Zusammenfassung
Wie alle Geisteswissenschaften will auch die Geschichtswissenschaft vornehmlich der Wissenschaft dienen. Sie will kontrolliertes, nachprüfbares, falsifizierbares Wissen erzeugen, insbesondere durch das Auffinden und Auswerten neuer Quellen und durch die kritische Reflexion über die bereits bekannten Quellen und deren frühere Auswertung. Die Historiker sind sich dabei des Aspekt-Charakters der Forschung, ihrer Perspektivität, sozialen und politischen Gebundenheit (mehr oder weniger) bewußt. Sie wissen heutzutage gemeinhin, daß es in ihrer Wissenschaft Objektivität nur in Form intersubjektiver Überprüfbarkeit der Forschungsergebnisse geben kann. Sie haben gleichwohl die Absicht, wahr zu sprechen und zu schreiben; zum Fortschritt des historischen Wissens beizutragen. Darüber hinaus wollen sie »gelesen« werden; sie sprechen zu einem vorab mehr oder weniger klar definierten Publikum. Im Medium der Wissenschaft sind das in erster Linie die Fachkollegen und Studierenden, die demselben wissenschaftlichen Ethos, derselben Regelhaftigkeit unterworfen sind. Aber es gibt noch ein anderes Publikum als die Mit-Wissenschaftler, an das sich der Historiker wendet. Dieses Publikum der historisch Interessierten variiert je nach Zeit und Ort, aber es hat das Gemeinsame, daß es die historische Wissenschaft als Medium sozialer, politischer Erwartungen, Befürchtungen usw. ansieht. Solche Medialität kann unter Umständen äußerst zerklüftet sein, je nach den bestehenden gesamtgesellschaftlichen »Versäulungen«.
Ich danke Christoph Cornelißen, Thomas Beckers, Thomas Gerhards und Patrick Krassnitzer für hilfreiche Hinweise und Kritik.
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Notizen
Vgl. Franz Mehring: Historische Aufsätze zur preußisch-deutschen Geschichte. Berlin 1946; Ders.: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 2 Bde. Berlin 1919 u.ö. Auch Friedrich Engels Schriften historischen Inhalts galten im sozialdemokratischen Milieu als kanonisch. Vgl. August Bebel: Aus meinem Leben. 3 Bde. Stuttgart, Berlin 1910–1914, sowie Dieter Groh/Peter Brandt: »Vaterlandslose Gesellen«. Sozialdemokratie und Nation. München 1992, bes. Kap. 5.
Jean Jaurès: Histoire socialiste de la Révolution Française. 8 Bde. Paris 1922–1927. Vgl. auch: Jaurès. Historien de la Révolution Française. Hg. vom Centre National et Musée Jean Jaurès. o.O. 1989. Einer historischen Selbstvergewisserung des Sozialismus durch Sozialisten ist auch das von Jaurès verantwortete zehnbändige Werk Histoire Socialiste (1789–1900), Paris 1902–1908, verpflichtet.
Vgl. Alice Gérard: La Révolution Française, mythes et interprétations (1789–1970). Paris 1981 und Christian Amalvi: Le 14-Juillet. Du Dies irae à Jour de fête. In: Pierre Nora (Hg): Les lieux de mémoire. Bd. I.: La République. Paris 1984, S. 421–472.
Vgl. Actes du Colloque »Jaurès et la nation«. Org. par la Faculté des lettres de Toulouse et la Société d’études jauresiennes. Toulouse 1965.
Jean Jaurès: La guerre Franco-Allemande (1870–1871). Paris 1908.
Zur deutsch-französischen Historiographie vgl. allgemein: Beate Gödde-Baumanns: Deutsche Geschichte in französischer Sicht. Wiesbaden 1971; Heinz-Otto Sieburg: Deutschland und Frankreich in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. 2 Bde. Wiesbaden 1954 und Frantisek Graus: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln, Wien, 1975. Eine Geschichte der Nationalgeschichtsschreibung Deutschlands bleibt ein Desiderat, vgl. hierzu Ernst Schulin: Hermann Heimpel und die deutsche Nationalgeschichtsschreibung. München 1998, S. 16.
Wolfgang Hardtwig (Hg.): Über das Studium der Geschichte. München 1990, S. 83.
Zitiert nach: ebd.
Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. von Rudolf Hübner. 5. Aufl. Darmstadt 1965, § 9.
Ebd.
Vgl. Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft. Stuttgart 1988.
Hier zitiert nach: Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, S. 45.
Leopold von Ranke: Frankreich und Deutschland. In: Ders.: Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im 19. Jahrhundert. Leipzig 1887, S. 61–76, hier S. 72f.
Ebd.
Vgl. hierzu insgesamt: Wolfgang J. Mommsen: Geschichtsschreibung im Deutschen Kaiserreich. In: Arnold Esch/Jens Petersen (Hg.): Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Kultur Italiens und Deutschlands. Tübingen 1989, S. 70–107.
Zitiert nach: ebd., S. 81.
Wilhelm Giesebrecht: Geschichte der deutschen Kaiserzeit. 6 Bde. Braunschweig 1855–1895. Neuaufl.: Dreibändige Volksausgabe. Meersburg 1929.
Hermann Heimpel: Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 189 (1959), S. 139–222, hier S. 172f.
Hier zitiert nach: Sieburg, Deutschland und Frankreich, Bd. II, S. 202.
Wilhelm Giesebrecht: Die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift 1 (1859), S. 1–17.
Vgl. Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt/M. 1993.
Zitiert nach: ebd., S. 13.
Vgl. Eric Fauquet: Michelet. Paris 1990. Zu Michelets Deutschlandreisen vgl. auch Wilhelm Alff: Michelets Ideen. Genf, Paris 1966.
Vgl. Gabriel Monod: Du progrès des études historiques en France depuis le XVIe siècle. In: Revue Historique 1 (1876), S. 5 ff. Vgl. auch: Ders.: Georges Waitz et le séminaire historique de Goettingue. In: Ders.: Portraits et souvenirs. Paris 1897, S. 99–115. Über die »Transfers« vgl. insgesamt: Christophe Charle: L’élite universitaire française et le système universitaire allemand. In: Michel Espagne/Michael Werner (Hg.): Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand, (XVIIIe et XIXe siècle). Paris 1988, S. 345–357.
Vgl. hierzu allgemein: Gerd Krumeich: Jeanne d’Arc in der Geschichte. Historiographie — Kultur — Politik. Sigmaringen 1989, Kap. 3.
Vgl. das Verzeichnis der Lehrveranstaltungen von Michelet in der von Fauquet hergestellten Bio-Bibliographie von Michelet: Fauquet, Michelet, S. 439–453.
Vgl. hierzu insbes. Gödde-Baumanns, Deutsche Geschichte in französischer Sicht, S. 229–271 und Claude Digeon: La crise allemande de la pensée française 1871–1914. Paris 1955.
Ernest Lavisse: Histoire de France depuis les origines jusqu’à la Révolution. 9 Bde. in 18 Tbdn. Paris 1900–1911. Vgl. zu Lavisse: Pierre Nora: L’Histoire de France de Lavisse. In: Ders. (Hg.): Les lieux de mémoire. Bd. II. 1: La Nation. Paris 1986, S. 317–375; Robert Minder: Skizzen zum französischen Unterrichtswesen und Geschichtsbild im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bernd Hüppauf/Dolf Sternberger (Hg.): Über Literatur und Geschichte. Festschrift für Gerhard Storz. Frankfurt/M. 1973, S. 243–263 und Gerd Krumeich: Ernest Lavisse und die Kritik an der deutschen »Kultur«, 1914–1918. In: Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996, S. 143–154.
Vgl. Mommsen, Geschichtsschreibung im Deutschen Kaiserreich, S. 85 ff.; George W. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. 4. Aufl. Wien, Köln, Weimar 1997 und Wolfgang Hardtwig: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus. In: Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 265–324.
Vgl. Hans-Günter Zmarzlik: Der Sozialdarwinismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Dritten Reiches. Freiburg i. Br. 1961; Hannsjoachim W. Koch: Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken. München 1973 und Linda L. Clark: Social Darwinism in France. Alabama 1984.
Vgl. den Artikel »Rasse« in Otto Brunner u.a. (Hg): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart 1984.
Vgl. Gerd Krumeich: Le déclin de la France dans la pensée politique et militaire allemande avant la Première Guerre mondiale. In: Jean-Claude Allain (Hg.): La Moyenne Puissance au XXe siècle. Paris 1989, S. 101–115.
