Der hier in einem Auszug edierte Text von Hans Reichenbach hat schon vor über vier Jahrzehnten einige Aufmerksamkeit erfahren, als er 1974 von Ulrich Linse ausführlich diskutiertFootnote 1 und vier Jahre später von Maria Reichenbach in Übersetzung in Reichenbachs Selected Writings 1909–1953 aufgenommen wurde. Ein Jahr davor hatte sich Andreas Kamlah im Anhang seiner deutschsprachigen Edition von Reichenbachs The Rise of Scientific Philosophy (1951) auf diesen Text bezogen.Footnote 2 Sein ursprünglicher Erscheinungsort war ein drei Aufsätze umfassender Band, den Reichenbach gemeinsam mit den Autoren der anderen beiden Beiträge, Hermann Kranold (1888–1942) und Carl Landauer (1891–1983), ediert und als Vorbereitung des 13. Freistudententages im Mai 1913 publiziert hat.Footnote 3 Der spätere Wirtschaftswissenschaftler Carl Landauer war seit 1912 Mitglied der SPD. Kranold, der Medizin und Nationalökonomie studierte, trat ebenfalls 1912 in die SPD ein und arbeitete 1919 unter anderem mit Otto Neurath die Sozialisierungsprogramme für Sachsen und Bayern aus.

Ziel von Reichenbachs Beitrag war es, die 1907 von Felix Behrend formulierten Grundsätze der Freistudentenschaft zu reformulieren, dies in durchaus kritischer Distanz zu dem Ansatz von 1907. Denn anders als Behrend repräsentierte Reichenbach eine jüngere Generation, die unter Verzicht auf den Gesamtvertretungsanspruch aller Nichtinkorporierter die Öffnung der Freistudentenschaft für die wachsende Zahl jugendbewegt studentischer Reformverbände forderte: Statt Freischar oder Freistudentenschaft forderte Reichenbach Freischar und Freistudentenschaft.Footnote 4 Dass er in dem Beitrag die Resultate des Ersten Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 gewissermaßen vorwegnimmt, darauf hat Hans-Ulrich Wipf in seiner Studie über die Freistudenten-Bewegung ausdrücklich hingewiesen.Footnote 5 Diese Perspektive in Reichenbachs Text wird besonders deutlich am Beginn des im ganzen sechzehn Seiten umfassenden Dokuments. Während die späteren Passagen die konkreten Aufgaben freistudentischer Arbeit formulieren, sind die hier abgedruckten ersten drei Seiten programmatisch zu verstehen. Das zentrale Statement des Reichenbach-Textes lautet: „Das ethische Ideal ist der Mensch, der in freier Selbstbestimmung sich seine Werte schafft und als Glied der sozialen Gemeinschaft diese Autonomie für alle und von allen Gliedern fordert“ (Reichenbach, 1913a, 26). Man vergleiche dies mit der Schlüsselpassage der nur wenige Monate später verfassten Meißner-Formel: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein“ (zitiert nach Mittelstraß, 1919, 12 f.).

Hintergrund des Bekenntnisses der Freideutschen Jugend war, wie man auf Englisch sagen würde, die Entscheidung to agree to disagree.Footnote 6 Man teilte zwar gewisse Grundideen wie etwa die in der Formel angesprochene Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen sowie die ebenfalls geforderte Abstinenz in Sachen Alkohol und Nikotin. Darüber hinaus aber divergierten die weltanschaulichen, politischen und religiösen Positionen. So gehörten zu den dreizehn zum Meißner-Treffen einladenden Gruppen sehr unterschiedliche Vereinigungen wie die Deutsche Akademische Freischar, der Deutsche Bund abstinenter Studenten, der Bund deutscher Wanderer, der Wandervogel e. V., der Österreichische Wandervogel, der Bund für freie Schulgemeinden, die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und der Serakreis (dem Rudolf Carnap angehörte). Die 1900 gegründete Deutsche Freie Studentenschaft zählte hingegen nicht dazu. In dieser war Reichenbach schon seit Studienbeginn aktiv, zunächst in Stuttgart, dann Berlin und München. An dem Meißner-Treffen nahm er als deren offizieller Vertreter teil. Seine Entscheidung gegen den Eintritt in die jugendbewegt lebensreformerische Akademische Freischar, deren Freiburger Gruppe Carnap mitbegründet hatte, und stattdessen für ein Engagement in der Freistudentenschaft begründete Reichenbach unter anderem mit der größeren, auch kritischen und weltanschaulichen Heterogenität der freistudentischen Bewegung.Footnote 7

