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Urbane Gauner-Folklore und Ethno-Verbrecher

Hans Gross und die Wiener Kriminal-Literatur

  • Chapter
Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹
  • 63 Accesses

Zusammenfassung

Am 24. November 1904 erschien das „Illustrirte Wiener Extrablatt“ mit dem Aufmacher „Hotel Wienfluß. Die Geheimnisse des unterirdischen Wien“.1 Es traf sich, dass wenige Tage zuvor ein Mann verhaftet worden war, der am geschäftigen Karlsplatz einem Passanten den Rock vom Leib gerissen hatte und, nachdem er mit einem Sperrhaken den Einstiegsschacht zu den Sammelkanälen geöffnet hatte, spurlos untergetaucht war. Der Polizist, der den Räuber ein paar Tage danach auf der Straße erkannte, ihm in die Kanäle folgte und festnahm, wollte dort ein „vollständiges Nachtlager mit Strohsack und Decken“ aufgestöbert haben.2 Das war keine ganz neue Entdeckung. Bereits 2 Jahre zuvor hatte der Redakteur der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“ Max Winter, angeregt durch die Meldung einer Lokalnachrichten-Agentur über nächtliche Polizeistreifen in den Wiener Kanälen, über die Obdachlosen geschrieben.3 Die Stadtverwaltung hatte deren Existenz soweit akzeptiert, dass sie nicht mehr gegen das illegale Abzapfen von Strom durch die Bewohner der „versunkenen Stadt“ vorging und die regelmäßigen Spülungen der Kanäle mit Plakaten ankündigte, um Unfälle zu vermeiden. Soweit hatte man sich bereits an die „zweite Stadt […], in welcher nur die Häuser fehlen“ gewöhnt.4 Der Artikel im „Illustrirten Wiener Extrablatt“ vom 24. November schlug allerdings ein neues Kapitel auf: zum einen wurde darin die Existenz von Dieben, Diebsquartieren und „Platten“ (Gangs) narrativ erweitert und journalistisch ausgeschmückt, zum anderen stiftete sein Autor, wie wir noch sehen werden, einen neuen kulturellen Kontext für den Diskurs über die Großstadt, das Elend und das Verbrechen. Die Imagination eines „unterirdischen“ Wiens der Kanäle, in denen der Abfall der Stadt5 mit ihrem sozialen Abschaum zusammenkam, die Repräsentation eines gesichtslosen und nicht fassbaren a-sozialen Milieus selbst unterhalb der Plätze städtischer Hochkultur und bürgerlichen Vergnügens sicherte den Autoren einer für Wien neuartigen realistischen Großstadtliteratur ein breites bürgerliches Publikum.

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Notizen

  1. Vgl. Illustrirtes Wiener Extrablatt, 24.11.1904.

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  2. Vgl. Illustrirtes Wiener Extrablatt, 21.11.1904.

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  3. Arbeiter-Zeitung, 7.12.1902, 10.12.1902.

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  4. Vgl. Illustrirtes Wiener Extrablatt, 24.11.1904.

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  5. Zum Bau der mythenstiftenden Wiener Sammelkanäle (1893/98) vgl. Sylvia Matd Wurm, Die Assanierung Wiens, in: Museen der Stadt Wien (Hrsg.), Das Bad. Körperkultur und Hygiene im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1992, S.56ff.

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  6. Emil Kläger, Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein Wanderbuch aus dem Jenseits, Wien 1908; Michael Mauracher, Bildfolgen und Serien. Zur Geschichte der Dokumentarfotografie in Österreich, Bd.1, Bad Ischl 1983, S.327; Christian Brandstätter, Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Anmerkungen zum Werk des Wiener Amateurfotografen Hermann Drawe, in: Fotogeschichte 2.6 (1982), S.23ff.

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  7. Vgl. auch den Beitrag von Klaus Müller-Richter in diesem Band und die dort angegebene Sekundärliteratur.

