Die beiden Texte, die hier erstmalig abgedruckt werden, stammen aus Rudolf Carnaps Studien- und Kriegsjahren, die bis jetzt wenig erforscht worden sind. Lediglich über seine politische Entwicklung gegen Ende des Ersten Weltkriegs, im Jahre 1918, sind wir inzwischen etwas weniger im Dunklen. Seine erste Veröffentlichung, eine Besprechung zweier Bücher über mögliche Formen eines Staaten- beziehungsweise Völkerbundes, erscheint demnächst im ersten Band der Carnap Gesamtausgabe. Eine weitere, viel umfassendere „politische Stellungnahme“, wie er sie nannte, die in derselben Zeitschrift am Vorabend der Revolution 1918 erscheinen sollte, um dann aber von den sich überstürzenden Ereignissen überholt zu werden, nämlich der Aufsatz „Deutschlands Niederlage: Sinnloses Schicksal oder Schuld?“, erscheint ebenfalls im vorliegenden Band. Meike Werner hat den Hintergrund dieser ganzen Phase in Carnaps Entwicklung nun beleuchtet, durch ihre Untersuchung zu Carnaps eigenen Politischen Rundbriefen.Footnote 1 Das waren kommentierte Sammlungen von unter anderem Zeitungsausschnitten der ausländischen Presse, die er im Freundeskreis umlaufen ließ, worauf seine militärischen Vorgesetzten kurz vor der Revolution aufmerksam wurden. Dank des Regimewechsels folgten dieser Aufdeckung aber keine Strafmaßnahmen gegen Carnap. Die insgesamt neun Politischen Rundbriefe werden im geplanten ersten Band der Carnap-Korrespondenzen abgedruckt.

1 Einleitung (A.W. Carus)

Über die Zeit vor 1918 wissen wir noch weniger, aber das beginnt nun sich zu ändern. Bis vor Kurzem haben wir uns zum größten Teil nur auf Carnaps Autobiographie (Carnap, 1963) verlassen müssen, die von Carus (2007) durch längere Zitate aus ihren unveröffentlichten Teilen und einigen anderen Dokumenten ergänzt wurde. Ein sehr wichtiges Erlebnis der Vorkriegszeit in Jena war für Carnap seine Teilnahme an der Jugendbewegung, das heißt dem Serakreis um Eugen Diederichs, und zu dieser lokalen Variante der Gesamtbewegung gibt es inzwischen – ebenfalls von Meike Werner – die ausgezeichnete Studie Moderne in der Provinz: Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena (2003). Außerdem sind auch die kompletten Tagebücher Carnaps online zugänglich, aus seiner Kurzschrift transkribiert von Brigitte Parakenings und Brigitta Arden, herausgegeben von Christian Damböck. Auch viele andere Zeugnisse aus diesen Jahren, vor allem Carnaps Briefwechsel mit seiner Mutter (in Langschrift), sind nun online greifbar auf der Webseite der Archives of Scientific Philosophy (Pittsburgh). Diese nun einfach zugänglichen Dokumente bringen uns viel weiter, harren aber noch größtenteils ihrer Auswertung.

Was bisher fehlte, waren zusammenhängende Darstellungen von Carnaps gesamter Weltauffassung in dieser Zeit. (Diese gibt es allerdings auch für die späteren Jahre kaum – was ein Grund unter anderen ist, warum seine Philosophie lange Zeit der Aufnahme in den philosophischen Kanon so widerspenstig blieb.) Die beiden hier wiedergegebenen Dokumente tragen dazu bei, diese Lücke zu schließen. Das erste der beiden ist eine Vorlage für einen Vortrag, den Carnap in Freiburg während des Wintersemesters 1911/1912 vor der dort neugegründeten Freischar hielt, und zwar zum Thema „Religion und Kirche“. Das zweite ist ein offener Brief, den Carnap, damals an der Ostfront in Polen, im Sommer 1916 an einen Pastor Eduard Le Seur in Berlin richtete, der in einem Beitrag zur Zeitschrift Der deutsche Michel das traditionelle Christentum als Heilmittel gegen das Versagen der „modernen Kultur“ empfohlen hatte. Im Folgenden wird einzeln auf die beiden Dokumente kurz eingegangen.

1.1 „Religion und Kirche“ (1911)

Bei diesem Dokument aus dem Carnap-Nachlass in Pittsburgh handelt es sich nicht, wie bei Carnaps späteren Vortragsvorlagen, um stichpunktartige Notizen, sondern um meist ausgeschriebene Sätze, allerdings versehen mit vielen Korrekturen und Einschüben.Footnote 2 Es fehlt auch ein wichtiger Bestandteil des Manuskripts. Carnap argumentierte hier (entgegen seiner späteren Praxis) historisch und mit vielen Beispielen, und jedes historische Beispiel wurde durch ein offenbar recht langes Zitat veranschaulicht.

Diese Zitate sind in Carnaps Vorlage mit blauen Ziffern angegeben, die hier durch fettgedruckte Zahlen in eckigen Klammern wiedergegeben sind. Anlässlich des Vortrags hat er entweder einen Stapel von Büchern dabeigehabt, aus denen er die Zitate vorlas, oder er hat sie separat aufgeschrieben oder abgetippt. Diese Abschriften, falls sie existierten, sind aber nicht erhalten geblieben; weder die Zitate selbst noch eine Liste der Stellen sind mit dem Vortrag selbst aufbewahrt worden. Bis jetzt hat sich auch sonst in den Carnap-Nachlässen in Pittsburgh und an der UCLA nichts Derartiges finden lassen. Die meisten dieser Zitate sind vermutlich aus ihrem jeweiligen Zusammenhang rekonstruierbar. Es gibt sieben blaue Ziffern, mit Texthinweisen auf: 1. Sokrates (wohl aus der Apologie des Sokrates), 2. Platon, 3. Seneca, 4. Buddha (Predigt von Benares), 5. Luther („Von dem Mißbrauch der Messe“), 6. wieder Luther und 7. Johannes Müller, als einziger Repräsentant einer „moderneren“ Auffassung (also der Theologie seit Schleiermacher, der kurz erwähnt wird).

Was wir zur Datierung des Textes wissen, ist in Carnaps eigenhändigem späteren Hinweis auf der ersten Seite enthalten: „Freiburg, vermutlich 1911 (oder 1912?)“. In Carnaps Tagebüchern zu dieser Zeit (d. h. in den mit den Tagebüchern aufbewahrten Kurzschriftversionen seiner Briefe an Tilly Neovius) findet sich keine Erwähnung des Vortrags, auch nicht in seinen Briefen an die Mutter aus dieser Zeit. Auch inhaltlich deutet nichts auf ein bestimmtes Datum hin. Da Carnap offenbar ab Anfang des Wintersemesters 1911/1912 Rickerts Vorlesungen besuchte, lässt der beiläufige und recht vage, nachträglich eingefügte Hinweis auf Rickert ebenfalls auf keinen bestimmten Zeitpunkt schließen.