Auch in den Richtungsstreits innerhalb der Freistudentenschaft, die ab 1910 mit dem wachsenden Einfluss konkurrierender Reformverbände der akademischen Jugendbewegung Fahrt aufnahmen, erwies sich der von Felix Behrend in den Raum gestellte Konsens hinsichtlich einer gemeinsamen Verpflichtung auf von allen Freistudenten geteilte (kulturliberale) Werte am Ende (das heißt: knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs) als unmöglich. Der Konsens beschränkte sich nun, von der geforderten Alkohol- und Nikotinabstinenz einmal abgesehen, auf eine meta-ethische Position, wie sie die oben zitierten Aussagen wiedergeben. Man konnte sich zwar auf einige Grundideen einigen – wie die Ablehnung der traditionalen Korporationen, die Freiheit von Forschung und Lehre, den Universitätszugang für materiell weniger Begünstigte – aber darüber hinaus herrschte ein Pluralismus von politischen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Ideen. Was im Gefolge des Meißner-Treffens und auch von Reichenbach vorgeschlagen wurde, war die Vision einer Gruppe, die friedliche Koexistenz mit absoluter Freiheit in der Wahl der eigenen ethischen Präferenzen verbindet.

Diese meta-ethische Haltung hatte Karl Korsch schon vier Jahre zuvor unter dem Stichwort ‚Toleranz‘ formuliert, aber mit einer sehr stark an Reichenbach (und an viele spätere Formulierungen des ethischen Nonkognitivismus bei Carnap und Reichenbach) erinnernden Botschaft. „Noch immer glaubt man, eine ‚freie‘ Studentenschaft müsse notwendig monistisch, linksliberal, bodenreformerisch, abstinent, vegetarisch und was weiß ich noch alles sein,“ moniert Korsch, wobei es doch nur einen Standpunkt gäbe, den man der freien Studentenschaft verbindlich zuschreiben könne, nämlich „den Standpunkt der absoluten Toleranz, die alle Richtungen umfaßt, weil sie keine teilt“ (Korsch, 1980, 97). Wie bei Reichenbach bedeutet dies aber keineswegs Indifferenz oder das Vermeiden klarer Stellungnahmen durch den Einzelnen:

[Der] intolerante Geist aber ist das einzige, was die freie Studentenschaft bekämpft. Nicht als ob sie wollte – ein neues Mißverständnis gilt es abzuwehren – nicht als ob sie wollte, daß der einzelne nicht Stellung nähme, nur quietistisch oder skeptisch je nach Temperament abseits stünde. Nein, er soll gerade energisch Stellung nehmen lernen in allen kleinen und großen Fragen der Wissenschaft, der Kunst, der menschlichen Gemeinschaften vor allem! Aber er soll dabei – solange er noch lernt, zum mindesten –, auch andern das gleiche in selbstgewählten Richtungen gestatten, soll jeder ehrlichen Überzeugung Raum im Meinungskampfe lassen, eben um sie eventuell auch wirksam zu bekämpfen. (Korsch, 1980, 98)Footnote 8

Verpflichtet wird der Einzelne, wie es Reichenbach in dem hier edierten Text besonders prägnant ausdrückt, nur darauf, den eigenen Wertvorstellungen zu folgen. Nur darin liegt die Ethik der Freien Studenten bzw. der Meißner-Generation:

Einen Menschen zu einer Handlung zwingen, die er selbst nicht für recht hält, hieße ihn zur Unsittlichkeit zwingen; und daher lehnen wir jede autoritative Moral ab, die an Stelle der freien Selbstbestimmung des einzelnen fremde, von irgend einer Autorität aufgestellte Prinzipien des Handelns setzen will. Das ist der Kernpunkt unserer Ethik, das ist der Grundgedanke unseres sittlichen Empfindens, und nur derjenige kann zu unseren Reihen gehören, der aus innerster Ueberzeugung diese Weltanschauung sein eigen nennt. (Reichenbach, 1913a, 28)

