1 Einleitung

In einer volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten (VUKA) WeltFootnote 1 empfiehlt es sich für Konzerne aus der Halbleiterbranche, schnell und flexibel auf veränderte Kundenpräferenzen zu reagieren. Traditionelle Organisations- und Führungsprinzipien behindern oft die schnelle und flexible Anpassung von Unternehmen (Scheller 2017). Die Implementierung agiler Methoden kann Softwareunternehmen helfen, ihre Produkte und Serviceleistungen an die aktuelle Marktdynamik anzupassen (Jovanović et al. 2017; Cao et al. 2009; Highsmith and Cockburn 2001; Boehm and Turner 2003; Lindvall et al. 2004). Darüber hinaus können agile Methoden auch erfahrene Unternehmen unterstützen, flexibler zu werden (Lindvall et al. 2004).

Eine steigende Zahl von Softwareunternehmen haben die Notwendigkeit von agilen Methoden (Cao et al. 2009) und den verbundenen Nutzen für ihre Projekte erkannt (Laanti et al. 2010). Eine Studie unter 1.492 Firmen aus der internationalen Softwareindustrie aus dem Jahr 2018 zeigt beispielsweise, dass 97% der Befragten agile Arbeitsmethoden einsetzen (Collab.Net, Version.One, 2018). Eine zunehmende Zahl wissenschaftlicher und nicht wissenschaftlicher Publikationen zeigen den positiven Effekt agiler Praktiken. Aktuelle Studien weisen auf die Notwendigkeit hin, die Implementierung agiler Methoden außerhalb des Projektgeschäfts zu untersuchen (Jovanović et al. 2017; Nguyen 2015; Stettina and Hörz 2014; Laanti et al. 2010).

Die vorliegende Untersuchung hat das Ziel, empirische Erkenntnisse und Implikationen für die Praxis hinsichtlich des Einführungsprozesses von agiler Führung in multinationalen Konzernen zu generieren. Die Erkenntnisse aus dem Jahr 2017 basieren einerseits auf 24 explorativen Interviews mit ExpertenFootnote 2 aus der Software Entwicklungsabteilung des multinationalen Halbleiterkonzerns Advantest Europe GmbH in Böblingen (Deutschland). Andererseits wurden Hospitationen bei Besprechungen und Diskussionsrunden in der Software Entwicklungsabteilung über einen Zeitraum von sechs Monaten durchgeführt. Unsere Untersuchung zeigt, dass die beiden Dimensionen „Kultur“ und „Führung“ des Trafo-Models von Häusling und Fischer bei Advantest Europe in Böblingen essentiell waren, um den Einführungsprozess von agiler Führung zu beschleunigen.

In der Dimension „Kultur“ war die wichtigste Erkenntnis, dass Agilität mehr umfasst als agile Methoden wie Scrum oder Kanban. Agilität ist eine neue Haltung, eine neue Art des Denkens, des Handelns, der Kommunikation und Zusammenarbeit.

In der Dimension „Führung“ zeigen unsere Ergebnisse unter anderem, dass ein fehlendes gemeinsames Verständnis von agiler Führung und Rollenkonflikte der Führungskräfte die Implementierung von agiler Führung erschweren.

Bei der Einführung von agiler Führung in der Praxis erscheint es daher beispielsweise wichtig, ein einheitliches Verständnis agiler Führung gemeinsam mit den relevanten Schlüsselpersonen im gesamten Konzern zu entwickeln. Klare Rollenverteilungen, z. B. im Sinne von Scrum, und Delegationsmechanismen können beispielsweise helfen, das Verständnis von agiler Führung im Konzernalltag zu verankern.

Die Untersuchung ist wie folgt aufgebaut: Kapitel 2 erklärt zunächst die Rollen in einem Scrum Team, da diese eine wichtige Rahmenbedingung für die agile Führung des betrachteten Teams in der Software Entwicklungsabteilung darstellten. Im Kapitel 3 wird das Trafo-Model von Häusling und Fischer als Bezugsrahmen für die vorliegende Untersuchung erläutert. Kapitel 4 zeigt das Vorgehen bei der Datenerhebung auf. Kapitel 5 stellt die gewonnenen empirischen Erkenntnisse dar. Kapitel 6 stellt die Implikationen für die Praxis bei der Einführung agiler Führung dar. Kapitel 7 zieht ein Fazit und gibt einen Ausblick für weiterführende Forschungsvorhaben.

2 Beschreibung der Rollen im Scrum team als Rahmenbedingung der agilen Führung

Scrum wird seit den frühen 1990er Jahren als Projektmanagementmethode eingesetzt. Scrum versteht sich als Rahmenwerk, um komplexe adaptive Aufgaben zu bearbeiten (Schwaber and Sutherland 2013). Die Software Entwicklung stellt in der VUKA Welt eine besonders komplexe Aufgabe dar, die mit schnellen Anpassungen verbunden sind. Daher setzen zahlreiche Softwareabteilungen die Prozesse und Methoden von Scrum in ihrer Arbeit ein. Aus dem Scrum Rahmenwerk sind für die Untersuchung vor allem das Scrum Team mit den verschiedenen Rollen der Teammitglieder relevant, da diese eine Rahmenbedingung der agilen Führung darstellen. Nachfolgend werden zentrale Aspekte der standardmäßigen Rollen im Scrum Team dargestellt.Footnote 3 Abbildung 1 skizziert die verschiedenen Rollen in einem Scrum Projekt.Footnote 4

Aufbauend auf der Vision der Stakeholder (z. B. Kunde, Nutzer) erstellt der Product Owner gemeinsam mit den Stakeholdern die konkreten Anforderungen an das Produkt. Diese Produktanforderungen werden in Form von Items im sogenannten Product Backlog gesammelt. Im Product Backlog erfolgt eine Priorisierung der Items anhand des Wertes bzw. Nutzens für die Stakeholder. Die für die Stakeholder am wertvollsten Items, sind am wichtigsten und erhalten daher die höchste Priorität. Das Scrum Team muss diese Items als erstes umsetzen, um möglichst schnell Wert für den Kunden zu schaffen. Die Führung des Scrum Teams erfolgt also nicht über Anweisungen, sondern durch den Inhalt der Arbeit. Die Art, wie die Arbeit umgesetzt werden, liegt in der Verantwortung des Scrum Teams. Der Product Owner steht dem Team zudem für die Klärung von Fragen zur Verfügung und nimmt das Produkt am Ende eines Sprint im Sprint Review ab. Der Product Owner stellt somit das Bindeglied zwischen dem Team und den Stakeholdern des Produktes dar (Scheller 2017) .