Der vielen Korrekturen und Einschübe wegen ist die Kurzschrift stellenweise schwer zu entziffern. Frau Brigitte Parakenings (Universität Konstanz) und Frau Brigitta Arden (damals Universität Pittsburgh) haben mir sehr bei der Transkription geholfen, vor allem bei einigen schwierigen Stellen, wo verschiedene Lesarten möglich sind. Die hier wiedergegebene Transkription beansprucht dennoch keineswegs, das letzte Wort zu sein; sie soll als vorläufig sondierende Fassung angesehen werden, vor allem da die Zitate fehlen, die offenbar nach Carnaps Gefühl dem Vortrag ein gewisses Gewicht verliehen. Deshalb wurde auch kein Versuch gemacht, jede Einzelheit des Kurzschriftdokuments mit philologischer Genauigkeit wiederzugeben. Rechtschreibe- und Interpunktionsfehler wurden stillschweigend korrigiert. Wörter stehen nur dann in eckigen Klammern, wenn sie im Manuskript gänzlich fehlen, fehlende Wortteile wurden stillschweigend ergänzt. Bei fraglichen Stellen wurde eine naheliegende Lesart gewählt, die in den Zusammenhang passt. Durchgestrichene Passagen wurden ohne Anmerkung übergangen. Der Sinn des Abdrucks im vorliegenden Band ist, diesen Text erstmal in die Diskussion einzubringen beziehungsweise weitere Kreise auf ihn aufmerksam zu machen.Footnote 3

1.2 Carnaps offener Brief an Pastor [Eduard] LeSeur (1916)

In Carnaps Tagebuch befindet sich im Februar 1916 eine Liste gelesener Schriften, darunter die Ausgabe des Deutschen Michel, in der Eduard Le Seurs Brief an einen ungenannten Freund abgedruckt ist, auf den Carnap in seinem offenen Brief reagiert, sowie ein Band Predigten über das Glaubensbekenntnis von Le Seur.Footnote 4 Carnaps eigener Brief ist im Pittsburgher Nachlass nur als Kurzschriftentwurf (RC 089-74-02, datiert März 1916) erhalten und in einer Abschrift seiner Schwester Agnes (RC 089-74-01, ebenfalls März 1916), die im Folgenden abgedruckt ist. Aufgrund der erhaltenen Materialien sind die Umstände der Entstehung des Textes schwer zu rekonstruieren, vor allem ist nicht klar, worin das „Offene“ an dem Brief bestand. Getippt wurde der Brief anscheinend nicht, da Carnap an der Ostfront keine Schreibmaschine zur Verfügung hatte. Gedruckt oder veröffentlicht wurde er auch nicht, sonst wäre sicherlich ein Exemplar im Nachlass zu finden. In den Briefen der Serafreunde, die in Pittsburgh aufbewahrt sind (auch unter den Photokopien aus anderen Archiven), wird der Brief an LeSeur meines Wissens nicht erwähnt. Allerdings lasen und kommentierten verschiedene Verwandte den Brief, vor allem Carnaps Mutter. Es mag sein, dass die Motivation dieses Briefes gerade in seiner sonst nicht wirklich sichtbaren Auseinandersetzung mit der Mutter über religiöse Fragen lag. Es finden sich nämlich im gleichen Ordner einige Gedanken in Kurzschrift (datiert 10.08.1917) „über den Austritt aus der Kirche“ in Form einer Antwort Punkt für Punkt auf „Mutters Aufzeichnungen vom 10.3.17“ (RC 089-74-08) zu diesem Thema. Dieser Diskussion wäre im Einzelnen nachzuspüren, dabei wäre vor allem zu untersuchen, ob diese sich direkt an die Gedanken Carnaps im offenen Brief an LeSeur anschließt, wie ihre Ablage in Carnaps Papieren nahelegt.

Wie dem auch sei, die Rhetorik des Briefs ist keineswegs privat, sondern appelliert unmissverständlich an eine breitere Öffentlichkeit. Carnap gibt sich hier als Repräsentant seiner Generation, er spricht im Namen der Millionen, die in die Schützengräben geschickt wurden und, sofern sie überlebten, nun allmählich beginnen, sich Gedanken über den Krieg und die Zukunft zu machen. Schon aus diesem Grund ist der Brief interessant, und sollte auf jeden Fall mit ähnlichen – veröffentlichten und nicht veröffentlichten – Aufrufen und Ausrufen dieser Art aus den Schützengräben in den späteren Kriegsjahren verglichen werden. Der auf die Öffentlichkeit zielende Gestus heißt natürlich nicht, dass Carnap mit diesem Brief nicht auch die Diskussion innerhalb seiner Familie fortsetzt, indem er in einem manifestartigen Statement eine systematische Darstellung seiner Gesamtansicht ausformuliert, um seiner Familie klarzumachen, dass er nicht nur für sich als Einzelnen spricht, und nicht aus eigenwilliger Laune oder Besserwisserei das Christentum ablehnt, sondern dies aus allgemeineren – nicht nur sachlichen, sondern auch moralischen – Erwägungen.

Agnes Carnap schrieb den offenen Brief ihres Bruders in Sütterlin-Schrift ab, die heute der Transkription bedarf. Meine Vorabveröffentlichung des Briefes im Carnap-Blog vom 30.11. 2015 beruhte auf einer offenbar zu eiligen Transkription. Inzwischen wurde diese von Wolfgang Kienzler (Universität Jena) an einigen Stellen wesentlich verbessert. Die Herausgeber dieses Bandes und ich sind ihm sehr dankbar, dass er uns seine Korrekturen und Anmerkungen zum Brief für diese Veröffentlichung zur Verfügung stellte. Der von ihm transkribierte Text ist es auch, der hier abgedruckt wird.

2 Religion und Kirche

Mein Vortrag in der Freischar, Freiburg, vermutlich 1911 (oder 1912?)

Iddio non vuole religioso di noi se non il cuore.

Convivio IV

Wir wollen heute zusammen über das Thema „Religion und Kirche“ sprechen. Die Religion selbst, im Gegensatz zu ihren Erscheinungsformen, [ist] etwas, was dem einzelnen nur als sein individueller Besitz bekannt ist. Als eine allgemeine menschliche Erscheinung nehmen wie sie erst dann wahr, wenn wir die konkreten Vorgänge betrachten, die wir als Ausflüsse der Religion auffassen, die aber selbst nicht die Religion darstellen. Von diesen sozusagen „Symptomen“ der Religion fallen am meisten die in die Augen, die nur religiöse Handlungen sind: der Kultus. Durch den Kultus will der Mensch entweder seine religiöse Gesinnung vor den Menschen oder vor seinem Gott zum Ausdruck bringen, oder sich in eine gewisse Gefühlslage versetzen lassen. In den meisten Fällen ist beides vereinigt. Der Ausdruck der Gesinnung geschieht entweder symbolisch oder sachlich. So z. B. das Opfer, das sich in fast allen Religionsformen in irgendeiner Gestalt vorfindet, meist als ein symbolischer Ausdruck für Ehrerbietung oder Dankbarkeit aufzufassen, zuweilen aber auch direkt sachlich als eine Beschenkung des Gottes, um ihn sich günstig zu stimmen. Andererseits wird das Pathos der Rede, noch wirkungsvoller die Musik oder gar der Tanz dazu verwendet, eine gewisse Stimmung hervorzurufen, die sich unter Umständen bis zum Rausch oder zur Ekstase steigert. Nämlich bei den Religionsformen, die auf den Kultus – und zwar speziell auf diese zweite Seite des Kultus – großen Wert legen. [S. 2] Als Beispiel für diese Seite des Kultus nenne ich einerseits die exotischen Erscheinungen des Derwischtanzes, der neuplatonischen Verzückung, der Gott-schauenden Kontemplation der Mystiker, ferner in der Gegenwart die Verzückungen der sog. „Erweckten“ in Wales, das Zungenreden in den Versammlungen der in unserem eigenen Lande immer weiter um sich greifenden Pfingstbewegung; andererseits aber auch den Kirchengesang und das Orgelspiel in den protestantischen Kirchen, dazu noch das Weihrauchstreuen in den katholischen, usw.

Für unser Problem, was Religion selbst eigentlich ist, wollen wir uns also merken, dass wir gefunden haben, daß diese Religionsäußerungen, nämlich der Kultus, Symptome sind für eine gewisse Gesinnung gegenüber etwas höherem und für das Streben nach gewissen Gemütszuständen.

