Zusammenfassung
Die philosophischen Probleme der Zeit sind in der Naturphilosophie sehr viel weniger untersucht worden als die des Raumes. Man hat die Zeit gewöhnlich als ein dem Raum ähnliches Ordnungsschema von einfacherem Charakter betrachtet, einfacher, weil es nur eine einzige Dimension besitzt; und man hat deshalb geglaubt, daß mit der philosophischen Aufklärung des Raumes auch die der Zeit gegeben sei. So hat Kant Raum und Zeit ganz analog als Formen der Anschauung hingestellt und ihre Untersuchung in einem gemeinsamen Kapitel seines erkenntnistheoretischen Hauptwerks durchgeführt. Dabei erscheint dann die Zeit viel problemärmer als der Raum, denn alle aus der Mehrdimensionalität fließenden Probleme fallen bei ihr fort. So entfällt für die Zeit das Problem der spiegelbildlichen Kongruenz, der Existenz völlig gleicher und gleichgeformter Figuren, die doch nicht zur Deckung zu bringen sind, ein Problem, welches bei Kant eine gewisse Rolle spielt. Weiterhin gibt es für die Zeit aber auch kein der nichteuklidischen Geometrie analoges Problem. In einem eindimensionalen Schema ist die Krümmung nicht von Geradheit zu unterscheiden; eine krumme Linie läßt sich stets ohne Zerrung ihrer kleinsten Teile in eine Gerade „ausziehen“. Darum ist es auch nicht möglich, durch Messungen in einem eindimensionalen Kontinuum zu entscheiden, ob es krumm oder gerade ist; diese Möglichkeit gibt es erst vom zweidimensionalen Kontinuum aufwärts, und die Linie besitzt deshalb immer nur eine äußere Krümmung, nicht eine innere. So fehlen bei der Zeit infolge ihrer Eindimensionalität gerade alle die Probleme, die zur philosophischen Analyse des Raumproblems den Anlaß gaben.
Aus: Hans Reichenbach Gesammelte Werke in 9 Bänden, Band 2: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. Vieweg, Braunschweig 1977. Dort S. 138–143.
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© 1988 Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig
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Reichenbach, H. (1988). Der Unterschied von Raum und Zeit. In: Aichelburg, P.C. (eds) Zeit im Wandel der Zeit. Facetten der Physik, vol 23. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89451-9_12
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-89451-9_12
Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-528-08918-4
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