1 Die Krise des Erzählens um 1960

„Ich denke gar nicht daran, den klassischen Erzähler abdanken zu lassen.“ So erregte sich Alfred Andersch in einem „Werkstattgespräch“, bei dem Horst Bienek (1962, S. 120) den verbreiteten Eindruck wiedergab, dass Sansibar oder der letzte Grund (1957) relativ konventionell erzählt sei. Diese forcierte Verteidigung des klassischen Erzählers war um 1960 aber selten geworden. Bei vielen Autoren überwog ein skeptisches Verhältnis zur Wirklichkeit bzw. zu deren Darstellbarkeit, was dazu führte, dass sie relativierende Erzählweisen bevorzugten. Sie wollten „alles auflösen, was an Gewißheit und Gewohnheit in der Sprache untergebracht“ schien, wie Jürgen Becker im Rückblick auf seinen 1964 erschienenen Prosaband Felder formulierte (Deckert 2007, S. 77). Der Literaturkritiker Hans Schwab-Felisch sprach damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von den „Schwierigkeiten des Erzählens“ und der „Krise, in die der rein erzählerische Impetus geraten“ sei (Lettau 1967, S. 197). Auch Marcel Reich-Ranicki summierte wenig später in der ZEIT: „Die Zeit der naiven, der etwas einfältigen Erzähler – sie ist […] längst vorbei“ (Lettau 1967, S. 215). Er nannte in diesem Zusammenhang auch die Autoren, die in dieser Situation tonangebend geworden waren: Heinrich Böll, Günter Grass, Uwe Johnson und Peter Weiss (Lettau 1967, S. 211).

Böll, Grass und Johnson hatten alle drei 1959 Aufsehen erregende Werke vorgelegt: Billard um halbzehn, ein Roman, in dem die lineare Erzählung in Assoziationsketten verschiedener Bewusstseinsströme aufgelöst wurde; Die Blechtrommel, deren erster Halbsatz (Grass 1987 [1959], S. 6: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“) alles Weitere dem Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Ich-Erzählers unterstellt; Mutmassungen über Jakob, bei dem der Titel bereits andeutet, dass es statt der Gewissheit einer Erzählung sprechsituationell durchaus nicht klar konturierte Monologe, Dialoge und Berichte gibt, die Vermutungen über im Detail unklare Ereigniszusammenhänge bieten.

Im gleichen Jahr 1959 übernahm Siegfried Unseld den Suhrkamp-Verlag und akquirierte als neuen Autor Peter Weiss, den er in den folgenden Jahren systematisch zu dem führenden Prosaautor deutscher Sprache aufbaute (Gerlach 2005, S. 49–59, 80–119, 323–328).

Als erstes Buch von Weiss im Suhrkamp-Verlag erschien im September 1960 Der Schatten des Körpers des Kutschers in einer limitierten und bibliophil gestalteten Ausgabe, die von der Stiftung Buchkunst zu den schönsten Büchern des Jahres 1960 gezählt wurde. Vorausgegangen waren auszugsweise Drucke in der Zeitschrift Akzente (Weiss 1959) und in der Anthologie movens (Mon 1960, S. 65‒74).

Mit dem Erscheinen des von Hans Magnus Enzensberger sogenannten Mikroromans Der Schatten des Körpers des Kutschers am 1. September 1960 war Weiss quasi über Nacht zu einer literarischen Größe geworden. Das zwei Jahre später bereits als „legendär“ etikettierte Buch liege, so behauptete damals Enzensberger (1962, S. 116), überall „auf dem Schreibtisch der neuesten Prosaisten Deutschlands“.

Der Suhrkamp Verlag publizierte in rascher Folge weitere Prosabände von Peter Weiss, die dessen jungen Ruhm festigten. Auf den „epochemachend[en]“ (Hildesheimer 1963 [1960]) Mikroroman folgte 1961 die autobiographisch grundierte Erzählung Abschied von den Eltern, in der Weiss seine Kindheitsgeschichte als exemplarische Sozialisationsgeschichte eines kleinbürgerlichen Knaben rekapitulierte. 1962 setzte er diese Erinnerungsarbeit mit dem Roman Fluchtpunkt fort, in dem die Geschichte des Autors als junger Künstler in seinen Zwanzigern erzählt wird, aber nicht mehr als exemplarische Geschichte, sondern als autobiographisch konkrete, historisch und lokal präzise verankerte.

