1 Geschlechtlichkeit zwischen Individuum und Gesellschaft: Fokus Führungskräfte-Coaching

Gender ist sowohl Interaktion wie auch Institution, entlang derer die Welt in weiblich und männlich aufgeteilt wird – also als Prozess und Struktur zugleich. Beides verbindet sich in der individuellen Biografie, die in jedem Moment unsere Aktionen und Reaktionen mitbestimmt. (Schigl 2016, S. 10)

Angesichts der immer noch anzutreffenden Gleichsetzung von Führung mit Männlichkeit stehen Frauen in ihrer Identität als Führungskraft weiterhin in FrageFootnote 1: „Because leadership is still strongly associated with men and masculinity, women in leadership positions are marked as ‚the other‘ in relation to the male norm and therefore judged to be less ‚fit‘ or competent for the role“ (Baxter 2017, S. 145). Frauen werden im vorherrschenden Managementdiskurs primär als Nicht-Männer, männliche, androgyne oder inkompetente und über-emotionale Frauen inszeniert bzw. inszenieren sich als solche (Carli 2013; Schnurr 2013). Den Dilemmata von Frauen in Führungspositionen eine Stimme zu geben, ist deshalb ein wichtiges (Forschungs‑)Thema. Nur was sprachlich-diskursiv Ausdruck findet, kann reflexiv bearbeitet und im Sinne einer subjektiven, souveränen Entscheidung verändert werden. Das Beratungsformat Führungskräfte-Coaching bietet hierfür einen offiziellen, wie sich aber zeigt, nicht unproblematischen Reflexionsraum, da auch er bzw. seine Aktant*innen in die omnipräsenten gesellschaftlichen Genderdiskurse eingebettet sind und diese mehr oder weniger reflektiert mitgestalten.

Der Beitrag widmet sich dabei einem speziellen Phänomen: die Individualisierung struktureller Konflikte im Coaching weiblicher Führungskräfte. Genderlinguistische, gendertheoretische und beratungswissenschaftliche Perspektiven werden mit Erkenntnissen der Genderforschung zum Themenfeld FührungFootnote 2 und Karriere vernetzt. Als Fortführung der theoretisch-methodischen Etablierung einer genderlinguistischen Erforschung von Führungskräfte-Coaching wird ein Coaching-Erstgespräch zwischen einer Coach und einer weiblichen Führungskraft mit Fokus auf diskursive (Ko‑)Konstruktionen der komplexen Beziehung ‚Geschlecht – Organisation – Führung‘ analysiert; die Ergebnisse werden im Kontext eines beratungswissenschaftlichen Verständnisses von GenderkompetenzFootnote 3 im Coaching interpretiert. Die exemplarischen Analysen, basierend auf der Kritischen Diskursiven Psychologie (nach Wetherell und Edley) unter Berücksichtigung des Konzepts der gendered discourses von Sunderland (2004), fokussieren diskursive Praktiken, mittels derer die Beteiligten organisationale, aber auch alltägliche Annahmen über Geschlecht und Gender implizieren, verstärken und weiter naturalisieren. Strukturelle Konflikte, die sich in Form von ideologischen Dilemmata äußern, werden dabei als individuelle Unzulänglichkeiten bearbeitet, ohne Perspektivenwechsel auf die Strukturebene, sodass eine mögliche Entlastung des Individuums ausbleibt. Ziele dieses Artikels sind als Teil des in Graf (2016) skizzierten Projekts, die Omnipräsenz von Geschlecht und GenderFootnote 4 und die damit verbundenen Ideologien auf der konkreten Coaching-Gesprächsebene aufzuzeigen und durch diese Sensibilisierung einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Genderkompetenz von Coaches zu leisten. Insbesondere soll mit Hilfe der gewählten Analysemethode Gender auch dort wahrgenommen werden, wo es nur implizit aufgeführt, nicht aber explizit relevant gesetzt wird (vgl. Punkt 3). Gerade im Coaching weiblicher Führungskräfte, einem Beratungsformat, das Frauen in ihren Positionen, Rollenkonfigurationen und Funktionen unterstützt Selbstwirksamkeit und Souveränität (weiter) zu entwickeln, um berufliche Aufgaben und Ziele in möglichst effektiver Weise zu verwirklichen, ist Genderkompetenz ein unabdingbarer Bestandteil professionellen Coaching-Handelns (Skinner 2014; Möller 2014).

