In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass DFminimal insbesondere dazu geeignet ist, auf Leerstellen im Hinblick auf die Dimensionen der Führung und die damit verbundenen moralischen Fragestellungen hinzuweisen, wenn man DFminimal als allgemeinen Bezugsrahmen nimmt, vor dessen Hintergrund man führungsethische Theorien analysiert. Hierbei zeigt sich auch, dass DFminimal Führung umfassender erfasst als andere Definitionen und Theorien. Um dies zu herauszuarbeiten, analysieren wir für die führungsethische Debatte einflussreiche Theorien vor dem Hintergrund von von DFminimal. Dass viele führungsethische Theorien nicht alle Dimensionen von Führung in ihren Definitionen gleichermaßen beachten, veranschaulicht überblicksartig Tabelle 1.
Tabelle 1 Führungsethische Theorien und Dimensionen der Führung Da es im Zuge dieses Artikels nicht möglich ist, die Analysen der jeweiligen Theorien detailliert darzustellen, konzentrieren wir uns im Folgenden exemplarisch auf drei Theorien und zeigen auf, wie die Analyse auf Basis von DFmiminal aussehen kann. Die Rede ist von der Theorie der transformationalen Führung nach Bass, der Theorie der ethischen Führung und der verantwortungsvollen Führung.
Transformationale Führung
In seinem Buch Leadership definiert Burns Führung wie folgt: „(…) leadership as leaders inducing followers to act for certain goals that represent the values and motivations – the wants and needs, the aspirations and expectations—of both leaders and followers” (Burns 1978). Im Hinblick auf die Frage, wie Führende Geführte zielorientiert beeinflussen, unterscheidet Burns zwischen transaktionaler und transformationaler Führung. Bei transaktionaler Führung werden Geführte dazu motiviert, ein Ziel zu akzeptieren, weil sie hierdurch etwas anderes für sich als wertvoll Erachtetes bekommen. Bei transformationaler Führung geht es im Gegensatz dazu darum, dass Führende und Geführte gemeinsame Ziele verfolgen, von denen sie beide überzeugt sind: „Such leadership occurs when one or more person engage with others in such a way that leaders and followers raise one another to higher levels of motivation and morality” (ebd.). Transformationale Führung zielt somit auf moralische Entwicklung und Verbesserung ab (vgl. ebd.).
Bass und seine Kollegen greifen auf Burns Theorie der transformationalen Führung zurück, modifizieren und erweitern diese jedoch. So abstrahieren sie zum einen von einem zentralen Aspekt von Burns Theorie: Transformationale Führung muss nicht mehr (ausschließlich) das Ziel verfolgen, Geführte auf eine höhere moralische Entwicklungsstufe zu bringen. Vielmehr kann transformationale Führung eingesetzt werden, um unterschiedliche Ziele zu verwirklichen (vgl. Bass und Riggo 2006).
Auch buchstabieren Bass und Kollegen aus, wie transformationale Führung gelingen kann. Sie identifizieren vier Komponenten transformationaler Führung (vgl. ebd.): Erstens verfügen Führende, durch ihr Vorbild, aber auch durch ihnen zugeschriebene Eigenschaften, über Einfluss auf die Geführten (‚idealized influence‘). Zweitens sind die Führenden in der Lage sowohl konkrete Ziele als auch Visionen inspirierend und motivierend zu vermitteln (‚inspirational motivation‘). Drittens fordern Führende die Geführten intellektuell heraus und ermutigen sie neue und kreative Lösungen für Probleme zu finden (‚intellectual stimulation‘). Viertens betrachten Führende Geführte als Individuen und wollen sie individuell fördern (‚individualized consideration‘).
Bass und Riggo konzentrieren sich jedoch nicht nur auf transformationale Führung, sondern entwickeln ein ‚Full-Range-Leadership-Modell‘ (vgl. ebd.). So beschreiben sie, dass Führende Geführte nicht nur transformational beeinflussen, sondern teilweise auf kontingente Belohnungen und teilweise auf aktives oder passives Management-by-Expectation zurückgreifen. Verzichten Führende darauf zu führen, treffen sie keine Entscheidungen und halten sich bewusst heraus, sprechen Bass und Riggo von Laissez-Faire Leadership. Auch wenn Bass und Riggo das ‚Full-Range-Leadership-Modell‘ formulieren, so wollen sie keine grundlegende Definition von Führung erarbeiten. Dies sieht man allein schon daran, dass sie ihre Ausführungen normativ nicht neutral sind. Sie sprechen sich eindeutig für einen transformationalen Führungsstil aus. Dieser sei die effektivste Art zu führen (vgl. ebd.).