Danach folgte im Mai 1963 die experimentelle Erzählung Gespräch der drei Gehenden, als Band 7 eine der Originalausgaben in der ersten Staffel der neu lancierten Taschenbuch-Reihe edition suhrkamp. Im Verlag war man von dem Werk „rückhaltlos“ begeistert und überzeugt davon, „daß dieser Text den Autor Peter Weiss ein ganzes Stück voranbringen wird“ (Unseld und Weiss 2007, S. 207). Zugleich ließ Unseld einen vierseitigen Weiss-Prospekt in einer Auflage von 60.000 Exemplaren drucken (vgl. Unseld und Weiss 2007, S. 245), in dem die besondere Bedeutung dieses Autors für die deutschsprachige Literatur mit Auszügen aus diversen Kritiken festgehalten wird, das Ganze unter dem Zitattitel: „Er ist ein Meister, vielleicht der Meister der deutschen Prosa“ (Abb. 1 und 2). Als Weiss aus dem Manuskript bei der Herbsttagung der Gruppe 47 im Oktober 1962 vorlas, war die Kritik begeistert. Der Text von Peter Weiss gehörte zu den „Höhepunkten“ der Tagung, da waren sich Joachim Kaiser, Wolfdietrich Schnurre und Hans Schwab-Felisch einig (Lettau 1967, S. 168, 172, 178).

Abb. 1
figure 1

Peter Weiss-Prospekt des Suhrkamp-Verlags (äußere Seiten), Frankfurt/M. 1963

Abb. 2
figure 2

Peter Weiss-Prospekt des Suhrkamp-Verlags (innere Seiten), Frankfurt/M. 1963

Bis Ende 1964 wurde das Gespräch in 35 Zeitungsartikeln und neun Rundfunkbeiträgen besprochen. Noch im Erscheinungsjahr wurden zwei Radiobearbeitungen von Weiss gesendet.

Die vier genannten Bücher von Peter Weiss entfalteten auf die „Jungen und die Jüngsten“ unmittelbare Wirkung. Seine „Prosa“ mache „offenbar bereits Schule“, hielt Jost Nolte am 31. Oktober 1963 in der WELT fest: „Die moderne literarische Manier greift um sich“ (Lettau 1967, S. 183). In der kritischen Berichterstattung zu den Treffen der Gruppe 47 galten besonders Günter Grass, der 1963 mit Hundejahre seine „Danziger Trilogie“ beendet hatte, und Peter Weiss als die Protagonisten einer neuen Prosakunst (Lettau 1967, S. 170–172, 183, 187, 196). Nicht zufällig waren es daher neben Hans Werner Richter und Peter Rühmkorf genau diese beiden Autoren, die Walter Höllerer für den ersten Workshop des 1963 in Berlin gegründeten Literarischen Colloquiums als Dozenten verpflichtete. Weiss nahm auch an den Sitzungen mit Hans Werner Richter teil, der den ersten Teil des Workshops leitete; er ‚unterrichtete‘ selbst den zweiten Sitzungsblock Anfang November 1963. Die dabei entstandenen Texte sind in der 1964 gedruckten Anthologie Prosaschreiben dokumentiert (Hasenclever 1964, S. 44–75), die Diskussionen der Texte fielen allerdings technischem Missgeschick zum Opfer (vgl. Hasenclever 1964, S. 10).

Peter Weiss war also Anfang der 1960er Jahre quasi aus dem Stand heraus zu einem Protagonisten einer avantgardistischen Erzählpraxis geworden, in der „nicht mehr der seiner selbst und der Sache sichere Erzähler“ dominierte (Frenzel und Frenzel 1977, S. 655). Aber sind Weiss’ Erzähler deswegen unzuverlässig? Oder genauer gefragt: Inwiefern taugt das Konzept vom unzuverlässigen Erzähler auch zur Beschreibung avantgardistischer oder experimenteller Prosa in der Mitte des 20. Jahrhunderts? Ist nicht unzuverlässiges Erzählen ein generelles Signum der sprachskeptischen Moderne; ein Merkmal, mit dem sie sich von dem realistischen Literaturverständnis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts absetzte und das damit zu allgemein und unspezifisch ist, um die verschiedenen Spielarten modernistischen Erzählens präzis zu erfassen?

