Der vorliegende Sammelband ist Teil eines Publikationsprojekts, das von einer Monographie über das unzuverlässige Erzählen im deutschsprachigen Nachkriegsroman ergänzt wird.Footnote 1 Es ist zum einen das Ziel dieses Sammelbandes, die Monographie mit Untersuchungen von Romanen zu flankieren, die in ihr größtenteils unberücksichtigt bleiben; zum andern und vor allem aber dokumentieren die hier versammelten Beiträge die große heuristische Bandbreite des Konzepts des unzuverlässigen Erzählens, indem sie Analysen nicht nur von unstrittig unzuverlässig erzählten Texten bieten, sondern auch und gerade von Texten, die zwar im Verdacht stehen, unzuverlässig erzählt zu sein, für die dies aber bei genauerem Hinsehen nicht gilt. Auf diese Weise werden das Konzept und sein Anwendungsspektrum geschärft. In literarhistorischer Perspektive sollen die Beiträge zugleich die bisher kaum bemerkte, geschweige denn näher untersuchte Bedeutung erhellen, die der „Tradition“ unzuverlässigen Erzählens im deutschsprachigen Nachkriegsroman zukommt, also dem ‚Bündel‘ narrativer Techniken und epischer Strategien, auf das und dessen ‚Stränge‘ heute mit dem Sammelbegriff der erzählerischen Unzuverlässigkeit Bezug genommen wird.Footnote 2

Einleitend werden wir in zwei Schritten unsere Auffassung über das unzuverlässige Erzählen in den erwähnten Hinsichten, „Narratologie“/„Interpretationstheorie“ und „Literaturgeschichte“ unter Bezugnahme auf die hier versammelten Beiträge näher erläutern. Unter anderem schlagen wir eine Skizze vor, mit deren Hilfe das literarische Verfahren des unzuverlässigen Erzählens mit verwandten literarischen bzw. narrativen Verfahren koordiniert werden kann. Im dritten Abschnitt unter der Überschrift „Literarizität“ formulieren wir abschließend eine These, die die Bedeutung des Projekts unterstreicht.

1 Narratologie/Interpretationstheorie

Unzuverlässigkeit bzw. unzuverlässiges Erzählen ist für die meisten eine Kategorie der Narratologie oder Erzähltheorie.Footnote 3 Die Forschungsgeschichte, die den meisten Lexikonartikeln und Sammelbänden zu dieser Kategorie entnommen werden kann, muss hier nicht noch einmal referiert werden. Uns sind mit Blick auf die Beiträge in diesem Band lediglich zwei Differenzierungen wichtig. Ein Ergebnis der Forschungsgeschichte ist, dass eine Vielzahl von Differenzierungsvorschlägen in verschiedene Typen von narrativer Unzuverlässigkeit vorliegt; ein anderes, dass es zwei miteinander unvereinbare Ansätze zur Identifikation bzw. Ermittlung von narrativer Unzuverlässigkeit gibt.

Mit Blick auf ihre typologische Differenzierung unterscheiden Martínez und Scheffel (1999) zwischen mimetischer und theoretischer Unzuverlässigkeit, je nachdem ob die Ausführungen der Erzählinstanz den für das Werk geltenden Normen oder den werkimmanenten Tatsachen widersprechen. Es gibt eine Fülle von Vorschlägen, die sich vor allem darin unterscheiden, worauf sich die jeweilige Kategorisierung stützt: auf den Gegenstand (d. h. wovon jemand nicht wahrheitsgemäß erzählt) oder auf die Art und Weise, wie Unzuverlässigkeit markiert wird. Während Martínez/Scheffel dem erwähnten gegenstandsorientierten Paar noch eine dritte Unterkategorie (mimetische Unentscheidbarkeit) hinzufügen, gibt es erweiterte Typologien, die wie z. B. Fludernik (1999) zwischen widersprüchlichen Fakten, mangelnder Objektivität und unangemessener Ideologie unterscheiden oder wie Hansen (2007) vier Unterkategorien postulieren (und den Unterschied u. a. an die Frage binden, ob der Erzähler sich selbst widerspricht oder eine andere Figur) oder schließlich wie Olson (2003) die ursprünglich klassifikatorische Kategorie (entweder unzuverlässig oder nicht) in einen komparativen Begriff (mehr oder weniger unzuverlässig) umwandeln. Phelan und Martin (1999) wiederum kreuzen eine mit Fludernik (1999) verwandte Typologie mit einer, die das Ausmaß in zwei Klassen teilt, sodass sie sechs Typen erhalten.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes orientieren sich demgegenüber zumeist an der grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Typen: mimetischer/faktenbezogener Unzuverlässigkeit einerseits und axiologischer/wertbezogener Unzuverlässigkeit andererseits (vgl. Kindt 2008).

