Zusammenfassung
Auf Videos und Filme wird mittlerweile in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung häufig zurückgegriffen. Bislang wurden allerdings kaum Angebote zur Bearbeitung (audio-)visueller Daten aus dem Umfeld der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) unterbreitet, obschon nach deren Grundlegung durch Barney Glaser und Anselm Strauss in der mittlerweile 50jährigen Forschungstradition diverse Weiterentwicklungen zu verzeichnen sind. Angesichts zahlreicher Rückgriffe auf die GTM in Forschungsarbeiten einerseits und angesichts der Konjunktur audiovisueller Daten andererseits ist es aus unserer Sicht notwendig, über mögliche Potenziale, Anwendungsbereiche und Anwendungsfragen einer audiovisuellen Grounded-Theory-Methodologie nachzudenken. Ziel des Beitrags ist es daher, erste Anschlüsse für eine Analyse audiovisueller Daten unter Rekurs auf die GTM darzulegen und dabei elementare Schritte der Forschungsplanung wie Sampling und Fallkontrastierung sowie der Analyse mit Blick auf Segmentierung, Kodierung und Memoing zu reflektieren.
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Notes
- 1.
Als Kriterium zu Auswahl und Benennung dienten uns die (Titel der) einschlägigen Lehrbücher oder vergleichbare Publikationen, die auf eine gewisse Etablierung verweisen. Wir beschränken uns – auch aus Platzgründen – auf diese Arbeiten, möchten aber zumindest auf weitere Ansätze hinweisen, so z. B. mit Referenz zur Ethnomethodologie (Hecht 2009), die erziehungswissenschaftliche Videoanalyse (Dinkelaker und Herrle 2009) oder die pädagogisch-phänomenologische Videoanalyse (s. Brinkmann, Rödel idB).
- 2.
Eine gründliche und grundsätzliche Erschließung visueller Daten bietet der Beitrag von York Kautt (2017) zur „Grounded Theory Visueller Kommunikation“, der unter methodischen und methodologischen Gesichtspunkten dem Visuellen nachgeht, audiovisuelle Daten aber nur am Rande streift.
- 3.
Beispielsweise durch Nutzung von „Maps“ zur Reflexion der Kriterien des Theoretical Samplings wie dies in dem Vortrag „Sampling an urban district: lessons from Augsburg’s Universitätsviertel“ von Matthias Roche (gemeinsam mit Oliver Dimbath 2016) bei der RC33-Konferenz thematisiert wurde.
- 4.
Die Differenz zwischen professionellen AV-Daten und amateurartigen ist eher in Bezug auf Fragestellung und Interpretation zu sehen, insofern professionell gestaltete Produkte wie Spielfilme oft eine umfassende Prä- und Postproduktion kennzeichnet. Dies hat Auswirkungen auf Fragestellung, theoretische Gegenstandskonzeptualisierung und Interpretation, insofern der Einsatz von Stilmitteln und Handlungen dezidierter mit bewussten Operationen der bildproduzierenden und bildgestaltenden AkteurInnen relationiert werden kann. Professionalisierungsgrad und Geltungsanspruch des Datums bilden u. E. kein genuines Kriterium für die Art der Segmentierung.
- 5.
Ein gänzlich ‚kontextloses‘ Interpretieren findet auch hier nicht statt, insofern generell die Ausschnitte größer als das eigentliche Analyseelement gewählt werden – und diese zusätzlich ‚abgesichert‘ sind durch Kodenotizen und Memos.
- 6.
Im Zuge der weiteren Kodierarbeit geht es darum, sinnhafte Zusammenhänge zwischen Kodes respektive dadurch angezeigte Konzepte herauszuarbeiten. Hierbei bietet sich durchaus eine ‚handwerkliche‘ Systematisierung an: In einem Zwischenschritt und bereits während des offenen Kodierens sind alle Kodes in Kodelisten zu überführen, die die Basis zur späteren Kategorienausarbeitung bilden. Ebenso kann es angezeigt sein, die Daten im Sinne des Mapping sensu Clarke (2005, S. 83–144) zu strukturieren, insbesondere weil via der von ihr vorgeschlagenen Maps (unterschieden werden „situational maps“, „social worlds/arena maps“ und „positional maps“) erlaubt ist, Komplexitäten – von denen bei AV-Daten auszugehen ist – ‚abzubilden‘.
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Dietrich, M., Mey, G. (2018). Grounding Visuals. In: Moritz, C., Corsten, M. (eds) Handbuch Qualitative Videoanalyse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15894-1_8
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