2 Geschlecht und Gender im Führungskräfte-Coaching: Eine konzeptionelle Annäherung

2.1 Geschlecht und GenderFootnote 5

Dem Beitrag liegt ein linguistisches (Günthner et al. 2012; Kotthoff und Nübling 2018) und beratungswissenschaftliches (Abdul-Hussain 2012; Möller und Müller-Kalkstein 2014; Schigl 2016; 2018) Verständnis von Geschlecht und Gender zugrunde, ergänzt durch Erkenntnisse der Gender Studies (u. a. Becker und Kortendiek 2010). Zentral für den Fokus auf sprachlich-diskursive Konstruktionen von Gender sind Positionen, die die (De- und Re‑)Konstruktion von Gender sowie die Prozessualität der Geschlechterkonstruktion in Sprache und Diskurs hervorheben (u. a. Sunderland und Litosseliti 2008; Spieß et al. 2012).

Geschlecht wird zunächst als biologisches Merkmal und als soziologische Strukturierungskategorie verstanden (Abdul-Hussain 2012, S. 25–30). Letztere stellt „Geschlecht und Geschlechterverhältnisse [als] eine historisch-konstituierte Form ungleicher Vergesellschaftung von Frauen und Männern dar … die sich vor allem in der geschlechtsasymmetrischen Arbeitsteilung ausdrückt“ (Kahlert 2013, S. 64–65). Beide Aspekte sind relevant, da in der alltäglichen Erwerbstätigkeit und somit auch im Kontext von Führung permanent eher biologische Zuschreibungs- und Einordnungsprozesse durch alle Beteiligten erfolgen (Pannewitz 2012; Welpe et al. 2015). Die soziale Strukturierung an der Kategorie Geschlecht zeigt sich auch in Organisationen und Unternehmen, da diese in gesellschaftliche Strukturen eingebettet sind (Acker 1990; Wilz 2010). Der Begriff Gender fokussiert demgegenüber auf die soziokulturellen Dispositionen von Geschlecht. Für den beratungswissenschaftlichen Kontext definiert ihn Abdul-Hussain (2012, S. 47) folgendermaßen:

Gender beschreibt soziokulturelle Aspekte der Geschlechtlichkeit von Subjekten, welche sie in Enkulturations- und Sozialisationsprozessen und in Rekursivität mit ihren biologischen Prozessen in ihren jeweiligen soziokulturellen Kontexten erwerben. In sozialen Welten werden Wert- und Normvorstellungen von Gender ausgebildet, welche von Machtdiskursen und -konstellationen geprägt sind und sich in kollektiv- und subjektiv-mentalen Repräsentationen des Denkens, Fühlens und Handelns in ihren Interaktionsmustern und ihrer Körpersprache (Doing Gender) und ihrer sprachlichen Performanz (Performing Gender) zeigen.

