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Karl Marx: Humanist oder Vordenker des GULag?

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Politisches Denken Jahrbuch 2002

Zusammenfassung

Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus war es zunächst auch um Marx still geworden. Doch die Stille war nicht von Dauer: Seit einigen Jahren wächst in der politischen Theorie und in der Diskussion über die Globalisierung das Interesse an einer erneuten Auseinandersetzung mit Marx. Doch dieses Interesse bedeutet nicht ein Wiedererstarken des Marxismus, sondern geht mehrheitlich von (sozial-)liberalen Autoren aus, die unter Rückgriff auf Marx Pluralismus und Demokratie vor der Dominanz der Ökonomie und vor wachsender sozialer Ungleichheit bewahren wollen: So betont Richard Rorty das Engagement von Marx für soziale Gerechtigkeit und stellt das Kommunistische Manifest auf eine Stufe mit dem Neuen Testament; Martha Nussbaum sieht Marx in der Tradition der politischen Ideale von Aristoteles, an deren Verwirklichung der Mensch durch soziale Ungerechtigkeit gehindert wird; und amerikanische Lehrbücher zum Thema »International Political Economy« (wie das von David Balaam und Michael Veseth) verwenden Versatzstücke der Marxschen Theorie für die Analyse von Politik und Ökonomie in der Globalisierung.2

»Ihr [die Arbeiter, H. H.] habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen […]«.

(K. Marx: Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln, in: MEW Bd. 8, S. 412)

Der Autor dankt der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Unterstützung des Forschungsprojekts »Politik und Ökonomie in der Globalisierungsdebatte und in der Ideengeschichte. Die Bedeutung von Aristoteles, Adam Smith und Karl Marx für die Bestimmung des Stellenwerts der Politik im globalen Wettbewerb«, in dessen Rahmen der Aufsatz entstanden ist.

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Literatur

  1. R. Rorty, Das Kommunistische Manifest 150 Jahre danach: gescheiterte Prophezeiungen, glorreiche Hoffnungen, Frankfurt/M. 1998; M. C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999; D. Balaam, M. Veseth, Introduction to International Political Economy, New Jersey 2001 (2. überarb. Aufl.). Politisches Denken. Jahrbuch 2002

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  3. Vgl. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW Bd. 1, S. 385: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen«; ders., Sieg der Kontrerevolution in Wien, in: MEW, Bd. 5, S. 457: »[…] der Kannibalismus der Konterrevolution selbst wird die Völker überzeugen, daß es nur ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel — den revolutionären Terrorismus.« (Hervorhebungen im Original) Zur Kennzeichnung des Klassenkampfes und des rohen Kommunismus in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« s.u., Abschnitt III.

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  12. R. Maurer, Der Liberalismus siegt. Die Abwicklung und das Schweigen der Philosophie, in: P. Pasternack (Hrsg.), Eine nachholende Debatte. Der innerdeutsche Philosophenstreit 1996/97. Hochschule Ost »special«, Leipzig 1998, S. 138–158 (149).

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  13. Siehe z. B. K. Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte«, in: MEW, Bd. 40, S. 467f. (Vorrede) und ders., Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, S. 474.

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  14. Vgl. das erste der »ökonomisch-philosophischen Manuskripte« (s. u., Abschnitt III).

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  15. Die Kontinuität zwischen Früh- und Spätwerk von Marx betonen vor allem nicht-marxistische Interpreten wie K. Graf Ballestrem, Das politische Denken des Marxismus, in: ders./H. Ottmann (Hrsg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München/Wien S. 147–177 (149); B. Zehnpfennig, Das Ideal der kommunistischen Gesellschaft — Die Utopie eines vollendeten Humanismus, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Ist der Sozialismus am Ende? Karl Marx — wieder gelesen, neu gelesen, Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 19/1990, S. 21–35 (22); I. Fetscher, Karl Marx, Freiburg 1999.

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  16. Vgl. K. Löw (Hrsg.), Marxismus-Quellenlexikon, Köln, 1985; ders., Das Rotbuch der kommunistischen Ideologie. Marx & Engels — Väter des Terrors, München 1999.