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  8. Bis 1900 blockierten Verbreitungsverbote, Steuergesetze und Zensurpraktiken die Entwicklung einer Massenpresse in der Habsburgermonarchie. Die Aufhebung des sogenannten „Zeitungsstempels“ 1900 führte dann zur raschen Ausbreitung des „Boulevards“, wobei die „Österreichische Kronen-Zeitung“ (Kleinformat, mit Bild-Cover, Fortsetzungsroman, Gewinnspielen und Kriminalgeschichten) die Vorreiterrolle übernahm (1906: Auflage 100.000, 1912: 200.000) Vgl. Hans Dichand, Kronen-Zeitung. Die Geschichte eines Erfolges, Wien 1977, S.12ff; Peter Pelinka / Manfred Scheuch, 100 Jahre AZ, Wien 1989, S.45f.

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  9. Vgl. Großstädtische Charakterbilder I. Wien und die Wiener, Berlin 1892. Der hier und in der sogenannten „Alt-Wien“-Literatur dominante Horizont einer Aufbruchsstimmung zur „Weltstadt“ wich um 1900 einem generellen Krisengefühl

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  10. Vanessa R. Schwartz, Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley / Los Angeles / London 1999, S.44.

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  11. O.E., Die Verbrecherwelt von Berlin, Berlin/Leipzig 1886; Der unter dem Pseudonym 0(mégha) E(pßilon) schreibende Autor zählt die spekulative Ökonomie der Berliner Mietskasernen, die Verführung durch Schaufenster und Konsumartikel, die Existenz von Schnapskneipen, die sexuelle Verwahrlosung der subproletarischen Kinder u.a. zu den Entstehungsursachen des gewerbsmäßigen Verbrechens. Er hält lokalisierend für Berlin allerdings Gewaltverbrechen für untypisch.

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  12. Vgl. Deborah L. Parsons, Streetwalking the Metropolis. Women, the City and Modernity, Oxford 2000, insb. S.19ff. zur Großstadtliteratur des 19. Jahrhunderts: Frauen, die sich im öffentlichen Raum bewegen, sind zumeist marginalisierte oder von der bürgerlichen Norm abweichende Typen: die Lumpensammlerin, die Prostituierte, die Lesbierin; vgl. auch Elizabeth Wilson, The Sphinx in the City. Urban Life, the Control of Disorder, and Women, Berkeley 1992, insbes. S.26ff.

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  13. Vor allem das Rotwelsch stellte (zumindest im deutschsprachigen Raum) für die Kriminalisten eine „dichte“ Kategorie dar, die ihnen, gestützt auf historische Legenden wie jene von den jüdischen Räuberbanden im Vormärz, zur Ethnifizierung des Verbrechens — Juden und „Zigeuner“ — diente. Hier sei wegen seiner bemerkenswerten Kombinationen nochmals O.E., Verbrecherwelt, zitiert, der in der Berliner Verbrecherwelt die Nachkommenschaft posnischer und russischer jüdischer Migranten erblickt, die sich in der Sprache objektiviert habe. Vgl. ebenda, S.88ff.

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  14. Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München 1998, S. 624.

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  15. Vgl. Rolf Lindner (Hrsg.), „Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land“. Die Setdementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997; zur „Entdeckung“ des Londoner East Ends als das „wilde“ andere des viktoria-nischen Londons vgl. auch Stephen Inwood, A History of London, London 2000, S.497; auch Inwood macht auf die ideologische Ethnifizierung (bereits im späten 18. Jahrhundert) der „schlechten“ Viertel — als Territorium irischer Zuwanderer — aufmerksam, ebda, S.522ff.

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  16. Vgl. David Lufts Interpretation der Figur des Mörder Moosbrugger in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften als quasi negative Utopie eines Bürgertums, das sich durch Intellektualisierung der Kraft zur „Unmittelbarkeit“ und zum Handeln beraubt fühlt; David S. Luft, Robert Musil and the Crisis of European Culture 1880–1942, Berkeley / Los Angeles / London 1984, S.237.

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  17. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür bietet Ernst Engelbrecht, In den Spuren des Verbrechertums. Ein Streifzug durch das großstädtische Verbrechertum und seine Schlupfwinkel, Berlin o.J. (um 1930), S.158ff.; Engelbrecht versucht darin, gleichsam eine lokale Fauna des Verbrechens in Städten wie Berlin, Budapest, Brüssel, Marseille, ja selbst noch Tripolis zu beschreiben.

