Es liegt nicht auf der Hand, einen Zusammenhang zwischen Wiener Kreis, Jugendbewegung und Weber-Kreis herstellen zu wollen. Wo gibt es Berührungspunkte zwischen Logischem Empirismus, idealistischem Gemeinschaftsdenken und neukantianisch geprägtem Intellektualismus? Und gibt es überhaupt einen Max-Weber-Kreis? Um diese Fragen soll es gehen. Vom „Kreis um Max Weber“ spricht bei Webers Tod im Jahr 1920 der Nationalökonom und Soziologe Emil Lederer, der sich intellektuell diesem Kreis zurechnete.Footnote 1 Lederer war aus dem austromarxistischen Milieu Wiens über München nach Heidelberg gekommen und stand als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (AfSS) in den revolutionären Umbruchjahren zwischen 1917 und 1922 zugleich in engerem Kontakt zu Otto Neurath. Umbau der Gesellschaft durch wissenschaftlich basierte Sozialisierung war in Österreich wie in Deutschland das generelle Stichwort. Hierzu gehört auch Neuraths bekannte Korrespondenz mit Max Weber selbst, die den entscheidenden Punkt markiert, an dem sich die Kreise berührten: in der sozialwissenschaftlichen Beobachtung der kapitalistischen Moderne und den leidenschaftlichen Debatten um Modelle sozialpolitischer Ordnung dieser Moderne mit einem Votum für die passende Staatsverfassung.

Günther Sandners Biographie zu Otto Neurath motiviert im Kapitel „Kritik: Lederer, Weber, Rathenau und von Mises“ dazu, die Frage nach diesen Berührungspunkten auf das Problemfeld rationalistischer und universaler Wirtschaftspläne und Sozialethiken hin auszurichten.Footnote 2 Solche Reformpläne und ethischen Gesellschaftslehren kursierten im Weltkrieg unter Stichworten wie „Kriegswirtschaftslehre“, „Gemeinwirtschaft“, „Genossenschaft“ oder „Durchstaatlichung“. Sie versprachen eine Überwindung des menschenfeindlichen Konkurrenz-Kapitalismus und stellten einen „Zukunftstaat“ in Aussicht, in dem sich auch ein Ideal der Jugendbewegung – die freie Gemeinschaft – verwirklichen sollte. Möglicherweise steckte hinter solchen, hier erst einmal grob skizzierten Utopien mehr von Eugen Diederichs, dem jugendbewegten „Kulturverleger“, als von Karl Marx selbst, aber das wäre zu diskutieren.Footnote 3

Ein Bezug der nationalökonomischen Reformdebatte zu Jugendbewegung und Lebensreform lässt sich gut herstellen durch Meike G. Werners Analyse der politischen Rundbriefe von Rudolf Carnap, die sich 1918 den „Fragen der Neuordnung Deutschlands nach dem Kriege“ widmeten. „Neuordnung nach dem Krieg und durch den Krieg“ war eine vielstimmig verwendete Formel, die anzeigt, in welcher Intensität vor allem im deutschsprachigen Raum ein Experimentierfeld zur Beobachtung, Vermessung und Deutung der industriekapitalistischen Gesellschaften entstand, so gegensätzlich in den Untersuchungsweisen wie radikal in den politischen Ordnungskonzepten. Bei Carnap und seinen jugendbewegten Mitstreitern wie Knud Ahlborn und Eduard Heimann ging es im Dezember 1918 um das entschiedene „Engagement für ein neues klassenüberschreitendes Gesellschaftsmodell, das den Weg aus der als Zwingburg wahrgenommenen kapitalistischen Wirtschaftsform wies“ (Werner, 2015, 485).Footnote 4

Der kritische Umgang mit der „kapitalistischen Wirtschaftsform“ führte zu signifikanten Berührungen zwischen Wiener Kreis und Weber-Kreis, zu Kontakten, die durch Neurath und Lederer hergestellt wurden. Unter fünf Aspekten soll das Diskursfeld dieser Berührungen näher ausgeleuchtet werden. Als kultureller Rahmen ist zuerst der jugendbewegte „Hunger nach Ganzheit“ anzusprechen (1.); für das lebensreformerische Wirtschaftsdenken ist der Zusammenhang von „Gemeinschaft“ und „Gemeinwirtschaft“ zu präzisieren (2.); auszuwerten sind die Begegnungen zwischen Jugend und Professoren auf den von Eugen Diederichs organisierten Lauensteiner Kulturtagungen im welthistorischen Jahr von 1917 (3.); auszumessen sind die Pläne und Probleme der „Sozialisierung“ in der Revolution von 1918/1919 (4.); im Ergebnis lassen sich in der Konstellation Neurath-Lederer-Weber die Gegensätze und Berührungspunkte zwischen Weber-Kreis und Wiener Kreis ermitteln (5.).

1 Jugendbewegung und „Hunger nach Ganzheit“

Hans Staudinger, der Sohn des Sozialphilosophen, Genossenschaftlers und Diederichs-Autors Franz Staudinger, gehörte dem losen Zirkel an, der hier als Weber-Kreis umrissen werden soll. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Hans Staudinger, wie er das erste Mal persönlich in das Haus des Privatgelehrten Max Weber in der Ziegelhäuser Landstraße 17 eingeladen wurde. Es muss 1912/1913 gewesen sein: „Als ich an der Weber- und Troeltschschen Haustür klingelte, empfing mich Marianne Weber, hinreichend erstaunt über mein Wandervogelkostüm und fast geistesabwesend; ohne nach meinem Namen zu fragen, führte sie mich in Max Webers Arbeitszimmer“ (Staudinger, 1982, 7).