Das Entwicklungsteam erstellt in seiner Scrum Rolle „Team“ das eigentliche Produkt. Am Anfang einer sogenannten Iteration—laut Scrum heißen diese Sprint – werden die Items aus dem Product Backlog mit der höchsten Priorität in das Sprint Backlog übernommen. Im Sprint legt das Team gemeinsam fest, wie Items abgearbeitet werden. Das Arbeitsergebnis des Sprints—das sogenannte Product Increment—liegt spätestens nach vier Wochen vor. Im Sprint Review erhält das Team Feedback vom Product Owner und vom Kunden bezüglich des Product Increment (Scheller 2017). Das Team ist folglich allein für die Umsetzung der Kundenanforderungen bzw. der Items und ihrer Qualität zuständig.

Der Scrum Master ist dafür verantwortlich, dass das Team arbeitsfähig ist und die Methoden sowie Prozesse von Scrum anwenden kann. Dazu muss er alle Behinderungen, wie z.B. Ressourcenengpässe, beseitigen und alle Störungen vom Team fernhalten. Zudem soll er das Team bei der Durchführung von Scrum unterstützen und es motivieren. Der Scrum Master ist nicht für die Fertigstellung des Produkts zuständig, das ist alleinige Aufgabe des Teams (Scheller 2017).

Die klassische Projektmanagementrolle „Projektleiter“ ist in Scrum nicht vorgesehen (Scheller 2017). „Dessen Funktionen Verantwortung für das Produkt hat der Product Owner und Verantwortung für das Team hat der Scrum Master“ (Scheller 2017, S. 274). Diese klare Differenzierung der Verantwortungsbereiche kann bei der Implementierung agiler Führung erfolgskritisch sein, da die Rollen in Unternehmen historisch bedingt vielfach miteinander verwoben sind.

3 Das Trafo-Model von Häusling und Fischer

Häusling und Fischer verstehen Agilität als die Fähigkeit von Unternehmen, sich an die volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Bedingungen der Unternehmensumwelt anzupassen. Durch eine Analyse der zahlreichen Beiträge im Bereich Agilität lassen sich Eigenschaften und Spezifika identifizieren, mit denen agile Organisationen beschrieben werden. Der Grundgedanke ist stets, dass Organisationen sich schnell und richtig an veränderte Bedingungen anpassen, um im Wettbewerb zu überleben. Dieser Grundgedanke basiert auf Erkenntnissen der Evolutionstheorie. Gemäß der Evolutionstheorie entwickeln sich Strukturen in Organisationen in zwei sich ausschließenden Varianten evolutionär: Die exogene Organisationsumwelt oder die endogene Organisationsinwelt bestimmen den Evolutionsprozess. Demnach gibt es drei Ursachen, warum sich Organisationen nicht oder nur in geringem Maße an Umweltveränderungen anpassen: Erstens, verschiedene Stakeholdergruppen, die unterschiedliche Ziele haben. Zweitens, nicht vollständige Informationen zu Zweck-Mittel—Beziehungen. Drittens, die Behäbigkeit von Organisationen. Die Behäbigkeit von Organisationen kann in interne und externe Barrieren unterteilt werden. Eine interne Barriere kann beispielsweise fehlendes Know-how von Transformationsprozessen, eine externe Barriere Beschränkungen beim Eintritt in neue Märkte sein. Da es sich viele Unternehmen im heutigen Wettbewerbsumfeld kaum leisten können, behäbig zu sein, kann ein höherer Grad an Agilität hilfreich sein. Häusling und Fischer stellen in ihrem Trafo-Modell sechs Dimensionen auf (vgl. Abbildung 2), die den agilen Transformationsprozess von Organisationen beschreiben (Häusling and Fischer 2016).

3.1 Dimension „Strategie”

Traditionelle Organisationen beschäftigen sich vielfach zu sehr mit sich selbst. Agile Organisationen hingegen richten ihre Strategie an ihren Kunden und deren Nutzen aus (Stichwort: „Customer Centricity“). Dazu ist es notwendig, eine Vision mit Blick auf den Kundennutzen im Unternehmen zu entwickeln und konsequent zu implementieren. An dieser Vision kann die Struktur, die Kultur und das Führungsverständnis der agilen Organisation ausgerichtet werden. Viele Organisationen beginnen ihre agilen Transformationsprozesse in ihren IT-Abteilungen, da dort agile Methoden wie Scrum bereits angewendet werden. Um das Gesamtunternehmen jedoch am Kunden und seinen sich ändernden Präferenzen ausrichten zu können, ist eine Ausweitung auf andere Bereiche notwendig (Häusling and Fischer 2016).

3.2 Dimension „Struktur”

Agile Organisationen benötigen für schnelle Anpassungen passende Strukturen. Traditionelles „Hierarchie- und Silodenken” behindern in der Regel schnelle Veränderungsprozesse. In agilen Organisationen werden Netzwerkstrukturen oder crossfunktionale Teams etabliert, um den Kunden in den Fokus der Unternehmenstätigkeiten zu rücken. Die Aufbauorganisation unterstützt also hingegen traditioneller Muster die Funktionalität der Ablauforganisation (Häusling and Fischer 2016).