Um diese Fragen wenigstens im Ansatz zu beantworten, werde ich einige der vorgenannten Texte, die Weiss den Ruf einbrachten, ein „Meister der deutschen Prosa“ zu sein, in Hinblick auf die Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit der Erzählung bzw. des Erzählers anschauen.

2 Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit des Erzählers

In dem Roman Fluchtpunkt heißt es an einer Stelle:

Über einen Abstand von zwei Jahrzehnten versuche ich, mir das Stockholm der ersten Kriegsjahre zu vergegenwärtigen. […] Befremdet sehe ich meine Erscheinung auf einem Bild, von einem Straßenphotographen vor zwanzig Jahren aufgenommen […]. Verschwunden sind diese altmodischen, lächerlich wirkenden Gestalten, die wir damals so selbstverständlich zur Schau trugen. Tausendfach verändert sind unsere Gedanken, Empfindungen, Erwägungen, versuchsweise werden sie hingeschrieben, zwanzig Jahre später, nicht mehr überprüfbar, denn der einzige Zeuge, der mich widerlegen könnte, mein damaliges Ich, ist verwittert, in mich aufgegangen. Mit dem Schreiben schaffe ich mir ein zweites, eingebildetes Leben, in dem alles, was verschwommen und unbestimmt war, Deutlichkeit vorspiegelt. (Weiss 1965 [1962], S. 24 f.)

Die letzte Bemerkung spiegelt bereits die Distanz des Erzählers zu seinem eigenen Text wider; eine Distanz, die für den Autor immer größer wurde, sodass er schon bald nach dem Erscheinen des Buchs dessen erzählerische „Geschlossenheit“, die dem Roman trotz allen Vorbehaltssignalen eignet, als „verlogen“ betrachtete, besonders was den von Weiss selbst als „aufgepfropft“ empfundenen Schluss angeht, mit dem die „Bewältigung der eigenen Geschichte“ im Sinne des traditionellen Bildungsromans behauptet wird (Beise 2002, S. 201, 220 f.).

Demgegenüber behauptete Der Schatten des Körpers des Kutschers eine Unmittelbarkeit, ja die totale Zuverlässigkeit der Beschreibung jenseits jeglicher Subjektivität. Ein „Spiel der fanatischen Beobachtung“ nannte Walter Maria Guggenheimer (2007 [1956], S. 35) den Text. Es gehe darum, die „Eindrücke“, die sich dem Ich-Erzähler in seiner „nächsten Umgebung“ aufdrängten, in Wortreihen nachzuformen, gleichgültig wie „nichtig“ auch das „Gesehene und Gehörte“ sein möge, notiert sich der Erzähler (Weiss 1964 [1960], S. 47 f.). Die angestrebte „extreme Objektivität der Ding- und Vorgangsbeschreibung“ (Vormweg 1981, S. 43) setzt einen völlig zuverlässigen Beobachter und Belauscher seiner Umwelt voraus, was sich in der Tat noch in der nackten Wiedergabe von Verständnisschwierigkeiten spiegelt:

Der Doktor, das Glas an den kaum sich regenden Lippen, sprach ganz leise, keine Besserung, noch nicht, keine Besserung absehen, gleichgültig, was schon aus, doch aus, doch nagen; übertönt von den Worten des Hausknechts mit denen sich dieser sowohl an den Doktor als auch an den Schneider wandte, kann bestätigen, Acker nachmittags, abgeackert (abgerackert), Wolken, klärt sich auf, an Wolken sehen, auch in Handgelenken und Knieen, hatte einen Onkel, Wasser sucht (Wassersucht, was er sucht), nicht mehr rühren können; worauf wieder ein paar herausgelachte Worte der Haushälterin in mein Ohr drangen, aber schmeckt, das schmeckt, gegessen im Bahnhofshotel, damals im Bahnhofshotel, besseres gar nicht denken, oder kaum; das Lachen der Mutter übertönte die folgenden Worte von denen ich nur, wills nicht sagen, wissen schon, verstand; woran die Mutter, mit einem Seitenblick auf den Vater, folgende Worte knüpfte, vor zurück, vor zurück, exerzier, futsch, aus; und diese Worte ertranken wieder im Gelächter der Haushälterin. (Weiss 1964 [1960], S. 73 f.)