Dem intellektualistischen Sozialforscher saß also plötzlich ein romantischer Wandervogel gegenüber. Genauer, ein führendes Mitglied der Heidelberger Freistudenten, zugleich Mitglied der Gewerkschaft wie der Sozialdemokratischen Partei. Solche Konstellationen persönlicher Lebensführung reizten Weber,

und er fragte mehr und mehr über den Wandervogel. Seine Ziele: nicht ein Zurück zur Natur, sondern ein Zurück zu bodenständigem Volkstum. Weber verwunderte sich über die Organisationsform, die Funktion des letztentscheidenden Hauptführers[,] den unbedingten Gehorsam, wie auch über die Mittel: durch Wanderungen und das Sammeln von Volksgesängen den Charakter des Volkes erfassen zu wollen. Er schüttelte seinen Kopf und schloß mit der Zusammenfassung, daß eine solche völkische Bewegung gefährlich werden könne. […] Die Bewegung sei schön in ihren sang- und klangvollen Erlebnissen, doch im Grunde reaktionär und romantisch. Die Arbeiter, denen ich doch so nahe stünde, kauften mir einen solchen Zukunftstaat nicht ab. (Staudinger, 1982, 7)

Bis zu Webers Wechsel von Heidelberg nach München im Revolutionsjahr 1919 blieb Staudinger ein Heidelberger Gesprächspartner, auch wenn er inzwischen von Alfred Weber promoviert und dessen Assistent geworden war. Max Weber beschimpfte seinen vier Jahre jüngeren Bruder Alfred als „einen Verderber der Jugend“ (Staudinger, 1982, 8), weil er die romantische Weltsicht der Jugendbewegung zu sehr fördere.Footnote 5

Was Max Weber irritierte und zugleich faszinierte, das war die Emphase, mit welcher der Freistudent Staudinger dem Ausdruck gibt, was Peter Gay in seiner Kulturgeschichte der Weimarer Republik als „Hunger nach Ganzheit“ auf eine modernitätskritische Formel bringt.Footnote 6 Die Jugendbewegung verlange in ihrer Sehnsucht nach dem „ganzen harmonischen Menschentum“ rigoros „nach einer „organischen Weltanschauung“ (Gay, 1970, 107 f.). Ersetzt man „organische Weltanschauung“ durch „einheitswissenschaftliche Weltauffassung“, dann liegt der Schluss nicht fern, der Wiener Kreis könnte in seiner rationalistischen Spielart aus einem ähnlichen Hunger nach Ganzheit heraus entstanden sein.

Wer diesen Wiener Kreis bildete, das ist immer wieder ausführlich beschrieben worden.Footnote 7 Anders steht es um die Frage, ob sich überhaupt von einem Max-Weber-Kreis sprechen lässt, und was ihn auszeichnet? Es war der Philosoph und Sozialpädagoge Paul Honigsheim, ein Mitglied des engeren Weber-Kreises, der nach Webers Tod aus intimer Kenntnis einen Essay unter dem Titel „Der Max-Weber-Kreis in Heidelberg“ veröffentlichte und darin eine „Soziologie des Max-Weber-Kreises“ (Honigsheim, 1926) zu skizzieren versuchte.

Ausgehen müsse eine solche Soziologie von den radikalen Individualisten, den Außenseitern der wilhelminischen Gesellschaftsordnung. Honigsheim bringt es auf eine plastische Formel: „Max Weber hat einer jeden Institution, Staat, Kirche, Partei, Trust, Schulzusammenhang, d. h. einem jeden überindividuellen Gebilde, gleichgültig welcher Art, das mit dem Anspruch auf metaphysische Realität oder auf Allgemeingültigkeit auftrat, den Kampf bis aufs Messer angesagt“ (Honigsheim, 1926, 271). Selbstbildung zur „Persönlichkeit“ im Kampf mit den Zwängen der gesellschaftlichen „Lebensordnungen“, diese Charaktereigenschaft verschaffte den Zutritt zum Weber-Kreis. Es gab eine conditio sine qua non: Zutritt erlangte, wer sich durch „Besessensein im Geiste“ auswies, durch einen rigorosen Intellektualismus.Footnote 8 Das grenzte den Kreis in vielem ab vom Erlebniskult der Jugendbewegung und öffnete ihn zugleich für das logisch-empiristische Denken in den Sozialreformdebatten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.

Es sei kein Zufall, betont Honigsheim, „daß so manche Revolutionäre und Bolschewisten Deutschlands und insbesondere mehrere nachmalige Räterepublikaner von München und Budapest früher so oft in der Ziegelhäuser Landstraße Tee getrunken hatten“ (Honigsheim, 1926, 272). Honigsheims Leser wussten noch, dass hier Georg Lukács, Ernst Bloch und Ernst Toller gemeint waren. Auch Otto Neurath, obwohl der nicht in Webers Heidelberger Haus Tee getrunken hatte, sondern wohl erst in Lauenstein in persönlichen Kontakt zu ihm trat. Gelesen hat Weber Neurath spätestens ab 1915, als Neurath sein Debüt als Autor im AfSS gab. Und zwar mit seiner „Kriegswirtschaftslehre“, aus der dann 1918 Neuraths System der „Vollsozialisierung“ hervorging. Auch dafür bot ihm das AfSS, dessen Herausgeber Max Weber zusammen mit Werner Sombart und Edgar Jaffé war, ein Forum.Footnote 9

Jaffé, der Eigentümer der Zeitschrift, hatte sich zu seiner Unterstützung Emil Lederer aus Wien geholt. Lederer, von der österreichischen Grenznutzenschule und vom Austromarxismus gleichermaßen geprägt, wirkte ab 1911 als Redaktionssekretär. Nach Jaffés Tod 1921 übernahm er die Leitung dieser sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschrift, die weiterhin zu den bedeutendsten Foren der zeitdiagnostischen Kapitalismus-Debatten zählte. In Heidelberg war Lederer regelmäßiger Teilnehmer an Max Webers legendärem Sonntags-Tee. Wie Weber suchte Lederer den Kontakt zu radikal denkenden Studenten, und mit Hans Staudinger verband ihn eine lebenslange Freundschaft.Footnote 10 Als Lederer in seinem Nachruf auf Max Weber die Rede vom Weber-Kreis in Umlauf setzte, zielte er auf das intellektuelle Netzwerk des AfSS und betonte, dass der „Kreis, der sich um das ‚Archiv‘ scharte“ […] so recht eigentlich ein Kreis um Max Weber“ (Lederer, 1920/21a, IV) war.

Lederer arbeitete eng mit Edgar Jaffé zusammen, der als unermüdlicher Netzwerker bis zu seiner Berufung zum Finanzminister in das Kabinett von Kurt Eisner im November 1918 die Hauptgeschäfte des AfSS besorgte.