Die Frage danach, wie man narrative Unzuverlässigkeit erkennt, wie auch danach, wodurch sie sich in einem Text konstituiert, ist weniger vielfältig beantwortet worden. Es stehen sich hier im Wesentlichen zwei unvereinbare Konzeptionen gegenüber. Zum einen gibt es eine kognitive, d. h. rezeptions- bzw. leserorientierte Konzeption narrativer Unzuverlässigkeit (z. B. Yacobi 1981; Nünning 1998; Yacobi und Sternberg 2015) und zum andern eine sog. rhetorische, d. h. text- bzw. autororientierte Konzeption (z. B. Martínez und Scheffel 1999; Phelan 2005; Kindt 2008).Footnote 4 Während die erste Konzeption den Begriff der narrativen Unzuverlässigkeit insofern relativiert, als sie die variierenden Normen und Annahmen (das Weltwissen) der Leser für die Bestimmung der Unzuverlässigkeit einer Erzählinstanz zugrunde legt, bezieht sich die zweite Konzeption bei der Bestimmung der Unzuverlässigkeit auf die Intention des Autors bzw. auf eine im Text verankerte Version der normativen oder faktischen Verhältnisse in der erzählten Welt, von der die Version der Erzählinstanz abweicht. Auch wenn es zwischen den beiden Konzeptionen durchaus Überschneidungen gibt (vgl. etwa den Vermittlungsversuch Nünning 2008), sind sie grundsätzlich nicht miteinander vereinbar: Die leserorientierte Konzeption führt zu einer relativistischen Position hinsichtlich der Zuschreibung narrativer Unzuverlässigkeit an einen Text (je nachdem, was ein lesendes Individuum für wahr oder geboten hält, kann ein Text unzuverlässig erzählt sein oder nicht), während die textorientierte Konzeption von Definitionen narrativer Unzuverlässigkeit ausgeht, die die Zuschreibung des Begriffs von einer diesem Text ablesbaren „Kompositionsstrategie“ abhängig machen (Kindt 2008, S. 53). Der Vorteil dieser Konzeption liegt darin, der Analyse eine stabile Kategorie an die Hand zu geben, mit deren Hilfe Texte untereinander vergleichbar werden.

In den zwei unterschiedenen Hinsichten erschöpft sich die theoretische Konturierung des Begriffs der narrativen Unzuverlässigkeit nicht. Aber sie geben Aufschluss über zwei Gemeinsamkeiten der hier versammelten Fallanalysen, denen durchweg der textorientierte Ansatz zugrunde liegt.

Wie zu Anfang angedeutet, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Beiträgen, insofern sie teilweise Texte untersuchen, deren Unzuverlässigkeit nicht zweifelsfrei feststeht. Ein Effekt davon ist, dass das heuristische Potenzial des Konzepts insbesondere dort sichtbar wird, wo seine Anwendung nicht selbstverständlich ist, ja selbst dort, wo am Ende die Frage, ob ein Text unzuverlässig erzählt ist, eine negative Antwort erhält. Auch bei einem letztlich negativen Befund kann die Anwendung des Konzepts auf einen Text, der diese Anwendung nahelegt, Erkenntnisse über den Text liefern, die zu einem besseren Verständnis führen.

Einer der Gründe dafür liegt darin, dass das unzuverlässige Erzählen kein isoliertes Verfahren ist, das einzigartig und ohne Nachbarn in der Landschaft literarischer Verfahren liegt, sondern eine spezielle Ausprägung eines allgemeinen Phänomens. Schon in der Vergangenheit wurde die Verwandtschaft des unzuverlässigen Erzählens mit anderen rhetorischen bzw. literarischen Verfahren bemerkt. So erklären Martínez und Scheffel (1999, S. 100 f.) unzuverlässiges Erzählen über den Begriff der Ironie. Das kann jedoch zu Missverständnissen führen, denn die Verfahren sind nicht identisch (Köppe und Kindt 2014, S. 242). Auf andere Weise ähnlich ist das Konzept des unzuverlässigen Erzählens dem alten Begriff der Rollenprosa, insofern nämlich der Autor eine persona einsetzt, die ganz andere Eigenschaften als der Autor hat. Doch wenn der Begriff der Rollenprosa damit schon hinreichend charakterisiert ist, ist dieser Bestimmungsgrund für das (homodiegetische) unzuverlässige Erzählen lediglich eine Begleiterscheinung. Man denke an das männliche Kind als Erzähler in Gisela Elsners Riesenzwerge (1964). Hier dient der Erzähler dazu, die bizarre bis verlogene Erwachsenenwelt zu desavouieren, aber nicht dazu, sich selbst zu diskreditieren, wie das z. B. partiell für Tinko in Erwin Strittmatters gleichnamigen Roman (1954) gilt, dessen kindliche Naivität dazu führt, die unsozialistischen Parolen des Großvaters nachzuplappern. Eine komplizierte Zwischenstellung nimmt Oskar Matzerath ein, der in Günter Grass’ Blechtrommel (1959), je nach Lesart – und passagenweise mal mehr, mal weniger – als zuverlässiger oder eben unzuverlässiger Erzähler agiert.Footnote 5

Wie ist das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens in das Gefüge literarischer Verfahren sinnvoll einzuordnen, wenn man sich nicht mit der Analogisierung oder Kontrastierung mit einzelnen anderen Verfahren zufriedengeben möchte? Im Folgenden möchten wir ein paar skizzenhafte Hinweise zur systematischen Einordnung geben, die zu einer Beantwortung führen können. Von einer solchen Beantwortung kann man auch Aufschluss darüber erwarten, wie das Verfahren literaturhistorisch zu verorten ist: ob es bestimmte Abschnitte der literarischen Entwicklung charakterisiert oder eigentlich immer schon existiert.