3.3 Dimension „Prozesse”

Lange Zeit war es vor allem in Softwareunternehmen üblich, Produkte und Projekte „wasserfallartig” zu planen und durchzuführen. Die klassischen Pläne umfassten sequenzielle Phasen, mit einer langjährigen Konzeption am Anfang. Diese langwierigen Phasen führen heutzutage vielfach zu „erzwungenen Lügen” (Häusling and Fischer 2016, S. 30), da niemand mit Sicherheit vorhersagen kann, wie sich die Rahmenbedingungen ändern werden. Zudem verstrich oft viel Zeit bis die ersten Projektergebnisse verfügbar waren. In agilen Organisationen steht der Kunde im Mittelpunkt der Prozesse. Um möglichst schnell Ergebnisse erzielen zu können, wird mit iterativen Schleifenprozessen im Sinne von Scrum gearbeitet. Die Teams orientieren sich selbstverantwortlich an den Kundenbedürfnissen und produzieren sogenannte Produktinkremente, d. h. kleine Produktpakete, die gemeinsam mit dem Kunden hinsichtlich des Nutzens geprüft werden. Diese Produktpakete werden dann stetig erweitert bis dann ein Endprodukt erstellt ist (Häusling and Fischer 2016).

3.4 Dimension „HR”

In traditionellen Organisationen hat die HR (Human Resource) Abteilung in der Regel administrative Aufgaben, arbeitet entkoppelt vom operativen Tagesgeschäft und wird als Verhinderer agiler Vorgehensweisen angesehen. In agilen Organisationen hingegen unterstützt die HR Abteilung die agile Transformation. Ein mögliches Instrument kann das Einbeziehen des Teams in die Personalentwicklung der einzelnen Mitarbeiter in Form von „Peer Feedback” sein. Die HR Abteilung in agilen Organisationen steht also im ständigen Dialog mit den Mitarbeitern und behält dabei den Kundennutzen klar im Blick (Häusling and Fischer 2016).

3.5 Dimension „Kultur”

In traditionellen Organisationen herrscht in der Regel eine Kultur vor, die Agilität behindert. Enge Regelwerke und Standardprozesse, Monologe, geringe Entscheidungsspielräume und ausgeprägte Mechanismen zur Absicherung von Entscheidungen. In agilen Organisationen herrscht eine Kultur der Veränderung, von Dialogen, großer Entscheidungsfreiheit und kurzfristigen Feedbackprozessen für die Mitarbeiter vor. Hierarchien und Statussymbole verlieren an Wichtigkeit, da auf Augenhöhe miteinander gearbeitet wird. Es dürfen Fehler gemacht werden und Wissen wird konstruktiv und offen miteinander geteilt. Da für agile Kulturen der Wandel eine Selbstverständlichkeit ist, können sich diese an Veränderungen in der Unternehmensin- und -umwelt leicht anpassen (Häusling and Fischer 2016).

3.6 Dimension „Führung”

In traditionellen Organisationen unterstützen die Mitarbeiter mit ihrer Arbeitskraft ihre hierarchisch funktional übergeordnete Führungskraft. Die Führungskräfte werden vielfach als erfahrene Experte gesehen, die einen Engpass darstellen. Sie führen häufig über Druck, Vorgaben und Kontrolle. Im Gegensatz dazu stellen sich Führungskräfte in agilen Organisationen in den Dienst des Teams. Sie verstehen sich als „servant leader”, damit das Team zusammen schneller und gezielter zum Nutzen des Kunden arbeiten kann. Ihr Ziel ist es stets, die Reife des Teams zu steigern, um mehr Verantwortung an dieses abgeben zu können. Dieses Bild der Führungskraft erfordert natürlich eine neue Haltung und neue Kompetenzen (Häusling and Fischer 2016).

Um den bestmöglichen Fortschritt mit Blick auf die Agilität zu erzielen, bearbeiten Organisationen alle sechs beschriebenen Dimensionen. In der Praxis ist zu beobachten, dass bereits eine unzureichende Umsetzung einer der sechs Dimensionen ausreicht, um den agilen Transformationsprozess als ganzen zu behindern. Daher sollten Firmen stets den aktuellen Engpass identifizieren und auflösen, um die agile Transformation weiter voranzutreiben (Häusling and Fischer 2016). Unsere Untersuchung bei Advantest Europe in Böblingen hat deutlich gemacht, dass die Dimensionen „Kultur“ und „Führung“ essentiell waren, um mit der Transformation in den anderen Dimensionen beginnen bzw. fortfahren zu können.

Der Fokus wurde bewusst auf diese beiden Dimensionen gelegt, da ohne sie die agile Transformation bei Advantest nicht hätte beginnen können. Die agile Transformation ist einerseits ein anstrengender Lernprozess für das ganze Unternehmen. Andererseits bereitet der Lernprozess Freude. Daher ist es vor allem wichtig, den Mitgliedern von Organisationen Erfahrungs- und Spielräume zu bieten, um die agilen Prozesse und Prinzipien zu erleben (Häusling et al. 2018). Der Mut und die Selbstverständlichkeit der Organisation, diese Erfahrung- und Spielräume für die agile Transformation zu nutzen, erfordert folglich einen starken Fokus auf die Dimension Kultur. Zudem muss ein weiterer Fokus auf die Dimension „Führung“ gelegt werden, da sie die Nutzung dieser Erfahrungs- und Spielräume vorleben und ihrem Team auch ermöglichen müssen, diese experimentierfreudig zu nutzen.

4 Das Vorgehen bei der empirischen Datenerhebung

Die Datenerhebung basiert einerseits auf den Ergebnissen von qualitativen Interviews, andererseits auf wissenschaftlichen Beobachtungen aus dem Jahr 2017. Auf den Bezug zu aktuellen Quellen wird in Kapitel 6 näher eingegangen.