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  17. Diese besondere Qualität der Verbrechen wird in dem Befehl vom 1. November 1918 des ersten Chefs der Tscheka, Lazis, an seine Untergebenen besonders deutlich: »Wir führen nicht Krieg gegen bestimmte Personen. Wir löschen die Bourgeoisie als Klasse aus. Suchen Sie bei den Ermittlungen nicht nach Dokumenten oder Beweisen für das, was der Angeklagte in Worten und Taten gegen die Sowjetmacht getan hat. Die erste Frage, die sie stellen müssen, lautet, welcher Klasse er angehört, was seine Herkunft, sein Bildungsstand, seine Schulbildung, sein Beruf ist.« (Zitiert nach Courtois, Schwarzbuch des Kommunismus, S. 20.)

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  18. Z. B.: V. Gerhardt, Die Asche des Marxismus, S. 35.

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  19. E. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis; ders., Gnostische Politik (1952), in: ders., Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis, München, 1999, 36–56; B. Zehnpfennig, Das Ideal der kommunistischen Gesellschaft — Die Utopie eines vollendeten Humanismus; dies., Hitlers »Mein Kampf«, S. 276–284.

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  20. Sofern kein anderer Hinweis erfolgt, beziehen sich die Seitenangaben im folgenden auf die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« (MEW, Bd. 40). Die Hervorhebungen sind — sofern nicht anders angegeben — aus dem Original übernommen.

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  21. A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, München 1978 (Buch I, Kapitel 8).

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  22. Die Arbeitswertlehre, die Mehrwerttheorie, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate usw. sind hier zwar noch nicht entwickelt, doch die Grundaussagen dieser erst im »Kapital« entwickelten Theorien sind der Sache nach bereits vorhanden.

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  23. K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, S. 459–493 (462).

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  24. S. 517. Das Aufgehen des Menschen in der Gattung im Akt der freien Produktion muß wohl als ein Sich-Selbst-Überschreiten des einzelnen Menschen hin zu einem Allgemein-Menschlichen (der Gattung) verstanden werden. Wie dieser Transzendenzgedanke mit dem Materialismus zu vereinbaren ist, bleibt bei Marx jedoch offen.

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  25. In der Ablehnung des Individualismus tritt der kollektivistische Charakter der Marxschen Philosophie (wie auch vorher schon in der Rede vom Gattungswesen) klar zutage: Der Individualismus, wie er sich in der Forderung nach Demokratie und in der Formulierung der Menschenrechte ausdrückt, ist für Marx nur Ausdruck des verkehrten Selbstverhältnisses des Menschen (siehe dazu auch: K. Marx, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, S. 361–370; ders., Das Kapital. Bd. 1, MEW, Bd. 23, S. 189f).

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  26. Vgl. H. Marcuse, Neue Quellen zur Grundlegung des historischen Materialismus, in: Die Gesellschaft Bd. 9 (Heft 2), 1932, S. 136–174 (141); E. Fromm, Das Menschenbild bei Karl Marx, S. 38.

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  28. L. Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung — Entwicklung — Zerfall. Band 1, München 1981 (2. überarbeitete Aufl.), S. 159.

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  29. So auch schon Voegelin (Gnostische Politik, S. 46f.), der die Charakterisierung des rohen Kommunismus in den »Manuskripten« als eine »subtile Analyse der Entgleisung in die Wirklichkeit« bezeichnet (ebd., S. 47; im Original hervorgehoben); ebenso Zehnpfennig (Das Ideal der kommunistischen Gesellschaft — Die Utopie eines vollendeten Humanismus; Hitlers »Mein Kampf«, S. 276–284).

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  30. Das wird von Marx auch im Spätwerk noch unterstrichen: In der »Kritik des Gothaer Programms« spricht Marx statt vom »rohen Kommunismus« von der »revolutionäre [n] Diktatur des Proletariats« (MEW, Bd. 19, S. 28, Hervorhebung im Original), in der eine äußerliche Gleichheit der Menschen durchgesetzt wird, während im vollendeten Kommunismus die Gleichheit verinnerlicht ist.

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  31. Die Parallelität ist jedoch eine spiegelbildliche: Der Unterteilung in zwei Zwischenstufen beim Kapitalismus entspricht diejenige beim entwickelten Kommunismus; die Entwicklung beschleunigt sich somit jeweils vor Erreichen eines Höhepunkts (Revolution bzw. vollendeter Kommunismus).