Trotz dem Bemühen um Objektivität und Zuverlässigkeit in der Aufzeichnung des Gehörten und Gesehenen entsteht bei den Lesenden eine Verunsicherung, unter anderem weil die Wahrnehmungen des Erzählers nicht immer eindeutig sind. In dem vorstehenden Zitat waren das die nicht genau verstandenen Wörter – „Wasser sucht (Wassersucht, was er sucht)“ –, an anderen Stellen ist es die Erwägung alternativer Möglichkeiten durch den Wahrnehmenden und Aufzeichnenden. Zum Beispiel spricht der Erzähler zu Beginn seiner Aufzeichnungen davon, dass er jemanden sägen höre; und an der ruckhaften Art des Sägens meint er zu erkennen, dass es der Hausknecht ist, der da sägt:

Auch ohne dieses besondere, oft von mir gehörte und durch Vergewisserung bestätigte Merkmal wäre es nicht schwer zu erraten, daß der Hausknecht die Säge handhabe, da außer ihm nur ich, und selten einmal der Hauptmann, doch nur am frühen Morgen und mit unverkennbarer Langsamkeit, sich des Holzes im Schuppen annehmen; es sei denn, daß eben ein neuer Gast eingetroffen wäre und sich mit dem Werkzeug und dem straffen Vorbeugen und Zurückziehen des Rückens und der vorstoßenden und zurückschnellenden Armbewegung von der Steifheit in den Knochen nach der langen Wagenreise hierher erholen will. (Weiss 1964 [1960], S. 7)

Aber auch diese Möglichkeit wird wieder infrage gestellt. Der Narratologe Jochen Vogt kommentierte dieses Verfahren wie folgt:

Die deskriptive Zerlegung alltäglicher Abläufe und das Infragestellen naheliegender Vermutungen wirkt zweifellos verfremdend, läßt die Realität als unsicher und fragwürdig erscheinen, destruiert konventionalisierte Wahrnehmungen und Deutungen (analog zu den beigegebenen Collagen des Autors oder auch zu den Verfahren der Großaufnahme und der Zeitlupe, mit denen der Filmemacher Weiss gleichzeitig experimentiert). (Vogt 1987, S. 65)

Hinzu kommen Beschreibungen von grotesken Handlungen und Erscheinungen, die bei allem prätendierten Realismus doch eher phantasmagorisch wirken, beispielsweise das Äußere des Doktors:

[…] den Kopf mit dicken Verbänden umwickelt, ein Pflaster quer über der Nase und ein Pflaster auf der Oberlippe, einen Verband um den Hals, Verbände um die Handgelenke, unförmig dicke Bandagen an den Beinen, sein Mund hart zusammengepreßt über dem Schmerz der seinen ganzen Körper zu erfüllen scheint und der ihm aus dem Mund ausbrechen will, seine Augen unter einen schwarzen Brille verborgen. (Weiss 1964 [1960], S. 23 f.)

Zugespitzt könnte man sagen, dass trotz dem sich betont zuverlässig gebenden Beobachter der Effekt einer unzuverlässigen Erzählung entsteht, und zwar gerade wegen des Hyperrealismus’, der die kognitive Rekonstruktion der fiktionalen Welt extrem erschwert (Lambrecht 2018, S. 68).Footnote 1

Und umgekehrt wird in dem autobiographischen Roman, dessen Erzähler offen die Unzuverlässigkeit seiner Erinnerungsarbeit thematisiert, gleichwohl eine ganz und gar schlüssige und plausible Geschichte wiedergegeben, die man kaum als unzuverlässig erzählt bezeichnen wird. Denn die Fragwürdigkeit eigener Erinnerungen bzw. der autobiographischen Rekonstruktion früherer Jahre geht nicht über das normale Maß der Unsicherheit hinaus, die wir auch alltäglich gewohnt sind, wenn wir mit eigenen oder fremden Erinnerungen umgehen. Die Selbstverständlichkeit eines naiven Realismus wird zwar problematisiert, doch der faktische Bezug auf die konkrete Geschichte und Lebensgeschichte zwischen 1940 und 1947 nicht grundsätzlich negiert.

3 Experimentelle Prosa

Die bisher genannten Texte gehen kaum über den modernistischen Standard sprachskeptischen Erzählens hinaus; sie reagieren auf die apostrophierte „Krise des Erzählens“ (Andreotti 2014, S. 252), radikalisieren vielleicht den Bruch mit der traditionellen, realistischen Erzählweise, können jedoch nur bedingt ‚unzuverlässig erzählt‘ genannt werden, insofern die, wenn zum Teil auch starke, Einschränkung der Zuverlässigkeit des Erzählers dieselbe nicht aufhebt.