2. Die Religion tritt nun noch auf eine andere Art in die äußere Erscheinung, nämlich in ihrer Ethik. Ich spreche hier noch nicht von den Moralgesetzen, die etwa die Religion aufstellt, sondern von der Einwirkung, die jede Religion, mehr oder weniger bewußt, auf die Lebensführung des Menschen ausübt. Sie betrifft in erster Linie sein Verhalten gegenüber den Mitmenschen, dann auch seine Stellung zu den anderen Lebewesen und der übrigen Natur. Wie wir uns aus den einzelnen Taten eines Menschen ein Bild seines Charakters zu konstruieren versuchen, so muß auch umgekehrt seiner ganzen Lebensführung, sofern sie einheitlich ist, eine [S. 3] bestimmte Gesinnung zu Grunde liegen (das, was allen einzelnen Handlungen des Menschen zu Grunde liegt, nennen wir die Gesinnung). In diesem Sinne nennt z. B. Paulus ein bestimmtes ethisches Verhalten die „Frucht des Geistes“, das heißt: das Symptom der Gesinnung, in der seine Religion besteht. Jesus sagt: „Ich will mein Gesetz (das heißt: meine Ethik) in ihr Herz legen und in ihren Sinn schreiben“; mit anderen Worten: „Sie sollen meine Willensstellung oder meine Gesinnung des Herzens haben.“ Deutlicher kann er doch nicht aussprechen, daß seine Religion in einer bestimmten Gesinnung besteht. Darauf würde also auch hier wieder unsere Antwort auf das Problem, was Religion ist, hinauslaufen. Aber es ist ein Unterschied da: während uns der Kultus auf die Stellung des Menschen zu etwas Höherem, idealem hinwies, so kommen wir hier auf sein Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt, das als Ausfluß jener anzusehen ist, denn in jeder Religion ist die Stellung des Menschen zu dem Höheren das Primäre, aus dem sich sein Tun und Lassen im Leben bestimmt.

Um noch einmal kurz zusammenzufassen: Die Religion eines Menschen besteht in der Gesinnung, in der Stellung seines Herzens zu dem, was ihm das Höchste ist, und der daraus hervorgehenden Gesinnung gegenüber der ihm umgebenden Welt. Ich fasse hier Religion weiter, als es gewöhnlich geschieht. Ich sehe sie als etwas allgemein Menschliches an, was weder von dem Glauben an einen Gott, – wie ich ja bisher überhaupt noch nicht von irgendeinem Glauben in diesem Sinne gesprochen habe, – noch etwa an ein bestimmtes Ideal abhängig wäre. So ist nach meiner Auffassung [S. 4] z. B. auch der Patriotismus Religion und seine Betätigung Religionsausübung, nämlich für den Menschen, dem das Vaterland auf der höchsten Stufe seiner Wertung steht. Was für den Menschen auf dieser Stufe steht, ist für die Frage, ob sein Verhältnis dazu Religion ist oder nicht, prinzipiell gleichgültig, wenn wir auch zuweilen an anderen Menschen eine solche Religion höher als eine andere werten. Während dem einen auf der Stufe des Höchsten Wertes ein persönlicher Gott steht, oder das Weltganze als Organismus im pantheistischen Sinne, stellt z. B. ein anderer dorthin die Kunst im allgemeinen, oder eine bestimmte Kunst, oder die Wissenschaft; wieder andere Familie, Vaterland, Rasse, Menschheit; das letztere gewöhnlich im Sinne von Humanität oder Kultur der Menschheit.

3. Außer im Kultus und in der Lebensführung des Einzelnen tritt die Religion noch auf einem dritten Gebiete in die äußere Erscheinung; und zwar steht es bei den meisten Religionsformen so sehr im Vordergrund, daß es bei oberflächlicher Betrachtung als das wichtigste erscheinen könnte, nämlich die Lehrsätze der einzelnen Konfessionen, wenn wir mit „Konfessionen“ im weiteren Sinne jede einzelne Religionsform, besonders im Hinblick auf ihr Bekenntnis, verstehen. Die Gesamtheit der Lehrsätze einer Konfession bildet ein mehr oder weniger geschlossenes und logisch gestütztes System. Diese Sätze als solche können sich selbstverständlich zunächst nur an den Verstand des Menschen wenden; doch können sich, wenn sie verstanden worden sind, Gefühle daran knüpfen [S. 5] oder Motive daraus ergeben. Über den groben Mißbrauch, der zu allen Zeiten innerhalb der Konfessionen mit diesen Sätzen getrieben worden ist, daß z. B. das intellektuelle Überzeugtsein von den in ihnen ausgesprochenen Behauptungen zur ethischen Pflicht gemacht wurde, bzw. in manchen Konfessionen noch gemacht wird, will ich hier nicht sprechen. Sondern selbst gegenüber der maßvollen Anwendung behaupte ich: die Religion besteht nicht nur nicht in den Lehrsätzen, – was jeder zugeben wird, – sondern sie kann durch sie weder unterstützt noch gestürzt werden, da sie von ihnen überhaupt nicht berührt wird. Man kann entgegnen, daß jede Religion doch mit Hülfe des Wortes von Mensch zu Mensch weitergegen wird. Unter den Sätzen, die allerdings zu diesem Zwecke gesprochen werden müssen, möchte ich deshalb unterscheiden zwischen denen, die sich auf verstandesmäßig erfaßbare Dinge beziehen, und denen, die ethische Forderungen oder die subjektive Auffassung des Weltganzen und des Menschenlebens zum Ausdruck bringen. Die erstere Art von Behauptungen, nämlich die über ihrer Natur nach objektive, wenn auch vielleicht noch nicht erkannte oder unerkennbare, Thesen, will ich „Wissenssätze“ nennen. Alle nur möglichen menschlichen Wissenssätze bilden in ihrer Gesamtheit das „Weltbild“. Ihnen gegenüber stehen die Sätze über unsere Stellung zu diesem Weltbild, die also beispielsweise unseren Pessimismus oder Idealismus oder dergleichen zum Ausdruck bringen; sie lassen sich weder rein verstandesmäßig beweisen, noch widerlegen, also nicht diskutieren. Ich will sie „Glaubenssätze“ nennen; die Ausdrücke „Wissens- und Glaubenssätze“ [S. 6] möchte ich ohne jede Prätendenz nur für unsere heutige Diskussion vorschlagen, um eine gemeinsame Terminologie zu haben. Dagegen bitte ich, die Ausdrücke „Glauben“ und „Wissen“ für sich möglichst zu vermeiden, da sie vor genauer Definition sicherlich nicht in übereinstimmendem Sinne verstanden werden. Auch bitte ich, statt des Ausdruckes „Weltanschauung“ lieber entweder „Weltbild“ oder „Weltauffassung“ zu sagen, da „Weltanschauung“ beides bedeuten kann.

Nach Rickertscher Terminologie wären Wissenssätze mit den Seinssätzen, die Glaubenssätze mit den Wertsätzen in Parallele zu stellen; doch decken sie sich nicht vollständig mit jenen.

Da die Religion sich nun nach meiner vorhin ausgesprochenen Auffassung nicht mit Wissenssätzen berühren kann, so bedeutet die Aufstellung von Wissenssätzen von Seiten einer Konfession einen Übergriff in ein ihr wesensfremdes Gebiet. Daß Religion und Weltbild (in der vorhin bezeichneten Bedeutung als Gesamtheit der Wissenssätze) sich nicht gegenseitig bedingen, ersehen wir ja deutlich aus der Tatsache, daß einerseits Leute mit dem gleichen Weltbild verschiedene Religionen haben konnten, wie z. B. Christus und die Juden, oder Luther (wenigstens in früheren Jahren) und die Katholiken, daß andererseits Leute dieselbe Religion haben können, obwohl sie so verschiedene Weltbilder haben, wie das heutige und das von vor zwei Jahrtausenden, z. B. Christus und die Propheten des Evangeliums in unserer Zeit, wie Johannes Müller, Lhotsky, und manche andre.