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  32. In der »Kritik des Gothaer Programms« sind die Stufen nach der Revolution auf zwei reduziert: Die des »rohen Kommunismus« wird dort als »Diktatur des Proletariats« bezeichnet, in der eine äußerliche Gleichheit der Menschen durchgesetzt wird, während im vollendeten Kommunismus die Gleichheit verinnerlicht ist. Zwischen der Darstellung in den Manuskripten und der in der »Kritik des Gothaer Programms« muß aber kein Widerspruch bestehen, weil es in letzterer im Textzusammenhang nicht um eine Analyse der Entwicklungsstufen geht, sondern um die Charakterisierung der nach der Revolution zu ergreifenden ökonomischen Maßnahmen (siehe MEW, Bd. 19, S. 18–21 und 28).

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  33. A. Koestler, Sonnenfinsternis, S. 98.

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  34. Zur Bedeutung des Neides im rohen Kommunismus vgl. E. Voegelin, Gnostische Politik, S. 46f.

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  35. E. Angehrn und G. Lohmann versuchen hingegen in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband, aus den normativen Grundlagen der Marxschen Theorie eine Ethik zu rekonstruieren (Ethik und Marx: Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie, Königstein/Ts. 1986).

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  36. Auch dies läßt A. Koestler Iwanoff im zweiten Verhör von Rubaschow in kaum zu übertreffender Deutlichkeit formulieren: »Im Grunde genommen gibt es nur zwei mögliche Theorien der Moral, und sie verhalten sich wie entgegengesetzte Pole. Die eine ist christlich-humanistisch, erklärt das Individuum für sakrosankt und behauptet, daß mathematische Regeln nicht auf menschliche Einheiten anwendbar sind. Die andere geht von dem Grundprinzip aus, daß das Kollektivziel die Mittel heiligt, und erlaubt nicht nur, sondern gebietet, daß das Individuum in jeder Hinsicht der Gemeinschaft unterstellt und wenn nötig geopfert wird, als Versuchskaninchen, als Opferlamm und auf jede andere erforderliche Art.« (Sonnenfinsternis, S. 149f.) Jede Auflehnung gegen solche Experimente sei naiv: »Jahr für Jahr sterben Millionen sinnlos als Opfer von Epidemien und Naturkatastrophen. Und da sollten wir davor zurückschrecken, einige Hunderttausend dem sinnvollsten Experiment der Geschichte zu opfern?« (Ebd., S. 153)

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  37. Vgl. E. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 73.

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  38. B. Zehnpfennig, Das Ideal der kommunistischen Gesellschaft — Die Utopie eines vollendeten Humanismus, S. 33f.

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  39. K. Hartmann, Die Marxsche Theorie. Eine philosophische Untersuchung zu den Hauptschriften, Berlin 1970, S. 173–176.

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  40. Vgl. K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, S. 9.

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  41. Vgl. K. Marx/F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 474.

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  42. Zum Begriff des ideologischen Bewußtseins vgl. B. Zehnpfennig, Hitlers »Mein Kampf«, S. 276–284.

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  43. E. Voegelin (Gnostische Politik, S. 49) betont, daß die Konstruktion einer Diktatur des Proletariats mit unbestimmter Dauer an sich bereits eine Immunisierung darstellt: »Diese argumentationssichere Traumspekulation ist das krönende Schlußstück des gnostischen Wahnsinns, wie es von Marx in der Kritik des Gothaer Programms (1875) entwickelt und von Lenin in Staat und Revolution (1917) weitergeführt wurde.«

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  44. Zu Recht hebt daher Voegelin das Frageverbot in seiner Marx-Interpretation hervor (z.B. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 69–73).

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  45. E. Voegelin, Gnostische Politik, S. 47.

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Hansen, H. (2002). Karl Marx: Humanist oder Vordenker des GULag?. In: Ballestrem, K.G., Gerhardt, V., Ottmann, H., Thompson, M.P. (eds) Politisches Denken Jahrbuch 2002. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02766-5_9

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02766-5_9

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