Anders sieht das mit den experimentellen Prosa-Texten aus, die Weiss 1962 und 1963 schrieb: die sogenannten Fragmente Gespräch der drei Gehenden, Bericht über Einrichtungen und Gebräuche in den Siedlungen der Grauhäute und Schmolk, wobei wie erwähnt nur der zuerst genannte Text seinerzeit publiziert und vom Suhrkamp Verlag stark beworben wurde, sodass innerhalb von gut zwei Jahren bereits 30′000 Exemplare des „keineswegs leicht zu lesende[n] Werk[s]“ gedruckt worden waren (Gerlach 2005, S. 328). Die beiden anderen Fragmente erschienen später in zwei Anthologien (Unseld 1968, S. 83‒105; Weiss 1986, S. 119‒135) bzw. als Teildruck in den Notizbüchern 1960–1971 (Weiss 1982, S. 83–96, 168–179; vgl. Beise 2002, S. 207).

Ich werde mich im Folgenden auf das Gespräch der drei Gehenden konzentrieren, denn dieser Text scheint mir für Überlegungen zur Reichweite des theoretischen Konzepts vom unzuverlässigen Erzähler besonders interessant zu sein. Peter Weiss charakterisierte den Text im März 1964 in einem Interview mit dem US-amerikanischen Literaturkritiker Michael Roloff folgendermaßen:

Alles, was gesagt wird, wird ständig zurückgenommen, so daß man immerzu zweifelt, was nun wirklich gesagt worden ist. Alles, was gesagt wird, existiert nur im Bereich des Möglichen, aber es könnte ebensogut anders sein. Irgendwie hat es etwas mit einem zu tun, aber es zerfällt, löst sich immer wieder auf und nimmt neue Bedeutungen an. (Gerlach und Richter 1986, S. 41 f.)

Schon dieser Beschreibung lässt sich entnehmen, dass wir es bei dem Gespräch der drei Gehenden mit einem Text zu tun haben, bei dem wir keine verlässlichen Informationen zu der fiktiven Welt erhalten, die er entfaltet. Die Destruktion jeglicher Gewissheit wird so offensiv wie nur möglich zelebriert: „Ich glaube, diese Brücke ist neu, ich habe sie vorher nie gesehen, sie muß über Nacht erbaut worden sein“, beginnt der zweite Abschnitt (Weiss 1963, S. 8). „Die Brücke besteht seit langem. Ich fuhr einmal in einer schwarzlackierten rot gepolsterten Kutsche über die Brücke“, beginnt der dritte Abschnitt (Weiss 1963, S. 10). „Gestern fuhr ich noch auf der Fähre“, beginnt der vierte Abschnitt (Weiss 1963, S. 15). „Die Brücke ist seit langem da, wir fuhren einmal über die Brücke“, beginnt der fünfte Abschnitt (Weiss 1963, S. 19).

Die Zitate könnten den Eindruck erwecken, dass hier zwei einander widersprechende Figuren auftreten, doch sind es tatsächlich drei Figuren; und die Abschnitte der Erzählung, vielmehr: die vielen kleinen Erzählungen innerhalb der Erzählung lassen sich den Figuren nicht eindeutig zuordnen.

Einleitend werden in dem Buch drei einander sehr ähnliche Männer namens Abel, Babel und Cabel vorgestellt, „die nur gingen gingen gingen […] und während sie gingen sprachen sie miteinander“ (Weiss 1963, S. 7). In den dreißig folgenden Abschnitten tauschen die drei Männer Anekdoten und innere Erlebnisse aus. Sie gehen am Stadtrand auf einem Kiesweg entlang des Ufers eines mit Schuppen und Fabrikgebäuden gesäumten Stroms, über den kürzlich oder vor längerer Zeit eine Pontonbrücke gebaut wurde, oder über diese Brücke selbst. Dabei erinnern sie sich an die Gegend, wie sie früher war; an die alte Fähre, an ihre mit der Stadt und mit dem Fluss verknüpften Erlebnisse. Im Mittelpunkt stehen dabei eine öfters erwähnte Kutschfahrt mit oder ohne Unfall auf der Brücke, die Geschichten um den alten Fährmann, dessen Frau und ihre Söhne, sowie das Gefühl der Verlorenheit in allen Lebenslagen (Beise 2002, S. 202 f.).