Für die vorliegende Forschung ist darüber hinaus die dialogische bzw. sprachlich-diskursive Perspektive wichtig, die davon ausgeht, dass Gender im Gespräch interaktiv mehr oder weniger explizit hervorgebracht wird bzw. mitläuft (Kotthoff und Nübling 2018). Während bei der expliziten sprachlichen Referenz auf Geschlechterkategorien und -normen als saliente Hervorbringung bzw. Relevantsetzung von doing genderFootnote 6 im engeren Sinne gesprochen werden kann (Garfinkel 1967, S. 26; Gildemeister und Wetterer 1992, S. 233), werden weniger auffällige Formen als Stilisierungen bzw. fortlaufende accomplishments bezeichnet, durch die auf Gender (indirekt) verwiesen wird. Gender tritt somit im Sinne einer graduellen Relevantsetzung in jeder Abstufung von Relevanz und Salienz auf (Kotthoff und Nübling 2018, S. 32). Wichtig ist das Konzept der (referentiellen und nicht-referentiellen) Indexikalisierung bzw. Indizierung von kulturellem Geschlecht (Ochs 1992), das auf ein Erkennen der Typisierungsgrade und -merkmale innerhalb von communities of practice setzt (Kotthoff und Nübling 2018, S. 37–38).

2.2 Führungskräfte-Coaching als gendered practice

Zur Rolle von Geschlecht und Gender im Coaching gibt es kaum Erkenntnisse jenseits einiger Studien zum Coaching mit (biologisch) weiblichen Führungskräften (Skinner 2014; Graf 2016), sodass hier der Erkenntnisstand der allgemeinen Beratungswissenschaft (Abdul-Hussain 2012; Möller und Müller-Kalkstein 2014) sowie vor allem der Psychotherapie (Schigl 2016; 2018) herangezogen wird. In Analogie zur etablierten Omnipräsenz der Strukturierungskategorie Gender für unser Alltagshandeln wird allgemein von einem doing gender while doing work (Pannewitz 2012; Wetterer 2017) bzw. doing gender while doing counseling/coaching (Möller 2014; Graf 2016) ausgegangen. Auch berufliches Handeln fußt auf sozialen Prozessen in denen und durch die Geschlecht als individuell, sozial und kulturell bedeutungsvolle Unterscheidung permanent in Interaktionen hervorgebracht und (re-)produziert wird. Fokussierter auf beraterisches und therapeutisches Handeln definiert Schigl (2016, S. 12):

(i)n der Psychotherapie begegnen einander Menschen, die aus ihrer jeweiligen social world ihre Version von Frau- oder Mannsein (er)leben. Aus den bisher skizzierten Grundlagen können wir folgern, dass BehandlerInnen ebenso wie ihre PatientInnen gendered individuals sind. Sie wachsen in spezifischen alltagskulturellen Kollektiven und Institutionen auf, die sie formen und sie reproduzieren diese mit jeder ihrer Interaktionen. Der entscheidende Gedankengang besteht nun darin, beide, TherapeutInnen und ihre PatientInnen in ihren Interaktionen miteinander in den Blick zu nehmen. PsychotherapeutInnen begegnen in gendertypisierender Art ihren PatientInnen (und vice versa) und müssen in gendersensibler Betrachtung gleichermaßen wie diese in den Blick genommen werden.