Grob gesagt, ist die einfachste Konzeption literarischer Rede die, dass sie entweder ihre Inhalte anders vermittelt als nicht-literarische Rede (wobei sich ihre Inhalte nicht prinzipiell von den Inhalten nicht-literarischer Rede unterscheiden) oder aber nur ihr eigene Inhalte vermittelt. In beiden Fällen geht damit im einfachsten Fall die Annahme einher, dass sie Wahres vermittele, mitunter sogar höhere Wahrheiten. Man kann diese Auffassung dadurch charakterisieren, dass die erzählten oder, allgemeiner, dargestellten Welten stabil sind und die Art und Weise der Vermittlung angemessen. Diese Auffassung lässt sich insoweit als Norm begreifen, als sie strukturell einfach ist: Wovon die Rede ist, stimmt auf irgendeine Weise, d. h. trifft auf die dargestellte, vielleicht sogar auf die reale Welt zu, und wer auch immer diese Rede hervorbringt, tut das auf eine Weise, die insofern angemessen ist, als sie das, wovon sie handelt, verständlich macht und damit etwas Wahres äußert.

Stabilität der Welt und Angemessenheit der Rede sind die beiden Eigenschaften, die die Normkonzeption ausmachen. Normkonzeptionen bringen mit sich, dass von ihnen abgewichen werden kann. Sofern man davon ausgeht, dass Literatur eigene Welten (seien diese nun fiktiv oder nicht) hervorbringt, ist die Stabilität der Welt sekundär gegenüber der Rede, die sie darstellt, d. h. ob eine Welt stabil ist oder nicht, entscheidet sich durch die Art und Weise der Darstellung, letztlich also durch literarische Verfahren. Eine dargestellte Welt ist instabil, wenn ihr Eigenschaften zugeschrieben werden, die miteinander unvereinbar sind, oder wenn ihr Eigenschaften fehlen, die für die Konstitution dieser Welt nötig wären. Literarische Verfahren, die dies erreichen, lassen sich unter den Oberbegriffen der Ambiguisierung, Fragmentarisierung und Absurdität einordnen. Zentral für unseren Vorschlag ist, dass die Angemessenheit der Rede dabei nicht infrage steht. In diesen Fällen sind die dargestellten Welten instabil, eben weil die Rede als (literarisch) angemessen betrachtet wird.

Von diesen Verfahren zu unterscheiden sind dann solche meist narrativen Verfahren, die den Effekt haben, dass die Angemessenheit der Rede gerade infrage steht. Hierzu zählen Perspektivierungsverfahren, deren Effekt es ist, dass die Erzählrede nur ein eingeschränktes Bild der dargestellten Welt liefert, wobei deren Stabilität angenommen werden muss, damit man die Erzählrede als epistemisch oder axiologisch eingeschränkt erkennen kann. Im Unterschied zu den zuvor genannten Verfahren ist für die Perspektivierungsverfahren also entscheidend, dass sie die Stabilität der erzählten Welt nicht angreifen, sondern diese sogar voraussetzen. Ohne diese Annahme könnte man sie nämlich gar nicht als solche erkennen.

Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass im letzteren Fall das Privileg der Erzählrede aufgegeben wird, über die dargestellte Welt alle nötigen Auskünfte zu geben, die man sich aus ihr erschließen können muss; demgegenüber ist die Rede im ersten Fall so angelegt, dass man vieles zugleich aus ihr erschließen kann, nur nicht eine Gewissheit. Das Privileg der Erzählrede, die einzig angemessene Version der dargestellten Welt zu liefern, kann nun auf grundverschiedene Weise aufgegeben werden: a) indem sich die Erzählinstanz weitgehend zurückzieht und alle Aussagen an eine oder mehrere Figuren und ihren beschränkten Zugang delegiert oder b) indem sie Unwahrheiten äußert oder unausgesprochen zu verstehen gibt.Footnote 6 Nur im letzteren Fall spricht man von (mimetisch) unzuverlässigem Erzählen.

In theoretischer Hinsicht ist ein Ertrag dieses Bandes aus unserer Sicht, dass die Beiträge diese soeben aufgezeigten Grenzen an konkreten Beispielen sichtbar machen – zwischen Texten mit privilegierter Erzählrede, aber instabiler Welt und nicht-privilegierter Erzählrede, aber stabiler Welt einerseits sowie andererseits Texten mit nicht-privilegierter Erzählrede, deren Nichtprivilegierung zum einen durch einen Rückzug der Erzählinstanz zustande kommt und zum andern durch ihre Unzuverlässigkeit.