Diese Forderung hat zwar, wie auch Maria Reichenbach betont, einen Kantischen Hintergrund.Footnote 9 Ähnlich seinem Mentor Gustav Wyneken schlägt Reichenbach hier eine Art von modifiziertem oder reduziertem kategorischen Imperativ vor.Footnote 10 Allerdings sind die Konsequenzen dieser Reduktion – die eigenen Maximen nur vom eigenen Gefühl abhängig zu machen und diesen Individualismus auch von allen anderen zu fordern – durchaus radikal. Und zwar radikal von Kants ursprünglichen Intentionen abweichend, die alles, nur keinen Pluralismus von Werten, ermöglichen wollten. Nicht nur, dass eine unabsehbare Pluralität von potentiell unvereinbaren Wertsystemen entstehen muss. Es wurde mit den Postulaten von 1913 auch keine Strategie formuliert, wie man mit diesen potentiellen Wertkonflikten umgehen könnte, außer der eher zahnlosen Handlungsanleitung, der zufolge die Werthaltungen des anderen einfach akzeptiert werden sollten, sofern diese Resultat seiner eigenen innersten Emotion sind.

Wenig überraschend hat Reichenbach diese radikale Position eines im Prinzip unbedingter Selbstverantwortung justierten Individualismus später nicht mehr vertreten. In den für Reichenbachs Wertphilosophie das letzte Wort darstellenden Schlusskapiteln zu The Rise of Scientific Philosophy formuliert er ein „demokratisches Prinzip“, das sich im direkten Gegensatz zu einem „Anarchismus“ versteht, der weitgehend der eigenen Haltung Reichenbachs von 1913 zu entsprechen scheint.Footnote 11 Dennoch ist Reichenbachs Text historisch bedeutsam. Er ist ein frühes Dokument eines ethischen Nonkognitivismus, der, wie man vor dem Hintergrund der Dokumente von 1913 mutmaßen könnte, einen Ausweg aus als unüberbrückbar empfundenen ethischen Gegensätzen bot.

Wir drucken hier nur die meta-ethischen Betrachtungen ab, die sich in den Anfangspassagen (S. 25–28) von Reichenbachs Text finden. Die Originalpaginierungen werden wiedergegeben. Der Text wird zeichenidentisch von der Druckfassung von 1913 übernommen.

1 Die freistudentische Idee. Ihr Inhalt als Einheit [Auszug]

In Kranold, Hermann, Karl Landauer, Hans Reichenbach. 1913. Freistudententum. Versuch einer Synthese der freistudentischen Ideen. München: 25–40.

|25 Wenn eine Kulturbewegung erst 15 Jahre nach ihrer Entstehung dazu kommt, ihre philosophischen Grundlagen klar zu entwickeln, so beweist das keineswegs etwas gegen den Wert dieser Bewegung. Es ist vielmehr eine oft beobachtete Erscheinung, daß das Handeln unter bestimmten Wertgesichtspunkten ihrer klaren Erkenntnis vorausgeht, daß oftmals ein Ideal erst hell und scharf ins Bewußtsein tritt, wenn der unter dem Einfluß des Affekts handelnde Mensch schon längst begonnen hat, das mehr geahnte als erkannte Ziel durch die Tat in Wirklichkeit umzusetzen. Nicht die klare logische Erkenntnis bestimmt den ethischen Wert einer Handlung. Dieser ist vielmehr durch das Motiv selbst gegeben, unabhängig davon, welche intellektuellen Vorgänge die Handlung begleiten. Aber das heißt noch nicht, daß eine solche klare Formulierung der eigenen Willensrichtung unnötig sei. Im Gegenteil, der fortschreitend sich entwickelnde Mensch wird danach streben, nun auch klar und deutlich zu bestimmen, was er eigentlich als Ziel all seines mühevollen Wirkens, seiner oft nur mit Undank belohnten Arbeit erstrebt. Er wird das tun, weil er sein Handeln einheitlich gestalten will, weil er all seine Tätigkeit unter den einen Gesichtspunkt seines Ideals bringen will, weil ihm die klare Erkenntnis des hohen Zieles erst die rechte Kraft gibt, dafür zu kämpfen.