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  18. Vgl. Robert E. Parks / Ernest W. Burgess, The City. Suggestions for Investigation of Human Behavior in the Urban Environment [1925], Chicago 1984.

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  19. Vgl. Wolfgang Wehner, Schach dem Verbrechen. Geschichte der Kriminalistik, Köln 1963, S.187.

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  20. William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Graz 1974, S.107. Johnston betont vor allem die Zentralisierungs- und Formalisierungsaspekte, die dem Staat die vollständige Kontrolle über die diversen Verfahrensstadien, einschließlich der gerichtlichen Beweisverfahren bringen sollte.

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  21. Der „Encyclopädie“ geht es — so wie der modernen Kriminalistik generell — nicht um Exaltation und Spektakel, sondern um die Versachlichung des Verbrechens. In Anlehnung daran konnte der Essayist Emil Bader in den „Grossstadt-Dokumenten“ über „Wiener Verbrecher“ schreiben: „Aufsehen erregende Morde, geniale Betrügereien, kühne Einbruchsdiebstähle interessieren vielleicht eine Zeitlang die Öffentlichkeit und regen sie auf. Weit wirksamer aber in ihrer stillen, andauernden Tätigkeit, weit schädlicher für die Allgemeinheit sind die kleinen Übeltäter, von denen fast niemals öffentlich die Rede ist, an die der Bürger, wenn er nicht zufällig selbst der Beschädigte ist, gar nicht denkt und die doch Schaden auf Schaden häufen, bis zu einer Gesamtsumme, von deren Höhe man sich nichts träumen ließe.“ Bader, Wiener Verbrecher, S.5.

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  22. Im Kontext symbolisieren die so genannten „Zigeuner“ die anti-gesellschaftliche, mithin die primitive Natur des Verbrechens. Die Deliktgruppen selbst wiederum werden in der „Encyclopädie“ — im Gegensatz zu den von der Art und der Schwere des Deliktes und dem normativen Strafrahmen strukturierten juridischen Handbüchern — schon von der Form her enthierarchisiert und im alphanumerischen Code quasi egalisiert, ebenso wie sie ihrer kulturellen Dimension — d.h. der Frage nach möglichen Divergenzen zwischen kollektiv-moralischem und juridisch-institutionellem Verbrechens- und Strafbewusstsein — entkleidet werden. Eben dadurch wird es möglich, die Deliktgruppen, die den „Zigeunern“ zugerechnet werden — das sind charakteristischerweise Eigentumsdelikte ohne Gewaltanwendung — mit den zeitgenössischen hochtechnologischen Methoden der Tatorterhebung und Täterausforschung assoziativ zu verknüpfen und die Vorstellung eines exogenen kriminellen Universums zu erzeugen, das mit der Lebensweise dieser Gruppe verbunden ist

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  23. Dies reicht hin bis zu dehumanisierenden Beschreibungen, z.B. eines unterstellten charakteristischen Körpergeruchs; vgl. Hanns Gross, Encyclopädie der Kriminalistik, Leipzig 1901, S.32.

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  24. Vgl. Encyclopedia of Cultural Anthropology, 4.Bde, New York 1996, S.1029 („Primitivism“) und S.254 („Crime“).

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  25. Ich nehme diesen Begriff auf von Udo Enbring-Romang, Die Verfolgung der Sind und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, Frankfurt a.M. 2001, S.25f; „Antiziganismus“ bezeichnet das vorerst xenophobe, im 19. Jahrhundert rassistisch gewendete Ressentiment gegen wandernde ethnische Gruppen wie die Sinti und Roma. Im Gegensatz zum pejorativen Begriff „Zigeuner“, der eine wie immer geartete Homogenität unterstellt und der von den Sinti und Roma als Fremdbezeichnung abgelehnt wird, bezeichnet „Antiziganismus“ dessen phantasmatischen und exkludie-renden Charakter.