Im Rahmen der Forschung wurden 24 qualitative Interviews mit verschiedenen Personen aus der Softwareentwicklung durchgeführt, wobei auf die Auswahl der Zielgruppe nachfolgend noch detaillierter eingegangen wird. Die Interviews wurden mit Hilfe eines Interviewleitfadens durchgeführt.Footnote 5 Im Vergleich zu einem standardisierten Fragebogen ermöglicht ein Interviewleitfaden durch offen gestellte Fragen die interviewte Person zum eigenständigen Erzählen anzuregen, um somit eine ausführliche Darstellung ihrer Sichtweise zu erhalten. Darüber hinaus ermöglicht ein Interviewleitfaden die Entstehung eines natürlichen Gesprächsverlaufs, aus dem ein höherer Informationsgehalt im Vergleich zu einem standardisierten Fragebogen erzielt werden kann. Der Interviewleitfaden bestand aus insgesamt 17 Fragen und umfasste sowohl offene, als auch skalierte Fragen, um Relevanzeinschätzungen der Antworten zu ermöglichen. Außerdem gliederte sich der Interviewleitfaden in zwei Teile. Der erste Teil umfasste Fragen zum aktuellen Stimmungsbild der agilen Transformation in der Softwareentwicklung. Außerdem sollte erforscht werden, was sich die Befragten von der zukünftigen agilen Transformation erhoffen. Der zweite Teil fokussierte sich auf die Beurteilung der bisherigen Transformation in den Dimensionen „Kultur“ und „Führung“. Die Datenerhebung wurde bewusst auf die zwei Dimensionen Kultur und Führung beschränkt, da der Unternehmensbereich, in dem die empirische Forschung durchgeführt wurde (Softwareentwicklung) auf diese beiden Dimensionen maßgeblich Einfluss auf die (zukünftige) Gestaltung nehmen kann. In jeder Dimension können verschiedene Treiber, welche den Fortschritt der agilen Transformation maßgeblich beeinflussen, festgestellt werden. So kann bspw. die Unternehmensleitung als Treiber und Initiator für die Definition einer agilen Vision sowie der Veränderung der Organisationsstruktur angesehen werden, während das Personalmanagement die Neugestaltung der Personalinstrumente antreibt. Die Softwareentwicklungsabteilung hat bereits vor Jahren ihre Prozesse entlang der agilen Prinzipien ausgerichtet, weswegen in dieser Dimension kein notwendiger Handlungsbedarf und demnach keine weitere Analysen notwendig waren. Um Schwachstellen sowie Potenziale in den Dimensionen Führung und Kultur herauszufinden, wurde erforscht, wie sich die Agilität in diesen Dimensionen aus Sicht der Befragten weiterentwickeln soll und welche Herausforderungen dabei auftauchen können.

Um ein möglichst umfangreiches und breites Bild zur agilen Transformation in der Softwareentwicklung zu erhalten, sollte die Zielgruppe der Interviewten möglichst alle (agilen) Rollen, welche in der Softwareentwicklung vertreten waren, beinhalten. Somit wurden im Zeitraum von Ende Oktober bis Anfang November 2017 innerhalb von drei Wochen insgesamt 24 Personen interviewt. Davon waren sieben Personen Projektmanager, von denen fünf interviewte Personen zugleich noch als Product Owner in ihren Teams agieren. Außerdem hatten fünf interviewte Personen die Doppelrolle Scrum Master/Entwicklungsingenieur inne, neun Personen waren Entwicklungsingenieure und drei befragte Personen agieren als reine Product Owner. Da alle Teams innerhalb der Softwareentwicklung entlang agiler Prinzipien und Methoden arbeiteten, wurde bei der Auswahl der Interviewpartner nicht gezielt darauf geachtet, aus welchen speziellen Teams die Personen kommen. Hingegen wurde bei der Zielgruppenauswahl (neben der Rolle/Funktion der Person) die Betriebszugehörigkeit bzw. die Anzahl der Jahre in der Softwareentwicklung berücksichtigt. Alle interviewten Personen sollten mindestens fünf Jahre in der Softwareentwicklung arbeiten, um ausreichend Erfahrung mit den agilen Strukturen und Prinzipien zu haben. Die Interviews wurden nicht mit technischen Hilfsmitteln aufgenommen, sondern notiert und im Anschluss transkribiert.

Darüber hinaus wurde die empirische Forschung durch die Methode wissenschaftlicher Beobachtungen ergänzt. Im Gegensatz zu alltäglichen Beobachtungen sind „[…] wissenschaftliche Beobachtungen systematisch geplant […]“ (Thierbach and Petschik 2014, S. 856) und finden ausschließlich an den Orten statt, an denen bestimmte Daten erhoben werden sollen. Außerdem bieten sich wissenschaftliche Beobachtungen insbesondere für die Erforschung bestimmter Prozesse, Handlungsabläufe, Beziehungen oder Interaktionen zwischen Personen an. Im Gegensatz zu Interviews können durch Beobachtungen weitere wichtige Informationen erhoben werden, da manche Aspekte nicht verbalisiert werden können bzw. der Umfang der Fragen ebenfalls beschränkt ist (Thierbach and Petschik 2014). Um das Verhalten und die Interaktion der Personen, die in der Softwareentwicklung verschiedene Rollen und Funktionen—Führungsverantwortung, Produktverantwortung, wenig bzw. viel Kundeninteraktion—inne haben zu beobachten und zu protokollieren, wurde sowohl an reinen Managementmeetings, als auch in Team Stand-ups und regelmäßigen Teambesprechungen teilgenommen. Ebenso wurde bei internen Trainings und Präsentationen das Verhalten, die Reaktionen und die Diskussionen der beteiligten Personen mit Blick auf die Beantwortung der Forschungsfrage beobachtet und dokumentiert. Es handelte sich um offene Fremdbeobachtungen, d.h. der Beobachter war aktiv an den entsprechenden Geschehen zu sehen, hat aber inhaltlich keinen Input geliefert, sondern das Verhalten, die Interaktionen sowie Aussagen der Teilnehmer beobachtet und protokolliert. Für die Protokollierung wurde ein zu Beginn erstelltes Besprechnungsformulars genutzt. Dieses beinhaltete das Datum, den Namen sowie Dauer des Meeting/der Besprechung oder des Trainings, die Anzahl und jeweiligen Rollen der Teilnehmer. Im Rahmen der Hospitationen, welche sich auf einen Zeitraum von 6 Monaten (September 2017–Februar 2018) erstreckten, wurde darauf geachtet an regelmäßig stattfindenden Meetings teilzunehmen, um möglich Muster u.a. im Ablauf sowie Verhalten der Beteiligten beobachten zu können. Darüber hinaus wurde jede Möglichkeit an außerplanmäßigen Besprechungen, Abstimmungsterminen oder Workshops teilzunehmen genutzt, um das Verhalten außerhalb festgelegter Strukturen und Ereignisse (ggf. Stresssituationen, Kundeneskalationen, strategische Planungen, etc.) beobachten zu können.