2 Literaturgeschichte

„Nachkriegszeit“ und „Nachkriegsliteratur“ (bzw. „Nachkriegsroman“) sind eigentlich unspezifische Ausdrücke, die sich auf Zeiten und Literaturen nach jeglichen Kriegen beziehen. Von heute aus betrachtet, beziehen sie sich auf die Zeit und die Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum.Footnote 7 Dabei divergieren die Angaben zu der Periode, die als Nachkriegszeit gilt, mitunter erheblich und damit auch die Menge der Werke, die zur Nachkriegsliteratur zählen. Klar ist indes, jedenfalls gemäß unserer Konzeption, dass der literaturwissenschaftliche Begriff des Nachkriegs, so wie er Bestandteil verschiedener Komposita wie „Nachkriegsroman“, „Nachkriegslyrik“ usw. ist, rein zeitlich indiziert ist. Teil der Nachkriegsliteratur ist ein literarisches Werk dann, wenn es innerhalb dieser Periode entstanden ist oder erstveröffentlicht wurde, gleich ob es inhaltlich viel oder wenig mit der individuellen, sozialen oder politischen Situation dieser Periode zu tun hat.

Wenn damit eine Richtschnur gegeben ist, welche Werke gemeinhin zur Nachkriegsliteratur gezählt werden, so fehlt doch noch eine entscheidende Angabe: nämlich die einer zeitlichen Begrenzung. Über den Anfang der Periode wird sich leicht Einigkeit erzielen lassen. Mit dem Kriegsende 1945 änderten sich die Bedingungen, unter denen Literatur produziert und rezipiert wurde, in einem beträchtlichen Ausmaß. Auch wenn es bekanntlich starke Kontinuitäten gerade im kulturellen Bereich gab, ist die politisch-historische Zäsur so tief, dass es wohl kaum einer weiteren Diskussion bedarf, diese Zäsur für die Strukturierung der literarischen Entwicklung im deutschsprachigen Raum zu übernehmen.Footnote 8

Doch wie weit reicht diese Periode der Nachkriegsliteratur? Die Vorschläge für Jahresangaben reichen von 1952 bis 1995. Gemäß einer sozialgeschichtlichen Konzeption endet die Nachkriegsliteratur vor dem Hintergrund einer „gegenläufige[n] Entwicklung“ in Ost und West bereits zu „Beginn der fünfziger Jahre“ (Brenner 1997, S. 57).Footnote 9 Eine andere sozialgeschichtliche Konzeption hingegen setzt vor dem Hintergrund des aufbrechenden Generationenkonflikts in der Bundesrepublik als Begrenzung das Jahr 1967 und verzichtet dabei auf das Label „Nachkriegsliteratur“ (Fischer 1986). Schließlich gibt es einen Vorschlag, der aufgrund von literarischen Ereignissen wie Erstpublikationen bald prominenter Werke 1995 die literarische Entwicklung eine Schwelle überschritten sieht, die „endgültig nicht mehr mit den Beschreibungsmustern der ‚Nachkriegsliteratur‘“ zu fassen sei (Tommek 2015, S. 1).

Jeder dieser Vorschläge beruht auf bestimmten Gründen und triftigen Beobachtungen, die jeweils bestimmte Frageinteressen erkennen lassen. Es ist wissenschaftlich legitim, dass unterschiedliche Periodisierungsansätze nebeneinander existieren, sofern deutlich wird, welche Annahmen die vorgenommene Periodisierung steuern. Daher ist es nicht unsere Absicht, die verschiedenen Vorschläge gegeneinander auszuspielen; stattdessen möchten wir nur eine kurze Begründung für unsere Periodisierung und damit für unsere Auswahl geben. Unser Ziel ist es, die Erzählliteratur der größten deutschsprachigen Länder vergleichend in den Blick zu nehmen: der Bundesrepublik, der DDR, Österreichs und der Schweiz. Es ist daher angebracht, eine Grenze des Zeitraums zu veranschlagen, die für alle vier literarischen Gesellschaften (die sich in unterschiedlicher Hinsicht überlappen und natürlich nicht als geschlossene Einheiten zu begreifen sind) ähnlich bedeutsam ist. Unter dieser Voraussetzung kann man sich schwerlich auf ein bestimmtes Jahr festlegen.