Eine strittige Frage ist, ob und inwieweit transformationale Führung zugleich moralisch gute Führung ist. Bass und Steidlmeier verweisen in ihrer Diskussion dieser Frage auf drei ‚Orte der Moral‘: „The ethics of leadership rests upon three pillars: (1) the moral character of the leader; (2) the ethical legitimacy of the values embedded in the leaders vision, articulation, and program which followers either embrace or reject; and (3) the morality of the processes of social ethical choice and action that leaders and followers engage in and collectively pursue” (Bass und Steidlmeier 1999). Bass und Kollegen unterscheiden nun zwischen pseudo-transformationaler und authentischer transformationaler Führung. Authentische transformationale Führung wird nur erreicht, wenn einerseits der Charakter der Führenden vorbildhaft ist und die vier Komponenten transformationaler Führung ernsthaft und (auch) zum Nutzen der Geführten umgesetzt werden. (vgl. ebd.). Gerade im Hinblick auf die Komponente der individuellen Betrachtung argumentieren Bass und Kollegen aber, dass diese letztendlich nur bei authentischer Führung verwirklicht sei, weshalb sie transformationale Führung und authentische transformationale Führung letztendlich mehr oder weniger gleichsetzen (vgl. Bass und Steidlmeier 1999; Bass und Riggo 2006). Sie arbeiten jedoch auch explizit heraus, dass auch transaktionale Führung aus moralischer Sicht gute Führung sein kann (vgl. Bass und Steidlmeier 1999).
Betrachtet man Bass Verständnis von transformationaler Führung vor dem Hintergrund von DFminimal, ist zunächst zu bemerken, dass transformationale Führung unter den Führungsbegriff von DFminimal fällt. Transformationale Führung wird auch als zielorientierter und asymmetrischer Prozess der Einflussnahme zwischen Führenden und Geführten verstanden. Bass und Kollegen sprechen in ihren Ausführungen nun alle fünf Dimensionen der Führung an, jedoch thematisieren sie nur die Dimension der Führenden, die der Ziele und der Zielumsetzung und des Interaktionsprozesses als ‚Orte der Moral‘, ohne dass sie dies ausreichend begründen. Dies muss man auf Basis von DFminimal als Manko ansehen, auch wenn eine Offenheit gegenüber einer erweiterten Betrachtung, die die fehlenden Dimensionen einschließt, besteht.
Ethische Führung
Wenden wir uns nun zwei Theorien zu, die dezidiert eine Theorie moralisch guter Führung formulieren wollen. Den Anfang macht die Theorie der ethischen Führung, wie sie von Brown, Treviño und Harrison vorgebracht wird. Sie stellen folgende Definition zur Diskussion: „We define ethical leadership here as the demonstration of normatively appropriate conduct through personal actions and interpersonal relationships, and the promotion of such conduct to followers through a two-way communication, reinforcement, and decision-making” (Brown et al. 2005). Mit ihrer Definition heben sie drei Aspekte hervor: (1) Ethische Führung basiert auf sozialen Lernprozessen, in denen Führende zu moralischen Vorbildern für Geführten werden und diese zur Nachahmung anregen. (2) Anreiz- und Bestrafungssysteme müssen so ausgestaltet werden, dass sie ethisches Verhalten fördern. (3) Die Wichtigkeit von ethischen Themen muss explizit und nachdrücklich kommuniziert werden.
Da die Autor*innen explizit keine grundlegende Führungsdefinition formulieren wollen, sondern eine Definition ethischer Führung, müssen wir nicht hinterfragen, ob ihre Definition weit genug gefasst ist, um unterschiedliche Führungsverständnisse einzufangen, oder normativ neutral ist. Da Brown, Treviño und Harrison Führung als einen interpersonalen und asymmetrischen Prozess der Einflussnahme verstehen, der zwischen Führenden und Geführten stattfindet, fällt ethische Führung unter den von DFminimal vorgebrachten Führungsbegriff.