Einleitend heißt es zwar: „Wenn einer sprach schwiegen die beiden andern und hörten zu oder sahen sich um und hörten auf anderes, und wenn der eine zuende gesprochen hatte, sprach der zweite, und dann der dritte, und die beiden andern hörten zu oder dachten an anderes“ (Weiss 1963, S. 7); doch bisher scheiterte noch jeder Leser, der den Abschnitten jeweils einen der drei Gehenden als Erzähler distinkt zuordnen wollte. Vorausgesetzt, dass jeder Absatz den Einsatz eines anderen Erzählers markiert, können die Themen und Motive nicht eindeutig zugeordnet werden, weil die Reihe auf jeden Fall widersprüchlich wird (Lüttmann 1972, S. 411 f.; Beise 2002, S. 203).

Zwar beziehen sich einzelne Passagen explizit auf vorangegangene, doch häufig werden Bezüge durch Infragestellung oder Negierung des zuvor Gesagten verunsichert oder aufgehoben, zum Beispiel: „Was ich über das ehemalige Haus des Fährmanns sagte, war falsch“ (Weiss 1963, S. 101).

Oder die Aussagen werden sogar innerhalb eines Abschnitts explizit zu Aporien:

[…] mein Vater […] blickt stolz zu dem riesigen weißen Block empor, zu dieser Fabrik, diesem weltumfassenden Handelshaus, diesem Lebenswerk, er atmet tief auf, er ist noch im Vollbesitz seiner Kräfte […]. Doch mir scheint, sein Mantel ist schäbig, und die Absätze seiner Schuhe sind schief getreten. Vielleicht ist er nur Pförtner hier. Seine Schultern sind müde, sein Kopf ist gesenkt, er nimmt die Hände aus den Taschen, und sie schlenkern kraftlos zu den Seiten. (Weiss 1963, S. 117–119)

Das Vertrackte an der Sache ist, dass keine Behauptung offensichtlich wahr oder falsch ist. Man kann nicht bestimmen, wie alt die Pontonbrücke ist; ob der Vater Unternehmer oder Nachtpförtner war; ob der Unfall auf der Brücke stattfand oder nicht; ob die drei Gehenden auf dem Kiesweg oder über die Pontonbrücke gehen; ob die Frau des Fährmanns „beleibt“ und „behäbig“ oder „hager“ und „lang“ (Weiss 1963, S. 97–99) war oder ist.

Manchmal werden bestimmte Behauptungen direkt infrage gestellt: „Nein, so war es nicht, ich sehe es falsch“, heißt es im 23. Abschnitt nach einer Schilderung von Büroabläufen; kurz darauf, nachdem eine alternative Beschreibung geliefert wurde, heißt es: „Nein, auch so war es nicht“, um dann eine dritte Schilderung anzuschließen (Weiss 1963, S. 83 f.). Manchmal wird nur die Handlungslogik überstrapaziert: „Mein Vater geht dort in das weiße Haus, das die ganze Straßenseite einnimmt. Ich sah ihn deutlich, es war mein Vater […]. Vielleicht wohnt er in diesem Haus, oder hat sein Geschäft hier.“ Dann wird im Präsens berichtet, wie der Vater die Tür zur Wohnung über dem Kontor aufschließt; hernach im Präteritum, wie der schon geworfene Dartpfeil den Vater „mitten in die Stirn“ traf und im Schädel stecken blieb, als er die Tür zum Zimmer des Sohns unvermittelt öffnete (Weiss 1963, S. 24–26). Und manchmal wird das Berichtete auch mittels konjunktivischer Formulierungen oder mit einleitenden Vokabeln à la „vielleicht“ unsicher gemacht: „fast ist es, als gehörten wir diesem Getriebe an, als seien wir hier zuhause“ (Weiss 1963, S. 58); „wahrscheinlich hat man mich in ein Gefängnis geschmissen und dann, wie üblich, in ein Massengrab“ (Weiss 1963, S. 109).

Man könnte versucht sein, das Gespräch der drei Gehenden kurzerhand einen nicht zuverlässig erzählten Text zu nennen, denn dieser enthält wenigstens auf den ersten Blick „in offensichtlicher Weise falsche Angaben über fiktive Tatsachen“, um es mal mit einer verbreiteten Definition zu sagen (Köppe und Kindt 2014, S. 246). Aber der Text ist auf eine spezielle Art unzuverlässig, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, insofern wir nicht feststellen können, welche Angaben falsch oder richtig sind. Vielleicht sind sogar alle falsch? Oder sind alle Angaben trotz ihrer Widersprüchlichkeit richtig?