Forschung muss sich somit nicht nur verstärkt vom biologischen Geschlecht der Klient*innen und Berater*innen auf deren soziokulturelles Gender verlagern, sondern primär die Beteiligung beider im wechselseitigen Vollzug der Interaktion als relevanten Lokus für (Re‑)Inszenierungen und (Re‑)Konstruktionen von sozialem Geschlecht kritisch in den Blick nehmen. Des Weiteren gilt es neben expliziten Formen auch die weniger offensichtlichen Inszenierungen von Gender durch das Rekurrieren auf Genderdiskurse zu analysieren. Auch im Coaching ist davon auszugehen, dass Gender und die damit verbundene Zweigeschlechtlichkeit als zentrales soziokulturelles Organisationsprinzip der Begegnung von Coach und Klient*in prägend zugrunde liegt. Um damit professionell und genderkompetent umzugehen, ist es für Coaches notwendig Praktiken diskursiver (Ko‑)Konstruktion und (Re‑)Inszenierung von Geschlecht im Coaching-Gespräch zu erkennen und diese im beraterischen Handeln zu berücksichtigen. So kann von der individuellen Biografie und Verantwortlichkeit der Klient*innen auf den dahinter liegenden sozioinstitutionellen Ursprung verwiesen werden. Diese Auflösung von Individualisierungen ist vor allem für das Coaching weiblicher Führungskräfte von Bedeutung, da die so ermöglichte Reflexion des sozioökologischen Aufforderungscharakters (Giddens 1988) eine große Entlastung bedeuten kann. Werden jedoch solche Praktiken nicht hinterfragt, ist dies kontraproduktiv für die Entfaltung der Genderintegrität der gecoachten weiblichen Führungskräfte (Petzold und Orth 2011). Trotzdem wird die individuelle Ebene im therapeutischen Handeln meist grundsätzlich losgelöst von der sozialen und politischen Sphäre und die sie prägenden Diskurse betrachtet. Auch im Coaching werden oft organisationale Probleme einzelnen Personen zugeschrieben, um das Überleben der Organisation zu gewährleisten (Kühl 2008; Habscheid 2015). Beim Coaching weiblicher Führungskräfte kommt neben organisationaler Ebene und Führungsebene die soziokulturelle Ebene ‚Gender‘ als verstärkendes, aber oftmals unreflektiertes Element im Zuschreibungsprozess durch die Beteiligten selbst hinzu. Hier setzt die vorliegende Forschung an.

3 (Analyse‑)Methoden und Daten

Unser Beitrag verortet sich in der GenderlinguistikFootnote 7 (Harrington et al. 2008; Spieß et al. 2012; Kotthoff und Nübling 2018), die die Konstruktion von Gender auf allen sprachlichen, kommunikativen und diskursiven Ebenen fokussiert und sowohl Sprachgebrauch als auch Sprachsystem berücksichtigt. Sie ist unter Bezugnahme auf verschiedene gendertheoretische Modelle interdisziplinär angelegt und umfasst divergente Ausprägungen und Anwendungsbereiche (Spieß et al. 2012, S. 4–5). Die diversen Ausprägungen werfen den analytischen Blick sowohl auf den konkreten Sprachgebrauch der interaktiven Mikro-Ebene als auch auf größere diskursive Phänomene wie Macht. In dieser zweiten Lesart wird der konkrete Sprachgebrauch sowohl als Operationalisierung von Genderideologien und Genderidentitäten zur Analyse herangezogen und gleichzeitig als Ausdruck gesellschaftlicher Gegebenheiten kritisch reflektiert. Eine angewandte genderlinguistische Diskursanalyse macht es sich dabei zur Aufgabe, ihre Ergebnisse in die Praxis zurückzuspielen, ein Ansinnen, das auch dieser Artikel verfolgt.Footnote 8

Aufbauend auf einem funktionalen (Schiffrin 1994) und sozio-ideologischen Verständnis (Fairclough 1992),Footnote 9 wird Diskurs im Sinne der Kritischen Diskursiven Psychologie (KDP) (Edley und Wetherell 2008; Potter 2012) verwendet, die hier gewählte genderlinguistische Analyse-Methode (Wetherell 1998; Wetherell und Edley 1999). Die KDP definiert Diskurs erstens als konstruierend und konstruiert, d. h. Diskurs wird als Material verstanden mittels dessen (soziokulturelles Wissen über) die Welt anhand diskursiver Bausteine erschaffen wird. Zum anderen erschafft Diskurs verschiedene Versionen „of psychological worlds, of social organizations and action, and of histories and broader structures“ (Potter 2012, S. 108). Mit Hilfe von Diskursen formen Sprecher*innen Kategorien ihrer Lebenswelten und weisen diesen Bedeutung zu (Wetherell et al. 2001, S. 392). Sozial-konstruierte Phänomene (wie etwa Geschlecht) werden im Laufe der Zeit naturalisiert und normiert, wobei dieser Wirklichkeit ein allgemeingültiger, kaum hinterfragter, Wahrheitsstatus zugeschrieben wird, der im Sinne einer Ideologie gesellschaftliche Machtverhältnisse hervorbringen kann. Zweitens verortet sich Diskurs in einem (sozialen) Kontext, an einem Ort und zu einer Zeit sowie innerhalb einer bestimmten Interaktion; der interaktionale Kontext ist geprägt durch die Teilnehmer*innen, ihre Beziehung sowie ihre funktionalen Rollen. Kontext und Interpretation desselben hängen vom vorausgehenden Diskurs ab, prägen gleichzeitig aber auch den nachfolgenden Diskurs (Potter 2012, S. 107). Schließlich wird ein handlungsorientiertes Verständnis von Diskurs präsupponiert, d. h. Sprecher*innen vollziehen mit Hilfe diskursiver Praktiken mannigfache Handlungen, wie etwa die, durch kritische Auseinandersetzung ideologische Strukturen offenzulegen bzw. diese zu verändern (Fairclough 1992).Footnote 10 Alternativ gestaltete diskursive Anlässe können eine kumulative Wirkung bezüglich sozialer Widersprüche erzeugen und dazu beitragen, die „natürliche“ Ordnung der Diskurse neu zu strukturieren.