Die Vermengung von Religion und Weltbild, oder mit unseren Ausdrücken, von Glaubens- und Wissenssätzen, finden wir bei fast jeder ausgebildeten Konfession. Die Wissenssätze sind dabei meist historischer Art, indem sie sich auf Lebensschicksale von Personen oder sonst ältere Ereignisse beziehen; zuweilen betreffen sie auch Ereignisse der [S. 7] Gegenwart oder Zukunft; ja sogar mitunter psychologische oder naturwissenschaftliche Tatsachen. So betrachte ich es z. B. als eine unberechtigte Vermengung der Religion mit historischen Tatsachen nicht nur, wenn die christliche Lehre die Auferstehung Christi behauptet, sondern sogar, wenn die Religion so eng mit der Behauptung der historischen Persönlichkeit Christi, von der ich übrigens, nebenbei gesagt, selbst überzeugt bin, verknüpft wird, daß man sagt, mit der Tatsache des historischen Christus stehe und falle das Christentum selbst. Die sogenannten „Religionsgründer“, das heißt die Persönlichkeiten, die einen neuen Religionsausdruck gefunden haben, der dann später zur Konfession erstarrte, haben sich von dieser Vermengung von Glaubens- und Wissenssätzen immer viel freier gehalten als die[jenigen] ihrer Jünger, die die betr. Konfession, oder richtiger die Theologie dieser Confession begründet haben. So hat z. B. selbst die größere zusammenhängende Rede, die uns von Christus überliefert wird, rein ethischen Inhalt, bezieht sich auf die Herzensgesinnung. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, das sind also nur die Symptome. „Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen“; es ist also immer das esse die Hauptsache, nicht das operari, geschweige denn das credere. Als Gegenprobe nehmen wir den ersten Theologen, Paulus. Ich habe nicht etwa seine Schriften nach passenden Sätzen durchgesiebt, bin auch nicht so bibelfest, daß ich sogleich die geeigneten Stellen fände, sondern habe gestern mal aufs Geratewohl den ersten Korintherbrief genommen. Gleich nach der Begrüßungsformel heißt es: „Ich danke meinem Gott,..., daß ihr seid [S. 8] an allen Stücken reich gemacht, an aller Lehre und in aller Erkenntnis; wie denn die Predigt von Christo in euch kräftig worden ist,...“ und später: „das Wort vom Kreuz ist uns eine Gotteskraft“. Ich glaube, hieraus geht so deutlich hervor, daß Paulus auf die Erkenntnissätze großen Wert legte, daß ich es ruhig wagen darf, auch eine Stelle anzuführen, in der sich zeigt, daß Paulus das Christentum selbst als innere Kraft auffaßt: „Und mein Wort und meine Predigt war nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft, auf daß euer Glaube bestehe, nicht auf menschlicher Weisheit sondern auf Gottes Kraft.“ Ich mußte dies anführen, um Paulus nicht ungerechterweise als Dogmatiker hinzustellen. Trotzdem bleibt bestehen, daß er diese reine Auffassung der Religion mit Wissenssätzen verknüpfte, die in späteren Jahrhunderten als Hemmschuh wirken mußten, was er wohl kaum geahnt hat. [S. 9]

Ich möchte hier einen kurzen historischen Exkurs einschieben, um zu zeigen, daß zu allen Zeiten und in den verschiedensten Richtungen die größten Geister, die uns neues gelehrt haben, immer ihre Religion möglichst unabhängig von Wissenssätzen zu machen suchten, wenn auch natürlich ihre Lehre kaum jemals vollständig frei davon war. Daß ich dies zeigen will, spreche ich ausdrücklich vorher aus, damit Sie bei den verschiedenen Beispielen auf diesen Punkt achten. Übrigens erinnere ich daran, daß ich nach meiner umfangreicheren Auffassung von Religion noch manches mit diesem Namen bezeichne, was gewöhnlich nicht so genannt wird; sondern z. B. Philosophie oder noch anderes.

Beginnen wir mit dem ersten Ethiker in Europa, mit Sokrates; „ Ἔφη...“ [1] Man wird sagen, er sei ein recht ungeeignetes Beispiel für meine Behauptung; für ihn gebe es ja nichts anderes als Erkenntnis. Aber wir müssen hier wieder den Unterschied zwischen Glaubens- und Wissenssätzen machen. S[okrates] entwickelt seine Tugendlehre dialektisch, indem er zuweilen auf der Grundlage einer Verstandeseinsicht, zuweilen auf der einer Gewissenseinsicht aufbaut. Wenn wir scharf trennen wollen, so müssen wir Voraussetzung und Resultat im ersteren Falle zur Wissenschaft, im zweiten Falle zu den Religionssätzen rechnen. So lehrte S[okrates] seine Ethik allerdings sowohl als Religion, als auch als Wissenschaft, meist durcheinander. Niemals aber (und das ist das Wesentliche!) setzte er als notwendige [S. 10] Bedingung der Einsicht seiner Lehre die Annahme eines Wissenssatzes voraus, sondern baute stets auf der Anschauung des gerade vor ihm stehenden auf. Und was seine eigene persönliche Religion anbetrifft; so bestand sie, um unsere früheren Ausdrücke zu gebrauchen, in seiner Stellung zu dem, was für ihn auf der höchsten Wertstufe stand, in seiner Stellung zu dem δαιμόνιον, der Stimme der ἀρετή in seinem Innern, kam also überhaupt nicht mit irgendwelchen Lehrsätzen, weder Wissens- noch Glaubenssätzen, in Berührung.

Sein Schüler Plato entrüstet sich einmal in seiner Πολιτεία darüber, daß die Dichter, besonders Homer, allerlei menschliche Geschichten von den Göttern erzählen. Er empfand eben eine Verknüpfung seiner Gottesidee mit menschlichen Vorstellungen als Herabwürdigung: er nennt, philosophischer als S[okrates], den höchsten Wert das ἀγαθόν, die Idee des Guten, die für ihn identisch ist mit der Idee der Gottheit. Wie hoch diese Idee des Guten über der Wissenschaft steht, die durch sie als Voraussetzung überhaupt erst möglich wird, sehen wir aus folgender Stelle. [2] Ein großartigerer Ausdruck für die Unabhängigkeit des höchsten Wertes von der Wissenschaft und allen Wissenssätzen läßt sich wohl nicht finden. [S. 11]

Aristoteles lehrt, daß jede Handlung des Menschen einen Zweck hat, der nur wieder Mittel zum Zweck; der letzte und höchste Zweck aber ist immer die εὐδαιμονία, die Glückseligkeit. Der Ausdruck „Glückseligkeit“ könnte uns verleiten, unter der Aristotelischen εὐδ[αιμονία] eine bestimmte Art des Wohlbefindens zu verstehen. Es ist aber nach meiner Auffassung damit der rein formelle Begriff des Endzieles aller Handlungen des einzelnen Menschen gemeint, mit anderen Worten: der höchste Wert. Dem an sich inhaltleeren Begriff der εὐδ[αιμονία] gibt erst jede Philosophie für sich einen bestimmten Inhalt. Für Ar[istoteles] selbst besteht sie in der „ψυχής ἐνέργεια κατ’ἀρετήν“, das heißt: in der „Tätigkeit der Seele gemäß einer guten Gesinnung“, (denn ἀρετή bezieht sich immer auf Gesinnungseigenschaften). Bei Ar[istoteles] liegt also die Religion genau auf demselben Gebiete, auf das unsere Auffassung sie beschränkt wissen will.