Im Hinblick auf DFminimal stellt sich jedoch die Frage, ob die Autor*innen alle ‚Orte der Moral‘ bedacht haben. Unstrittig erscheint, dass sie die Dimension der Führenden, des interpersonellen Interaktionsprozesses und des Kontexts beachten. Die Dimension der Führenden rückt durch deren Vorbildfunktion in den Mittelpunkt. Auch untersuchen die Autoren, welche individuellen Eigenschaften sich positiv auf ethisches Führungsverhalten auswirken und welche Tugenden ethischen Führenden von Geführten attestiert werden (vgl. Brown et al. 2005; Brown und Treviño 2006). Durch den Fokus auf die sozialen Lernprozesse, die Vorbildfunktion der Führenden und die positive bzw. negative Sanktionierung von Verhalten von Geführten ist auch die Dimension des interpersonellen Interaktionsprozesses mitgedacht. Des Weiteren thematisieren die Autor*innen an unterschiedlichen Stellen auch den Kontext, in dem Führung stattfindet. So sprechen sie beispielsweise von normativ angemessenem Verhalten und verweisen darauf, dass es sich aus der jeweiligen historischen und sozio-kulturellen Situation ergibt, welches Verhalten als normativ angemessen gilt (vgl. Brown et al. 2005). Außerdem weisen Brown und Treviño darauf hin, dass ethische Führung positiv damit korreliert ist, ob man ethische Rollenmodelle in seiner Karriere identifizieren konnte und ob das Unternehmensklima und die Unternehmenskultur ethisches Verhalten positiv unterstützt (vgl. Brown und Treviño 2006).
Die Dimension der Geführten wird jedoch nicht im gleichen Maße mitbedacht. Zwar untersuchen die Autor*innen, welche Auswirkung ethische Führung auf das moralische Verhalten und deren Motivation und Zufriedenheit hat, jedoch wird nicht gefragt, welche moralischen Anforderungen an die Geführten gestellt werden können. Man kann die Theorie der ethischen Führung dahingehend kritisieren, dass sie die Dimension der Führenden deutlich mehr beleuchtet als die der Geführten. Doch es besteht noch eine zweite Schwierigkeit: Durch die Fokussierung auf soziales Lernen und die Vorbildfunktion der Führungskraft gerät der Aspekt der Zielsetzung und -umsetzung in den Hintergrund. Es wird zwar als Ziel für Führende angesehen, moralisches Verhalten bei den Geführten zu fordern, jedoch wird nicht thematisiert, welche Ziele verfolgt werden und wie diese umgesetzt werden. Die Frage, welche Ziele moralisch akzeptabel und richtig sind, wird nicht angesprochen, was man als große Leerstelle der Theorie der ethischen Führung ansehen kann.
Verantwortungsvolle Führung
Auch Maak und Pless wollen in ihrem Artikel „Responsible Leadership in a Stakeholder Society“ keine grundlegende Führungsdefinition, sondern eine führungsethische Theorie formulieren. Ansatzpunkt ihrer Überlegungen ist eine von ihnen beobachtete Engführung von Führung auf das Verhältnis Führungskraft-Mitarbeiter*in. Sie wollen den Fokus erweitern (vgl. Maak und Pless 2006; Pless und Maak 2011). Führung in einer modernen und vernetzten Welt bedeutet, mit verschiedensten Stakeholdern (Mitarbeiter*innen, Aktionär*innen, Kund*innen, Geschäftspartner*innen, aber auch der Gesellschaft oder Umwelt) zu interagieren. Das Ziel verantwortungsvoller Führung beschreiben die Autoren wie folgt: „In this context the purpose of leadership can be understood as to build and cultivate sustainable and trustful relationships to different stakeholders inside and outside the organization and to co-ordinate their action to achieve common objectives (e.g., triple-bottom-line goals), business sustainability and legitimacy and ultimately to realize to help a good (i.e. ethically sound) and shared vision” (Maak und Pless 2006).
