Zusammenfassung
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen des Islams kommen kaum mehr umhin, auch ein Wort über den Islamismus oder den sogenannten islamischen ‘Fundamentalismus’ zu verlieren. Das Thema hat sich in der Öffentlichkeit und auch in der fachwissenschaftlichen Diskussion derart in den Vordergrund geschoben, daß andere Facetten islamischer Kultur und Religion selten noch die ihr gebührende Aufmerksamkeit finden.510 Der Islamismus wird zum eigentlichen Stimulus der Beschäftigung mit dem Islam überhaupt, so daß es nicht Wunder nimmt, wenn die Perzeption einseitig ausfällt.511 Die publizistische Furore, die eine unter anderem auf den Islam bezogene These vom ‘Kampf der Kulturen’ machen kann, gibt beredtes Zeugnis von Stimmungen und Befürchtungen, die man im Westen eben auch bei den Leuten antreffen kann, dies sich für aufmerksame Beobachter der islamisch geprägten Gesellschaften halten. „Islam has bloody boarders“512, lautete Huntingtons furchteinflößende geopolitische Beurteilung des islamischen Kulturraums als Faktor der Weltpolitik.513
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Literatur
Vgl. Abaza 1992: Globalization of the Social Sciences and the “Islamization Debate”.
Natürlich sollte die Tatsache, daß der Islam sich in den öffentlichen Debatten so in den Vordergrund des Bewußtseins gedrängt hat, nicht als Rezeptionsmode, sondern vor allem als Resultat der Identitätssuche islamischer Gesellschaften erklärt werden. Vgl. dazu Stauth 1995: Islam als Selbstbegriffnichtwestlicher Modernität.
Huntington 1993: The clash of civilizations?: 35. In der monographischen Ausarbeitung seiner These verteidigt Huntington dieses Urteil: „Keine Aussage in meinem Essay für Foreign Affairs ist so häufig kritisiert worden... Quantitative Belege aus jeder neutralen Quelle belegen schlüssig die Gültigkeit meiner Aussage“. Huntington 1996: Der Kampf der Kulturen: 420f.. Huntington führt für den Anfang der 90er Jahre an, daß über zwei Drittel aller interkulturellen Kriege zwischen Muslimen und Nichtmuslimen stattgefunden hätten. Für eine soziologische Analyse des Ansatzes Huntingtons vgl. Giesing 1999: Kulturelle Identitäten als strategischer Kompaß? Soziologische Anmerkungen zu Samuel P. Huntingtons ‘clash of civilizations’.
Zur Diskussion über den Islamismus in interkultureller Sicht vgl. im übrigen Heine 1996: Konflikt der Kulturen oder Feindbild Islam; Perthes 1993: Die Fiktion des Fundamentalismus; Peters 1987: Islamischer Fundamentalismus: Glaube, Handeln, Führung.
Levtzion ( 1987: Aspekte der Islamisierung: 151f.) halt gegen Weber nicht den Krieger, sondern den „Kleriker“ und den „Gelehrten” für islamische Ideale. Für Lapidus (1987: Die Institutionalisierung der frühislamischen Gesellschaften. 128f., 140) ist „von Beginn an klar... daß der Islam keine ‘Kriegerreligion’ ist“. Die weltkulturelle Spannweite islamischer Religiosität hält er für ein Argument, das gegen Webers Typisierung des Islams spreche. Das ist aber natürlich kein Argument gegen diese, sondern gegen jede Typisierung, hilft also nicht weiter, wenn man den Islam überhaupt mit kontrollierten Begriffen beschreiben wollte. Im übrigen war sich Weber der „großen Spannweite” (WuG 376) selber bewußt. Webers Begriffe von Ethos und Religiosität des Islam gelten Lapidus als „dilettantisch“. Eaton (1987: Islamisierung im spatmittelalterlichen Bengalen: 156) sieht Webers These als typisches Vorurteil an. das Weber mit seinen Zeitgenossen teilte
Schluchter 1988b: Religion und Lebensführung 2: 101ff..