Von dem Stoizismus, den ich nach meiner zu Anfang dargelegten Auffassung durchaus als Religion betrachten muß, kann ich nur zwei spätere, meiner Meinung nach aber hervorragende Vertreter anführen: Epiktet und Seneca, da ich mich nur mit diesen beiden beschäftigt habe. Epiktet mahnt uns, bei allen Dingen zu unterscheiden zwischen dem, was ich nicht ändern [S. 12] kann, und dem, was in meiner Macht liegt. Und zwar liege in meiner Macht all das, was ich an unkörperlichem in mir trage; die äußere, materielle Welt dagegen ist nicht in meine Hände gegeben, folglich geht sie mich nichts an und ich will mich auch nicht darum kümmern. Jede Abhängigkeit von irgendeinem Wissenssatze, mag er sich nun auf ein gegenwärtiges, zukünftiges, oder vergangenes Ereignis beziehen, ist demnach bei Ep[iktet] undenkbar.

Worauf sich bei Seneka die Religion, oder wie er es nennt, die „Philosophie“, bezieht, mag er mit eigenen Worten sagen: [3]

Daß er unter Philosophie das versteht, was wir Religion nennen, zeigt sich darin, daß er ausdrücklich sagt: „Philosophie ist das Streben nach virtus“, das heißt: nach der rechten Gesinnung.

Daß Epikur, für den die Aristotelische εὐδ[αιμονία] „Lust“ bedeutet, zu ihrer Erreichung nicht der Annahme irgendwelcher bestimmter Wissenssätze bedarf, wird wohl keiner bezweifeln.

Über die Skeptiker mit ihrer vollständigen Ablehnung jeden Urteils brauche ich wohl keine Worte zu verlieren.

Für die Neuplatoniker war die Aufhebung des Selbstbewußtseins, die Verzückung, das Höchste. Die Erkenntnis des Wahren ist nur möglich [S. 13] durch das unmittelbare Schauen in der Ekstase, lehrt z. B. Plotin. Dieser Teil seiner Philosophie, den wir als Religion aufzufassen haben, ist also völlig frei von Wissenssätzen. –

Daß ich aus der Geschichte des Altertums nur Philosophen angeführt habe, liegt daran, daß man damals alle Propheten und Ethiker mit dem Namen φιλόσοφοι bezeichnete. Aus späteren Epochen würden auch solche Dichter und Denker zu nennen sein, die man in der Geschichte der Philosophie nicht nennt, da sie nicht auf dem Gebiete der Philosophie, sondern etwa auf dem der Religion, der Kunst[,] oder sonst irgendeinem Gebiet Hervorragendes geleistet haben. Es würde wohl nicht allzu schwer sein, den Nachweis, den ich bei einigen Vertretern der antiken Geistesgeschichte geführt habe, durch Mittelalter und Neuzeit weiter zu führen. Doch würde es hier zuviel Zeit in Anspruch nehmen. Doch will ich wenigstens von den Propheten der Religion selbst (sozusagen aus jedem Jahrtausend einen) anführen: Buddha, Christus, Luther, und die religiöse Bewegung der Gegenwart, als deren Vertreter ich Joh[annes] Müller wähle; andere mögen einen anderen herausgreifen; ich bin von vornherein überzeugt, daß dann auch bei diesem, wenn es einer der hervorragenden Vertreter der modernen religiösen Strömung ist, sich der von uns festgestellte Grundzug als das wesentliche seiner Religion herausstellen würde. [S. 14]

Von dem wegen seines Dogmatismus viel geschmähten Buddhismus wollen wir die vier Hauptdogmen herausgreifen. Es sind die vier sogenannten heiligen Wahrheiten, über die Buddha in der Predigt von Benares spricht, der wichtigsten zusammenhängenden Rede, die uns von ihm überliefert ist. [4]

(Dabei sehen wir, daß die beiden ersten heiligen Wahrheiten seine Stellung, nämlich die pessimistische, gegenüber der äußeren Welt zum Ausdruck bringen, nicht aber das Weltbild selbst berühren; die beiden letzten sind rein ethischer Art; in der letzten wird in acht Punkten spezialisiert, was wir zusammenfassend „rechte Gesinnung“ nennen würden. Alle vier heiligen Wahrheiten sind also nicht Wissens-, sondern Glaubenssätze.)

Daß für den Jünger Buddhas das Hauptstreben nach der rechten inneren Gesinnung gerichtet ist, zeigt zum Beispiel auch der Spruch:

„Schritt um Schritt, Stück für Stück, Stunde für Stunde soll, wer da weise ist,... sein Ich von allem Unreinen läutern, wie ein Goldschmied das Silber läutert.“

Vom Christentum in seiner ursprünglichen Gestalt habe ich schon gesprochen und dabei Christus und Paulus für Beispiele und Gegenbeispiele angeführt. Auch die späteren Christen haben, wenn sie auf das ursprüngliche Christentum der Evangelien wieder zurückgingen, die Unwichtigkeit der Wissenssätze betont. Luther sagt in seiner Schrift „Von dem Mißbrauch der Messe“: [5] [S. 15]

Aus der neueren Zeit möchte ich kurz Schleiermacher berühren; für ihn besteht die Religion nicht in Wissenssätzen, sondern ganz entsprechend unserer Auffassung, in der Stellung das Menschen zu dem, was für ihn das Höchste ist; für Schl[eiermacher] selbst also seine Stellung zu dem ewigen Unendlichen, von dem sich der Mensch abhängig fühlt.

Von unseren Zeitgenossen will ich nur Johannes Müller anführen, der alle Lehrsätze, seien es nun Wissens- oder auch Glaubenssätze, für im Grunde wertlos ansieht. Dies spricht er z. B. recht deutlich in folgenden Worten aus: [7]

Nachdem wir uns darüber klar geworden sind, was wir als Religion aufzufassen haben, können wir das Problem der Kirche näher ins Auge fassen.

Unter „Kirche“ versteht man zuweilen die unsichtbare Gemeinschaft aller Gläubigen; von Kirche in diesem Sinne will ich hier gar nicht sprechen, sondern nur von der äußeren Organisation, in der sich Menschen zu einem bestimmten Zweck zusammengeschlossen haben. Dieser Zweck ist allgemein ausgedrückt die Pflege der Religion. Wir haben nur christliche Kirchen vor Augen; ich will darum nur über [die] sprechen. Wir bemerken an ihnen die vorhin genannten drei äußeren Erscheinungsformen, die mit der Religion verknüpft sind: 1.) den Kultus der Kirche, das heißt also Gottesdienste und überhaupt alle Zeremonien, auf denen ein Geistlicher seines Amtes waltet, 2) Ausübung [der] christlichen Ethik, in Krankenpflege und sonstiger Wohltätigkeit, 3) in der Aufstellung und Apologie der Lehrsätze, die teils Glaubens-, teils aber auch Wissensätze sind. Kultus, caritative Betätigung und Theologie finden wir bei fast allen christlichen Konfessionen. Als Problem stelle ich [die] Frage auf: hat die Gesellschaft als solche ein Interesse daran, daß die Kirche als öffentliche Institution besteht, oder wäre es die Sache der Individuen, sich privatim zu einer nicht-öffentlichen Kirche zusammenzuschließen?