Da Maak und Pless Führung als sozial-relationales, ethisches Phänomen beschreiben, das zwischen Führenden und einer breiten Gruppe von Geführten stattfindet, und darauf ausgerichtet ist, dass die Gruppen eine gemeinsame und moralisch solide Vision akzeptieren und umsetzen (vgl. Maak/Pless 2006; Pless und Maak 2011), fällt verantwortungsvolle Führung unter den Führungsbegriff von DFminimal. Führende und unterschiedliche Stakeholder nehmen dabei nicht zwangsläufig unterschiedliche hierarchische Positionen ein, sondern interagieren teilweise auf gleicher Augenhöhe (vgl. Maak und Pless 2006). Damit verliert jedoch die Führungsbeziehungen, von denen Maak und Pless sprechen, nicht an ihrer Asymmetrie. So betonen die Autoren, dass die Aufgabe von Führenden folgende sei: „They are weavers who bring together different people to follow a shared and morally sound vision. They are facilitators of relational processes of co-creation and orchestrators for achieving common objectives” (ebd.). Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, müssen Führende unterschiedliche Rollen einnehmen können: Steward, Bürger*in, Visionär*in, Diener*in, Coach, Architekt*in, Geschichtenerzähler*in, Erneuer*in (vgl. ebd.).
Wie diese Ausführungen zeigen, bedenken Maak und Pless die Dimension der Führenden und fragen gezielt danach, welche Rollen sie beherrschen und welche (moralischen) Eigenschaften sie besitzen sollten. So fordern sie insbesondere, dass Führende relationale Intelligenz, also emotionale und ethische Intelligenz besitzen (vgl. ebd.). Auch die Dimension der Geführten wird angesprochen und die aktive Rolle der Geführten wird betont, jedoch bleibt diese aus moralischer Sicht unterbeleuchtet. Es wird nicht gefragt, welche Rollen Geführte beherrschen oder welche Eigenschaften sie besitzen sollten. Die Dimension der Interaktion wird explizit als moralischer Ort ausgewiesen, da Führung als moralischer, werte-basierter und normativer Prozess beschrieben und die Frage aufgeworfen wird, wie Ziele erreicht werden (vgl. ebd.). Die Autoren fordern im speziellen, dass die Interaktionen so gestaltet werden sollten, dass sie vertrauensvoll, nachhaltig und fair sind und alle Akteur*innen als gleiche und verletzliche Wesen respektiert werden (vgl. Maak und Pless 2006; Pless und Maak 2011). Indem es als Aufgabe von verantwortlicher Führung angesehen wird, gemeinsame, nachhaltige und legitime Unternehmensziele zu verwirklichen und eine moralisch gute Unternehmensvision zu entwickeln, wird deutlich, dass auch die Dimension der Ziele und Zielumsetzung beachtet wird. Gleiches gilt für die letzte Dimension der Führung, den Kontext. So beginnen die Autoren ihren Artikel gleich mit einem Verweis auf die VUCA-Welt und die Schwierigkeiten, die sich hieraus für Führung ergeben (vgl. Maak und Pless 2006). So überrascht es nicht, dass sich die vier Grundherausforderungen für Führung aus dem jeweiligen Kontext ergeben. Es gilt somit kontextspezifisch zu überlegen, wer die Stakeholder sind, welche Wertvorstellungen sie haben und wie unternehmerisches Handeln in solch einem Kontext gelingen kann (vgl. ebd.). Die Theorie der verantwortlichen Führung überzeugt somit, da sie alle fünf relevanten ‚Orte der Moral‘ anspricht.
Es fallen jedoch zwei Engführungen auf. Einmal beschränken die Autoren sich auf Führung im Wirtschaftsbereich (vgl. ebd.). Hiermit lassen sie offen, wie sie (verantwortungsvolle) Führung in anderen Kontexten beschreiben würden (vgl. ebd.). Zweitens wird Führung teils explizit, teils implizit ausschließlich ‚groß‘ gedacht. Die Beispiele drehen sich um internationale Manager*innen und Firmenlenker*innen. Damit bleibt zumindest unterbelichtet, dass Führung auch im Kleinen, in Arbeitsgruppen, Laboren, Tutorien geschieht, wo viele der von ihnen angebrachten Rollenbilder, sei es beispielsweise der*die Visionär*in, oder Architekt*in, nicht zum Tragen kommen. Maak und Pless verbinden in ihrem Ansatz damit zu strikt formale und herausgehobene Führungspositionen mit Führungsverantwortung und Führungshandeln. Hier zeigt sich die Stärke von DFminimal, die Führung, Führende und Geführte dort verortet, wo die Kriterien zutreffen, unabhängig von Position oder Zielvorstellung. Damit lassen sich auch Führungskräfte im mittleren Management und informelle Führungsprozesse beschreiben.