Schluchter bleibt mehrdeutig, wenn er im Calvinismus und Islam zwar dogmatisch ähnlich verursachte Weltbeherrschungsmotive sieht, aber dies im Calvinismus „konstantes“, im Islam aber aufgrund dogmatischer Inkonsequenzen nur „temporäres” Prinzip der Lebensführung würde. Der Calvinismus gelange so zu „dauerhafter Weltablehnung“, der Islam nicht, zeige seine Weltbeherrschungskräfte vielmehr „in Gestalt von Welteroberung”, die man sich folglich als nur sporadische, wenn auch „zyklisch“ wiederkehrende, Art der Lebensführung vorzustellen habe, Schluchter 1987: Einleitung. Zwischen Welteroberung und Weltanpassung: 43f.. Der Calvinismus rationalisiere das „ethische Gesamtleben” (RS I 125) und das Wirtschaftsleben, während der Islam „die Lebensführung gleichsam ins Politische wendet“. Schluchters Ausdrucksweise suggeriert, daß Weltbeherrschung, wenn sie nur temporär auftritt, Welteroberung bedeute, und diese eine gewisse Nähe zur Politik, aber Distanz zur Wirtschaft zeige. Ich halte die so unterstellten Zusammenhänge für konstruiert, die offenbar suggerierte Konnotation von „Eroberung” mit politisch-militärischer Unterwerfung far irreführend. Sowenig wie mit „Weltbeherrschung“ bei Weber die politische Beherrschung gemeint ist, sowenig kann mit „Welteroberung” primär territoriale Expansion gemeint sein. Es geht hier nicht um die ‘Welt’ in irgendeinem geographischen Sinne, sondern um die soziale Umwelt handelnder Subjekte. Angesichts eines Übermaßes von diffusen Konnotierungen islamischer Religiosität mit Bellizismus (man vergleiche nur die bei Huntington 1996: Der Kampf der Kulturen zitierten Autoren) kann man m. E. Hier kaum vorsichtig genug sein. Auch ist nicht einzusehen, inwiefern die „Welt des Monotheismus“ mit „Weltreichen oder doch zumindest mit der Aussicht auf ein Weltreich” (Schluchter ebd. 55) verbunden sein soll. M. E. taucht die imperiale Idee typisch in polytheistischen Kulturen (assyrisch, babylonisch, persisch, im Hellenismus oder in Rom). Die gelungenste Formulierung für das islamische Weltverhältnis findet Weber in WuG 379, wo er Konfuzianismus mit Weltanpassung, Buddhismus mit Weltablehnung, Judentum mit dem Pariaethos und den Islam mit „Weltwaltung“ charakterisiert.
RS I 240. Die Einteilung der islamischen Geschichte in eine frühe Phase relativer Orthodoxie und eine spätere, die starker vom Mystizismus geprägt ist, findet sich auch bei anderen Autoren, so z. B. Eaton 1987: Islamisierung im spätmittelalterlichen Bengalen; Eisenstadt 1987: Webers Analyse des Islams; Gibb 1963: The community in islamic history.
Gibb 1963: The community in islamic history: 175. (Der hier zitierte Ausdruck ursprtingl. von J. Ruskin). Die von den Sufis verbreitete Abwertung des Materiellen sorgt Gibb zufolge auch für die politische Apathie der Umma. Er folgert daraus, daß die Herrschaftsinstitutionen unbehelligt von einer religiösen Zivilgesellschaft dem Spiel der materiellen Faktoren freien Lauf lassen konnten. Dies hält Gibb interessanterweise für die Ursache der Schwäche des Islams gegenüber dem Westen (Gibb 1963: The community in islamic history: 176). In neofunktionalistischer Theoriesprache: der Islam zeigt eine geringere Interpenetration zwischen der ‘societal community’ (hier: der umma) und seinem politischen und ökonomischen System als der Westen. Zu Recht stellt Gibb aber auch fest, daß beide Entwicklungswege ihren Nutzen wie ihren Preis haben, daß also Interpenetration nicht von jedem Standpunkt aus positiv gewertet werden muß, selbst wenn sie die Summenkonstanz aus individueller Freiheit und sozialer Stabilität aufbreche und beides verbessere: „if the Christian West has paid for ist excessive concentration upon material and political development with some loss of spiritual vigor, so too the Islamic Community has paid the price of excessive concentration upon spiritual ideals with some loss of material energy and cohesion“ (Gibb 1963: The community in islamic history: 176f.).
Peters 1995: Dar al-islam. Besonders interessant ist hier das Eindringen des Territorialprinzips in die Selbstdefinition der religiösen Gemeinschaft. Die Sakralisierung des Bodens scheint im Jahwismus jedoch weiter gegangen zu sein. Was der religiöse Territorialismus für den Nahost-Konflikt bedeutet, analysiert eingehend Nieswandt 1998: Abrahams umkämpftes Erbe.
Riße 1996: Djihad. Vgl. dazu im übrigen die unten folgenden Bemerkungen.