2 „Gemeinschaft“ und „Gemeinwirtschaft“

Edgar Jaffé und Emil Lederer stellten im Weltkrieg einige Weichen, um die eher wirtschaftsfremde Jugendbewegung für ein ökonomisches Denken mit lebensreformerischen Implikationen zu sensibiliseren. „Gemeinwirtschaft“ als ökonomische Ordnungsform einer postkapitalistischen Gemeinschaft wurde zum leitenden Stichwort. So beschloss die Redaktion wenige Monate nach Ausbruch des Krieges, das AfSS in Sonderheften und als Separatdruck primär dem Thema „Krieg und Wirtschaft“ zu widmen und das Wirtschaftsleben Deutschlands, seiner Verbündeten, aber auch der Kriegsgegner als die „ökonomische Seite des welthistorischen Prozesses, in welchem wir stehen“ (AfSS 1915, 1f.), zu behandeln. Eine rein wissenschaftliche Behandlung war gefordert, keine Mobilisierung der Geister zur Stärkung der eigenen Kriegsfront, wie die Redaktion in ihrem Geleitwort unterstrich: „Es braucht nicht betont zu werden, daß alle Beiträge rein wissenschaftlich gemeint sind, und sich auf eine systematische, objektive, und ruhige Beobachtung der Tatsachen gründen“ (AfSS 1915, 1f.).Footnote 11 Das AfSS biete hohe fachliche Qualität, „accuracy, reasonableness and truth“ (Keynes, 1915, 452), befand aus England John Maynard Keynes. Er meinte damit allerdings mehr Emil Lederer als Edgar Jaffé selbst.Footnote 12

Jaffé sah mit dem Krieg die Gelegenheit gekommen, die zerstörerischen Kräfte kapitalistischer Konkurrenz- wie auch Monopolwirtschaft zu überwinden. Die konzentrierten Anstrengungen der durchstaatlichten Kriegswirtschaft, wie sie Walther Rathenau in der Praxis organisierte, machten den Weg frei für die „Ausschaltung der kapitalistischen und Ersatz derselben durch die gemeinwirtschaftliche Ordnung“ (Jaffé, 1915a, 26). Hier wird das ordnungspolitische Modell von der „Gemeinwirtschaft“ entwickelt, das gerade für die Jugendbewegung mit ihrer Suche nach der „neuen Gemeinschaft“ (Hans Staudinger) äußerst attraktiv wurde. Recht unglücklich spricht Jaffé allerdings von der „Militarisierung unseres Wirtschaftslebens“, wenn er sozialphilosophisch viel ganzheitlicher „die Stärkung der organisierten Gesamtheit (des Staates) zu dem Ende größter Leistungsfähigkeit“ meint und die kapitalistische Ordnung „durch die vollkommenste Durchorganisation, durch möglichste Vermeidung jeder überflüssigen Reibung und Kraftverschwendung, durch Heranziehung aller zur Mitarbeit an der gemeinsamen Aufgabe“ (Jaffé, 1915b, 523 f.), für überwindungsfähig erklärt.Footnote 13

Emil Lederer argumentiert hier nüchterner, teilt aber die grundsätzliche Zielrichtung, den freien Konkurrenz-Kapitalismus durch einen interventionistischen Planungsstaat zu ersetzen, ohne der marxistischen Forderung nach „Verstaatlichung der Produktionsmittel“ nachgeben zu müssen: „Die politische und wirtschaftliche Lage Deutschlands ist gegenwärtig wie selten die eines Staates prädestiniert für eine planmäßige, in sich geschlossene Volkswirtschaft“ (Lederer, 1915a, 146).Footnote 14 Es war nur logisch, wenn bei dieser durchrationalisierten Alternative zum Kapitalismus auch die Stunde von Otto Neurath schlug. Neurath nutzte eine erste Sichtung aktueller Literatur zur „Kriegswirtschaft“ um anzukündigen, „daß in Kriegszeiten kühne Versuche nichts seltenes sind, da die Not oft jede Scheu vor der Tradition beiseite schiebt und nur das rationale gelten läßt“ (Neurath, 1915a, 215).Footnote 15

„Kriegswirtschaft“ wurde zu einem beherrschenden Thema. Max Weber beriet mit seinem Verleger Paul Siebeck, dem bereits vor dem Weltkrieg konzipierten Grundriß der Sozialökonomik ein eigenes Kapitel über „Wirtschaft und Krieg“ hinzuzufügen.Footnote 16 Zwei Autoren kamen für ihn als Experten für Kriegswirtschaft in Frage, sein nationalökonomischer Mitstreiter im „Verein für Socialpolitik“ Franz Eulenburg und Otto Neurath: „Ich würde der Ansicht sein, in erster Linie Eulenburg, der darüber sehr viel gearbeitet hat, zu fragen (habe dies unverbindlich soeben gethan), – in zweiter Dr. Neurath, Wien, der ebenfalls darüber arbeitet, nicht ganz so erfahren, aber auch sehr tüchtig“ (Weber an Paul Siebeck, 14. April 1916, Weber, 2008, 384 f.). Das Interessante an diesem Vorschlag ist, dass Eulenburg und Neurath beide im AfSS eine Grundsatzkontroverse über den wissenschaftlichen Status der „Kriegswirtschaftslehre“ führten.Footnote 17 Eulenburg bewertete sie als einen Sonderfall der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Neurath wollte sie dagegen zu einer eigenen, historisch vergleichenden Disziplin aufwerten und mit ihrer Hilfe den „kühnen Versuch“ (Neurath, 1917/18, 773) einer postkapitalistischen Neuordnung wagen.