Das ist es, was der Freien Studentenschaft bisher gefehlt hat. Sie hat vielerlei getan und vielerlei unternommen, sie hat Abteilungen gegründet und Vorträge veranstaltet und soziale Aemter geschaffen und Studentenausschüsse erstrebt – aber wofür sie das alles tat, warum sie 700 deutsche Studenten in ihren Ehrenämtern ihre oft mühsam erübrigte Zeit aufwenden und ihre Kraft opfern ließ, das hat sie nie recht deutlich ausgesprochen. Einzelne Führer traten auf und sprachen von Idealen, wertvolle Gedanken warfen sie hinein in das Chaos freistudentischer Ideologie – aber was sie nicht brachten, war die einheitliche Zusammenfassung aller dieser Ideen, wovon sie nicht sprachen, war die eine Idee, die allen diesen Idealen zugrunde liegt. Viel hat auch Behrend in seinem Ideenkreis geliefert, aber diesem geistvollen Büchlein fehlt die klare Formulierung des Ideals als Ideal; es leidet unter der unglücklichen Vorstellung, daß dieses Ideal gar nicht ein fest umrissenes subjektives Wollensziel sei, sondern ein „objektives“ Interesse einer großen Zahl von Menschen, der nichtinkorporierten Studenten, die gar nicht anders können, als dieses nun einmal aufgefundene „objektive“ Gebilde jauchzend zu ihrem Lebenszweck zu machen. Eine Anschauung, die eine Zeit lang die offi | 26zielle Rechtfertigung der freistudentischen Organisationsform darstellte – um dann desto heftiger von allen Seiten angegriffen zu werden, desto rascher von fast allen Parteien aufgegeben zu werden.

Der Fehler, der im System lag, ließ sich nicht länger verbergen. Es gibt nun einmal keine objektiven Interessen; das Interesse ist stets die Stellungnahme eines Subjekts zu irgend einem Objekt, und wie dieses Subjekt entscheiden will, darüber läßt sich in allgemein verbindlicher Form gar nichts bestimmen. Nur der einzelne selbst kann sagen, was er sein Interesse nennen will; das hängt für ihn ab von der Art seiner Wertungen, von seiner Stellungnahme zu den Werten überhaupt, und niemand kann einem anderen mit Mitteln der Logik seine Werte etwa widerlegen wollen. Bewertung hat mit Logik gar nichts zu tun. Sollte es sich finden, daß einige Interessen einer größeren Zahl von Menschen gemein sind, so sind sie eben die subjektiven Interessen dieser Menschengruppe, das heißt derjenigen Menschen, die sich zu ihnen bekennen – aber nie und nimmer werden sie dadurch objektive Interessen, Interessen etwa, die jeder andere Mensch des gleichen Standes auch anerkennen muß. Auch wenn man „öffentliche Interessen“ dafür sagt, ändert man an dem logischen Fehler dieser Theorie nichts. Aus der Tatsache, daß jemand Nichtinkorporierter ist, folgt noch nichts für den Inhalt seiner Interessen. Es muß vielmehr klar und deutlich daran festgehalten werden: Was für Interessen die freie Studentenschaft auch vertritt, es sind stets Interessen einer besonderen Menschengruppe, und nur die freie Willenserklärung des einzelnen kann über die Zugehörigkeit zu ihr entscheiden.

Diese von der Freien Studentenschaft vertretenen Interessen inhaltlich zu entwickeln, sie in die Form des Ideals zu gießen, ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Es liegt in der Natur, daß sie nichts neues sagt, denn wir wollen ja nicht neue Ziele der Freien Studentenschaft aufzwingen, sondern nur die alten, die sie immer verfochten hat, in klare, einheitliche Form fassen. Aber das wollen wir auch: Es soll der Geist aufgezeigt werden, der in freistudentischer Arbeit gelebt hat, es soll der einheitliche Ideenbau entwickelt werden, der, wenn auch nicht klar bewußt, so doch tatsächlich der Träger freistudentischen Schaffens gewesen ist.