Was den ersten Teil der Kirchenbetätigung anbetrifft, den Kultus, so ist [er] offenbar [S. 17] nur im Interesse der Personen da, die ein Bedürfnis für gerade diese Zeremonien empfinden. Dieses individuelle Bedürfnis und diese Befriedigung ist selbstverständlich berechtigt; aber trotzdem hat die Gesellschaft als solche kein Interesse daran. Anders steht es beim zweiten Teil der Tätigkeit der Kirche: der Wohlfahrtspflege; sie beruht ja auf sozialer Grundlage und ist die Aufgabe der Gesellschaft. Es ist stets die christliche Kirche gewesen, die die Iniziative zu diesen Einrichtungen, die das Gemeinwohl fördern, ergriffen hat. Erst spät hat es die Gesellschaft in ihrer organisierten Form, also der Staat, eingesehen, daß es seine Aufgabe ist, diese sozialen Arbeiten zu übernehmen; dabei haben ihm die kirchlichen Einrichtungen zum Vorbild gedient. Ich bin überzeugt, daß er dies immer mehr als seine eigene Aufgabe ansehen und diese Arbeit den einzelnen konfessionellen Kirchen abnehmen wird. Nach meiner Auffassung ist es z. B. noch rückständig zu nennen, daß in Bayern alle Anstalten für Epileptiker konfessionell sind, und auch in allen protestantischen Gemeinden von der Kirchengemeinde aus Krankenpflege und dergleichen betrieben wird. Die Pflege der öffentlichen Wohlfahrt als zweiter Teil der Tätigkeit der Kirche ist also zwar nicht individueller, sondern allgemein öffentlicher Natur, gehört aber auch nicht in die Hände der Kirche, sondern in die des Staats. Nun kommt der dritte Punkt: die Lehre der Kirche. Die Wissenssätze, die sich ja auch häufig unter den Lehrsätzen befinden, haben nach meiner ganzen durchgeführten Auffassung nichts mit Religion zu tun, sondern gehören ins Gebiet der Wissenschaften. Aber die Glaubenssätze [haben mit Religion zu tun]: die Wertauffassungen der Welt, die ethischen Forderungen usw. Was die Weltauffassung betrifft, so hat nach meiner Überzeugung [S. 18] die Gesellschaft als solche kein Interesse daran, daß eine bestimmte, etwa die christliche, gelehrt wird. Sie interessiert sich ja auch nicht dafür, ob die Menschen eine pessimistische oder optimistische Lebensauffassung haben. Und was die ethischen Sätze angeht, so [hat] der Staat ganz mit Recht sich bisher nicht darum bekümmert, welcher von den vielen möglichen Ethiken einer seiner Untertanen huldigt, sondern nur vom politischen Gesichtspunkte aus eine Kontrolle über die öffentlich gelehrten Ethiken ausgeübt, ob sie nicht strafrechtlich unzulässig, also etwa anarchistisch, seien.

Aus allen drei Tätigkeitsgebieten der Kirche geht also hervor, daß die Kirche nicht nur nicht die Berechtigung hat, mit dem Staat verbunden und von ihm unterstützt zu werden, sondern nicht einmal, überhaupt eine öffentliche Institution zu sein, sondern nur als Vereinigung bestimmter Einzelpersonen zum Zweck der Ausübung bestimmter Kultusform[en] und der Verbreitung und Befestigung einer bestimmten Lehre.

Diese Auffassung erscheint vielleicht ziemlich radikal anti-kirchlich. Und doch habe ich mit dieser Auffassung die Zustimmung einer der hauptgrundlegenden Bekenntnisschriften der protestantische[n] Kirche: die Augsburger Konfession: Kirche ist „die Versammlung aller Gläubigen, bei welcher das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangeliums gereicht werden“. Also: Lehre und Kultus innerhalb der „Gemeinschaft der Gläubigen“, das heißt der Einzelpersonen, die sich zu dieser Gemeinschaft zusammenschließen wollen [S. 18].

Um meine Auffassung von Kirche deutlicher zu machen, will ich noch auf eine Konsequenz hinweisen, die sich aus ihr ergibt. Die christliche Kirche ist dann nämlich nicht nur für die vielen nicht-Christen, die ihr heute noch angehören, überflüssig, sondern auch für die Christen, die die Überzeugung haben, daß die christlichen Lebensauffassung und Gesinnung nicht durch öffentliche Predigt, sondern nur durch häusliche Erziehung übermittelt werden kann, die ferner auch kein Bedürfnis nach Gottesdienst oder sonstigen Kultusformen haben. Solche Leute sind z. B. Müller, Lhotzky, Schrempf, von denen nur einer aus seiner Überzeugung die letzte Konsequenz gezogen hat.

3 An Pastor Le Seur (Krotoschin, März 1916)

Footnote 5

[Auf seinen „Brief an den Jünger der modernen Kultur“

in Vom deutschen Michel]Footnote 6

(Dies ist Agnesʼ Abschrift meines Briefes)Footnote 7

... Aus Ihrem „Briefe an den Jünger der modernen Kultur“ spricht eine so herzliche Anteilnahme an unserem, der Soldaten-Studenten innerem Schicksal, daß ich es auch als Unbekannter wage, Sie um einige Augenblicke Gehör zu bitten. Ich möchte einige Gedanken mit Ihnen besprechen, die durch den Brief angeregt wurden.

Es sind im wesentlichen zwei Punkte, die mich zum Widerspruch reizen, Ihre Behandlung der Frage der Kultur und der der Erlösung. Der innere Zusammenhang, der zwischen beiden besteht, geht aus Ihrem Brief hervor: „Die Kultur in ihrer Geltung als [2] höchstes Ziel sinkt dahin, und der Mensch gelangt zu einem neuen, dem wahren Ziel, nur auf dem Wege der Erkenntnis seiner Erlösungsbedürftigkeit.[“]Footnote 8 Das glaube ich beides nicht.

Wir sind uns darin einig: die Kultur selbst ist nicht zertrümmert. Wir dürfen nicht sagen, daß „alles, woran man gebaut hat, in den Flammen des Weltbrandes aufgeht“ [LeSeur 1917, 196]. Wir verzweifeln nicht an der Kultur des Volkes und des Einzelnen als Glied des Volkes; deren Hochstand gerade in der Kriegszeit schildern Sie selbst. Aber unser Götze soll zertrümmert sein; nicht die Kultur, aber ihre Geltung als höchster Zweck, da sie „das Ungeheure dieses Krieges nicht hatte hintanhalten können“. Ihre Aufgaben seien zwar „des Schweißes der Edelsten wert“ [LeSeur 1917, 194], doch hätten wir zu Großes von ihr erwartet.

[3] Ist es denn ein Argument gegen die Wahrheit ihrer objektiven Geltung, wenn sie in dem heutigen Stadium ihrer Verwirklichung den Krieg nicht hat verhindern können? Allerdings hatten das einige (darunter war auch ich) von ihr erwartet, da sie die Zusammenhänge der Wirklichkeit nicht genügend durchschauten. Diese Menschen traf das überraschende Ereignis um so härter; aber dürfen sie deshalb ihr Ziel verleugnen?

Ich denke mir aus, was Sie antworten würden, wenn etwa einer zu Ihnen käme und mit gleicher Schlußfolgerung spräche: „Die Jünger der christl. Religion sehen ihren Götzen zertrümmert. Nicht die Summe aller Errungenschaften der Kirche hat das Ungeheure dieses Krieges hintanhalten können. Gewiß hat sie (durch ihren un[4]leugbaren historischen Einfluß auf unsere Kultur) das Dasein der Gesamtheit bereichert und das Leben einiger Leute geistig durchdrungen. Ihr aber hattet noch unendlich Größeres von ihr erwartet: nach Eurer Meinung sollte sie den Bedarf der menschlichen Seele völlig befriedigen, die mit ihr Begnadeten brüderlich zusammenschweißen und Kriege unter ihnen unmöglich machen!“ Ich denke, Sie würden entgegnen: „Wir müssen wohl unterscheiden zwischen der Kirche (oder besser der heutigen Stufe der Durchdringung der Menschheit mit dem Christentum) einerseits, und der zeitlosen Wahrheit des Christentums andererseits. Jene Stufe hat sich leider als noch zu niedrig erwiesen, um den Krieg zu verhindern“, („wie zu erwarten war[“], oder „überraschenderweise“, je nach Ihrer früheren Überzeugung) doch [5] berührt das in keiner Weise die Geltung der christlichen Idee, der Forderung der „Beugung unter Gott“, und die Wahrheit seiner „Offenbarung in Jesus“.