Einen ähnlich weitreichenden politisch-historischen Einschnitt wie 1945 gab es erst wieder 1989, und es ist sicherlich sinnvoll, den gesamten Zeitraum dazwischen als eine auch literaturgeschichtlich relevante Periode zu fassen. Allerdings ist es nicht überzeugend, den gesamten Zeitraum unter der Überschrift „Nachkriegsliteratur“ laufen zu lassen, denn (wenngleich die Folgen auch Jahrzehnte später literarisch spürbar blieben) das Ausmaß der Literatur, die sich direkt mit dem Krieg auseinandersetzte oder indirekt durch Verdrängung der Judenvernichtung darauf bezogen blieb, nahm im Lauf der Zeit ab, während andere Themen hinzukamen. Zudem gab es innerhalb der Periode zwischen 1945 und 1989 einen recht tiefen Einschnitt, der zwar zu keinen neuen Staaten führte, aber innerhalb der bestehenden Staaten zu stark reformierenden Entwicklungen, nicht zuletzt in kultureller Hinsicht. Gemeint ist der Zeitraum ab 1968 bis 1971, als es in den vier Staaten zu epochalen Regierungswechseln bzw., allgemeiner, zu wegweisenden politischen Veränderungen kam, 1969 zur sozialliberalen Koalition in der Bundesrepublik und 1970 zur Kanzlerschaft von Bruno Kreisky in Österreich. Mit Blick auf die Schweiz ist das Jahr 1971 von besonderer Bedeutung, als hier das Frauenstimmrecht formell wirksam wurde. Und in der DDR löste Erich Honecker Walter Ulbricht Ende 1971 ab. Diese politischen Veränderungen sind nur die sichtbarsten Ereignisse, die sich mit historischen Daten belegen lassen. Sie sind aber auch Ausdruck eines kulturellen Umbruchs, der sich in den vier Ländern vollzog. Auch im literarischen Leben selbst gab es in dieser Zeit entscheidende Veränderungen, z. B. die de facto-Auflösung der einflussreichen Gruppe 47 im Jahr 1968 oder die Gründung der Gruppe Olten 1971 in der Schweiz. Gleich wie lange man die Nachkriegsphase terminiert – ob ein Vierteljahrhundert oder ein halbes Jahrhundert –, es ist wohl sinnvoll, das erste Vierteljahrhundert als eine Phase abzugrenzen.

In welcher Hinsicht kann nun das unzuverlässige Erzählen zu diesem kleinen historischen Zeitabschnitt stehen? Welche Fragen stellen sich? Was für Antworten kann man überhaupt erwarten? Zunächst ist klarzustellen, dass dieses Projekt – und als Teil dieses Projekts erst recht der vorliegende Sammelband – lediglich einen Anfang machen und nur schlaglichtartig anhand von wenigen Fallbeispielen einige Tendenzen aufzeigen kann, die in dieser Zeit literarisch auffällig sind. Während die Projektmonographie vor allem Werke zum Gegenstand hat, die im engen Sinne unzuverlässig erzählt sind, schließt der Sammelband auch Analysen solcher Werke ein, deren Unzuverlässigkeit fraglich ist.

Wer etwas über die formgeschichtliche Entwicklung des unzuverlässigen Erzählens und seine verschiedenartigen Ausprägungen in der Nachkriegsliteratur herausfinden möchte, der sollte Bescheid wissen über die Verwendung des Verfahrens in der Zeit davor. Diesen Band eröffnet darum ein Beitrag, in dem es um das Œuvre von Leo Perutz geht, das zwar nicht gänzlich, aber doch in beträchtlichem Ausmaß im Zeichen des unzuverlässigen Erzählens steht. Das Schicksal dieses Œuvres – das übrigens erst in der Nachkriegszeit vollendet wurde – ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich.

Erstens galten Perutz’ Romane den Zeitgenossen als zwar überaus lesens- und beachtenswerte Glanzlichter literarischen Raffinements, aber eben durch ihre Oberflächenthematik auch als Zeugnisse der Unterhaltungsliteratur mit kurzem literaturgeschichtlichem Haltbarkeitsdatum. (Dass das ein Fehlurteil war, davon zeugt die anhaltende Beschäftigung einer ganzen Riege von Literaturwissenschaftlern seit mehr als dreißig Jahren.) Aufschlussreich ist dieser Punkt, weil das unzuverlässige Erzählen zu Perutz’ Lebzeiten häufig gar nicht registriert wurde (den Begriff gab es ja auch noch gar nicht) und die Lektüre schnell als zwar vergnüglich und unterhaltend, aber eben nicht als literarisch, ästhetisch, epistemisch zu denken gebend empfunden wurde. Mit etwas Mut zu Verallgemeinerung kann man also sagen: Wie man am Werk von Leo Perutz beispielhaft sehen kann, gab es das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens zwar in der Zeit der ästhetischen Moderne, aber es war nicht die Eigenschaft, die von den Rezipienten thematisiert oder als Besonderheit wahrgenommen wurde. Das gilt auch für die weitaus berühmteren älteren Kollegen wie Thomas Mann oder Fedor Dostoevskij, der nach Nikolaj Gogol’ und Edgar Allen Poe sicherlich einer der wichtigsten Pioniere dieses Verfahrens war und dessen Wirkkraft auf die erst nach ihm einsetzende literarische Moderne sich u. a. auch gerade den zentrifugalen Kräften zwischen histoire und discours verdankt, wie sie im unzuverlässigen Erzählen entfesselt werden (in dem Sinne, dass das, was über die erzählte Welt gesagt wird, und das, was in der erzählten Welt der Fall ist, mehr und mehr auseinanderstreben, d. h. immer weniger übereinstimmen).