5 Darstellung der empirischen Ergebnisse

5.1 Dimension „Kultur”

Durch die Interviews wurde deutlich, dass die agile Transformation in der Dimension „Kultur” weit fortgeschritten ist. Der Standort von Advantest Europe in Böblingen hatte eine beeindruckend geringe Fluktuationsrate und der Anteil der Mitarbeiter mit einer Betriebszugehörigkeit von über 15 Jahren betrug über 50%. Als Grund hierfür wurde die Firmenkultur, die viele Mitarbeiter, das Top-Management mit inbegriffen, täglich leben und im Umgang miteinander pflegen, angegeben. Diese zeichnet sich insbesondere durch eine offene, transparente und vertrauensvolle Kultur aus. Dieses Verständnis zum Umgang miteinander war für die Befragten von großer Bedeutung und prägte den Arbeitsalltag bei Advantest Europe in Böblingen. Die Kultur und der Umgang miteinander wurden ganz selbstverständlich an neue Mitarbeiter von den erfahreneren entsprechend transferiert. Am gesamten Standort konnte ein sehr vertrauter, kommunikativer und offener Umgang miteinander festgestellt werden, bei dem Probleme direkt angesprochen wurden und gemeinsam an Lösungen gearbeitet wurde.

Allerdings wurde in zehn Interviews mit Entwicklungsingenieuren und Scrum Mastern deutlich, dass die Kultur in der Abteilung der Softwareentwicklung sowie am Standort in Böblingen insgesamt zwar sehr positiv war, innerhalb mancher Teams aber nach wie vor ein „Einzelkämpfer-Denken“ herrschte. Da manche Kollegen nicht bereit waren, ihre Expertise mit dem Team zu teilen, Lösungen lieber im Alleingang erarbeiteten und wenig mit den Teamkollegen kommunizierten, stand der offenen Unternehmenskultur teilweise verschlossene „Expertentümer“ entgegen.

Außerdem schien in den Teams, in denen der Projektmanager klare Anweisungen gegeben hat und die Aufgaben innerhalb des Teams verteilt hat, eine eher zurückhaltende, wenig offene Teamkultur zu bestehen. Dadurch wurden die Expertengebiete weiter abgegrenzt, anstatt die im Team vorhandenen Kompetenzen innerhalb des Teams und über die Teamgrenzen hinweg zu teilen und gemeinschaftlich zu nutzen.

Abschließend ist zu bemerken, dass die Unternehmenskultur, trotz vereinzelter Ausnahmen, bereits viele agile Merkmale aufwies. Dazu zählen u.a. der offene Umgang miteinander, der kontinuierliche Verbesserungsprozess der Zusammenarbeit und die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen.

5.2 Dimension „Führung”

Agile Führung bedeutete für alle der 24 Befragten hohe Autonomie, Selbstverantwortung und Freiheit der Teams. Dieser Führungsstil wurde durch die Befähigung und Unterstützung der Führungskraft möglich, welche Verantwortung proaktiv abgab, sich aus der Teamarbeit heraushielt und auf die Kompetenzen des Teams vertraute. Obwohl ein einheitliches Verständnis zu agiler Führung zu bestehen schien, differenziert sich die praktische Umsetzung. Wenngleich alle Befragten ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Führungskraft angaben, waren die Merkmale agiler Führung in der täglichen Arbeit nur für zehn der interviewten Personen erkennbar und realisierbar. Für die anderen vierzehn Personen handelte es sich bei der praktischen Umsetzung von agiler Führung um „Lippenbekenntnisse“ und das Team arbeitete wenig eigenverantwortlich und selbstorganisiert. Agile Führung wurde in den Teams, in denen die Projektmanager Rolle von der Product Owner Rolle bereits getrennt waren bzw. vom Projektmanager gedanklich als getrennt angesehen wurden, besser gelebt. Außerdem schien es in jenen Teams der Fall zu sein, dass die Mitarbeiter auch tatsächlich eigenverantwortlich handeln wollten und bereit waren, die Konsequenzen für Entscheidungen zu übernehmen. Folglich konnte festgehalten werden, dass die Entstehung agiler Führung in jenen Teams begonnen hatte, in denen sowohl der Projektmanager als auch jeder einzelne Mitarbeiter seine eigene Position reflektiert und verstanden hatte. Obwohl 19 Interviewpartner die Trennung der Projektmanager Rolle von der Product Owner Rolle als zentralen Aspekt für die Umsetzung eines agilen Führungsverständnisses angesehen haben, wurde in den Interviews deutlich, dass es vielmehr auf die gedankliche Trennung und Überzeugung, dem Team die Verantwortung zu überlassen, ankam. Diese Überzeugung seitens der Projektmanager sowie der vom Team getriebene Wille die entgegengebrachte Verantwortung und Freiheit anzunehmen, fehlte in vielen Teams. Die in den Interviews festgestellte fehlende gedankliche Trennung und Überzeugung der Projektleiter, dem Team die Verantwortung zu geben, kann dadurch erklärt werden, dass die Projektleiter noch in gewohnten Strukturen agieren, in denen Wissen und die alleinige Entscheidungsbefugnis ihre Machtinstrumente waren (Sichert and Preußig 2019). Wissen transparent zu teilen und Verantwortung abzugeben, könnte für viele der interviewten Führungskräfte eine Herausforderung darstellen.