Darf ich nicht genau so Ihnen entgegnen: Die Forderungen der Kultur behalten ihre unbedingte Gültigkeit; ja sie erscheinen uns noch dringender, da wir jetzt erleben, daß sie sich als noch zu schwach erwiesen hat, um dies Unheil für alle Völker abzuwehren? Und ich bin so „mit Blindheit geschlagen“ [LeSeur 1917, 194], daß ich glaube, sie wird nicht immer zu schwach hierzu sein. Sollten einmal die Kriege wirklich aufhören, – und das erscheint mir denkbar [–] so wird man sich wohl nicht mehr darum streiten, ob der Kultur oder der christl. Religion das Verdienst hieran gebührt, [6] denn da ohne Zweifel unsre Kultur zumal an ethischen Werten dem Christentum viel zu verdanken hat, so wären beide Einflüsse kaum mehr zu trennen. Wir aber wollen scharf scheiden zwischen der Kultur, dem „Geschöpf“ das „über sich hinausweist“, und dem, worauf es hinweist; einem tieferliegenden, bis zu dem Sie durchgedrungen sind, das „Schöpferkraft“ [LeSeur 1917, 194] besitzt; also wohl das göttliche Wesen, an das Sie glauben. Von der Kultur können wir doch nur dann sagen, daß sie Geschöpf ohne Schöpferkraft sei, wenn wir sie in der von Ihnen selbst abgelehnten Bedeutung als Gesamtheit der Kulturdokumente fassen. Wir wollen unter Kultur nicht die materialen oder idealen Kulturgüter verstehen, seien es nun Bauwerke, Wissenschaftssysteme, Institu[7]tionen des staatlichen Lebens oder was immer, sondern den Geist, der in diesen Gütern Fleisch geworden ist. Hierin sind wir uns, so glaube ich, einig. Denn Sie sagen: „Ein Kunstwerk ist an und für sich nicht ein Stück Kultur. Kultur ist doch etwas schlechthin Geistiges. Sie hatte sich in jenen Kunstwerken Zeugen bestellt“ [LeSeur 1917, 190]. Die Kulturgüter sind allerdings nicht schöpferisch, wohl aber der Geist, der sie hervorgebracht hat. Zu diesem Geiste, der die Gesittung der Menschen in jahrtausendelanger Entwicklung soweit gefördert hat, daß der einzelne nicht mehr das Wohl seiner Person oder seiner Sippe als letztes entscheiden läßt, sondern dem Staat, der sein ganzes Volk umfaßt, auch das Verfügungsrecht über Leib und Leben mit vollem Willen hingibt; zu diesem Geiste habe ich [8] das Zutrauen, daß er in weiterer Entwicklung die Menschheit auch dahin bringen wird, daß die einzelnen Staaten sich nicht mehr als letzte, absolut selbständige Größen ansehen, sondern sich als Glieder eines Organismus erkennen, der aus ihnen hervorwächst und ein gegenseitiges Zerfleischen unmöglich macht. –

Wenn wir den Gedanken der Entwicklung des Geistes weiter verfolgen und schließlich nach dem Endziel fragen, so bin ich mit meiner Weisheit zuende. Ich weiß nicht, woher das Unvergängliche stammt, das uns vergängliche Geschöpfe eine kurze Zeit belebt, als seine Organe benutzt und dann wieder ins Nichts hinabsinken läßt, wie [9] ein Baum, der ein totes Atom aus der Erde nimmt und zum Aufbau seiner Blätter gebraucht. Er belebt das Atom für eine Zeit und stellt ihm seine Aufgabe in der Gemeinschaft der übrigen. Aber im Herbst läßt er es fahren, und es ist nicht mehr. Er aber findet immer neue und wächst. Was hilft es dem Atom, zu fragen: Was soll aus dem Ganzen noch werden, woher stammt dies große, gemeinsame Leben? Woher hat es die Kraft, und woher nimmt es das Recht, jeden von uns in seinen Dienst zu stellen und dann wegzustoßen? Niemand gibt ihm Antwort und es erfüllt seine Aufgabe doch. Aber wir sind wie eine Kohle, die vom Feuer ergriffen wird. Sie muß brennen und glühen, aber [10] dann läßt das Feuer sie tot dahinfallen und erkalten. Doch das Feuer ergreift immer neue und erlischt nicht. Wohl der Kohle, die mitten im Feuer liegt. Es ergreift sie ganz. Sie glüht am heißesten. Aber sie weiß, bald muß sie dahin, umso schneller, je besser sie dem Feuer dient. Wohl uns, wenn wir so glühen.

Aber da können wir die Frage in uns nicht hemmen, wenn wir auch keine Antwort darauf wissen: Wohin und woher das große Unvergängliche, das uns in seinen Dienst zwingt? Woher kommen ihm Macht und Recht, über unser Leben zu gebieten? Ein Glück, daß für unser Tun und Lassen genügt: wir wissen, daß wir im Dienste des Geistes stehen, (zu Ihnen kann ich mich jetzt auch, [11] ohne mißverstanden zu werden, ausdrücken: im Dienste der Kulturentwicklung,) wir erkennen seine Forderungen für den heutigen Tag, und arbeiten nach Kräften jeder an dem ihm zugewiesenen Platze. Da die Aufgabe klar vor uns liegt, so stört uns nicht bei ihrer Erfüllung jenes drängende Suchen und Forschen nach einer Antwort auf die darüber hinausgehende Frage. Wollen wir über Ihre Lösung dieses Rätsels sprechen, so bin ich in der mißlichen Lage, ohne selbst eine Lösung zu wissen, doch die Ihre entschieden ablehnen zu müssen.

Wenn Sie unser Suchen und Forschen durch das Psalmwort ausdrücken: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott“ [LeSeur 1917, 196], so kann ich das [12] nicht ablehnen. Denn vielleicht verstehen Sie unter diesen Worten das, was ich profaner ausdrücken würde. Ein Durst ist es, das fühle ich; was Gott ist, weiß ich nicht.

Aber der Weg, den Sie angeben, um zur Quelle zu gelangen, die den Durst stillen soll, das ist kein Weg, sondern es ist die Art, wie Sie und die Menschen Ihres Glaubens das innere Suchen nach einer Antwort auf jene Frage zur Ruhe gebracht haben. Theoretisch läßt sich ja hierüber nichts sagen. Aber es genügt, wenn die Allgemeingültigkeit des Weges dadurch hinfällig wird, daß er für mich nicht gangbar ist; selbst wenn es nicht all die anderen Menschen, die so sind wie ich, noch gäbe. Ja, werden Sie denken, das ist eben das „Eisengitter“ [LeSeur 1917, 197]. [13] Doch wir stehen uns nicht in so entgegengesetzten Richtungen gegenüber, wie Sie vielleicht erwarten. Ich will einmal möglichst nahe zu Ihrem Standpunkt herantreten. Dann gerade wird sich am deutlichsten die unüberwindbare Kluft zeigen, die dann noch zwischen uns bestehen bleibt.