Ob zentralistische Verwaltungswirtschaft und naturalwirtschaftliche Bedarfsdeckung oder Zwangsarbeit der Gefangenen, von der Antike bis zu den Napoleonischen Kriegen zog Neurath Beispiele heran für sein Plädoyer, „die Besonderheiten der Weltkriegswirtschaft“ (Neurath, 1917/18, 773) zu erfassen. Es erweise sich „die mit Hilfe vergleichender Betrachtungen entworfene Gesamtschilderung der Kriegswirtschaft in ihren Hauptzügen als zutreffend, so daß die Kriegswirtschaftslehre sowohl theoretisch als auch historisch und praktisch gerechtfertigt erscheint“ (Neurath, 1917/18, 773). Inhaltlich teilten Weber und sein Heidelberger Umfeld in keiner Weise Neuraths Überzeugung, die von ihm entwickelte logisch-rationalistische Variante der Gemeinwirtschaft steigere durch Konzentration aller ökonomischen Kräfte die Produktivität. Aber der wissenschaftliche Ernst, mit dem Neurath seine Argumente darlegte, bewog die Universität Heidelberg, ihn mit seinen Publikationen zur Kriegswirtschaft im Juli 1917 zu habilitieren. Die Federführung lag bei Webers Nachfolger auf dem nationalökonomischen Lehrstuhl Eberhard Gothein.Footnote 18

In seiner eigenen Zeitschrift griff Max Weber nicht in die Kontroverse um Kriegswirtschaft als Gemeinwirtschaft ein, hier ließ er sich abseits vom Zeitgeschehen umfänglichen Raum für seine universalhistorische Serie über die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ reservieren.Footnote 19 Seine Kritik an Neurath brachte er gegenüber Eugen Diederichs zum Ausdruck, als dieser für Ende September 1917 die zweite der Lauensteiner Kulturtagungen plante, diesmal zum Thema „Das Führerproblem im Staate und in der Kultur“ und mit Weber und Neurath als Rednern. Während Weber über „Die Persönlichkeit und die Lebensordnungen“ sprechen wollte, hatte Neurath „Die zukünftige Lebensordnung und ihre Wirtschaftlichkeit“ vorgeschlagen, was Webers Missfallen erregte:

Was soll es aber heißen, daß nun Dr. Neurath (ich schätze ihn sehr) über „Gemeinwirtschaft“ redet. Das giebt ja wieder den Heringssalat von heterogenen Problemen, wie das vorige Mal! Es war doch ausgemacht: „Auslese der Führer“ – und damit fertig. Was hat die „Gemeinwirtschaft“ damit zu schaffen? (Brief an Eugen Diederichs vom 30. August 1917, Weber, 2008, 760)

3 Jugend und Professoren auf den Lauensteiner Kulturtagungen

Im Kriegsjahr 1917 verlagerte sich die öffentliche Debatte immer mehr von äußeren Erfolgshoffnungen auf innere Neuordnungszwänge. Um diesen Prozess mitzugestalten, unternahm der Verleger, Jugend-Mäzen und Organisator der Lebensreformbewegungen Eugen Diederichs den ambitionierten Versuch, wichtige Ideenrichtungen zusammenzuführen und die Sprecher der Jugendbewegung mit den Experten aus Ökonomie, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik ins Gespräch zu bringen. Die beiden Kulturtagungen auf der bayerischen Burg Lauenstein bei Coburg im Mai und Oktober 1917 sind fester Bestandteil einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges.Footnote 20 Knud Ahlborn, Ernst Toller, Wilhelm Vershofen und viele andere bildende Künstler und Poeten trafen auf Otto Neurath, Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber. Auch Emil Lederer war eingeladen, es gibt aber keinen verlässlichen Beleg über seine Teilnahme.

Das Ziel dieser Tagungen war äußerst ehrgeizig. Unter dem Titel „Sinn und Aufgabe unserer Zeit“ sollten auf der Mai-Tagung die Chancen für fundamentale Reformen in Richtung einer ganzheitlichen Lebensordnung nach dem Krieg ausgelotet werden, inspiriert von Walther Rathenaus soeben erschienenem Essay „Von kommenden Dingen“ (1917). Gemäß Diederichsʼ vertraulichem Einladungsschreiben sollten Grundfragen für eine neue „deutsche Staatsidee“ erörtert werden, „Fragen der inneren und äußeren Politik, Steuerreform, Soziale Frage, Erziehungsfragen“ (Werner, 2021, 273 f.). Die Oktober-Tagung war dem „Führerproblem im Staate und in der Kultur“ gewidmet.Footnote 21 Der Verlauf der Tagungen ist hier nicht das Thema, wichtiger erscheint es, die Konsequenzen ihres Scheiterns näher zu betrachten. Denn dass sie scheitern würden, das war bei der Konfrontation der Generationen und Charaktere absehbar. Extremer Nationalismus stand gegen anarchistischen Pazifismus, antiparlamentarischer Staatssozialismus gegen parlamentarische Demokratisierung, Charismatisierung gegen Rationalisierung der politischen Ordnung. Lauenstein bot einen Probelauf für die Ideenkämpfe, welche die deutsche Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen so nachhaltig polarisieren werden.

Für den Protokollanten der ersten Tagung, den Publizisten Wolfgang Schumann, Freund und Mitarbeiter sowohl von Eugen Diederichs als auch von Otto Neurath, erwies sich als Hauptproblem „ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Intellektualisten und Künstlern“. So brachte er es in einem kritischen Brief vom 11. Oktober 1917 an Diederichs auf einen knapp resümierenden Nenner (abgedr. in Werner, 2021, 320). Der unüberbrückte Gegensatz zwischen rational-analytischer und der von Diederichs bevorzugten „schöpferischen“ Welthaltung habe die Tagung durchzogen und fruchtbaren Austausch blockiert. Jugendlicher „Tanz im Schloßhof“ sei bewegend, aber Gemeinschaftsgefühl à la Diederichs ersetze nicht Gesellschaftsanalyse, wenn „Leute wie Sombart, Tönnies, Neurath [und andere] frierend und einigermaßen gottverlassen herumlaufen“ (abgedr. in Werner, 2021, 320). Es war demnach nicht zu der erhofften Verständigung und wechselseitigen Sensibilisierung von Jugendbewegung und Wissenschaft gekommen, erst recht nicht in Wirtschaftsfragen. Otto Neurath und Max Weber fanden sich aus der Sicht der „Jungen“ gemeinsam in der Gruppe der unschöpferischen „Intellektualisten“ wieder. Als Diederichs eine dritte Folge für das Frühjahr 1918 ins Auge fasste und seine geliebte Opposition von schöpferischer Jugend und unschöpferischen Akademikern erneut bemühte, wurde Schumann deutlicher. „Nach meinem Gefühl mißbrauchen Sie das Wort ‚schöpferische Menschen‘“ kritisierte er Diederichsʼ Vorstellung vom „Wesen einer Kulturtagung“ und versprach sich mehr vom Orientierungswissen der „Intellektualisten“, namentlich von Neurath und Weber (Schumann an Diederichs, 3. Februar 1918 abgedr. in Werner, 2021, 354–357, 354).

