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Erweiterter Zusammenhalt in wachsender Vielfalt

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Zusammenhalt durch Vielfalt?

Zusammenfassung

Die Vielfalt sozialen Lebens hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Ob es um Glaubens- oder Geschlechterorientierungen, um Erwerbsformen oder Klassenlagen, um Lebensstile oder soziale Milieus geht: Wer würde die allgemeine Annahme bestreiten, dass diese und weitere Aspekte menschlichen Zusammenlebens vielfältiger geworden sind? Die Soziologie vielleicht. Für die wissenschaftliche Betrachtung sozialen Wandels ist immer nur sehr schwer auszumachen, welcher Anteil von wahrgenommenen Veränderungen auf das Konto der Veränderung der Wahrnehmungund welcher auf das Konto der intersubjektiv überprüften und ‚objektiv‘ konstatierten Wahrnehmung von Veränderungenbasiert. Gab es nicht auch vor Jahrhunderten schon eine Vielfalt von Geschlechterorientierungen, die nur nicht öffentlich wahrgenommen und weitgehend tabuisiert wurden? Zeugt Diogenes von Sinope in der Tonne nicht von alternativem Lebensstil schon vor 2.400 Jahren? Haben sich soziale Gruppen nicht wegen religiöser Unterschiede und Vielfalt seit Jahrtausenden die Köpfe blutig geschlagen? Ist soziale Vielfalt selbst vielleicht gar nicht so neu und ist es hauptsächlich die Wahrnehmung von Vielfalt, die sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beantwortung dieser Frage für die wahrgenommenen Herausforderungen sozialen Zusammenhalts?

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Notes

  1. 1.

    Henri Théodore Fontane: Der Stechlin; als Buch erstmalig veröffentlicht Berlin 1899 hier zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/buch/4434/27. Ich danke Martina Maletzky, Karin Pries, Kerstin Rosenow, Martin Seeliger und den MitautorInnen dieses Bandes für hilfreiche Kommentare, Tipps und Kritiken.

  2. 2.

    Die Begriffspaare essentialistisch-substantiell und konstruktivistisch-relational werden weiter unten in Abschnitt 1.2 ausführlicher erläutert.

  3. 3.

    Gegen den klassischen Dualismus von ‚Körper und Geist‘ und gegen einseitige Theorien wie z. B. den Behaviorismus schlug Karl Popper eine Dreiteilung der Welt in die rein physische Welt (Welt 1), die Welt der jeweils individuellen und subjektiven Wahrnehmung und des Bewusstseins (Welt 2) und schließlich die Welt der kulturellen Symbolsysteme, die z. B. als Buchinhalte oder soziale Ideen und Institutionen unabhängig vom Einzelbewusstsein existieren können (Welt 3) vor.

  4. 4.

    Eine Besonderheit der meisten Sportarten, und auch des Fußballs, ist es, dass die hauptsächlich hierfür notwendigen Qualifikationen (wie körperliche Fitness, Reaktionsvermögen, Teamspielen nach Fußballnormen) vergleichsweise wenig kultur- und sprachgebunden sind.

  5. 5.

    Aufgeführt sind in Klammern soweit vorhanden die Herkunftsländer/-regionen der Spieler bzw. ihrer Eltern und ihre Staatsangehörigkeiten. Berühmte Fußballspieler z. B. mit polnischer Herkunft gibt es praktisch seit Gründung der großen Traditionsvereine zu Beginn des 20. Jahrhunderts – dies spiegelt die Migrationsgeschichte vieler industrieller Ballungsregionen wie z. B. des Ruhrgebiets wider. Während jedoch noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus die Vorstellung vorherrschte, diese Spieler würden sich nach und nach an ihre jeweilige Ankunftsregion assimilieren, hat sich seit einigen Jahrzehnten ein transnationaler Arbeitsmarkt für Profifußballer entwickelt, der die Vorstellung einer (zu erwartenden oder anzustrebenden) Reduzierung der ethnisch-kulturellen Vielfalt als völlig wirklichkeitsfremd erscheinen lässt.

  6. 6.

    Noch weitgehend tabuisiert ist bis in die 2010er Jahre die Vielfalt von Geschlechterorientierungen im Sport, die es ganz offensichtlich schon immer gab, vgl. Leibfried/Erb 2011.

  7. 7.

    Vgl. den NPD-Slogan ‚Weiß – mehr als eine Trikotfarbe‘; http://www.sueddeutsche.de/sport/interview-mit-owomoyela-die-npd-sache-hat-mich-sehr-aufgebracht-1.463412, Zugriff am 20.04.2012.

  8. 8.

    Statistisches Bundesamt Deutschland: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2010. Erschienen am 26. September 2011, S. 6, Zugriff am 02.03.2012: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund,templateId=renderPrint.psml.