Der Ausdruck „Sündenerkenntnis“ [LeSeur 1917, 197] stammt aus einer Begriffswelt, die mir fremd geworden ist. Sie war es nicht immer; als Kind habe ich mich mit Schuldbewußtsein und Suchen nach Ver[14]gebung bei Menschen und Gott viel geplagt. Gut sind diese Erlebnisse aber nur zum Wachhalten des Gewissens, im Übrigen unfruchtbar. In dieselbe unfruchtbare Begriffswelt gehören mir: Sündenknechtschaft, Gnade, Vergebung, Erlösung. Die Realitäten, die hier zugrunde liegen, leugne ich keineswegs. Ich sehe meine Fehler und weiß, daß ich noch mehr habe, als ich sehe. Ich erkenne, daß meine Fähigkeiten beschränkt, die Aufgabe aber unbeschränkt ist. Ich bin trotz meiner persönlichen Freiheit mir meiner psychologischen Gebundenheit an andere Menschen bewußt. An meine Vorfahren, deren Erbteil ich in mir trage, an Eltern und Lehrer, die mich bewußt erzogen haben, and die Zeitgenossen und vor uns lebende Menschen, die an der Kultur mitgearbeitet haben, unter deren Einfluß ich stehe; ich habe gelernt, mitverantwortlich zu sein für andre Menschen: für Familien-, Stammes- und Volksgenossen. Mir ist auch nicht „unbegreiflich, daß man sein [15] eigenes Leben vervielfacht fühlt“, obwohl man [„]nichts ist als Arm an dem millionenarmigen Ungeheuer deutsches Heer, deutsches Volk“ [LeSeur 1917, 198]. Denn daß unser Leben erst dann auf rechtem Wurzelboden gedeihen kann, wenn wir uns mit unsern Kräften in einen umfassenden Organismus eingliedern, das haben wir von Goethe gelernt. (Nicht etwa von Jesus; als historisch bedingt konnte er diese Forderung der Eingliederung des Einzelwesens in die übergeordnete Gemeinschaft noch nicht in dieser Klarheit erkennen und darstellen, wie der die Entwicklung der Kirche und des Staates überblickende Dichter des Wilhelm Meister.)

In diesen Punkten sehen wir im Wesentlichen die Dinge gleich an. Nun aber mein Widerspruch. Ich kann [16] mit einem Gott nichts anfangen, den „nur der Sünder ergreifen kann“ [LeSeur 1917, 197], Ich glaube nicht, daß wir „unter die Sünde verkauft“ [LeSeur 1917, 199] sind. Ich habe das gute Zutrauen, daß die aufbauenden Kräfte in uns stärker sind als unsre Fehler, daß unsre Arbeit die Entwicklung des Geistes in der Menschheit mehr fördert als hemmt. Es wäre ja fürchterlich, wenn es umgekehrt wäre! Wer könnte glauben, nicht zu den elf treuen Jüngern des Geistes zu rechnen, ohne die Konsequenz des zwölften zu ziehen? Ich wenigstens glaube zu den elf zu gehören und vertraue auf meine Zukunft, trotz aller Fehler und Verleugnungen in meiner Vergangenheit. Ich will nicht auf diese zurückschauen, wenn ich die Hand an den Pflug lege. [17] Ob mal ein tüchtiger Mensch aus mir wird, weiß ich nicht. Bleib ich im Felde, dann hab ich mein Teil getan. Wenn ich im späteren Leben scheitere, so kann mich auch kein Wesen über uns erlösen; geschweige ein Wesen, das wahrhaftiger Mensch geworden und damals für uns gestorben ist.

Zu ihm, so glauben Sie, muß uns das erschreckende Bewußtsein des Determinismus hinführen. „Die Erkenntnis dieser unbedingten Unfreiheit führt zur Verzweiflung“ [LeSeur 1917, 200]. „In diese gebundene Menschheit hinein stellt Gott den Christus Jesus“ [LeSeur 1917, 200]. [18] Aber ich stehe nur als natürliches Wesen in dem Kausalnexus. Als ethisches Wesen bin ich selbst dagegen frei entscheidendes Subjekt meiner Handlungen. „Jesus bahnt der Freiheit derer, die ihm folgen, eine Gasse.“ Also auch Sie sind jetzt frei und selbst entscheidendes Subjekt, wenn auch nach Ihrem Glauben durch die Hilfe eines andern Wesens. Und zwar bedeutet Jesus für den Menschen das „Bild des, das er werden soll“ [LeSeur 1917, 200].Footnote 9 Das kann er für mich nicht sein. Dazu sind seine ganzen Lebensumstände allzu verschieden von den unsrigen. Der Kreis, in dem er lebt, die Art, wie er sein Leben einrichtet, wie er mit den Menschen verkehrt, seine Ansichten über Familie, Staat, Berufsleben, geistiges Leben des Volkes, beinahe jede einzelne seiner Handlungen, zumal die in den Berichten besonders hervorgehobenen, sind unserm Leben und unsern Zielen so völlig fremd, daß, wenn ich mir überhaupt [19] als „Bild, das vor mir steht“, einen bestimmten Menschen suchen wollte, ich ihn hierfür auf keinen Fall wählen könnte. Nur sein Schicksal im Ganzen bleibt ergreifend, als das eines Menschen, der alles, was er ist und hat, in den Dienst einer höheren Idee stellt, und schließlich selbst von ihr als Opfer angenommen wird; ergreifend wie die Tragödie mancher andern Menschen, mit deren Handlungsweise, Anschauungen und Zielen wir deshalb noch nicht übereinzustimmen brauchen.

Fordert von dem Menschen unsrer Zeit nicht Sündenerkenntnis und Einsicht seiner Erlösungsbedürftigkeit, sondern packt ihn gerade von der entgegengesetzten, positiven Seite: Stärkt ihm das Selbstvertrauen, zeigt ihm die Aufgaben im Dienste eines über dem Einzelmenschen stehenden, aber von ihm erkennbaren Geistes, Aufgaben, die seinen Fähigkeiten entsprechen; laßt seine Kräfte an der Erfüllung dieser Aufgaben heranwachsen, zeigt ihm [20] seine Fehler nur zugleich mit der Aufmunterung, ihrer aus eigener Kraft Herr zu werden. Lehrt ihn auf der einen Seite die Demut bei der Wertung seiner Person im Vergleich zu der übergeordneten Idee, deren Diener er ist[,] eine Demut, die ihm im Hinblick auf die Unvergänglichkeit des ihn umfassenden Geistes auf die Unsterblichkeit seiner selbst, des Atoms im Organismus, verzichten läßt. Auf der andern Seite lehrt ihn den Stolz, der keine Gnade annimmt. Ist es doch auch nicht Gnade von mir, wenn [21] ich meinen verletzten Finger mit Anstrengung des Blutes und der andern Organe heile, sondern sein gutes Recht und meine selbstverständliche Pflicht. Kommt der Mensch auf einem Abwege plötzlich mit Schrecken zur Selbstbesinnung und quält sich mit der Last seiner Schuld, so ruft ihm nicht zu: siehst du nun deine gräßliche Sünde? jetzt bist du reif für unser Evangelium. Sondern sagt ihm, daß er nicht nur das Recht hat, sich selbst von seiner Vergangenheit Absolution zu erteilen, sondern sogar die Pflicht, alle quälenden Gedanken an sein verkehrtes Leben von sich zu weisen, um mit allen Kräften an seine Gegenwartsaufgabe zu gehen. Sprecht ihm nicht von einem Erlöser; sagt ihm nicht, daß einst ein [22] Mensch für ihn gestorben sei. Wollt ihr ihm ein Vorbild geben, so zeigt ihm Männer seines Volkes, aus unsern Jahrhunderten. Denen fühlt er sich verwandt, in deren Erlebnisse kann er sich hineinversetzen. In deren Arbeit, die er versteht, weil sie Beziehungen zu seiner eignen Arbeit hat, spürt er das Übergeordnete, dem sich auch die größten Männer als Diener unterstellten. So kann er auch zur Klarheit über seine eigene Aufgabe kommen und zu dem Willen, ihr zu dienen.Footnote 10

[23] So lange habe ich, seit ich Soldat bin, noch nie im Zusammenhange geschrieben oder auch nur gedacht. Aber es hat mir gut getan. Durch Ihren Brief war es angeregt, dafür meinen Dank.

Und nochmals bitte ich um Nachsicht, daß ich Sie so lange in Anspruch genommen und als junger Mensch, noch dazu als Unbekannter, mit meinen Widersprüchen so gegen Sie losgestürmt bin. Aber es ist doch etwas Schönes um einen ehrlichen Streit!

Mit......Footnote 11