Peters 1995: Dar al-islam.
WuG 693, Schluchter 1988b: Religion und Lebensführung 2: 340.
Watt 1980: Der Islam: Mohammed und die Frühzeit: 294.
Watt 1980: Der Islam: Mohammed und die Frühzeit: 303.
Schall 1987: Islam I: 329.
Schimmel 1959: Islam: 916–918.
Watt 1980: Der Islam: Mohammed und die Frühzeit: 254.
Watt erwähnt ferner eine kollektivistische Zurechnung zur islamischen Gemeinschaft: Mohammed ließ von den Nachbarstämmen zakat einsammeln, wodurch diese Stämme Mitglied seiner Gemeinschaft wurden. Hier wäre demnach auf die Shahada eines jeden Einzelnen verzichtet worden. Diese Inklusionsstrategie ist freilich eher eine politische als eine religiose. Sie gehört in die Frühzeit der umma, als diese relativ labil und politisch prekär war. Watt 1985: Der Islam II. Politische Entwicklung und theologische Konzepte: 127.
Zitiert nach Watt 1985: Der Islam II. Politische Entwicklung und theologische Konzepte: 137.
Watt 1985: Der Islam II. Politische Entwicklung und theologische Konzepte: 137.
No ritual marking of entry into the ummah ever arose in Islam: one becomes a member either by birth or by the sincere confession of faith“ Darrow 1987: UMMAIN: 124.
Schluchter 1987: Einleitung. Zwischen Welteroberung und Weltanpassung. Überlegungen zu Max Webers Sicht des frühen Islams: 17.
Cook 1987: Max Weber und islamische Sekten: 340.
Cook 1987: Max Weber und islamische Sekten: 388.
Schluchter 1988b: Religion und Lebensführung 2: 377.
Um zeitsparender zu kommunizieren, werden mehrere Merkmale zum Inhalt eines Begriffs gemacht. Das kann zu Mißverständnissen führen, da einzelne Merkmale bei einem Phänomen vorhanden, andere fehlen können, so daß unklar bleibt, ob man subsumieren darf oder nicht. Dieses Problem ist lösbar, indem man nachträglich weitere Begriffe einschiebt, die jeweils durch Hinzunahme nur eines einzigen Merkmals gebildet wurden, eben nach dem klassifikatorischen Prinzip des genus proximum et differentia specifica. Weber überspringt oft mehrere Ebenen der Begriffsbildung, so daß er derartige Mißverständnisse in Kauf nimmt, zumal er ausdrücklich das klassifikatorische Verfahren als für die meisten Belange der Kulturwissenschaften inopportun hinstellt (WL 194).
Diese Annahme ergibt sich daraus, daß man ohne sie die Merkmale aufeinander reduzieren könnte und nicht zu einer bloß additiven Aufzahlung gezwungen ist, die m. E. ohnehin nur die geringstmögliche intellektuelle Durchdringung eines Tatbestandes indiziert, eben die einer nicht weiter geordneten Merkmalsanhaufung.
Schluchter sagt, Klassenbegriffe seien Durchschnittsbegriffe Schluchter 1988b: Religion und Lebensführung 2: 377. Das ist natürlich gerade nicht der Fall. Denn jedes Element einer Klasse ist Trager des Merkmals, nicht etwa nur ein Durchschnitt dieser Elemente.
Schluchter 1988b: Religion und Lebensführung 2: 376.
Kirchlich-amtscharismatisch waren Weber zufolge zwar auch der Mandismus, das Judentum und die spätägyptische Hierokratie, doch deren Herrschaftsansprüche waren nicht universalistisch, sondern national begrenzt. Universalismus aber hatte Weber als Merkmal des Kirchenbegriffs vorausgesetzt (WuG 693).
Natürlich gilt dies nicht nur für die charismatischen Beziehungen, sondern für alle sozialen Beziehungen. Diese haben grundsätzlich die Wahl, offen oder geschlossen gestaltet zu werden. Die jeweiligen Interessenkonstellationen bilden dabei auch in religiösen Gemeinschaften die wichtigsten Einflußfaktoren. Allerdings ist bei ihnen und nur bei ihnen damit zu rechnen, daß die Eigenart der Charismavorstellung gegenüber den Interessenkonstellationen zuweilen ein Eigenrecht geltend macht, also Inklusion nahelegt, wo die Interessen auf Exklusion drangen oder umgekehrt.