3.1 Kritische Diskursive Psychologie

Das übergeordnete Ziel der KDP ist es „to identify the culturally available repertoires that shape our understanding of a particular topic and which define the subject positions available within that topic“ (Wiggins 2017, S. 33). Edley (2001) fügt die Analyse hegemonial oder kulturell dominanter Diskurse sowie die Normalisierungs- und Naturalisierungsprozesse dieser Diskurse als weitere Ziele an. Mit Hilfe dieser analytischen Herangehensweise kann die konkrete und empirisch beschreibbare, sprachlich-interaktive Mikro-Ebene des individuellen Coaching-Gesprächs mit der sozialen Makro-Ebene der konstruierten und konstruierenden Genderdiskurse in Verbindung gebracht werden. Letztere prägen das Gespräch und die darin enthaltenen Genderzuschreibungen und Ideologien im Sinne sozialer Kontextualisierungen. Die Konzepte der KDP, interpretative repertoires, ideological dilemmas und subject positions (s. unten) dienen dazu die (Makro‑)Konstruktionen und die darin enthaltenen (Mikro‑)Bausteine aufzeigen und kritisch hinterfragen zu können (Wetherell et al. 2001, S. 393).Footnote 11

Interpretative repertoires sind diskursive Muster, die es als wiederkehrende und flexible Elemente ermöglichen in einem speziellen Kontext auf eine bestimmte Art und Weise z. B. über Geschlecht und Gender zu sprechen. Als sprachlich-diskursive Bausteine von Gesprächen schaffen sie ein gemeinsames kulturelles Verständnis, auf das referiert bzw. das zitiert werden kann (Edley 2001, S. 198). Kulturelle Verankerung und Vertrautheit führen dazu, dass Text- oder Diskursfragmente oftmals genügen, um ein bestimmtes interpretatives Repertoire bei den Beteiligten aufzurufen (Wetherell 1998, S. 406). Gleichzeitig sind sie ausreichend flexibel, um der Wandelbarkeit sozialer Praktiken Rechnung zu tragen (Potter 2012, S. 105). Da interpretative Repertoires soziale, politische und kulturelle Verankerungen der Sprecher*innen wiederspiegeln, sind sie ideologischer Natur (Weatherall 2015, S. 18–19) und entwickeln so eine starke soziale Dynamik, die sie normiert und naturalisiert, bis sie zu dominanten und hegemonialen Denk‑, Wahrnehmungs- und Argumentationskategorien werden (Wiggins 2017, S. 45). Interpretative repertoires sind darüber hinaus zentraler Bestandteil diskursiver Identitätskonstruktion z. B. auch im Sinne von möglichen Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit (Edley 2001). Sunderland (2004), die sich explizit auf die (kritische) Diskursive Psychologie bezieht, verwendet synonym hier das Konzept des gendered discourse, wobei sie gendered als allem inhärentes Element und gendered discourse als Sprachgebrauch und diskursive Genderrepräsentation umfassend versteht. D. h. dort, wo interpretative repertoires thematisch auf wiederkehrende diskursive Muster im Bereich Gender fokussieren – wie im vorliegenden Beitrag – können beide Konzepte synonym verwendet werden. Diese gendered discourses bilden den Hintergrund bzw. die „argumentative texture“ (Wetherell 1998) für Geschlechterkonstruktionen und setzen aufgrund von Naturalisierungen unterschiedliche Subjekt-Positionen relevant.

