Auszug
Die Frage, in wieweit eine demokratische Ordnung zu ihrem Erhalt auf entgegenkommende Tugenden angewiesen ist, gehört zu den alten und neuen Streitfragen der politischen Theorie. Besonders in der republikanischen Tradition politischen Denkens wird argumentiert, dass die Realisierung des allgemeinen Wohls einer politischen Gemeinschaft ohne Zumutungen an die subjektive Selbstbindung der Akteure nicht zu haben sei. Dem wird aus liberaler Perspektive entgegen gehalten, dass die öfffentliche Verkündung und Förderung allgemeinverbindlicher Verhaltensforderungen mit einem Pluralismus von Vorstellungen des Guten unvereinbar und nur mit Mitteln illiberalen Zwangs durchzusetzen sei. Republikanische Denker beziehen sich bei ihrer Argumentation meist auf aristotelische, bürgerhumanistische oder Rousseau’sche Grundlagen. So stellen sie etwa den Zusammenhang zwischen öffentlicher Tugend, gutem Leben und politischer Praxis heraus, charakterisieren Machiavellis „virtù“ als Erhaltungsbedingung der Republik oder betonen im Geiste Rousseaus die Notwendigkeit der Verwandlung von eigeninteressierten bourgeoises in gemeinwohlorientierte citoyens.1 Die liberale Tradition sieht die Moderne im Wesentlichen durch eine Absicherung individueller Freiheitsrechte gekennzeichnet, die den Individuen nicht nur ökonomische, sondern auch personale Freiräume zur Verfolgung des eigenen Glücks garantiert. Dieses kann auch unabhängig von öffentlichen Tugendanforderungen verwirklicht werden. Zur Realisierung des Gemeinwohls bevorzugen Liberale ein System von checks and balances, das nicht von der Notwendigkeit der Tugend ausgeht, sondern die Frage nach der guten politischen Ordnung auf die Ebene der institutionellen Organisation verlegt.2
Zu aristotelischen Argumenten vgl. Nussbaum (1999), Sternberger (1995), zu Machiavelli v. a. Münkler (1991), zu Rousseau z. B. Barber (1994).
Paradigmatisch kommt diese Auffassung zum Ausdruck in: Federalist Nr. 10 (Hamilton et al. 1993: 93–95).
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