Zweitens scheinen einige Werkgruppen, die sich durch intensive Verwendung des unzuverlässigen Erzählens charakterisieren lassen, lange Zeit in die Nähe des trivialen oder naiven Erzählens gerückt worden zu sein. Neben Perutz und wiederum Dostoevskij, über dessen Nähe zur Trivialliteratur sich insbesondere Vladimir Nabokov lautstark geäußert hat, sind hier auch die fiktional-autobiographischen Romane von Ernst Weiß zu nennen, denen lange Zeit ein Erzählen attestiert wurde, das angeblich, verfahrensgeschichtlich gesehen, hinter seine Produktion der zehner und zwanziger Jahre zurückfällt und in dem Sinne als traditionell eingestuft wurde, dass es Verfahren des 19. Jahrhunderts reaktiviert (wobei hier gerade nicht die zukunftsträchtigen Verfahren Dostoevskijs die Folie bildeten).

Drittens publizierte zwar Perutz noch bis in die fünfziger Jahre, aber als Nachkriegsautor gilt er mit Recht ebenso wenig wie Thomas Mann. Im Gegensatz aber zu Mann hatte er kaum Wirkung in dieser Zeit. Nicht zuletzt deshalb widmen sich Thomas Mann gleich zwei Studien in diesem Band, denn er war eine wichtige Bezugsgröße für jene Autoren, die man mit dem Nachkriegsroman assoziiert. Wohl für die meisten derjenigen Autoren, die man landläufig mit deutschsprachiger Nachkriegsliteratur in Verbindung bringt, war zumindest Thomas Manns konsequente antifaschistische Haltung vorbildlich (zumindest nachträglich ein Vorbild, das für sie selbst unerreichbar war). Literarisch gesehen, wird Thomas Manns Werk jedoch einer älteren Etappe der literarischen Entwicklung zugeordnet, und wenn sich auch ein Nachkriegsroman wie Die Blechtrommel als Kontrafaktur sowohl auf den Doktor Faustus (als Milieuroman) als auch auf den Felix Krull (als Schelmenroman) beziehen lassen kann, so gibt es viele signifikante Unterschiede, die sich nicht nur individuell-autorbezogen, sondern auch historisch-epochenbezogen erklären lassen. Betrachtet man wiederum das unzuverlässige Erzählen, das bereits für Thomas Manns Frühwerk postuliert wurde (Larsson 2011), so drängt sich geradezu die Frage auf, ob darin nicht ein Verbindungsglied gesehen werden kann, das die Nachkriegsliteratur mit dem früheren Abschnitt der literarischen Evolution verbindet, immerhin wird gerade den beiden genannten Romanen immer wieder unzuverlässiges Erzählen attestiert. Diese Zuschreibung lässt sich aber infrage stellen. Einer der Beiträge liefert hierzu gute Gründe, während der andere Beitrag das unzuverlässige Erzählen im Doktor Faustus mit einem generischen Charakteristikum, nämlich dem der fiktionalen Biographie, in Verbindung bringt und es mit Vladimir Nabokovs kurz zuvor erschienenem, erstem auf Englisch verfassten Roman The Real Life of Sebastian Knight (1941) kontrastiert.

Die weiteren Beiträge wollen nicht nur als Fallanalysen zeigen, wie vielfältig – oder auch gar nicht so vielfältig – die Formen des unzuverlässigen Erzählens in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur sind; sie fragen auch danach, welche Funktionen mit dem unzuverlässigen Erzählen verbunden sind. Ist es ein bewusst eingesetztes Mittel, um bestimmte Wirkungen zu erzielen? Oder ist es hier und da vielleicht auch nur eine Art Epiphänomen, das gewissermaßen aus Versehen in die Texte gekommen ist? Was es damals sicher nicht war: ein konventionalisiertes Verfahren, das gang und gäbe war und wenig innovatives Potenzial hatte. Also, keine Konvention, sondern Innovation. Aber welche Bedeutung hatte es vor dem Hintergrund der verzögerten Modernisierung der deutschsprachigen Literatur? Hatte es nur eine marginale Bedeutung? Oder war es weiter verbreitet als vermutet?

Der Beitrag über Arno Schmidts Brand’s Haide wendet sich zunächst gegen die in der Schmidt-Forschung verbreitete Identifizierung von Erzähler und Autor, wofür gerade das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens als Argument dienen kann. Überdies wird zwischen drei verschiedenen Fällen differenziert, die für unzuverlässiges Erzählen infrage kommen. Lediglich der erste Fall ist aber tatsächlich unzuverlässig erzählt, weil der Erzähler etwas Falsches behauptet, während die beiden anderen Fälle anders zu beurteilen sind: Hier geht es um von Schmidt falsch wiedergegebene Dokumente, von denen aber niemand wissen konnte, dass die Angaben gefälscht sind.

Der Beitrag über Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane kommt zu dem Schluss, dass die Figur des Kommissars derart gestaltet ist, dass seine Darstellung vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Kriminalromans als unzuverlässig angesehen werden könnte, und plädiert damit für die Berücksichtigung von sich historisch verändernden Gattungskonventionen bei der Beurteilung von Unzuverlässigkeit. – Im nächsten Beitrag über Max Frischs Stiller wird die Unzuverlässigkeit des Erzählers auf Konsequenzen für die Fiktionstheorie hin befragt. Dass White in (der fiktiven) Wirklichkeit des Romans Stiller ist, aber das Gegenteil behauptet, mache es erforderlich, den interpretativen Status seiner Unwahrheiten von anderen unwahren Behauptungen über die erzählte Welt zu unterscheiden, denn Stillers Unwahrheiten hätten Anteil an der Bedeutung des Romans, während es auch für den Roman bedeutungslose Unwahrheiten gebe. Hier steht also nicht die Unzuverlässigkeit infrage, sondern es wird die These aufgestellt, dass unzuverlässig erzählte Passagen nicht einfach falsch sind, sondern sich trotzdem auf die erzählte Welt beziehen und eine bestimmte Geltung für sich beanspruchen können.

