Zusammenfassung
Die Begriffe Medialität und Erinnerung wurden in den letzten zwei Jahrzehnten zum Gegenstand vieler Gebiete wissenschaftlicher Forschung. Zahlreiche Wissenschaftszweige haben eigene Genealogien dieser Begriffe entworfen. Dabei haben sich die verschiedenen Definitionen und auch die mit diesen Termini verbundenen Fragestellungen weit voneinander entfernt.
Vergleich der Versuche der andern mit Unternehmen der Schiffahrt, bei denen die Schiffe vom magnetischen Nordpol abgelenkt werden. Diesen Nordpol zu finden. Was für die anderen Abweichungen sind, das sind für mich die Daten, die meinem Kurs bestimmen. — Auf den Differenzialen der Zeit, die für die anderen die »großen Linien« der Untersuchung stören, baue ich meine Rechnung auf.
Walter Benjamin: Passagen-Werk
Das Reisen hat seine Gefahren wie alles andere; wer sie nicht mit in den Kauf nehmen will, muß zu Hause bleiben, oder die große Linie halten. Alles Beste aber, wie überall im Leben, liegt jenseits der großen Straße.
Theodor Fontane: Aus den Tagen der Okkupation
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Notizen
Walter Benjamin: Denkbilder. Ausgraben und Erinnern. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV. 1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Frankfurt/M. 1991, S. 305–438, hier S. 400. Im folgenden wird auf die Gesammelten Schriften Benjamins durch die Sigle ›GS‹ und die entsprechende Bandzahl verwiesen.
Ebd., S. 400: »Und der betrügt sich um das beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.«
Walter Benjamin: Berliner Chronik. In: GS VI: Fragmente vermischten Inhalts — Autobiographische Schriften, S. 465–519, hier S. 486f.
Ebd.
Ebd.
Vgl. Walter Benjamin: Aufzeichnungen und Materialien. In: GS V. 1: Das Passagen-Werk, S. 79–654, hier S. 595 [N 11,3].
Ebd., S. 594 [N10,3].
Walter Benjamin: [Rez. zu:] Oskar Walzel: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung […]. In: GS III: Kritiken und Rezensionen, S. 50–51, hier S. 51.
Walter Benjamin: Einbahnstraße. Kurzwaren. In: GS IV. 1, S. 83–148, hier S. 138.
»Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvolle Formulierung aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden.« Benjamin, Aufzeichnungen und Materialien, S. 574 [N la,8].
Ebd., S. 575 [N 2,6].
Bernd Witte: Statt eines Vorworts. Ein ungeschriebenes Buch lesen. In: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München 1984, S. 7–12, hier S. 11.
Theodor Fontane: Werke, Schriften, Briefe. [zuerst unter dem Titel Sämtliche Werke] Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1962–1997 [= Hanser Fontane-Ausgabe, im folgenden sigliert durch ›HFA‹], hier: Bd. IV.2, S. 455.
»Stimmen« bezeichnet hier Fragmente und Zitate, entnommen aus mit unterschiedlicher Perspektivierung, Absicht und Kenntnis verfaßten Aufzeichnungen einzelner Personen.
Vgl. dazu John Osborne: Theodor Fontane. Vor den Romanen. Krieg und Kunst. Göttingen 1999, der hier den Pluralismus der Erzählperspektive und der Erzählstimme thematisiert, und weiterhin Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmmigkeit. Frankfurt/M. 1998, der seine Leitperspektive, die Vielstimmigkeit als Dialogizität, allerdings nur in bezug auf das Romanwerk Theodor Fontanes entfaltet.
Vgl. Scott Denham: Visions of War. Ideologies and Images of War in German Literature before and after the Great War. Bern 1992 und die Beiträge von Bernd Witte, Gudrun Loster-Schneider und Rolf Parr in: Hanna Delf von Wolzogen (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Würzburg 2000.