Ähnlich negativ votierte Alfred Jaffé, der sogar die verabredete Vertraulichkeit der Lauensteiner Gespräche durchbrach, weil er seine Ordnungsidee der Gemeinwirtschaft romantisch zerredet sah. In einem anonymen Artikel machte er den Gegensatz der „Künstler und Gelehrten“ öffentlich und nahm Partei für die „strengen Wissenschaftler“, darunter, ohne ihn namentlich zu nennen, Otto Neurath, denn „die Österreicher hatten Gelegenheit, durch skeptische Sachlichkeit und ebenso skeptische Versöhnlichkeit […] ihre besondere Art zu zeigen“ (Jaffé, 1917, 996). Unmittelbar gefordert waren die „strengen Wissenschaftler“ dann im Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft 1918/1919, als die Frage nach Art und Maß der „Sozialisierung“ die Agenda der praktischen Politik bestimmte und die Teilnehmer von Lauenstein ins Rampenlicht rückten.

4 Pläne und Probleme der „Sozialisierung“ in der Revolution von 1918/1919

Die Revolution von 1918/1919 zielte in Deutschland wie in Österreich über den politischen Systemwechsel hinaus auf eine neue Sozialordnung jenseits des Kapitalismus. Wie positionieren sich in den nicht-marxistischen Debatten um die „Sozialisierung“ unsere Hauptakteure? Die Jugendbewegten wie Eduard Heimann und auch Diederichs selbst blieben im Diskursfeld. Heimann als Generalsekretär der deutschen Sozialisierungskommission, Diederichs mit seiner bereits 1917 begründeten Reihe „Deutsche Gemeinwirtschaft“; darin erschienen Otto Neuraths „Vollsozialisierung“ als Heft 15 (1920) und Walther Rathenaus „Autonome Wirtschaft“ als Heft 16 (1919).Footnote 22

Edgar Jaffé, der in den Kriegsheften seines AfSS so energisch für die „Gemeinwirtschaft“ eingetreten war, wurde am 8. November 1918 als Finanzminister in die Regierung von Kurt Eisner berufen. Nach Eisners Ermordung trat Jaffé am 17. März 1919 zurück und gehörte der Regierung Hoffmann nicht mehr an.Footnote 23 Über Edgar Jaffé fand Otto Neurath in die bayerische Politik.Footnote 24 Zwischen dem 31. März und dem 14. Mai 1919 wirkte er als Leiter des Zentralwirtschaftsamtes und versuchte mit Amtsautorität und Charisma, seine Idee der Vollsozialisierung umzusetzen. Was „Vollsozialisierung“ in ihrer rigorosen Planungslogik heißen soll, beschrieb er in allen Journalen, die ihn einluden. Mit Wolfgang Schumann verfasste er den „Entwurf zu einem Reichs-Sozialisierungsgesetz“ (Neurath & Schumann, 1919, 70–79) unter der Devise „Sozialisieren heißt: eine neue Lebensordnung heraufführen“ (Neurath & Schumann, 1919, 57). Auch Jaffés und Lederers AfSS bot Neurath in seinem thematisch auf die Sozialisierung ausgerichteten Jahrgang 1920 eine Plattform, sein „System der Sozialisierung“ mit einer detaillierten graphischen „Übersicht über die Organisation der Sozialisierung“ (Neurath, 1920/1921, 73) internationalen Fachkreisen zu präsentieren.

Diese nicht-marxistische Kapitalismuskritik wirkte erkennbar auf die Jugendbewegung zurück. Für die Freideutsche Jugend kündigte Knud Ahlborn einen klaren Kurswechsel an:

Das noch in Jena [auf dem Freideutschen Jugendtag von 1919, G.H.] versuchte Prinzip einer demokratischen Gesetzgebung der neuen Gemeinschaft wird entschieden verlassen. Fachleute sollen entscheiden, was auf den einzelnen Fachgebieten an praktischen Forderungen aufzustellen und an praktischer Arbeit zu leisten ist. (Ahlborn, o. J., 23)Footnote 25

Darin liegt, ob direkt oder indirekt rezipiert, ein Bezug auf die Position von Otto Neurath. Denn Neurath hatte sich zu jeder Zeit, nicht erst verteidigungsstrategisch in seinem Münchener Hochverratsprozess, als reiner Fachmann verstanden. Sein logischer Sozialismus war szientistisch, einheitswissenschaftlich gedacht, beruhend auf Universalstatistik und Naturalrechnung. Nur als Fachmann habe er gehandelt, übergeordnet allen politischen Interessen- und Machtkämpfen, ließ er die Gesprächspartner wissen, sofern sie – wie Walther Rathenau – nach seiner Verhaftung den Kontakt mit ihm nicht abbrachen.Footnote 26