Die folgenden Beiträge über Uwe Johnsons Mutmassungen und Peter Weiss’ Gespräch der drei Gehenden befassen sich jeweils mit Texten, die zwar bestimmte Indikatoren für unzuverlässiges Erzählen aufweisen, aber doch nicht in ausreichender Weise, und daher nicht unzuverlässig erzählt sind. In Johnsons Mutmassungen gehe es, wie schon der Titel besagt, nicht um Behauptungen, sondern um Vermutungen, die als solche ihre eigene epistemische Unsicherheit ausstellen, und auch in Weiss’ Text seien die Widersprüche zwischen den Sprechern mangels Informationen nicht auflösbar, sodass keine fiktionsinterne Wahrheit angenommen werden könne. Dieser Text mit dem Untertitel Fragmente dokumentiert in besonders augenfälliger Weise den oben namhaft gemachten Unterschied zwischen die dargestellte Welt destabilisierenden Verfahren der Fragmentierung und Verfahren, die das Privileg der Erzählrede suspendieren. Auch in anderen Fällen lassen sich Bezüge zu dem Modell der vorliegenden Einleitung herstellen. Während Fragmentarizität und Widersprüchlichkeit den Text von Weiss stark denarrativieren, werden in Johnsons Text zusätzlich auffällige Perspektivierungsverfahren eingesetzt, die diesen Text eher in die Nähe des unzuverlässigen Erzählens bringen, diesen darauf aber nicht festlegen lassen. Der nächste Beitrag über Abwässer. Ein Gutachten des außerhalb der Schweiz wenig beachteten Autors Hugo Loetscher ist ebenfalls ein Beispiel für das heuristische Potenzial der Kategorie in dem Fall, in dem die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit zwar naheliegt, aber nicht zwingend ist.

Die Besonderheit der Unzuverlässigkeit des Erzählers in Anderschs Efraim besteht darin, dass er keinen rein fiktionsinternen Sachverhalt darstellt, sondern einen allgemeinen Sachverhalt als bestehend behauptet, von dem nicht von vornherein klar ist, ob er besteht oder nicht besteht: dass alles, was geschieht, Zufall sei. Die Interpretation des Romans ergibt jedoch, dass in der Romanwelt nicht alles als Zufall gelten soll, sondern dass es im Willen des einzelnen liegt, gewisse Dinge zu ändern. Diese Interpretation wird dann mit dem literaturhistorischen Aspekt in Verbindung gebracht, da sich bei Andersch eine deutliche Affinität zu Frisch erkennen lässt und gleichzeitig die auch im Roman thematisierte Opposition zum Nouveau Roman, für den andere Verfahren als Unzuverlässigkeit einschlägig sind (z. B. Fragmentarizitäts- und Absurditätsverfahren).

In den letzten beiden Beiträgen, die jeweils Werke der DDR-Literatur zum Gegenstand haben, von Günter de Bruyn und Fred Wander, geht es im ersten Fall um potenzielle axiologische Unzuverlässigkeit, also darum, dass die Werte des Erzählers, der ein verdeckt homodiegetischer Erzähler ist, von den Werknormen abweicht, während im anderen Fall die Verbindung von Unzuverlässigkeit und Holocaust- bzw. Zeugenliteratur problematisiert wird. Beide Beiträge machen, wie schon einige der vorhergehenden Untersuchungen, auf unterschiedliche Weise deutlich, dass das unzuverlässige Erzählen in vielen Texten ein Grenzphänomen ist, das sich nicht immer zwingend nachweisen lässt oder auch nur partiell realisiert ist und nicht auf einen Text in seiner Gesamtheit ausgreift. In allen Fällen aber beweist die Anwendung der Kategorie, dass sie geeignet ist, Texte mit unklarer narrativer Vermittlungsstruktur gewissermaßen aufzuschließen und Erklärungspotenzial zu entfalten, und zwar nicht nur dann, wenn sich ein Text am Schluss als eindeutig unzuverlässig erzählt erweist, sondern eben auch dann, wenn er nicht oder nur ansatzweise unzuverlässig erzählt ist.