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  26. So in der Novelle Victor von Strauß, Mitteilungen aus den Akten betreffend den Zigeuner Tuvia Panti aus Ungarn / und Anderes, Wien 1912, insbes. S.46f.

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  27. Michael von Kogalnitschau, Skizze einer Geschichte der Zigeuner, ihrer Sitten und ihrer Sprache nebst einem kleinen Wörterbuch dieser Sprache, Stuttgart 1840, insb. S.30ff.

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  28. Als ein gewichtiges Beispiel vgl. Strauß, Mitteilungen; die Novelle um einen „Zigeuner“ und Geigenspieler, der als Waisenkind verkauft und von reichen Kaufmannsleuten adoptiert wird, sich aber nur äußere Bildung aneignen kann und, ausgelöst durch eine unglücklich verlaufende Liebesangelegenheit, wieder zur „Natur“ und dem Leben in „Freiheit“ außerhalb der Zivilisation zurückkehrt, basiert auf einer slawonischen Erzählung. Sie erschien erstmals in den 1860er Jahren in der Familienzeitschrift „Daheim“ im Klasingschen Verlag (Bielefeld).

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  29. Zu den „neuen“ Delikten, die man den „Zigeunerbanden“ nachsagte, gehörte die Kindesentführung; die entführten Kinder, so die Gerüchte, wurden mit brutalen Methoden als Äquilibristen trainiert Vgl. S. J. Maurer, Die Zigeunerbanden als Kinder-Räuber, Berlin o.J. (um 1870); zur zunehmenden Repression nach der deutschen Reichsgründung vgl. Enbring-Romang, Die Verfolgung der Sinti und Roma S.50f.

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  30. Vgl. Franz Aichelburg-Labia, Verwaltungspolizeiliche Vorschriften. Eine Sammlung der Gesetze und Verordnungen über Arbeitsscheue und Landstreicher, Zwangsarbeitsanstalten, Schüblinge (auszuweisende Fremde), Zigeunerunwesen, Naturalverpflegestationen, Paß- und Meldewesen, Linz 1904, S.103ff.

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  31. Kogalnitschau, Geschichte der Zigeuner, S.37.

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  32. Helmut Reinicke, Gaunerwirtschaft. Die erstaunlichen Abenteuer hebräischer Spitzbuben in Deutschland, Berlin 1983.

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  33. Vgl. Oméga Epßilon, Verbrecherwelt.

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  34. Wolfgang Maderthaner / Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt Das andere Wien um 1900, Frankfurt/New York 1999, S.70ff.

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  35. Margarethe Szeless verdanken wir den interessanten Verweis von Drawes Fotografie zurück zu den Porträtfotos „Wiener Typen“ von Otto Schmidt aus 1873. Diese Porträts (Wiener Handwerker und Straßenhändler) stehen für Szeless in unmittelbarem Bezug zur Produktion Wiener Klischees im Gefolge der Vermarktung der Wiener Weltausstellung 1873.

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  36. Zahlreiche dieser angeblich lokalen Typen werden bezeichnenderweise zwei Jahrzehnte zuvor bei Omega Epßilon als „Berliner“ Typen identifiziert; als „Schotten-feiler“ bezeichnete man in Rotwelsch Warenhausdiebe, „Morgengänger“ bedienten sich an den zeitigen Hauszustellungen der Milchmänner und Fleischhauer, ehe die Stadt erwachte.

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  37. Aufgrund der komplizierten gesetzlichen Bestimmungen konnten die nach Wien zugewanderten Juden aus der ungarischen Reichshälfte nur in Ausnahmefällen die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben, blieben also „Ausländer“; ähnlich waren die Roma durch ihre traditionellen Aufenthaltsgebiete in der ungarischen Reichshälfte definiert.