Ideological dilemmas bilden sich kulturell verankert im Laufe der Zeit als gegensätzliche, sich widersprechende und kompetitive Argumentationslinien heraus, die jeweils von interpretative repertoires verkörpert und durch sie zum Ausdruck gebracht werden (Edley 2001, S. 203–204). In ihrer Gegensätzlichkeit und ihrem Widerspruch machen sie abweichende subject positions (s. unten) und (Fremd‑)Positionierungen möglich, was zu problematischen Identitätskonstruktionen führen oder für Sprecher*innen ein ideologisches Dilemma darstellen kann, wenn sie versuchen zwischen den interpretativen Repertoires zu verhandeln (Edley und Wetherell 2008, S. 171). Gegensätzliche Perspektiven und Standpunkte innerhalb einer Gesellschaft oder einer Organisation sind virulent, um unterschiedliche Werte und Normen sowie soziale Dilemmata diskutieren zu können; ideological dilemmas fungieren als reichhaltige und flexible Ressourcen in Interaktionen, die soziale Veränderungen (mit-)initiieren können (Edley 2001). Zur Analyse von ideological dilemmas benötigen Forschende Wissen über die in einer Gesellschaft kulturell verfügbaren Diskurse (vgl. FN 11). Wetherell (1998) schlägt konkret vor, das analytische Augenmerk auf Variabilität und Inkonsistenz bei der Verwendung von subject positions oder in den (ideologischen) Versionen, die Sprecher*innen von sich selbst und der Welt hervorbringen, zu legen. Darüber hinaus zeigen sie sich vor allem dann, wenn ein und dasselbe Thema aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder aufgegriffen und diskutiert wird, ohne dass eine Lösung dafür gefunden werden kann.

Subject positions verbinden „the wider notions of discourses and interpretative repertoires to the social construction of particular selves“ (Edley 2001, S. 209). Interpretative Repertoires verfügen mindestens über eine korrespondierende Subjekt-Position, d. h. letztere werden durch die Bandbreite an existierenden interpretativen Repertoires ermöglicht und determiniert und erlauben es Sprecher*innen sich selbst oder andere im Gespräch oder im Diskurs zu positionieren (Wiggins 2017, S. 45). Subject positions sind eng verbunden mit Identitäten von Sprecher*innen, die dynamisch und situativ innerhalb eines soziokulturellen Kontextes, einer bestimmten Situation und Interaktion eingenommen und hervorgebracht werden (Edley 2001, S. 210); in ein und derselben Interaktion kann zwischen unterschiedlichen Subjekt-Positionen oder Identitäten gewechselt werden (Edley and Wetherell 2008, S. 172). Auf diese Weise sind Interaktant*innen aktiv an ihrer diskursiven Positionierung und Konstruktion beteiligt. Jedoch weist Talbot (2010, S. 123–124) darauf hin, dass wir aufgrund virulenter Diskurse sowie existierender institutioneller und sozialer Strukturen auf bestimmte Subjekt-Positionen festgesetzt werden. Subject positions stehen dabei in engem Bezug zu den umfassenderen interpretativen Repertoires, welche als „the backcloth for the realization of locally managed positions“ fungieren (Wetherell 1998, S. 400). Aber auch hier sind Sprecher*innen nicht (völlig) machtlos, sondern können aktiv einer bestimmten Positionierung entgegenwirken (Sunderland 2004).