3 Literarizität

Nach diesem Überblick kommen wir zu unserer abschließenden These. Nach der Hochphase des Strukturalismus hat sich in der Literaturwissenschaft die Ansicht durchgesetzt, dass es keine spezifisch literarischen Verfahren gebe. Literarizität sei folglich keine Texteigenschaft, wie der Strukturalismus meinte, sondern eine kommunikative Institution. Der Kontext bestimme, ob ein Text als literarischer wahrgenommen werde. Auch wenn der Kontext allein nur in bestimmten Fällen der entscheidende Faktor ist (etwa bei Peter Handkes einschlägigem ready made-Text „Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.01.1968“), scheint es doch keine notwendigen oder hinreichenden Bedingungen zu geben, die einen Text als literarischen ausweisen. Aussagekräftige (d. h. sie von anderen sprachlichen Phänomenen unterscheidende) notwendige Bedingungen gibt es schon allein deshalb nicht, weil literarische Texte zu heterogen sind, als dass sie eine gemeinsame Eigenschaft besäßen. Aber es scheint auch keine hinreichenden Bedingungen zu geben, denn vermeintlich spezifische Eigenschaften wie Gebundenheit der Rede durch Metrik und Reim, Allegorie, Alliteration usw. tauchen auch in nicht-literarischer Rede auf. Selbst das Verfahren der erlebten Rede, das eine Zeitlang von einigen Theoretikern als hinreichend für wenigstens eine Form literarischer Rede gehalten wurde, kommt nicht selten in nicht-literarischer Rede vor.Footnote 10

Unsere abschließende These lautet nun vor diesem Hintergrund, dass das unzuverlässige Erzählen ein Verfahren ist, das genau diese Anforderung erfüllt. Es ist eine Eigenschaft, die natürlich alles andere als notwendig für literarische Rede ist, aber hinreichend, um einen Text als eine Form literarischer Rede auszuweisen.

Um dies zu widerlegen, muss man sich einen nicht-literarischen Kontext ausdenken, in dem jemand unzuverlässig erzählt. Unserer Meinung nach kann es einen solchen Kontext nicht geben, weil außerhalb der Institution Literatur ein Redeverfahren, das das unzuverlässige Erzählen in Alltagsrede transponiert, unweigerlich entweder als Ironie verstanden wird oder, wenn die doppelte Botschaft erst nachträglich erkannt wird, als Verstellung bzw. Täuschung.

Solche weitreichenden Thesen sind mit guten Gründen etwas aus der Mode gekommen – zu oft haben sich solche Bedingungen als unzutreffende Verallgemeinerungen erwiesen. Es mag auch diesbezüglich jemandem noch ein Gegenbeispiel einfallen. Allerdings: Solche Gegenbeispiele liegen nicht auf der Hand. Selbst wenn man sich seine Skepsis gegenüber dieser hinreichenden Bedingung für Literarizität aus Vorsicht bewahren möchte, wird man zugeben müssen, dass unzuverlässiges Erzählen ein hochkomplexes, voraussetzungsreiches Verfahren ist, das zumindest vornehmlich in literarischer Rede eingesetzt wird. Diese Überlegung wiederum kann als Erklärung für die anhaltende Konjunktur dienen, die das unzuverlässige Erzählen in Literatur und Literaturwissenschaft hat. Diese Konjunktur bringt mit sich, dass das Verfahren seinen innovativen Wert zu verlieren beginnt und sich in Sparten wie der Kinder- und Jugendbuchliteratur etabliert.Footnote 11 Das zeigt, dass das Verfahren inzwischen nicht mehr so fremd ist wie in der Nachkriegszeit, als die Missachtung dieses Verfahrens durch die Kritiker teilweise zu eklatanten Fehlinterpretationen führte. Dies darf man auch als Fingerzeig verstehen, dass Literaturwissenschaft es tatsächlich vermag, Erkenntnisfortschritte zu erzielen, die gerade im Epochenvergleich sehr deutlich werden.

4 Abschließende Anmerkungen

Die vorliegenden Aufsätze gehen zurück auf die Tagung „Unzuverlässiges Erzählen – Deutschsprachige Nachkriegsliteratur“, die vom 7. bis zum 9. Juni 2018 an der Universität Fribourg ebenfalls im Rahmen des vom SNF geförderten Projekts „Literaturgeschichte, Interpretationstheorie und Narratologie. Über ihr Zusammenwirken am Beispiel des unzuverlässigen Erzählens im deutschsprachigen Nachkriegsroman“ stattfand.Footnote 12

Zur Vorbereitung der Tagung erhielten die Teilnehmer eine detaillierte Untersuchung von Alfred Anderschs Roman Efraim mit einer Skizze der Theorie, die im Rahmen des Projekts auf der Basis von Tom Kindts Vorarbeiten entwickelt wurde. Wir haben uns entschieden, die theoretischen Ausführungen in der Projektmonographie unterzubringen, sodass die Stellennachweise, die in einigen Beiträgen mit Bezug auf Inhalte dieses Papiers vorgenommen werden, dort nachgeprüft werden können. Sie beziehen sich jetzt auf das erste Kapitel dieser Monographie. Der hier veröffentlichte Beitrag über Efraim von Matthias Aumüller fasst in einem Abschnitt die Ergebnisse der ausführlichen Romananalyse zusammen, die in einem weiteren Kapitel der Monographie präsentiert werden, und enthält in den beiden anderen Abschnitten weitergehende Ausführungen zur literaturhistorischen Tradition, in die sich Andersch mit Efraim stellt, und zu den Funktionen, die das unzuverlässige Erzählen in dem Roman hat.