Der Literaturkritiker Heinrich Vormweg (1981, S. 60) meinte, das vorliegende Problem dadurch lösen zu können, dass er die angeblichen drei Erzähler Abel, Babel und Cabel für identisch erklärte, respektive für „Handpuppen ein und desselben Erzählers“, die „im Dreiermonolog ein und dieselbe, doch ihrer selbst ungewisse Erinnerung“ variieren. Das scheint mir eine ausweichende Beschreibung des Problems zu sein. Doch die meisten Literaturwissenschaftler – wenn sie denn auf das schmale Werk eingegangen sind – haben sich dafür entschieden, hier das Bewusstsein eines Ichs am Werk zu sehen, das „nichts weiß“, „nichts versteht“ und „nicht fassen kann, warum e[s] gerade hier ist, oder an einem andern Platz, warum e[s] gerade diesem oder jenem begegnet ist, warum es dunkel wird, oder hell wird, oder regnet, oder hagelt“, wie es von einem der Söhne des Fährmanns in dem Text heißt (Weiss 1963, S. 75; vgl. Vormweg 1981, S. 60; Cohen 1992, S. 107–109). Ich selbst habe einmal behauptet, es entstehe „der Eindruck einer schizophrenen Wahrnehmung“, und dann Weiss unterstellt, er habe „auf diese Weise die Uneinheitlichkeit und Unabgeschlossenheit eines Bewusstseins“ darstellen wollen, das wie der Autor „durch die geschichtlichen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ gegangen und in einem geistigen oder semantischen Vakuum gelandet sei (Beise 2002, S. 204).

Hat aber Peter Weiss selbst den Literaturwissenschaftlern nicht eigentlich eine bessere Lösung nahegelegt, als er behauptete, es sei völlig irrelevant, ob es wirklich drei Figuren seien oder ein innerer Monolog mit unterschiedlichen Stimmen? (Gerlach und Richter 1986, S. 40)

4 Jenseits der empirischen Welt

Wahrscheinlich ist das an Beispielen einer realistisch-mimetischen Erzählkunst entwickelte Kriterium der Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit des Erzählers in einem bestimmten Spektrum der modernistischen Erzählkunst gar nicht mehr anwendbar oder müsste noch wesentlich differenzierter entwickelt werden.

Peter Weiss könnte an August Strindbergs Poetik des Traumes gedacht haben, als er Das Gespräch der drei Gehenden schrieb. In einer Anmerkung zum Traumspiel, das Weiss 1962 kurz vor Abfassung des Gesprächs übersetzt hatte, schrieb Strindberg, es sei ihm darum gegangen,

die unzusammenhängende, doch scheinbar logische Form des Traumes nachzubilden. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht. Von geringfügigen Wirklichkeitsanlässen schweift die Phantasie aus und webt neue Muster: ein Gemisch aus Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Verstiegenheiten und Improvisationen. Die Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen, fügen sich wieder zusammen. (Strindberg 1981, S. 147)

Während Strindberg aber wie Vormweg und andere Kritiker annahm, dass auch in einem traumpoetischen Text „ein Bewußtsein […] über allem“ stehe, nämlich das „Bewußtsein“ des Träumenden (Strindberg 1981, S. 147), verabschiedete Peter Weiss die Identität dieses Bewusstseins in seinen eigenen Texten.

Zwar stelle der Traum „immer aus allen Unmöglichkeiten u Widersprüchen eine merkwürdige kurze Glaubhaftigkeit her“, notierte sich Weiss gegen Ende seines Lebens, „doch“ lasse sich diese „nicht halten“ (Weiss 1982, S. 119). Im März 1964 beschrieb Weiss die Sache so: „Ein Thema taucht auf, irgendwas anderes wird hinzugefügt, und plötzlich taucht dasselbe Thema wieder auf, und man fragt sich: war es wirklich so, war es nicht anders?“ (Gerlach und Richter 1986, S. 40)