Die in den Interviews festgestellte fehlende Bereitschaft, die entgegengebrachte Verantwortung und Freiheit anzunehmen, lässt sich dadurch erklären, dass nicht alle Mitarbeiter autonom arbeiten möchten oder sich überfordert fühlen (Obmann 2019). Ferner weist Laloux auf folgendes hin: „Wer auf einmal hierarchische Strukturen und Systeme abbaut, aber keine neuen schafft, die künftig vorgeben, wie sich selbstgesteuerte Teams bilden, wie Rollen definiert und zugewiesen werden, wie man zu einem Job kommt oder ihn wieder verliert und wie Entscheidungen getroffen werden, landet geradewegs im Chaos“ (Obmann 2019). Die interviewten Mitarbeiter könnten demnach bewährte Strukturen und Anweisungen unbekannten Strukturen und Autonomie vorziehen. Die „Agile Pulse“ Studie von BearingPoint belegt, dass die Stärkung der Verantwortung der Mitarbeiter (Selbstverantwortung, dezentrale Entscheidungen) eine wichtige Maßnahme darstellt, um den Erfolg einer agilen Transformation zu erhöhen (BearingPoint 2019).

Da alle befragten Projektmanager ihre Laufbahn als Entwicklungsingenieure begonnen hatten, verfügten sie über entsprechendes technisches Fachwissen, welches sie proaktiv in die Teamarbeit einbringen und dadurch das Team unterstützen wollten. Allerdings wurde dies seitens der Mitarbeiter oftmals als Bevormundung und Anweisung empfunden. Da die meisten Projektmanager in ihre jetzige Rolle gewachsen waren und ihr Herz sowohl für die Teamführung als auch die technische Entwicklung schlug, war zu vermuten, dass sie sich durch den Ruf nach einer klaren Rollentrennung unter Druck gesetzt fühlten und mit einer abwehrenden Haltung reagierten.

6 Implikationen für die Praxis bei der Einführung agiler Führung

6.1 Dimensionsübergreifende Empfehlungen

6.1.1 Implementierung von Agilität in der Unternehmensstrategie

Wie im Trafo-Model von Häusling und Fischer im Kapitel 3 dargestellt, muss der Themenkomplex Agilität bei der Einführung von agiler Führung ein fester Bestandteil der übergeordneten Unternehmensstrategie werden.Footnote 6 Diese Erweiterung der Unternehmensstrategie bezieht sich auf alle Bereiche des Unternehmens und zielt auf die stärkere Fokussierung aller Unternehmensprozesse auf den Kunden und deren Nutzen (Häusling and Fischer 2016; Bergius et al. 2018). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Führungskräfte und Mitarbeiter die festgelegte Strategie und ihre Rolle in dieser verstehen wollen. Bei der Kommunikation der Strategie sind daher Transparenz und Ehrlichkeit essentiell (Wolf et al. 2018). Die Strategie sollte mit klaren Zielen verbunden sein, die auch mit Kennzahlen messbar sind, um Erfolge entsprechend kommunizieren zu können (Häusling and Kahl 2018a).

6.1.2 Schaffung der institutionellen Rahmenbedingungen für agile Führung

Aufbauend auf der Strategie sollten bei der Einführung agiler Führung passende institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die räumlichen Rahmenbedingungen sollten keine Einzelbüros mit geschlossenen Türen, sondern offene Arbeits- und Kommunikationsflächen umfassen. Bei den strukturellen Rahmenbedingungen ist es wichtig, dass keine starren und dominanten Reportingstrukturen vorherrschen und der Aufbau einer netzwerkartigen Struktur begünstigt wird (Fischer et al. 2017).

6.1.3 Schaffung eines Raums für die Entstehung eines agilen Mindsets

Die innere Haltung und das Mindset der Mitarbeiter sind zentrale Faktoren für eine erfolgreiche Transformation (Bohn et al. 2017). Die agile Transformation kann nicht von den Führungskräften angeordnet werden. Nur wenn die Mitarbeiter gemeinsam mit den Führungskräften ein passendes Mindset entwickeln, kann eine nachhaltige Implementierung von Agilität gelingen. Ein einheitliches Bewusstsein für die agile Transformation gibt den Mitarbeitern und Führungskräften eine gemeinsame Richtung vor (Peters et al. 2019). Dadurch kann auch verhindert werden, dass Mitarbeiter vor lauter agiler Ideen, Vorschläge und Vorgehensweisen unter Umständen die Orientierung verlieren, was unter der agilen Transformation verstanden und erreicht werden soll. Unsere Analysen legen nahe, dass es zum einen vorteilhaft sein kann, über klare Ansätze und Methoden zu sprechen, anstatt mit wenig, für die Mitarbeiter greifbaren, agilen Begrifflichkeiten zu argumentieren. Zum anderen ist es empfehlenswert, den Mitarbeitern im Rahmen der Gestaltung der agilen Transformation ausreichend Zeit und Raum zur Verfügung zu stellen, um sich mit den agilen Werten, Prinzipien, Methoden und Ansätzen vertraut zu machen und diese umsetzen zu können. Denn nur durch ein wahres Verständnis und der Verinnerlichung der agilen Werte kann der Veränderungsprozess gemeinsam gestaltet und weitere Maßnahmen entwickelt werden. Diesbezüglich bietet es sich an, einen agilen Ansprechpartner in jeder Abteilung zu benennen. Dieser begleitet und unterstützt die Teams im Transformationsprozess.