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  38. Die „Grossstadt-Dokumente“ in 16 Bänden repräsentieren Berlin und Wien in ihren „dunklen Seiten“ („Berliner Tanzlokale“ von Hans Ostwald, „Berlins Drittes Geschlecht“ von Magnus Hirschfeld, „Das goldene Wiener Herz“ von Max Winter u.a.), das heißt die „Großstadtreportage“ hat sich zwischen 1900 und 1914 als eigenständiges Genre fest etabliert

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  39. Bader, Wiener Verbrecher, S.7f; unter dem Einfluss det Wissenschaft wandelt sich um 1900 das Verbrechen vom öffentlichen Theater zum statistischen Ereignis, in dessen Rahmen nicht mehr der geheimnisvolle Mörder interessant ist, sondern der soziologische bzw. anthropologische Typus. So wollte man auch in den Reformdebatten zwischen habituellen Vagabunden (notorischen Verbrechern) und (korrigierbarer) Notkriminalität unterschieden wissen. Die Kriminalistik lässt sich daher als eine kulturelle Strategie interpretieren, die dem Verbrechen seinen Mythos und damit die Faszination nimmt, um es als mit Routineoperationen kontrollierbares Restrisiko in der modernen Gesellschaft zu definieren. Texte wie die „Encyclopädie“ hatten die Aufgabe, dieses Wissen zu distribuieren. Durch seine Aufnahme in die Journalistik und die Literatur wurde es auch popularisiert Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1981; Hans Ostwald, Landstreicher, Leipzig o.J.; zur Herausbildung des internationalen Syndroms der Großstadtfurcht vor Vagabunden, Bettlern und Verbrechern rund um 1900 vgl. Joachim Schlör, Nachts in der großen Stadt Paris, Berlin, London 1840 bis 1930, München 1994, S.133ff; Josef Schöffel, Die Institution der Natural-Verpflegs-Stationen, der Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten und ihre Einwirkung auf die Eindämmung des Landstreicher- und Bettelunwesens in Niederösterreich, Wien 1900, S.17ff.

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  40. Max Winter, Im Unterirdischen Wien, Berlin / Leipzig 1905; „wamsen“ = lügen; „zünden“ = verraten; „Platt’n“ = eine Gruppe von im Freien Nächtigenden, vgl. S.17f.

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  41. „Moosbrugger“ unterstreicht hinreichend die stimulierenden Effekte des Verbrechens für die Formierung großstädtischer Kollektivität; siehe Luft, Robert Musil: „The trial fascinates the civilized people of Vienna. Like a sporting event or a war. Moosbrugger binds all these people through the newspaper, touching them more direcdy than their neighbors do. He expresses the yearning for the unconscious and the primitive in civilized people, who, if they could dream collectively, would dream Moosbrugger.“

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  42. Winter, Unterirdisches Wien, S.70.

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  43. Bettauer verteilt die Zitate detektivischen Vorgehens auf mehrere Perspektiven (Alibi- und Tatkonstruktion des Täters, ermittelnder Journalist, rekonstruierender Polizeidetektiv).

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  44. Eine der raren Verteidigungsschriften, die die progressive Rolle der „Zigeuner“ in der Revolution 1848/49 betont, bietet Friedrich Wilhelm Brehpohl, Zwei Beiträge zur Zigeunerkunde in Südosteuropa, Seegefeld 1910; demgegenüber schrieben Radbruch und Gwinner noch 1951 (!) von kriminellen „Rasseeigenschaften“ der „kindlichsten Menschen Europas“; vgl. Gustav Radbruch / Heinrich Gwinner, Geschichte des Verbrechens. Versuch einer historischen Kriminologie, Stuttgart 1951, S.165ff.

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  45. Gross, Handbuch, S.445.

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  46. Noch ein weiteres Motiv der „Encyclopädie“ verbindet sie mit der Großstadt Wenn Gross sich mit der Zeugenschaft befasst, die einen wichtigen Teil des kriminologischen Verfahrens ausmacht, so gibt er als verlässliche Auskunftspersonen, die er auch sozial hinreichend definiert, ausschließlich großstädtische literarische „Typen“ an. Es sind dies Mietkutscher, Eckensteher, Dienstmänner und Prostituierte. Die marginalisierten Menschen der Großstadt fungieren hier als Boten zwischen Unterwelt und Ordnungsmacht Was sie hierfür meines Erachtens auszeichnet, ist ihre soziale und topografische Mobilität und ihr berufsbedingter Umgang mit Fremden — Eigenschaften, die sie nicht nur von anderen Mitgliedern der städtischen Unterschichten unterscheiden, sondern ein Habitus der außerhalb der Großstadt überhaupt nicht existieren könnte.