Das Problem dabei ist, dass wir – wie geschildert – bei dieser Art des Erzählens keine Aussagen darüber treffen können, welche Angaben über Fakten der fiktiven Welt falsch sind und welche nicht, da sie nicht hierarchisiert nebeneinander stehen und es sich möglicherweise nicht einmal um eine fiktive Welt handelt. Wie gesagt: Im Extremfall könnten alle Angaben falsch sein. Ein Interpret nannte die mehr oder weniger unwahrscheinlichen Erzählungen der drei Figuren allesamt „Lügengeschichten“ (Cohen 1992, S. 108). Den umgekehrten Fall habe ich auch schon erwähnt: Alle Angaben sind wahr, weil im Traum auch Widersprüchliches wahr sein kann, wenigstens für einen Moment. Die einzelnen Anekdoten bzw. erzählten Bilder „ergeben keine Szenerie“; sie seien „Partikel von Wirklichkeit“, aber nicht einer zusammenhängenden Wirklichkeit, meinte ein anderer Interpret (Best 1971, S. 55).

Ein Rezensent der Erstausgabe des Gesprächs der drei Gehenden sprach 1963 davon, dass diese Prosa zwar „gegenstandstreu“ sei „wie kaum eine andere“, aber eine Welt vorführe, die „jedenfalls“ eines nicht sei, nämlich „die empirische […], die alltägliche“ (Baumgart 1963, S. 1009). Es ist auffällig, wie ratlos die Literaturkritik damals zum Teil auf Das Gespräch der drei Gehenden reagierte. Irgendwie schien Weiss moderner zu sein als Böll oder Grass, auch radikaler als Johnson (Vogt 1987, S. 68), aber man wusste nicht zu sagen, warum. Elsbeth Pulver, die nachmalige grande dame der Schweizerischen Literaturkritik, schrieb am 13. September 1963 im Berner Bund über das Gespräch der drei Gehenden: Es falle leicht „zu sagen, man habe es hier mit einem nach Art und Rang ausserordentlichen Werk zu tun; ungleich schwerer ist es, solche Bewunderung zu erklären und zu begründen. Eine ungewöhnliche Kraft ist hier am Werke, versetzt den Leser schon auf der ersten Seite in einen Zustand selbstvergessener, wortloser Verzauberung“ (Unseld und Weiss 2007, S. 287).

Die Verzauberung resultierte wohl aus der ‚Phantastik‘ der Erzählung, was in der ziemlich unscharfen literaturkritischen Terminologie der frühen 1960er Jahre nichts anderes bedeutete als ‚nicht realistisch‘. Im Fall von Weiss’ Gespräch wird die Frage nach der Zuverlässigkeit des Erzählers oder des Erzählten meines Erachtens sinnlos, weil die Beschaffenheit der in dem Text entworfenen fiktiven Welt nicht statisch ist, sodass sogar unklar wird, ob die genannten Widersprüche zwischen verschiedenen Propositionen tatsächliche oder nur scheinbare sind; womöglich beziehen sie sich auf verschiedene ‚Aggregatzustände‘ einer in permanenter Wandlung befindlichen fiktiven Welt, wenn überhaupt von einer fiktiven Welt die Rede sein kann. Da die Regeln und Logiken der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit derart außer Kraft gesetzt sind, lässt sich nicht mehr gut begründet zwischen zuverlässig und unzuverlässig unterscheiden.

Es scheint mir die spezifisch modernistische Qualität des Gesprächs der drei Gehenden zu sein, dass sich seine Erzählerstimmen mit den bisherigen Bestimmungen unzuverlässigen Erzählens nicht fassen lassen.

Interessanterweise verunsicherte die erzählerische Radikalität sogar den Autor selbst, was den Begriff eines Werks angeht ebenso wie die buchhändlerische Verwertbarkeit seiner literarischen Produktion. An seinen Verleger schrieb Peter Weiss am 10. März 1962, kurz bevor er mit dem Gespräch der drei Gehenden begann:

Es geht mir ja mit dem Schreiben immer so, dass eigentlich alles nur versuchsweise ausgesprochen werden kann, mit der Möglichkeit des Widerrufs vor Augen. Wenn es Leser gäbe, die so etwas ertragen könnten, müsste man ihnen eigentlich immer die verschiedenen Stadien im Werdegang eines Buches vorsetzen. / Für mich ist ja ein Buch nie zu einem Abschluss zu bringen. So ein Manuskript ist immer nur eine Notlösung, und wenn es einmal gedruckt wird, so ist dies nur zufällig. (Unseld und Weiss 2007, S. 287)