Darüber hinaus kann es auf dem Weg zu einer agilen Haltung essentiell sein, sich regelmäßig Feedback einzuholen, zu geben und sich dadurch weiterentwickeln zu können. Hierbei kommt im Besonderen den Führungskräften die Aufgabe zu, das Team regelmäßig nach Feedback zu fragen sowie konstruktives Feedback zu geben.

6.2 Dimension „Kultur”

6.2.1 Forderung nach und Förderung von Wissenstransfer

In agilen Teams herrscht ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl, man arbeitet gemeinsam an Zielen, unterstützt sich gegenseitig und kann dadurch flexibel und schnell auf veränderte Anforderungen reagieren. Dafür bedarf es bei jedem Teammitglied der entsprechenden Bereitschaft Expertise, Erfahrungen und Wissen in die Teamarbeit einzubringen und zu teilen.

Um einen strukturierten Wissenstransfer gewährleisten zu können, bietet sich darüber hinaus die Erstellung einer „Team Knowledge Overview“ an. Dabei werden zunächst alle, für die Erreichung der Teamziele, relevanten Kompetenzen und Fähigkeiten gesammelt und aufgelistet. Anschließend wird betrachtet, wie diese im Team verteilt sind. Dabei sollte zunächst jede Person seine eigenen Kompetenzen einordnen, um im Nachgang über die Einordnung im Team sprechen zu können. Anhand der ausgefüllten Übersicht wird ersichtlich, wer in welchem Bereich das Team unterrichten kann bzw. in welchem Bereich sich das gesamte Team weiterentwickeln kann. Das agile Konzept, Generalisten zu fördern, ist ein Schlüsselelement, damit ein Team zusammen eigenverantwortlich arbeiten kann. Diese Arbeitsweise widerspricht den zuvor erwähnten „Expertentümern“.

6.2.2 Bewahrung und Förderung agiler Werte

Damit bestehende Werte wie Vertrauen und gegenseitiger Respekt weiterhin gepflegt und gelebt werden, ist es wichtig, die zentralen Werte und Normen konkret zu beschreiben und für jeden sichtbar zu machen. Dazu können Workshops organisiert werden, in denen herausgearbeitet wird, welche Werte zentral am Umgang miteinander sind, welche Werte von den Teams geteilt werden und welche weiter ausgebaut werden sollten. Dabei ist es wichtig, alle Betroffenen am Wertefindungsprozess zu beteiligen, um eine hohe Wirkungskraft und entsprechendes Engagement erzeugen zu können. Nach Zusammenführung der Ergebnisse ist es hilfreich, die zentralen Werte und Normen aktiv zu kommunizieren und im gesamten Unternehmen sichtbar zu platzieren.

Darüber hinaus können das Trainingsangebot zu Kommunikationstechniken, Konfliktmanagement oder Methoden der Moderation weiter ausgebaut werden, damit sich alle Mitarbeiter kontinuierlich mit dem Thema Kommunikation und Umgang miteinander auseinandersetzen. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Mitarbeiter selbst die Initiative ergreifen müssen, an diesen Angeboten teilzunehmen. Ohne diesen Eigenantrieb werden die Bemühungen langfristig nicht erfolgreich sein.

Ferner gilt es ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit zu agilem Denken und Handeln zu schaffen. Durch das kontinuierliche Streben nach Verbesserung, dem Mut, neue Dinge zu testen und der Bereitschaft, offen für Veränderungen zu sein, kann die agile Transformation gelingen. Außerdem kann es im Rahmen von Trainings- und Coachingmaßnahmen hilfreich sein deutlich zu machen, welche Konsequenzen agile Werte für die bisherige Arbeitsweise haben. Dabei empfiehlt es sich, insbesondere auf die Wissensteilung und die zunehmende Selbstverantwortung einzugehen.

6.3 Dimension „Führung”

6.3.1 Aufbau eines einheitlichen Führungsverständnisses

Die Etablierung eines einheitlichen Führungsverständnisses hilft dabei, die vorherrschende Heterogenität zu verringern und eine erste Grundlage für die Veränderung der Führung zu schaffen.

Damit ein solches Verständnis entstehen und sich in der Unternehmenskultur verankern kann, bedarf es zunächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Veränderung der Führung. Knowledge Sessions, Vorträge, Trainings und individuelle Coachingmaßnahmen für Führungskräfte können helfen, das Thema agile Führung zu erklären und Unterschiede zur bisherigen Führung aufzuzeigen.

Darauf aufbauend kann jedes Team in Teamsitzungen über die aktuelle Führung, Anregungen und Hindernisse bei der Implementierung eines agilen Führungsverständnisses sprechen.

6.3.2 Einführung und Verwendung von Delegation Boards

Agile Führung lebt maßgeblich von der Delegation und der Befähigung des Teams. Allerdings kann das Abgeben von Verantwortung seitens der Führungskräfte zu einem Gefühl des Kontrollverlusts, seitens des Teams zu einer Orientierungslosigkeit führen. Delegation BoardsFootnote 7—eine visuelle Darstellung der Verteilung von Entscheidungskompetenzen verschiedener Aufgaben und Themen im Team—helfen sowohl der Führungskraft als auch dem Team Delegation und Entscheidungsmacht eindeutig zu klären und für jeden sichtbar zu machen. Es wird zwischen verschiedenen Delegation Level unterschieden. Beispielsweise von „Level 1: Tell—der Chef entscheidet alleine und teilt die Entscheidung dem Team lediglich mit“, bis hin zu „Level 7: Delegate—die Entscheidung wird komplett an das Team delegiert und die Führungskraft wird weder über Gründe noch Details informiert“.