Das freistudentische Wollensziel läßt sich kurz auf folgende Formel bringen:

Das ethische Ideal ist der Mensch, der in freier Selbstbestimmung sich seine Werte schafft und als Glied der sozialen Gemeinschaft diese Autonomie für alle und von allen Gliedern fordert. |27

Das ist ein rein formales Ideal. Formal, weil über die Richtung, in der jeder seine Selbstentscheidung trifft, nichts ausgesagt ist. Es durfte nicht inhaltlich sein, weil es eben ein Ideal sein sollte. Nur die Form des Ideales kann allgemein verbindlich aufgestellt werden: sie mit Inhalt auszufüllen, ist persönliche Aufgabe jedes einzelnen. Gerade in der Vielgestaltigkeit der Menschentypen liegt der Reiz, gerade die Vielheit der Sonderinteressen und der persönlichen Bewertungen macht das Leben erst lebendig. Der einzelne darf sich sein Leben gestalten, wie es ihm wertvoll erscheint, darf sich persönlich inhaltliche Ziele setzen, etwa den Beruf des Künstlers, des Mathematikers – aber von den anderen genau dieselbe Zielsetzung zu verlangen, hieße die persönliche Eigenart einseitig überschätzen, hieße Armseligkeit, Pedanterie. Nur eines läßt sich als allgemeine Forderung aufstellen: Das ist die formale Gestaltung des Ideals. Als solche verlangen wir die autonome Gestaltung des Idealbildes, das heißt, wir fordern, daß jeder das Ziel seines Strebens aus eigener freier Willensentschließung sich bestimmt und nur dadurch sein Handeln einrichtet. Was jeder für richtig hält, darf er auch tun; aber das soll er auch tun, und typisch unsittlich ist für uns nur der Widerspruch zwischen Zielsetzung und Handeln. Einen Menschen zu einer Handlung zwingen, die er selbst nicht für recht hält, hieße ihn zur Unsittlichkeit zwingen; und daher lehnen wir jede autoritative Moral ab, die an Stelle der freien Selbstbestimmung des einzelnen fremde, von irgend einer Autorität aufgestellte Prinzipien des Handelns setzen will. Das ist der Kernpunkt unserer Ethik, das ist der Grundgedanke unseres sittlichen Empfindens, und nur derjenige kann zu unseren Reihen gehören, der aus innerster Ueberzeugung diese Weltanschauung sein eigen nennt.

Wenn wir in der Formulierung unseres Ideals noch einen zweiten Gesichtspunkt aussprachen, den sozialen, so darf das nicht etwa als ein Widerspruch zu dem eben ausgeführten Prinzip der Autonomie angesehen werden. Es ist nicht richtig, von einem Widerspruch zwischen Individualismus und Sozialismus zu sprechen; es ist auch nicht richtig, das hier gezeichnete Ideal als eine Synthese der beiden zu betrachten, als eine Art von Kompromiß, den zwei feindliche Grundrichtungen geschlossen haben. Vielmehr ist es nur ein- und derselbe Gedanke, von zwei verschiedenen Seiten gesehen, wenn wir die Autonomie des einzelnen verlangen und gleichzeitig fordern, daß dieser allen andern das gleiche Recht auf Selbstbestimmung zuerkenne. Es ist das eine Ergänzung, die das Ideal erst zu einer Ganzheit macht, eine Erweiterung, die das für den einzelnen Gewollte zum allgemeinen Gesetz ausgestaltet. Die Anerkennung des Satzes von der Autonomie als eines allgemeinen, das heißt für jeden gültigen Gesetzes, bedeutet aber nicht eine Einengung dieses Satzes, sondern gibt ihm vielmehr erst seinen rechten Inhalt. Was wir fordern, ist also sittliches Handeln als Recht und als Pflicht für jeden – wobei | 28 über den Inhalt seines Handelns jeder einzelne selbst entscheidet und das Kriterium der Sittlichkeit allein durch die Uebereinstimmung von Zielsetzung und Handeln gegeben ist.

Die Arbeit der freien Studentenschaft besteht nun darin: die Studenten zu diesem ethischen Ideal zu erziehen. […]