Heinrich von Treitschke: Vorwort. In: Ders.: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Bd. 4. 5. Auflage. Leipzig 1907, S. V/VI.
Vgl. Elisabeth Fehrenbach: Die Reichsgründung in der deutschen Geschichtsschreibung. In: Dies.: Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert. München 1997; Thomas Gerhards: »… nirgends giebt es so wenig Chauvinismus wie bei uns«. Das Bild der deutschen Nation in Heinrich von Treitschkes Publizistik und Historiographie (1870–1896). In: Thomas Beckers u.a. (Hg.): »Zur Erkenntnis der die Gegenwart prägenden Faktoren der Vergangenheit…«. Projekte zur deutschen und europäischen Geschichte in Düsseldorfer Magister- und Examensarbeiten. Neuried bei München 2001, S. 89–110 und Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart 1992.
Zu diesem Thema bereitet Daniel Mollenhauer (Erfurt) eine Habilitationsschrift unter dem Titel »Die Wissenschaft vom Nationalcharakter« vor.
Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Bd. 4. 5. Auflage. Leipzig 1907, S. 13. Zur Entwicklung des Treitschkeschen Nationalismus jetzt auch Thomas Gerhards: Heinrich von Treitschke. Geschichtsschreibung und Publizistik zwischen Wissenschaft und Identitätskonstruktion (1870–1896). Magisterarbeit, vorgelegt in Düsseldorf 2000. Die Arbeit steht in kritischer Auseinadersetzung mit der bisherigen Treitschke-Forschung, die eine zu einfache Kontinuität des Nationalismus bei Treitschke postuliert. Vgl. u.a. Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten. Düsseldorf 1998.
Insbesondere im sog. »Antisemitismus-Streit«. Vgl. hierzu: Walter Böhlich (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt/M. 1965.
Im Jahr 1902 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Theodor Mommsen: Römische Geschichte. Bd. 1. Berlin 1907, S. 325f.
Dietrich Schäfer: Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte. Jena 1888, akademische Antrittsrede gehalten in Tübingen den 25. Oktober 1888.
Ebd., S. 31.
Zitiert nach: Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Göttingen 1987, S. 65.
Vgl. Gerd Krumeich: »Gott mit uns«? Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg. In: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.): »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, S. 273–283.
Vgl. Christoph Cornelißen: Politische Historiker und deutsche Kultur. Die Schriften und Reden von Georg v. Below, Hermannn Oncken und Gerhard Ritter im Ersten Weltkrieg. In: Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg, S. 119–142.
Vgl. Krumeich, Ernest Lavisse; Werner Gephart: Die französische Soziologie und der Erste Weltkrieg. In: Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg, S. 49–64 und insgesamt: Martha Hanna: The Mobilization of the Intellect: French Scholars and Writers during the Great War. Cambridge (Mass.) 1996.
Vgl. Franziska Wein: Deutschlands Strom — Frankreichs Grenze: Geschichte und Propaganda am Rhein 1919–1930. Essen 1992 und Stanislas Jeannesson: Poincaré, La France et la Ruhr: Histoire d’une Occupation. Paris 2000.
Vgl. Jean-Claude Allain: Pierre Renouvin und der Versailler Vertrag. In: Gerd Krumeich (Hg.): Versailles 1919. Ziele — Wirkung — Wahrnehmung. Essen 2001, S. 259–268.
Vgl. Christoph Cornelißen: »Schuld am Weltfrieden«: Politische Kommentare und Deutungsversuche deutscher Historiker zum Versailler Vertrag 1919–1939. In: Krumeich (Hg.), Versailles 1919, S. 237–258 und Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen 1983.
Johannes Haller: Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen. Stuttgart 1923.
Gerhard Ritter: Nationalbewußtsein und Wissenschaft (1920). Zitiert nach: Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. Düsseldorf 2001, S. 503.
Gerhard Ritter: Die gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift 170 (1950), S. 1–22. Diese Skizze insgesamt nach Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 459f.
Ritter, Die gegenwärtige Lage, S. 6.
Gerhard Ritter: Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus in Deutschland. 4 Bde. München 1954–1968.
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Krumeich, G. (2001). Historische Wissenschaft und europäisches Gedächtnis. In: Borsò, V., Krumeich, G., Witte, B. (eds) Medialität und Gedächtnis. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02832-7_8
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