6.3.3 Auflösung der Doppelrollen von Managern

Im Rahmen individueller Trainings- und Coachingmaßnahmen kann die angestrebte Auflösung der Doppelrolle als Vorgesetzter und Product Owner mit den von dieser Maßnahme betroffenen Managern angesprochen werden. Dadurch kann analysiert werden, in welcher Rolle sich die Manager eher sehen. Es scheint wichtig zu sein, die Manager nicht in eine Rolle zu drängen.

6.3.4 Anpassung der Zielvereinbarungen

Um die agile Transformation weiter zu unterstützen, können Zielvereinbarungen um den Aspekt der Förderung des Wissenstransfers erweitert werden. Dadurch wird trotz der individuellen Beurteilung von Mitarbeitern der Fokus auf die Unterstützung und Förderung der Teamarbeit sowie verschiedener agiler Prinzipien gelegt.

Die beschriebenen Implikationen und Empfehlungen basieren maßgeblich auf den Erkenntnissen der empirischen Forschung aus dem Jahre 2017, weswegen an dieser Stelle noch ein Bezug zu aktuellen Quellen hergestellt werden soll. Hier gilt zum einen der globale Roll-out der Advantest Werte, die in dem Akronym „INTEGRITY“Footnote 8 zusammengefasst werden, zu nennen. Die Definition, Kommunikation und Publikation der Advantest Werte (sowohl intern als auch extern) hat einen großen Beitrag zum weiteren Fortschritt der agilen Transformation, insbesondere in der Dimension „Kultur“, geleistet. Wie bereits in diesem Kapitel beschrieben wurde, ist es wichtig die Werte, die innerhalb eines Teams, einer Abteilung, eines Unternehmens gelebt werden, zu bewahren und zu fördern. Durch den globalen Roll-out der INTEGRITY Werte wurde ein übergeordneter Rahmen geschaffen, der die agilen Werte zu 100% umfasst und fördert. Im Rahmen des Roll-outs mussten alle Mitarbeiter weltweit an eintägigen Kulturworkshops teilnehmen. In Europa durchliefen die Mitarbeiter in ihren intakten Teams die Workshops, wodurch es den Personen ermöglicht wurde, fokussiert die Werte, deren Implikationen für den täglichen Arbeitsalltag und das Zusammenarbeiten untereinander zu besprechen. Die Kulturworkshops waren Ausgangspunkt dafür, dass in sämtlichen Teams der „Kultur-Stein“ ins Rollen gebracht wurde und nun proaktiv über Kultur und die Zusammenarbeit gesprochen wird und viele, kreative Ideen sowie Veränderungen ins Leben gerufen wurden.

Darüber hinaus hat sich im Vergleich zum Zeitpunkt, an dem die Daten der empirischen Forschung erhoben wurden (2017), die Struktur der Softwareentwicklungsabteilung geändert—weg von einer produktorientierten, hin zu einer prozessorientierten Struktur. Diese strukturelle Veränderung hat in gleichem Maße eine Veränderung der Führungsrolle impliziert. Die Doppelrolle von Personalvorgesetztem und Product Owner wurde weitestgehend aufgelöst, wodurch nun die Fokussierung einerseits auf die Personalführung im Sinne des Servant Leader Ansatzes ermöglicht wird, andererseits die ausschließliche Konzentration auf das Vorantreiben der technischen Lösungen sowie Kundenanforderungen möglich ist.

7 Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung machen deutlich, dass sich die Softwareentwicklung in den Dimensionen „Kultur“ und „Führung“ der agilen Transformation in unterschiedlichem Umfang und mit verschiedenen Geschwindigkeiten entwickelt und verschiedene Reifegrade erreicht hat. In der einschlägigen Literatur finden sich zahlreiche weitere Informationen zur Bestimmung des agilen Reifegrades eines Unternehmens (Häusling and Kahl 2018b; Hruschka et al. 2009).

Die Untersuchung bei Advantest Europe in Böblingen lässt darauf schließen, dass der Erfolg der agilen Transformation von der Motivation sowie Bereitschaft der Führungskräfte und Mitarbeiter abhängen wird, diese durchzuführen. Wie bereits erwähnt, braucht es für eine erfolgreiche agile Transformation der Berücksichtigung aller Dimensionen des Trafo-Models von Häusling und Fischer. Da der Bereich der Softwareentwicklung, in dem die empirische Forschung durchgeführt wurde, nur einen beschränkten Wirkungskreis und Gestaltungsspielraum bezüglich dem Vorantreiben der agilen Transformation hat—im Speziellen in den Dimensionen Kultur und Führung—muss unbedingt darauf geachtet werden, dass sich die Transformation der Advantest Europe GmbH nicht nur auf die Softwareentwicklung beschränkt, sondern andere Unternehmensbereiche, die ebenso in ihrem Wirkungsbereich den Wandel hin zu mehr Agilität „anpacken“, einschließt. Da sich ein schrittweises und iteratives Vorgehen bei Advantest Europe in Böblingen als erfolgreich herausgestellt hat, scheint es ratsam, dass bei der Gestaltung der weiteren Dimensionen in den anderen Unternehmensbereichen auf ähnliche Weise vorgegangen wird. Dadurch kann gewährleistet werden, dass auf kleinen Erfolgen aufgebaut wird, kontinuierlich Feedbackrunden eingebaut werden und die Betroffenen sich schrittweise mit den Veränderungen entwickeln können.

Abbildung 1
figure 1

Rollen im Scrum Projekt (Eigene Darstellung basierend auf Scheller 2017)

Abbildung 2
figure 2

Trafo-Modell von Häusling und Fischer (Eigene Darstellung basierend auf Häusling und Fischer 2016)