HFA III, S. 1041. Fontane gibt aber auch zu, daß »das aus vier starkn [!] Halbbänden bestehende Werk immer auf [des Kaisers; d. Verf.] Schreibtisch« gelegen habe. Osborne schreibt dazu: »[…] ebenso fiel die Rezeption aller drei Kriegsbücher bei der zeitgenössischen Kritik viel positiver aus, als Fontane es im Rückblick wahrhaben wollte […]«. Osborne, Theodor Fontane, S. 13. Osborne nennt hier das ehemalige Tunnelmitglied Max Jähns und den Journalistenkollegen Ludwig Pietsch. Außerdem das Militär-Wochenblatt (alle drei Beispiele abgedruckt in: Theodor Fontane: Briefe an den Verleger Rudolf von Decker. Hg. von Walter Hettche. Heidelberg 1988, S. 245 ff.) und die Österreichische Militairische Zeitschrift. Vgl. Elke Sander: Fontane als Kriegshistoriker zwischen Droysen und Dellbrück. In: Fontane-Blätter 58 (1994), S. 125–137, hier S. 126).
Der Krieg gegen Frankreich 1870–71 erschien in vier Halbbänden, die ersten beiden im Jahre 1873, die letzten beiden 1875 und 1876.
Vgl. John Osborne: Theodor Fontane und die Mobilmachung der Kultur. Der Krieg gegen Frankreich 1870–1871. In: Fontane-Blätter 5.5 (1984), S. 421–435, hier S. 433: »Der differenzierten, von Fontane gesuchten Wahrheit werde eher mittelbar, durch das andeutungsvolle Bild gedient, als durch das nur eine Bedeutung zulassende Monumentale und Explizite.«
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Hg. von Edgar Groß u.a. München 1959–75 [= Nymphenburger Fontane-Ausgabe, im folgenden sigliert als ›NyA‹], hier Bd. 23.1, S. 222 f.
Theodor Fontane: Kriegsgefangen. Erlebtes 1870. In: HFA III. 4, S. 541–690 [im folgenden sigliert durch ›KG‹], hier S. 565.
NyA 23.1, S. 267.
Theodor Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes. Berlin, Weimar 1969, S. 451.
Ebd., S. 459.
Vgl. Brief an Decker vom 23. Dezember 1970. In: Fontane, Briefe an Decker, S. 179.
Theodor Fontane: Der Krieg gegen Frankreich 1870–1871. Zürich 1988 [im folgenden nachgewiesen durch die Sigle ›KB‹], hier Bd. I, S. 133.
Gordon A. Craig: Über Fontane. Übers. von Jürgen Baron von Koskull. München 1997, S. 105f.
Zitiert nach: ebd., S. 106.
Ebd., S. 105 f.
Am 22. November 1867 schreibt Fontane an General Franz von Zychlinski: »Jeder verständige Leser wird immer den nächsten Zweck der Publicierung im Auge haben, ein Erinnerungsbuch für die Regiments-Angehörigen zu sein.« HFA II, S. 159.
Im Sinne von Petersen: »Als olympisch läßt sich der Erzählerstandpunkt bezeichnen, wenn der Narrator den zeitlich wie räumlich vollständigen Überblick über das Ganze eines vielfältigen Geschehens besitzt.« Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart 1993, S. 65.
Vgl. die Definitionen von auktorialem, personalem und neutralem Erzählverhalten bei Petersen: Während der sich auktorial verhaltende Narrator »sich selbst ins Spiel« bringt, das »erzählte Geschehen keineswegs auf sich beruhen läßt, sondern eigene Meinungen, zusätzliche Überlegungen, Kommentare, also eine Subjektivität wirksam werden läßt«, handelt es sich bei der personalen Erzählung um eine »epische Darbietung, die die Figurenperspektive wählt«. Ebd., S. 69f. Das neutrale Erzählverhalten dagegen »rückt weder die Sicht einer Figur noch die des epischen Mediums in den Vordergrund« und »suggeriert ein Höchstmaß an Objektivität«. Ebd., S. 74.