S. o. die Ausführugen zur Gemeinschaftsbildung im antiken Judentum.
Watt 1977: Muhammad at Medina: 303ff..
Bousquet 1949: Les grandes Pratiques rituelles de l’Islam: 119f.; Watt 1977: Muhammad at Medina: 309.
Watt 1977: Muhammad at Medina: 309, Hervorh. d. Verf.
Watt 1961: Islam and the Integration of Society: 146.
Pledge of the Women“! „First Pledge of al-Akaba”, übers. durch den Verf.
Eine historisch-philologische Auswertung und Kritik dieser Quelle liefert Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’, der den Text als „ungestionably authentic“ (ebd. 3) beurteilt. Dies und ihre Bedeutsamkeit stehen für Serjeant in einem bemerkenswerten Kontrast zu den mangelnden Kenntnissen über diese Quelle selbst unter Muslimen.
Ich gebe die Übersetzung Wellhausens (Wellhausen 1889: Muhammads Gemeindeordnung von Medina) wieder und ziehe, wo nötig, diejenige Serjeants (Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’: 11–14) oder Watts (Watt 1977: Muhammad at Medina: 221ff. zu Rate). In Klammern {...} finden sich Hinweise des Verf.
Gibb 1963: The community in islamic history: 173.
Watt 1977: Muhammad at Medina: 221.
Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’: 12.
Sowohl Wellhausen wie Serjeant bezeichnen das hier gegründete Gemeinwesen als „Theokratie“ Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’: 12; Wellhausen 1889: Muhammads Gemeindeordnung von Medina: 68. Watt 1977: Muhammad at Medina: 228ff. ist hier weitaus vorsichtiger, er sieht bis zur Schlacht von Badr keine Anzeichen für eine herausgehobene Position Mohammeds in Medina. Mohammed sei vielmehr als ‘Clanführer’ der Emigranten auf einer Stufe mit den anderen Clanftthrem Medinas. Allein als erfolgreicher und gefragter Schiedsrichter und Streitschlichter in der von internen Zwisten zerrissenen Stadt Medina habe sich Mohammed den Ruf und das Charisma eines Propheten langsam erarbeiten können.
Gibbs Übersetzung „over against mankind“ mag übertrieben klingen, ist aber möglicherweise zur Beschreibung der Gefühlslage der Beteiligten am symptomatischsten: Etwas Neues, Außeralltägliches hatte das Licht der Welt erblickt. Dem tut die Erkenntnis neuerer Forschung, daß es bereits im vorislamischen Arabien nicht-tribale Vergemeinschaftungen zur Verteidigung heiliger Schreine und ihrer Bezirke, den sogenannten „mahrams” gab, keinen Abbruch, denn Medina war bis dato kein solcher (Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’: 12).
Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’: 13.
Das heißt: mawla kann sowohl Herr wie Klient bedeuten und jar kann sowohl Beschützer wie Schutzbefohlener bedeuten (Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’: 15).
Serjeant 1964: The ‘Constitution of Medina’: 15.
Watt will ‘umma’ letztlich von einem sumerischen Wortstamm ableiten (Watt 1977: Muhammad at Medina: 240).
Paret 1934: UMMA.
Dallai 1995: Ummah.
Die Verwendungsweisen des Wortes ‘umma’ in den frühesten Suren sind noch wenig di-stinkt. So heißt es z. B. in Sure 6, 38, daß auch die Tiere ummas bildeten wie die Menschen. Zu den philologischen Details vgl. Watt 1977: Muhammad at Medina: 241ff. und Dalla) 1995: Ummah.
Dallai 1995: Ummali: 268.
Watt 1977: Muhammad at Medina: 241.
Peters 1994: A Reader on Classical Islam: 106.
Mohammed hat angeblich geäußert, es gebe keine Bündnisse innerhalb des Islams. Watt hält diese Überlieferung für glaubwürdig, weil eine über die islamische Glaubensbruderschaft hinausgehende Sonderbeziehung einer Verleugnung des Islams gleichkäme, da sie die Schutzgewähr Mohammeds als unzureichend auffasse (Watt 1977: Muhammad at Medina: 248).
Watt 1977: Muhammad at Medina: 247, 302.
Watt 1977: Muhammad at Medina: 301.
Dal lal 1995: Ummah: 269.
Dallal 1995: Ummah: 269.
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Giesing, B. (2002). Gemeinschaftsbildung im Islam — die umma der Glaubenskrieger?. In: Religion und Gemeinschaftsbildung. Forschung Soziologie, vol 178. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94999-8_9
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