Zusammenfassung
Seit den Anfängen der Informatik besteht Konsens darüber, daß die Informatik eine „anwendbare und nach Anwendungen verlangende Wissenschaft“ (vgl. Brauer 1989) mit sozialen Auswirkungen ist. Umstritten ist hingegen, ob Anwendungen und Wirkungen zum Kern der Informatik gehören und in einem Curriculum Berücksichtigung finden sollten. Dafür haben sich z.B. Brauer und Zemanek (1978) ausgesprochen; nach ihrer Auffassung sollte die Informatik die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Anwendungen und Auswirkungen, abstrahiert vom Einzelfall, sowie allgemeine Anwendungsmethoden einbeziehen. Die Besonderheiten spezieller Anwendungen und Wikungen sollten dagegen von anderen Disziplinen z.B. als Bindestrich-Informatiken behandelt werden. Innerhalb der Informatik sind in jungster Zeit einige Konzepte entwickelt worden, die diesen „Spagat“ wagen (vgl. hierzu Luft, Coy, Nake, alle 1992).
Die Sichtweise, die hier entfaltet wird, entspringt diesem Bemühen. Sie rückt Gestaltungsbegriff, Gestaltungsprozeß, Gestaltungszwang und Gestaltungsnormen der Informatik ins Zentrum. Die Absicht ist, daß durch „in-den-Blick-nehmen“ dessen, was allen Informatikern gemeinsam ist — die Gestaltung von technischen und sozialen Systemen —, etwas zusammengeführt werden kann, was bislang unvereinbar zu sein schien. Das heutige Verständnis von Gestaltung in der Informatik beschränkt sich auf technisches Verstehen und auf das Machen und Konstruieren. Diese Orientierung wird im folgenden ein Stück weit durch einen umfassenderen Gestaltungsbegriff abgelöst.
Es ist eine mögliche Sichtweise unter anderen denkbaren. Sie soll helfen, die Trennung von mathematisch-technischem Kern einerseits und Anwendungen und Wirkungen andererseits zu überwinden, sodaß letztere nicht mehr länger als Appendix erscheinen. Dadurch wird auch erreicht, daß Erkenntnisse anderer Disziplinen fßr die Informatik genutzt werden, so daß sich neue Arbeitsteilungen und Schwerpunkte und eine wissenschaftliche Kultur entwickeln können, in der bislang zu enge Sichtweisen, Methoden und Modelle ergänzt werden können. Die Informatik wird dadurch ihre technischmathematische Ausdifferenzierung und Professionalität nicht verlieren, jedoch jetzt darüberhinaus Orientierungen, Wert- und Wirkungsfragen einbeziehen. Auch für Geistes- und Sozialwissenschaftler kann hierin möglicherweise ein Weg liegen, um im Sloterdijkschen Sinne „noch einmal in die Situation zu kommen“.
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Literatur
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Rolf, A. (1992). Informatik als Gestaltungswissenschaft — Bausteine für einen Sichtwechsel. In: Langenheder, W., Müller, G., Schinzel, B. (eds) Informatik cui bono?. Informatik aktuell. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-77808-7_5
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