff.), zu den Effekten einer „exklusiven Emanzipation“ produktivistischer Familienpolitik am Beispiel des Elterngeldes siehe Henninger et al. (2008).
- 15.
Zu einer anderen Darstellung der Architektur des Sozialstaatsgebäudes siehe Offe (1998).
- 16.
Ob dieses Ziel tatsächlich als erreicht gelten kann, muss aufgrund der bekannten Raten der Nichtinanspruchnahme im Bereich der Grundsicherung im Alter von zwei Fünftel bis zwei Drittel infrage gestellt werden (Bruckmeier et al. 2013).
- 17.
In den ersten Jahren existierte eine Art Schwundform der Statussicherung im SGB II. Wer Arbeitslosengeld II nicht direkt, sondern im Anschluss an Arbeitslosengeld I bezog, erhielt einen befristeten Zuschlag. Dieser Zuschlag ist 2011 mit der Begründung gestrichen worden, dass er systemfremd sei (BT-Drs. 17/3030, S. 49). Aktuell wird erneut diskutiert, ob diese Form des Abstandsgebotes zwischen langjährigen Beitragszahler*innen und jenen im SGB II, die nicht zuvor Arbeitslosengeld I bezogen haben, ausgebaut werden müsse. Mit § 147 Abs. 2 SGB III ist bereits eine solche abgestufte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I nach Beitragsdauer und Alter vorhanden.
- 18.
Die sogenannte „allgemeine Wartezeit“ beträgt 5 Jahre. Daneben bestehen noch gesonderte Wartezeiten für spezifische Rentenarten(§ 50 SGB VI).
- 19.
- 20.
Genau genommen kennt die GRV diesen Ausgleich nicht mehr: Die Anfang der 1970er Jahre eingeführte Rente nach Mindesteinkommen und nunmehr als Rente nach Mindestentgeltpunkten noch vorhandene Regelung (§ 262 SGB VI) zur Aufstockung niedriger Einkommen und dementsprechend niedriger Entgeltpunkte langjährig Versicherter ist auf rentenrechtliche Zeiten vor 1992 begrenzt. Das Instrument diente ursprünglich „als Ausgleich für Lohndiskriminierungen langjährig erwerbstätiger Frauen“ (Hermann 1990, S. 121; Steffen 2011; Thiede 2009).
- 21.
- 22.
Gemessen nicht an der Bevölkerungsgruppe insgesamt, sondern an allen Empfänger*innen einer Altersrente, war die Grundsicherungsquote mit 2,7 % etwas geringer (DRV 2018).
- 23.
Diese Aussagen aufgrund des Mikrozensus können mit den Daten SOEP bestätigt werden. Laut EVS und EU-SILC sind jedoch 65-Jährige und Ältere häufiger armutsgefährdet als der Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung (siehe hierzu https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Armut/A01-Excel-Armutsrisikoquote.xlsx?__blob=publicationFile&v=19, Zugegriffen: 06.12.2018).
- 24.
Das sinkende Rentenniveau ist bis heute in der Diskussion. So zuletzt mit dem RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz, mit dem eine „doppelte Haltelinie für das Sicherungsniveau vor Steuern bei 48 % und den Beitragssatz bei 20 %“ eingeführt worden ist (BT-Drs. 19/4668, S. 2). Zur Diskussion siehe die schriftlichen Stellungnahmen zur Sachverständigenanhörung (A-Drs. 19(11)180).
- 25.
Ende 2008 ist mit Artikel(Artikel oder §? Müsste vereinheitlicht werden) 1 des Gesetzes zur Einführung Unterstützter Beschäftigung als zweiter Absatz § 281 SGB III, konkretisiert durch die Migrationshintergrund-Erhebungsverordnung (MighEV) vom 29.10.2010 die Bundesagentur für Arbeit, verpflichtet worden, Angaben zum Migrationsstatus zu erheben. Die entsprechenden aktuellen Erhebungen beruhen auf unvollständigen Befragungen, sind also anders als die üblichen, im Verwaltungsprozess generierten Daten der BA(Abkürzung muss zuvor eingeführt werden) keine Vollerhebungen. Als Ergebnisse werden weder Beschäftigungs- noch Arbeitslosenquoten ausgewiesen (siehe hierzu BA 2012, 2018).
- 26.
Im Dezember 2018 betrug der durchschnittliche Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter für Menschen ab der Regelaltersgrenze 811 €, der durchschnittliche Nettobedarf (nach Anrechnung von Einkommen) 439 € (Statistisches Bundesamt 2018b).
- 27.
Im Jahr 2017 betrug die am Bundesmedian gemessene Armutsrisikoschwelle 999 € (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2018b).
- 28.
Wie auch im Ausländerrecht prägen Statusunterschiede die Chancen, sodass z. B. rentenrechtliche Zeiten aus anderen Ländern als Mindestversicherungszeiten (Wartezeiten) im deutschen Rentenrecht anerkannt werden: In Bezug auf die Rentenversicherung zu nennen sind nationale Fremdrentenrechte nach dem Fremdrentengesetz (FRG), welches historisch auf „Volksdeutsche“, also Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR, zielt; das überstaatliche Sozialrecht der EU (Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009), welches vor allem der Flankierung der Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt dient; sowie zwischenstaatliches Sozialrecht in Form von bilateralen Sozialversicherungsabkommen (aktuell 22; BMAS 2019), mit dem die jeweiligen nationalen Regelungen koordiniert werden, um Nachteile für Arbeitnehmer*innen, die in verschiedenen Staaten erwerbstätig sind, zu vermeiden (Grotzer 2011; Bokeloh 2015). Von den zehn häufigsten Herkunftsländern der 2010 bis 2017 nach Deutschland immigrierten Schutzsuchenden (Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea, Iran, Russische Föderation, Pakistan, Somalia, Nigeria, Albanien) (Statistisches Bundesamt 2018d) besteht nur mit Albanien ein Sozialversicherungsabkommen.
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Brütt, C. (2020). Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut. In: Pioch, R., Toens, K. (eds) Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik. Studien zur Migrations- und Integrationspolitik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_14
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