Neurath stand mit seiner wissenschaftsbasierten Utopie einer „gesellschaftstechnischen Gesamtkonstruktion“ recht isoliert da.Footnote 27 Demgegenüber propagierten die ökonomischen Experten, wenn sie die Chancen von Sozialisierungsmaßnahmen einem Wirklichkeitstest unterwarfen, gradualistische Strukturreformen verschiedener Reichweite.Footnote 28 Einen Eindruck vom hohen Niveau dieser Debatten liefert die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in Regensburg vom September 1919. In vier Berichten stritten die Nationalökonomen Emil Lederer und Franz Eulenburg, der Soziologe Leopold von Wiese und der Bankier Theodor Vogelstein in dieser renommiertesten sozialwissenschaftlichen Vereinigung im deutschsprachigen Raum um „Arten und Stufen der Sozialisierung“, wie es Eulenburg im Titel seines dritten Berichts nannte (Eulenburg, 1919). Diese Verhandlungen über die Probleme der Sozialisierung wurde durch Emil Lederer eröffnet. Auf der Basis seiner Erfahrungen aus der deutschen wie österreichischen Sozialisierungskommission warb Lederer für eine realitätsbezogene Sozialisierung in Anspielungen auf Neuraths „Wirtschaftsplan“, von dem er sich in zwei grundsätzlichen Punkten klar abgrenzte. Jedes Sozialisierungskonzept habe davon auszugehen, dass die „Anarchie der kapitalistischen Produktion“ schon vor dem Krieg durch vielfache Organisationsformen der „Unternehmerschicht“ in „eine einheitliche planmäßige Struktur“ (Lederer, 1919, 115) transformiert worden sei, gewissermaßen ein verborgener „Wirtschaftsplan“ kapitalistischer Großorganisationen. Es komme deshalb „nur“ darauf an, „daß ein bestehender Wirtschaftsplan ersetzt wird oder umgeformt wird zu einem andern Wirtschaftsplan“ (Lederer, 1919, 115). Ähnlich Neurath geht Lederer in der ökonomisch obersten aller Fragen – wie steht es mit der Produktivität? – davon aus, dass kluge Sozialisierung die Produktivität einer Volkswirtschaft gegenüber kapitalistischen Fehlentwicklungen steigern kann. Gegen Neuraths logisches Konstrukt bringt Lederer jedoch zwei prinzipielle Argumente ins Spiel. Die Umformung zu mehr planwirtschaftlicher Organisation sei keine sozialtechnische, sondern vielmehr eine politische Frage, die eines kämpferischen politischen Willens bedürfe. Lederer votierte im politischen Interessenkampf gegen gewaltsam errichtete Rätestrukturen und für den Erhalt von Rahmenbedingungen eines demokratischen Kapitalismus, denn „alle diese Umformungen können sich vollziehen, ohne daß die kapitalistische Wirtschaft und ihr Mechanismus aufgehoben werden müßte“ (Lederer, 1919, 116). Gemeint ist, „das Prinzip einer demokratischen Wirtschaft, welche von allen Klassen gewollt und getragen wird, zu realisieren“ (Lederer, 1919, 116).

Max Weber, der die Kontroversen um die Sozialisierung konzentriert verfolgte, wurde auf der Regensburger Generalversammlung erneut in den Ausschuss des Vereins für Sozialpolitik gewählt (Herkner & Hainisch, 1920, 139). Außer Frage steht, dass sich Neurath mit seiner Gleichsetzung von wissenschaftlichem und politischem Ordnungsdenken den großen Zorn, aber auch die anhaltende Aufmerksamkeit von Max Weber gesichert hatte.

5 Die Konstellation Weber-Neurath-Lederer: Gegensätze und Berührungspunkte zwischen Weber-Kreis und Wiener Kreis

Obwohl es zwischen den intellektualistischen Denkströmungen des Logischen Empirismus, wie ihn Neurath verkörperte, und des Neukantianismus, wie ihn Max Weber unorthodox vertrat, erkenntnistheoretisch keine Brücke gab, finden sich aufschlussreiche kommunikative Berührungspunkte. Die Gegensätze zogen sich an. Das galt nicht weniger für Webers Interesse an der freideutschen Jugendbewegung. Fassen wir seinen zeitdiagnostischen Blick auf Jugendbewegung, Gemeinwirtschaft und Sozialisierungschancen unter diesem Gesichtspunkt zusammen.

In Lauenstein provozierte Weber bewusst und pädagogisch völlig unsensibel. Die Jugend dürfe sich nicht in romantische oder revolutionäre Utopien flüchten. Sie müsse ihre „Kraft vielmehr aus den nüchternen Tatsachen des Tages ziehen: die bösen Hunde der materiellen Interessengruppen müßten aufeinandergehetzt werden; der Kampfplatz sei das Parlament“ (Schumann, 1917, 279).Footnote 29 Die berühmte Rede über „Politik als Beruf“, die Weber am 28. Januar 1919 vor den Freistudenten in München hielt, konfrontierte die revolutionär gestimmte Jugend im Grunde mit nur einem Thema: Auch die leidenschaftlichste Gesinnungs- und Liebesethik oder der rationalste Wirtschaftsplan werden das Element des Politischen, den Kampf um „Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“ (Weber, 1992, 159), nicht ausschalten. Kurz, Gemeinwirtschaft und Vollsozialisierung als erlösende Friedensordnungen schaffen den politischen Konflikt und die Gewalt nicht aus der Welt.

Hier wurde Otto Neuraths Wissenschaftsideal geradezu exemplarisch angesprochen. Das unterstreicht Webers Zeugenaussage im Münchener Prozess gegen Neurath am 23. Juli 1919. „Subjektiv“, so Webers entlastendes Argument, sei Neurath „nach der Eigenart seines Studiums kein Vorwurf zu machen“ (Prozessprotokoll, Weber, 1988, 495). Objektiv dagegen fehle ihm „ein gewisser Blick für die Wirklichkeit[,] da er sich eben zu leicht von der Utopie hinreißen lasse“ (Weber, 1988, 495). Mehr noch belegt es der kurze Briefwechsel, den beide im Oktober 1919 führten. Auf einen Brief Neuraths vom 3. Oktober zu den Sozialisierungsabsichten in seiner Zeit als Leiter des bayerischen Zentralwirtschaftsamtes und nunmehr in Erwartung seiner Festungshaft reagierte Weber umgehend. Unter Berufung auf Franz Eulenburgs jüngsten Bericht in der September-Versammlung des Vereins für Sozialpolitik hielt er die „‚Planwirtschafts‘-Pläne für einen dilettantischen, objektiv absolut verantwortungslosen Leichtsinn sondergleichen, der den ‚Sozialismus‘ für hundert Jahre diskreditieren kann“ (Weber, 2012, 800).Footnote 30 Neurath verteidigte sich drei Tage später:

Ich wehre mich andauernd gegen die Anschauung, ich hätte mich einer politischen Richtung zur Verfügung gestellt. Ich habe eine objektive Aufgabe auszuführen gehabt und dies eben getan, ohne Rücksicht auf die Gewalt, welche dies ermöglicht. […] Über die Frage des Wirtschaftsplanes würde ich besonders gerne mit Ihnen sprechen, und insbesondere würde mich interessieren zu erfahren, welche Rolle der Reingewinn noch haben kann. Ich wäre Ihnen sehr dankbar für persönliche Kritik. Die Bedenken, daß die Reaktion gefördert werde, daß die Formen der ‚Demagogie‘ nicht einwandfrei seien, machen mich immer am meisten nachdenklich, weil hier meines Erachtens überhaupt vor allem aber für mich persönlich die größten Schwierigkeiten liegen. (Neurath an Weber, 7. Oktober 1919, Deponat BSB München, Ana 446)

Weber war in der Folge weniger an „persönlicher“ Kritik interessiert, er speiste sie vielmehr in den staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs ein. So förderte er eine Würzburger Dissertation zum Thema „Die wirtschaftlichen Maßnahmen der Münchener Räteregierung und ihre Wirkungen“ und setzte sich bei dem Sozialpolitiker und Publizisten Ernst Francke, einem Mitglied der ersten Sozialisierungskommission, dafür ein, dem Kandidaten alle Akten zur Verfügung zu stellen, aus denen sich die „Wirkungen“ explizit von Neuraths Sozialisierungsmaßnahmen ermitteln lassen. Denn „es ist natürlich unbedingt erforderlich: festzustellen nicht nur, was er dabei gedacht, angeordnet, verboten, erzwungen hat, sondern auch: was denn nun eigentlich tatsächlich, rein ‚betriebsmäßig‘, effektiv geschehen ist, d. h. wie sich die Betroffenen gegenüber dieser Lage verhalten haben“ (Weber an Francke, 11. Januar 1920, Weber, 2012, 886).Footnote 31 Wie schon in seinen frühen Schriften richtet sich Webers wissenschaftliches Interesse auch jetzt vor allem darauf, wie Ideen und soziale Ordnungsmodelle verhaltensrelevant und damit gesellschaftlich wirksam werden.

Das sicherte Neurath einen Platz in Webers bedeutendstem ökonomischen Werk. Wirtschaft und Gesellschaft (Weber, 2013, 280–285) enthält einen eigenen Paragraphen über „Naturalrechnung, Naturalwirtschaft“, in dem ausführlich Neuraths Sozialisierungs-Modell diskutiert wird: Wie sind Standortzuweisung eines Betriebes, Produktionsrichtung, geldlose Güterbewegung und Konsumentenbedarf in rein rational-technischer Planung aufeinander abzustimmen? Aus dem Gesamtwerk der beiden wissen wir, wo der entscheidende Gegensatz liegt. Was für Neurath die große ganzheitliche Utopie wissenschaftlich-technischer Rationalität ausmacht, bedeutet für Weber die absolute Dystopie einer bürokratisch versteinerten Lebenswelt.Footnote 32 Persönlich haben sich beide wohl zuletzt noch Anfang 1920 in München gesprochen, bevor Neurath der Ausweisung Folge leistete und nach Wien zurückkehrte. Weber, ganz der kollegiale Wissenschaftler, hatte versprochen, Neurath über den Druck seines AfSS-Aufsatzes „Ein System der Sozialisierung“ in Kenntnis zu setzen und teilte dazu Emil Lederer am 17. Februar 1920 Neuraths noch gültige Münchener Anschrift mit, „p. Adr. A[lexandra] Franken, Wiltrudenstr. 5III“ (Weber, 2012, 923).

Wo stand Emil Lederer selbst, der diesen Aufsatz in den Jahrgang 1920 mit dem Themenschwerpunkt zu den „sozialistischen Möglichkeiten von heute“ aufnahm?Footnote 33 Lederer agierte einerseits als Zentrum des von ihm als „Kreis um Max Weber“ charakterisierten AfSS-Netzwerkes.Footnote 34 Andererseits pflegte er seine österreichischen Wurzeln. Über die Grenznutzenschule hatte er eine gute mathematische Schulung erhalten und schrieb regelmäßig über Geld- und Konjunkturtheorien. Über den Austromarxismus festigte er seine wissenschaftliche Weltauffassung, zum unternehmerischen Kapitalismus als einer im Weltkrieg „versunkenen Epoche“ (Lederer, 1920, 6) Alternativen zu entwickeln. Er studierte Weber und Neurath mit gleicher Intensität und votierte mit seinem Vorschlag einer „demokratischen Sozialisierung“ für eine Synthese aus liberaler Markt- und sozialistischer Planwirtschaft, um die Nachkriegsökonomie der 1920er-Jahre zu beleben. Als der „letzte liberale Sozialist“ gilt er in der Forschung (Gostmann & Ivanova, 2014, 26).

Für Otto Neuraths Ansprüche an eine „Wissenschaftliche Weltauffassung“, wie er sie 1929 zusammen mit Hans Hahn und Rudolf Carnap im Manifest „Der Wiener Kreis“ programmatisch fixierte, war das entschieden zu wenig. Neurath verantwortete dort zum Kapitel „Problemgebiete“ den fünften Abschnitt „Grundlagen der Sozialwissenschaften“, in dem „auch die soziologischen Wissenschaftsgebiete, in erster Linie Geschichte und Nationalökonomie“, im einheitswissenschaftlichen Geist zu „empiristischer, antimetaphysischer Einstellung“ (Verein Ernst Mach, 1929, 27) angehalten wurden. In der Forderung nach „einer logischen Analyse“ der Begriffe und der Vermeidung aller Kollektivbegriffe wie ‚Volksgeist‘ deckt sich Neurath völlig mit Max Webers lebenslang erhobenem Insistieren auf exakter Begriffsbildung. Beide denken strikt antimetaphysisch. Ihre Grundeinstellung zum Verhältnis von Wissenschaft und Weltauffassung ist jedoch gegensätzlich. Neuraths Buch über Empirische Soziologie, auf der Basis des Wiener-Kreis-Manifestes verfasst und als fünfter Band der „Schriften zur Wissenschaftlichen Weltauffassung“ erschienen, ist an diesem Punkt explizit gegen die Weberʼsche Wissenschaftsauffassung geschrieben. Gleich auf der ersten Seite der Einleitung

wird nun all das abgelehnt, was als ‚Verstehen‘, ‚Sinngebung‘, ‚Wertbezogenheit‘ usw. auftritt, die Darstellungsweise, wie sie etwa Dilthey, Rickert und andere mit Erfolg verbreitet haben, so daß man sie sogar mehr oder minder abgeschwächt bei Gelehrten antrifft, die der wissenschaftlichen Weltauffassung und der ihr eingegliederten Soziologie in vielem nahestehen. (Neurath, 1931, 1)