Vgl. auch die »Ursachen des Krieges« (KB I 7–62) oder die »Einäscherung von Bazeilles« (KB II 186 ff.) oder die Legenden über den Ort, an dem »Seine Majestät der König von Preußen die Siegesnachricht durch General Moltke empfangen« haben soll. Theodor Fontane: Aus den Tagen der Okkupation. In: HFA III. 4, S. 691–1026, hier S. 958. Fontane berichtet in diesem Zusammenhang von einem Erlebnis in Gravelotte: Von verschiedenen Bewohnern des Ortes erfahrt Fontane verschiedene Angaben über den Ort, an dem »Seine Majestät der König von Preußen die Siegesnachricht durch General Moltke empfangen« haben soll. Jeder besteht auf der Richtigkeit seiner Auskunft. Fontane entscheidet sich nach dem Ausprobieren für einen der Plätze, setzt sich und hat »sein Hochgefühl«. Danach stellt sich aber heraus, daß keine der Informationen richtig war, der König wahrscheinlich an jenem Tag gar nicht in Gravelotte gewesen ist. Fontane schließt: »Das Ganze ein neuer Beweis dafür, mit welcher äußersten Vorsicht die an Ort und Stelle reifenden Sagen (die man doch geneigt sein könnte als die zuverlässigsten anzusehen) in der Regel aufzunehmen sind.« In einem Brief an seinen Verleger Decker vom 22.10.71 schreibt er mit wesentlich weniger Mißtrauen: »Bei meinem Nachhausekommen fand ich einige Zeilen von Major von Alten vor, die im Wesentlichen die Frage erledigen. Der König empfing danach Moltkes Meldung am westlichen Ausgang von Rézonville«. Dem Major scheint Fontane — ohne Vorsicht — zu glauben. Fontane, Briefe an Decker, S. 195.
Loster-Schneider gibt zu bedenken, Fontane öffne »durch das Aneinander- und Gegeneinandermontieren dürrer militärischer Informationen und lebendiger Erlebnisberichte […] dem Leser bedenkenswerte oder gar bedenkliche Deutungsmöglichkeiten.« Die Legitimation solchen Verfahrens, so Loster-Schneider, sei die scheinbar höchst ›objektive‹ Attitüde des Kriegsberichterstatters, der ja nur zitiert. »Die indirekt vermittelte Einsicht, daß geschichtliche ›Wahrheit‹ immer Fiktion ist, wirkt gerade im Erwartungsprofil an einen ›objektiven‹ Kriegsbericht provozierend. Im Einfügen lyrischer Fremd- und Eigenerzeugnisse sprengt Fontane schließlich vollends die konventionelle Form des Kriegsberichtes.« Gudrun Loster-Schneider: Zur Neuauflage eines Kriegs- und Antikriegsbuches. Theodor Fontanes Der Krieg gegen Frankreich 1870–1871. In: Francia 14 (1987), S. 610–617, hier S. 612f.
An dieser Stelle findet noch eine relativ klare Trennung zwischen der auktorialen Erzählung, beruhend vor allem auf den offiziellen Informationen Fontanes und den eingefügten monologischen Erzählungen, beruhend auf Augenzeugenberichten, statt. Ganz anders verhält es sich in anderen Texten Fontanes. Der oben zitierte Augenzeugenbericht findet z.B. auch Einzug in Fontanes Reisebericht Aus den Tagen der Okkupation II. Fontane, Okkupation, S. 970. Allgemein kann man sagen, daß in diesem Reisebericht der auktoriale Erzähler immer dann das Wort fuhrt, wenn es um Darstellungen der vergangenen Kriegsgeschehnisse geht. Sobald aber die Erzählung die für den Autor Fontane aktuelle Situation in den von ihm bereisten Gebieten betrifft, übernimmt ein personaler Erzähler die Darstellung. Teilweise geht der Bericht auch in eine pseudo-auktoriale Erzählweise über. Der auktoriale Erzähler fügt an einer Stelle ohne jegliche Kennzeichnung ein Zitat ein. So verfahrt Fontane z.B. mit genau jenem Augenzeugenbericht, den ich eben untersuchte. Fontane zitiert hier wörtlich, ersetzt einzig das in Klammern stehende »wenn man uns recht versichert hat« (Hervorheb. v.d. Verf.) durch ein »wie mir versichert worden ist«. (Hervorheb. v.d. Verf.) und ändert einzelne Schreibweisen, wie z.B. »Garde-Leute«. Ebd. Trotz der fast wörtlichen Zitierweise nennt Fontane keine Quelle, kennzeichnet das Zitat nicht einmal mit Anführungsstrichen als solches. Die Zeilen sind in den Bericht des Erzählers eingegliedert, als seien sie von dem Autor des Reiseberichtes erstmals formuliert. (Eine folgende Passage, die auch, abgesehen vom Kursivdruck des Wortes ›Elementare‹ und der Klammerung von ›den Stein, die Keule‹, wörtlich übernommen wurde, weist Fontane aber ausdrücklich als Augenzeugenbericht aus.)
