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Marx-Kritik und Anti-Totalitarismus der 1970er-Jahre (Les nouveaux philosophes, Claude Lefort, la deuxième gauche)

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Soziologische Denkweisen aus Frankreich
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Zusammenfassung

Die französische Debatte um Alexander Solschenizyns Archipel Gulag leitete in den 1970er-Jahren eine entscheidende Rekonstitution der französischen Deutungskultur ein: Mit bemerkenswerter Verspätung wurde nun der Gegenstand des Totalitarismus entdeckt und theoretisch zu begreifen versucht, wobei die Rede vom „Gulag-Schock“ durchaus Teil einer Strategie der Begriffsplatzierung war. Thematisch ging es in der französischen Debatte in der Vielzahl der analytischen Ansätze und politischen Meinungen um verschiedene Dinge: den totalitären Gehalt des Sowjetkommunismus; die ideologischen Elemente des Marxismus; eine Auseinandersetzung über die Bedeutung der Revolution als Telos des politischen Denkens; und schließlich eine Kritik der französischen Staats- und Politikkonzeption. Entsprechend changierten die analytischen Abhandlungen zwischen genereller Vernunft- und Ideologiekritik, politischer Theorie und Gesellschaftstheorie sowie realpolitischer Programmatik. Dieser Beitrag diskutiert drei Richtungen dieses Antitotalitarismus: Erstens, die durch geschickte mediale Inszenierung ins Leben gerufene Gruppe der „Neuen Philosophen“ um Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann; zweitens, das Denken Claude Leforts, das dem Konnex von Demokratie und Totalitarismus auf den Grund geht; und drittens, die Marxismus- und staatskritische, eng mit dem Gewerkschaftsbund Confédération française démocratique du travail (CFDT) verbundene Strömung der deuxième gauche, die um Pierre Rosanvallon und andere Denker für eine neue „politische Kultur der Linken“ eintritt.

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Notes

  1. 1.

    Auch wenn diese Version immer wieder memoriert und zitiert wird, heißt es bei Sartre jedoch genauer: „Le marxisme […] reste donc la philosophie de notre temps: il est indépassable parce que les circonstances qui l’ont engendré ne sont pas encore dépassées“ (Sartre 1960: 29).

  2. 2.

    Im Juni 1976 leitete Lévy ein Dossier der Nouvelles littéraires ein (Lévy 1976), welches den nouveaux philosophes ihren Namen gab. Zur Gruppe dieser als neu ausgewiesenen Philosophen zählte Lévy einerseits Autoren, die später tatsächlich meistens den Neuen Philosophen zugerechnet wurden, nämlich Jean-Marie Benoist, Jean-Paul Dollé, André Glucksmann, Michel Guérin, Philippe Nemo sowie Guy Lardreau und Christian Jambet. Andererseits waren auch bereits etablierte Denker wie Roland Barthes, Michel Foucault und Michel Serres aufgeführt. Später wurden Publizisten wie Pascal Bruckner oder Alain Finkielkraut oft zum Kreis der Neuen Philosophen gezählt, während andere Namen schnell in Vergessenheit gerieten.

  3. 3.

    Für eine Darstellung und Diskussion weiterer Werke der Neuen Philosophie vgl. Schiwy (1978) und Thomas (1979).

  4. 4.

    In ihrer berühmt gewordenen, auch während der Gulag-Debatte immer wieder zitierten Stellungnahme zur Existenz der sowjetischen Konzentrationslager aus dem Jahre 1949 (Les jours de notre vie) hatten Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre in einem Editorial von Les Temps modernes festgehalten, dass sich ungeachtet der gegenwärtigen Natur des Sowjetkommunismus die UdSSR „grosso modo“ auf der Seite des Kampfes gegen die Ausbeutung befinde (Merleau-Ponty und Sartre 1949: 1162; siehe Suntrup 2010b: 159 ff.).

  5. 5.

    Vgl. den Beitrag zum Postfundamentalismus in diesem Band.

  6. 6.

    Dieses Label geht auf Hervé Hamons und Patrick Rotmans 1982 erschienene intellektuelle und politische Geschichte des Gewerkschaftsbundes CFDT zurück (Hamon und Rotman 1982).

  7. 7.

    Von Bedeutung war vor allem der Kampf in der Fabrik des französischen Uhrenherstellers Lip, in der sich die Arbeitnehmerinnen und -nehmer gegen die Schließung des Werks zu Wehr setzen und es übergangsweise selbst leiteten. Anführer des Arbeitskampfes war Charles Piaget, Gewerkschaftsführer der CFDT.

  8. 8.

    Zehn Jahre später revidiert Lévy diese Absage an die Politik in seiner Éloge des intellectuels und konstatiert, dass die Neue Philosophie mit ihrer (vermeintlichen) Absage an alle Ideologien ein „lasches, obsessiv bescheidenes und schwaches Denken“ (Lévy 1988: 20) befördert habe. Zwischen einem solchen Minimalismus und den traditionellen Formen des Engagements plädiert er nun für einen kaum auf den Begriff zu bringenden Intellektuellen des „dritten Typs“ (ebd. 69–90).

  9. 9.

    Auf Hannah Arendts wegweisende Analyse in Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft verweist er hier nicht (Arendt 2006: 944–979). Zu denken wäre hier etwa an Arendts Feststellung: Ideologisches Denken „emanzipiert sich von der Wirklichkeit, so wie sie uns in unseren fünf Sinnen gegeben ist, und besteht ihr gegenüber auf einer ‚eigentlicheren‘ Realität, die sich hinter diesem Gegebenen verberge, es aus dem Verborgenen beherrsche und die wahrzunehmen wir einen sechsten Sinn benötigen“ (ebd. 964).

  10. 10.

    Lévy betont demgegenüber in seinem skandalträchtigen Buch Idéologie française (Lévy 1981) die französischen Wurzeln von Faschismus und Totalitarismus. Zur Kritik des polemischen Stils und des methodischen Vorgehens vgl. die Reaktion von Raymond Aron (1981).

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Suntrup, J.C. (2022). Marx-Kritik und Anti-Totalitarismus der 1970er-Jahre (Les nouveaux philosophes, Claude Lefort, la deuxième gauche). In: Delitz, H. (eds) Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36949-1_9

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