  9. 9.

    Zu diesen ‚objektiven Aspekten‘ gehört auch die Tatsache, dass die Kontakte zwischen Ausländern und Deutschen in Deutschland sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich intensiviert haben; im Jahre 1980 gaben lediglich 15 % der Westdeutschen an, in Deutschland im Freundes- oder Bekanntenkries direkten Kontakt mit Ausländern zu haben, für2002 stieg dieser Wert auf 61 % (Geißler 2011: 246).

  10. 10.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Hochindustrialisierung_in_Deutschland#Urbanisierung, Zugriff am 22.05.2012.

  11. 11.

    Ein hoher Grad an Arbeitsteilung vermindert nach Durkheim auch den Konkurrenzkampf unter den Menschen und ermöglicht jedem Einzelnen, nach seinen eigenen Präferenzen zu leben: „Der Soldat sucht den militärischen Ruhm, der Priester die moralische Autorität, der Staatsmann die Macht, der Gewerbetreibende den Reichtum, der Gelehrte wissenschaftliches Ansehen; jeder kann sein Ziel damit erreichen, ohne die anderen zu hindern, das ihre zu erreichen. Dies gilt selbst dann noch, wenn die Funktionen weniger weit auseinander liegen. Der Augenarzt konkurriert nicht mit dem Innenarzt, der Schuhmacher nicht mit dem Hutmacher […] Je mehr sich die Funktionen indessen einander nähern, je mehr Kontakt sie untereinander haben, desto größer ist folglich die Gefahr, dass sie sich gegenseitig bekämpfen“ (Durkheim 1992 [1930]: 326f).

  12. 12.

    Wenn ganz allgemein unter Raum eine in und durch menschliche Aktivitäten strukturierte Lagerelation von Elementen verstanden wird, dann lässt sich als Sozialraum ein relationales Ordnungsgefüge von Artefakten, sozialer Praxis und Symbolsystemen bezeichnen, welches sich als handlungsstrukturierend sowohl im Bewusstsein der Menschen als auch in den von ihnen geschaffenen Objekten niederschlägt und reproduziert. Familien- oder Sippenverbände, ethnische Gruppen, (National-)Gesellschaften oder (lokale oder gar transnationale) Organisationen sind Beispiele für solcherart Sozialräume (vgl. Pries 2008, Kapitel 4 und Pries 2010 Kapitel 10).

  13. 13.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Gravitation;vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Relativit%C3%A4tstheorie, Zugriff am 22.04.2012.

  14. 14.

    Karl Mannheim (2010) hat mithilfe der Unterscheidung von Generationslagerung (als essentialistische Kategorie gemeinsamer Raumzeit), Generationszusammenhang (als essentialistischrelationale Kategorie gemeinsamer Erfahrung und ‚objektiver‘ Schicksalslage) und Generationseinheit (als konstruktivistisch-relationaler Kategorie gemeinsamer Erfahrungsverarbeitung und Lebensorientierungen) die Vielfalt sozialer Differenzierung nach Zeitlichkeitsaspekten herausgearbeitet und verdeutlicht, wie hierdurch unterschiedliche – essentialistische, konstruierte und relationale – Formen sozialen Zusammenhalts gestiftet werden. Georg Simmel (1992 [1908], Kapitel IV, Der Streit) und Lewis Coser (1956) haben aufgezeigt, wie aus essentialistisch-substantiell verstandener Vielfalt z. B. von Interessenbezügen relational verstandener Zusammenhalt durch Streit und Konflikt entsteht. Der Symbolische Interaktionismus und das Habermassche Modell kommunikativen Handelns entwerfen relational konstruierten Zusammenhalt aus der Verständigung und Verhandlung über essentialistisch oder substantiell vielfältige Weltsichten, Interessen und Situationsinterpretationen. Georg Simmel (1992 [1908]: 119ff) hat in einer relational-konstruktivistischen Perspektive herausgearbeitet, welche verschiedenen Funktionen die Position ‚des Dritten‘ für den Zusammenhalt in komplexen Verflechtungszusammenhängen haben kann.

  15. 15.

    Dass diese Formen von Vielfalt nicht erst am Ende, sondern schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung waren, hat Georg Simmel (z. B. 1992 [1908]: 791ff) eindrucksvoll gezeigt.

  16. 16.

    Hessel selbst bekennt diesbezüglich: „Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden“ (2011: 13).

  17. 17.

    Vgl. http://www.informationweek.com/news/global-cio/interviews/224400178?pgno=2, Zugriff am 09.03.2012.

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Pries, L. (2013). Erweiterter Zusammenhalt in wachsender Vielfalt. In: Pries, L. (eds) Zusammenhalt durch Vielfalt?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19152-2_1

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