Bei Wolfgang J. Mommsen wird der Ausgang der Schlacht um St. Privat folgendermaßen beschrieben: »Die erbitterten Kämpfe bei Thionville nördlich von Metz und anschließend bei Gravelotte und St. Privat forderten auf beiden Seiten hohe Blutopfer. Erstmals erlebte die preußische Armee massenhafte Verluste bei Angriffen auf gut positionierte Verbände; bei St. Privat verlor das Gardekorps unter General Karl Friedrich von Steinmetz bei einem solchen Angriff binnen zwanzig Minuten 8.000 Mann, ein Viertel seiner gesamten Mannschaftsstärke. Die französischen Verbände hatten, ungeachtet taktischer Nachteile, den deutschen Angriffen im ganzen hervorragend standgehalten. Am Abend des 18. August bestanden im deutschen Generalstab keinerlei Siegesgefühle; die Verluste waren zu groß. Erst am nächsten Morgen stellte sich heraus, daß die Franzosen das Schlachtfeld geräumt hatten. Angesichts der augenfälligen Erschöpfung und der unzulänglichen Nachschubversorgung befahl Marschall Bazaine den Rückzug der Rhein-Armee auf Metz.« Wolfgang J. Mommsen: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage. München 1990, S. 235.
Vgl. Fontane, Okkupation, S. 960.
In Aus den Tagen der Okkupation findet man folgende Passage: »Er traf den König auf einer improvisierten Bank sitzend […]. Diese Bank ist so berühmt geworden (auch in Bildern schon [von Adolf Menzel; d. Verf.]) wie die ›Brunnenröhre von Kollin‹ [Niederlage Friedrichs des Großen 1757; d. Verf.]. Ein Glück für uns, daß jene Bank, im Gegensatz zu dieser, einen Sieg als historischen Hintergrund hatte.« Ebd., S. 960f.
»Es war nämlich auch in Rezonville (und eben nicht in Gravelotte), wo der König die Siegesnachricht, oder richtiger vielleicht die letzte Bestätigung des errungenen Sieges empfing.« Ebd., S. 959.
In der Okkupation schreibt Fontane: »Diesem Haus nun schritt ich zu. Es ist, wenn man von Gravelotte kommt, das letzte an der rechten Seite; […]«. Ebd., S. 961. Eingehend werden nun der Ort und das Haus selber beschrieben, anschließend das Zimmer, in welchem der König logierte. Über Betten und Teppiche kommt er schließlich sogar zur Bemalung des Kaminschirms.
Vgl. die schon zitierten Aussagen Fontanes über die Malerei.
Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 6. Aufl. Göttingen 1995, S. 16 ff.
»Datteln, Sardinen, Konfitüren der verschiedensten Art, Essenzen, Makkaroni, Zukker in großen Mengen und Dinge, die wir zum Teil in unserem Biwakleben schon vergessen hatten.« (KB 1465 Fn1)
»[…] eine große Anzahl dicker Bücher und kleiner Broschüren über Deutschland, Geographien, Pläne von deutschen Festungen, les bords du Rhin illustré — ich will sie bei meiner nächsten Rheinreise benützen.« (KB 1465 Fn1)
»[D]ieser [deutsche Soldat; d. Verf.] zog ein Paar feine Pariser Stiefel an und ließ die plumpen deutschen zurück […].« (KB 1465 Fn1)
»Das Bataillon erschien auf einmal in weißen, baumwollenen Handschuhen, die massenhaft dalagen […].« (KB 1465 Fn1)
Fontane verhält sich hier ähnlich wie Schriftsteller der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, die Fußnoten einfügten, um an den Perspektivismus zu erinnern, an den das Leserpublikum noch nicht gewöhnt war. Stanzel nennt hier beispielsweise W. M. Thackerays The Memoirs of Barry Lyndon (1844). Vgl. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 184.
Benjamin, Berliner Chronik, S. 486.
Witte, Statt eines Vorworts, S. 11.
Ebd.
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Heynen, R. (2001). Literarische Montage als Organon der Geschichte. In: Borsò, V., Krumeich, G., Witte, B. (eds) Medialität und Gedächtnis. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02832-7_7
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