Zusammenfassung
Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen werden häufig als wissenschaftlich grenzwertig beargwöhnt. Denn sie erreichen weder die Objektivität und Genauigkeit empirischer Datenanalysen noch die Abstraktion und logische Stringenz von Gesellschaftstheorien. Zudem fließen in sie Wertvorstellungen über die ideale Gesellschaft ein. Das Changieren zwischen Empirie, Theorie und Utopie macht es schwierig, den Stellenwert von Zeitdiagnosen genau zu bestimmen. In diesem Beitrag soll gezeigt werden soll, dass sie durchaus einen Erkenntnisgewinn bringen: mit ihnen lässt sich die gesellschaftliche Modernisierung vergegenwärtigen. Salopp formuliert: Jede Zeitdiagnose ist ein sozialwissenschaftlicher Fingerzeig auf die anhaltende Modernität der Gegenwartsgesellschaft.
Die Plausibilität dieser These soll in drei Schritten aufgezeigt werden. Zunächst wird die Differentia Specifica sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnostik über ihre deiktische Funktion und ihre Affinität für das Stilmittel der Metapher und das abduktive Schließverfahren bestimmt. Dieser Bestimmungsversuch wird anschließend anhand der viel beachteten Zeitdiagnose der Risikogesellschaft von Ulrich Beck veranschaulicht und weiter konkretisiert. Gegenstand der Abschlussüberlegungen ist die Frage, was sich mit der Idee, die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler zu betrachten, anfangen lässt.
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Notes
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Diesen Eindruck hinterlassen entsprechende Bestimmungsversuche. Darauf gehe ich explizit weiter unten, im 3. Abschnitt, ein.
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Ritzer rekurriert auf die bei McDonalds geradezu prototypisch etablierten Prinzipien der Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit, Kontrolle.
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Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass mit jeder neuen Sicht auf die Gesellschaft zugleich die Realitätsvorstellung („es gibt die Gesellschaft“) aktualisiert wird. Mit anderen Worten: jede Zeitdiagnose fungiert latent als Reifizierung von ‚Gesellschaft‘.
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Jo Reichertz (2005, S. 49 ff.) macht auf die Bedeutung der Abduktion für zeitgenössische Zeitdiagnosen aufmerksam.
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Die Unterscheidung zwischen Deduktion, Induktion und Abduktion als drei Formen des Schließens geht auf Charles S. Peirce zurück. Er konstatiert: „Deduction proves that something must be; Induction shows that something actually is operative; Abduction merely suggests that something may be“ (Peirce 1934, 5.171).
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Stellvertretend die Einschätzung in der Frankfurter Rundschau: „Als Ulrich Beck Mitte der achtziger Jahre seine zeitdiagnostische Bestandsaufnahme mit dem Titel ‚Risikogesellschaft‘ versah, prägte er damit einen Begriff, in dem sich die Gesellschaft wiedererkannte“ (zitiert nach Beck 1986 im Klappentext 2012).
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Die paradigmatischen Fälle, auf die Beck (1986, S. 56 ff.) im Buch selbst explizit Bezug nimmt, sind die industrielle Chemiekatastrophe im indischen Bhopal 1994, bei der giftige Gase aus der Pestizidherstellung in die Umwelt gelangten und tausende Menschen starben bzw. gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten, sowie die schmutzigste Chemie-Gemeinde der Welt in Villa Parisi in Brasilien.
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Stellvertretend sei auf die bahnbrechende Studie des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) hingewiesen.
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En passant kommt der Hinweis auch in der Einleitung (S. 17).
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Rekurriert wird hier –im Sinne der metaphorischen Heuristik – auf die vier Bedeutungsdimensionen des Prädikats ‚aufheben‘. Erstens kann gemeint sein, etwas (z. B. vom Boden) aufzulesen; zweitens etwas zu verwahren bzw. zu konservieren (z. B. aufgehobene Lebensmitteln); mit dem Aufheben erfährt etwas, so die dritte Bedeutungsdimension, eine Aufwertung; andererseits kann viertens ‚aufheben‘ indizieren, dass etwas aufgelöst wird (wie z. B. beim Aufhebungsvertrag).
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Paradigmatisch für diese Marginalisierung der soziologischen Zeitdiagnostik sind die Einsortierung in die „public sociology“ durch Michael Burawoys (2005) und der daran anknüpfende Präzisierungsversuch von Ute Volkmann (2015, S. 142). Volkmann sieht die Zeitdiagnostik auf der Grenze zwischen professional sociology und public sociology“. Sie diagnostiziert eine Gratwanderung, bei der die unterschiedlichen Anforderungen der fachinternen und der fachexternen Adressaten ausbalanciert werden müssten (S. 150). Ähnlich gelagerte Einschätzungen, nach denen die soziologische Zeitdiagnostik – metaphorisch formuliert – „halb Fisch, halb Fleisch“ wäre, findet man bereits bei Walter Reese-Schäfer (1996), Hans-Peter Müller (1997), Friedrichs et al. (1998), Schimank (2000), Priesching (2005), Peters 2007, Osrecki 2011.
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Krähnke, U. (2016). Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler. Zur Heuristik metaphorischer Gesellschaftsbeschreibungen. In: Junge, M. (eds) Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07080-9_2
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