Das „und andere“ zielt direkt auf Max Weber, wie gleich der nachstehende Absatz klarstellt: „Jede wissenschaftliche Aussage ist eine Aussage über eine gesetzmäßige Ordnung empirischer Tatbestände“ (Neurath, 1931, 2). Das sah Weber in der Tat völlig anders: „Nicht die ‚sachlichen‘ Zusammenhänge der ‚Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde“ (Weber, 2018, 167 f.), schon gar keine „gesetzmäßige Ordnung“. Es ist das kantische Apriori der Wahl der „Probleme“ und der wertbezogenen „Gesichtspunkte“ auf diese Probleme, die den Sozialwissenschaftler neben dem ursächlichen Erklären auch zur Methode des deutenden Verstehens zwingt.Footnote 35 Hier baut sich der entscheidende Gegensatz zwischen Wiener Kreis und weberianischer „Wissenschaftslehre“ auf.

Für Neurath und den Wiener Kreis begründet der „moderne Empirismus“ eine „wissenschaftliche Weltauffassung“, welche „die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf“ (Verein Ernst Mach, 1929, 30).

Für Max Weber stößt dieses Ideal einer wissenschaftlich rationalistischen Lebensführung an dem Punkt an seine Grenzen, an dem in Anspruch genommen wird, den „polytheistischen“ Konflikt gegensätzlicher Weltauffassungen in der modernen Kultur zu überwinden. Der wissenschaftlichen Weltauffassung seien Grenzen gesetzt, „weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unauflöslichem Kampf untereinander stehen“ (Weber, 1992, 99). Auf die dringlichste Frage der Jugendbewegung, „wie sollen wir leben, wie dem Leben einen Sinn verleihen?“, halten die Wissenschaften keine Antwort bereit, so Webers desillusionierende Botschaft an die Freistudenten in „Wissenschaft als Beruf“, im November des Kriegsjahres 1917 in München. Wissenschaft diene der „Klarheit“ der Weltorientierung und der berechenbaren Weltbeherrschung.Footnote 36 Sie sei aber nur eine Wertsphäre unter mehreren, darunter die Gewissenswelt der Religionen und die Emotionswelt des Nationalbewusstseins. Und im „ewigen Kampf“ der Weltauffassungen, „dieses Kampfes der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte“, sei im wertepluralistischen Kulturleben der Moderne mehr denn je „für den einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der einzelne hat zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist“ (Weber, 1992, 101).Footnote 37 Nachdrücklich warnte Weber die akademische Jugendbewegung davor, im Wissenschaftler „einen Führer und nicht: einen Lehrer“ (Weber, 1992, 101) zu erhoffen. Weber knüpfte damit unmittelbar an die zweite Lauensteiner Tagung über das „Führerproblem im Staate und in der Kultur“ an, die erst einen guten Monat zurück lag, und setzte die dort begonnene Diskussion mit der Jugendbewegung fort.

Was am Ende die radikalisierten Weltanschauungskämpfe vor 1933 betrifft, so teilten der intellektuelle Kreis um Carnap und Neurath wie auch nach Webers Tod der Kreis um Emil Lederer und das AfSS die gleiche Erfahrung. Den politisch verunsicherten bürgerlichen Bildungsschichten war mehr an einem autoritären Führertum als an einer Verwissenschaftlichung der Weltauffassung gelegen. In der Folge erlitten nach 1933 Wiener Kreis und Weber-Kreis das gleiche Schicksal. Die „einzigartige Lebendigkeit und produktive Vielfalt der deutschsprachigen Kultur“ (Lepsius, 1993, 121), die sich in den urbanen Milieus von Wien und Berlin gebündelt hatte und in hohem Maße von jüdischen Intellektuellen und Wissenschaftler geprägt worden war, wurde zerstört.

Ihrem Bild- und Textband Der Wiener Kreis haben Christoph Limbeck-Lilienau und Friedrich Stadler als Motto einen Ausspruch von Viktor Kraft vorangestellt: „Die Arbeit des Wiener Kreises ist ja nicht abgeschlossen, sie ist abgebrochen worden“ (Limbeck-Lilienau & Stadler, 2015, 5). Das Gleiche gilt für den Kreis des Archivs, dem herausragende jüdische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wie Jakob Marschak, Eduard Heimann, Karl Pribram, auch Karl Mannheim, angehörten (Hübinger, 2019a, b, 72–75). Im August 1933 stellte der Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) die Zeitschrift ein. Ein Fortleben erfuhr sie in den USA. Alvin Johnson, der Direktor der New School for Social Research in New York, war an der Expertise der Emigranten zu den europäischen Wirtschaftsproblemen, der Entwicklung des Arbeitsmarktes und der politischen Verhältnisse äußerst interessiert. Denn den amerikanischen Universitäten fehlten solche Experten. Er ernannte Emil Lederer zum Dean der Graduate Faculty of Political and Social Science. Mehrere der Redakteure und Autoren des AfSS wurden an die New School berufen und gestalteten deren Zeitschrift Social Research nach dem Vorbild des AfSS.Footnote 38 So wie den Geist des Logischen Empirismus bewahrte der transatlantische Transfer auch weberianischen Geist. Alexander von Schelting, Lederers Vertreter in der AfSS-Redaktion und Autor der ersten Monographie zu Max Webers Wissenschaftslehre (1934),Footnote 39 war es zum Beispiel, der das Weberverständnis von Talcott Parsons entscheidend beeinflusste.Footnote 40 Und Hans Staudinger, der Wandervogel in Webers Arbeitszimmer, Lederers enger Freund, Spitzenbeamter in der Weimarer Republik und SPD-Reichstagsmitglied 1933, kurzzeitig inhaftiert und anschließend über Belgien in die USA emigriert, gelangte 1934 an die New School und wurde dort nach Lederers Tod 1939 dessen Nachfolger als Dekan.Footnote 41 Hier schließt sich ein Kreis.