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  47. Stierle bezieht sich auf E.A. Poes Kurzgeschichte „The Murders in the Rue Morgue“, in der der Privatmann C. Auguste Dupin rein aufgrund von Indizien, die er aus den Zeitungsberichten gewinnt, einen Orang-Utan als Mörder entlarvt.

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  48. Stierle, Mythos von Paris, S.617ff.

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  49. Vgl. in einem ähnlichen (wenngleich medientechnologisch avancierterem) Sinne die Ausfühtungen Sara Halls zur polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit im Berlin der Weimarer Republik; Sara Hall, Caught in the Act: Visualizing a Crime-Free Capital, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12, 1 (2001), S.30ff.

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  50. Vgl. U. Tartaruga, Der verhexte Schrank und andere ernste und heitere Skizzen aus dem Tagebuch eines Großstadtpolizisten, Wien / Leipzig 1920.

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  51. Vgl. Arbeiter-Zeitung, 7.12.1902; Max Winter suggeriert hier, dass die Wiener Polizei, die schon längere Zeit erfolglose Streifungen in den Kanälen vorgenommen hatte, über einen Lokalkorrespondenten öffentliche Aufmerksamkeit erregen wollte, um die Bewohner der Kanäle zu beunruhigen und zu vertreiben.

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  52. Verbrechensberichte stellten nach den Heirats- und Todesanzeigen den hauptsächlichen Anreiz zum Kauf einer Zeitung dar, sie waren sozusagen Hauptbestandteil großstädtischer Unterhaltung und Kommunikation. Die Zeitungen tendierten deshalb zu eindrucksvollen Schauergeschichten, in deren Mittelpunkt oftmals die sadistische und exaltierte Beschreibung der Tat selbst stand. Im Kriminalbericht tauchten damit Leidenschaft und Triebhaftigkeit auf, Verhaltensweisen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft verbannt waren, die sich aber im modernen Mythos vom Verbrecher zurückmeldeten. vgl. als Beispiel den „Frauenmörder“ (von 1883) Hugo Schenk, dem noch 1925 eine Monografie gewidmet wurde; Ludwig Altmann, Hugo Schenk und seine Genossen, Wien / Leipzig / München 1925.

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  53. Dutch die systematische Kooperation mit der Presse wurden die Journalisten selbst zu Detektiven, wie eine Anekdote aus der Geschichte des Wiener Sicherheitsbüros besonders eindrücklich vermittelt, als 1909 die traditionell im „Cafe Auto“ nahe dem Sicherheitsbüro tagenden Wiener Kriminalreporter aufgrund von Indizien einen Fall von Giftmord in der Armee lösten. Man muss zum Stellenwert dieser Affäre hinzufügen, dass der Thronfolger Franz Ferdinand sich in die polizeilichen Ermittlungen eingeschaltet hatte und mit abstrusen Theorien über die Täterschaft eines jüdischen Arztes die polizeilichen Ermittlungen blockierte. Vgl. Emil Bader, Aus der Werkstätte der Kriminalisten, Wien 1925, S.82ff.

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  54. Hanns Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik, München 1908, S.323.

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  55. Emst Engelbrecht, ein ehemaliger hoher Funktionär der Berliner Polizei und danach Gründer eines privaten Sicherheitsdienstes, übernimmt in seinem Buch über großstädtische Verbrecherviertel diese Positionierung Wiens vollständig; das Fehlen spezifischer Orte des Verbrechens (und seine überwiegend „sanfte“ Art) machten den Wiener Unterschied aus; vgl. Ernst Engelbrecht, In den Spuren des Verbrechertums. Ein Streifzug durch das großstädtische Verbrechertum und seine Schlupfwinkel, Berlin o.J. (um 1930), S.158ff.

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  56. Kläger, Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens, S.2.

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Mattl, S. (2004). Urbane Gauner-Folklore und Ethno-Verbrecher. In: Kopp, K., Müller-Richter, K. (eds) Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02937-9_7

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