Abschließend soll an dieser Stelle auf die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der qualitativen Sozialforschung hinsichtlich des Rückgriffes auf (makro-soziales und kulturelles, nicht „datenbezogenes“) Kontextwissen in der Analyse verwiesen werden, wie sie etwa konkret in der Wetherell-Schegloff Debatte zum Ausdruck kommen. Während Schegloff (1997) dafür plädiert kritische Diskursanalysen ebenso in der Disziplin der Konversationsanalyse zu verorten und Interpretationen auf die von den Interaktionsteilnehmenden relevant gesetzten Orientierungen (z. B. in Bezug auf Geschlecht) zu beschränken, argumentiert Wetherell (1998) für eine Synthese von konversationsanalytischen/ethnomethodologischen und post-strukturalistischen/diskurs-analytischen Zugängen. Schegloff versteht eine konversationsanalytische Verortung einerseits als Korrektiv für den von ihm kritisierten Einbezug soziostruktureller Kontexte und analyserelevanter Größen durch Diskursanalytiker*innen und andererseits als Möglichkeit Interpretationen auf tatsächliche Relevantsetzungen zu reduzieren. Wetherell setzt für eine produktive und umfassende Analyse sowohl die „local pragmatics“ der Interaktion als auch den Einbezug von „more global patterns in collective sense-making and understanding“ voraus, auch wenn diese zwei „competing theoretical camps“ angehören (Wetherell und Edley 1999, S. 338). Sie argumentiert für die Bedeutung der Konversationsanalyse in der Untersuchung von Subjekt-Positionen und Positionierungen, die sie als situiert, indexikalisch und dadurch stark interaktionsabhängig wahrnimmt, kritisiert allerdings Schegloffs unnötig einschränkende Definition von „participant orientation“. Wetherell verweist in diesem Zusammenhang auf die von Laclau und Mouffe beschriebene Konzeption von Gesellschaft als eine „vast argumentative texture“ (Wetherell 1998, S. 393), die jede Interaktion wie ein Netz durchzieht. Analysen, als auch die Orientierungen von Interaktionsteilnehmenden, sind somit immer nur ein Teilstück der „social fabric“ (Wetherell 1998, S. 403). Schegloffs Konzeption verlangt ein Außer-Acht-Lassen der „argumentative threads“, die durch die Interaktion verlaufen, während eine Analyse nach Wetherell diese Fäden aufgreift und sie mit dem „taken for granted discursive backcloth“ verbindet und ideologisch hinterfragt (Wetherell 1998, S. 404). Die vorliegende kritische Analyse schließt sich der Position Wetherells an und berücksichtigt, neben den von den Beteiligten im konkreten Coaching-Gespräch relevant gesetzten Genderrepräsentation, ganz im Sinne der KDP auch gesellschaftlich naturalisierte Annahmen über Geschlecht und Gender.Footnote 12 Grundsätzlich erscheint die Methode der Kritischen Diskursiven Psychologie mit ihrer analytischen Möglichkeit die Mikro-Ebene des konkreten Coaching-Gesprächs mit der Makro-Ebene des gesellschaftlichen Kontextes, in den Coaching eingebettet ist, kritisch in Bezug zu setzen für die Ziele und Zwecke der Coaching-Prozessforschung auch jenseits des hier im Fokus stehenden Konzepts von Geschlecht bzw. Gender eine gewinnbringende und innovative Erweiterung des methodischen Repertoires.

3.2 Daten

Das hier ausgewählte Erstgespräch entstammt einem Korpus authentischer Coaching-Prozesse; das Gesamtkorpus enthält 9 Prozesse eines weiblichen und eines männlichen Coachs und ihren Klient*innen, allesamt Führungskräfte international agierender DAX-notierter Unternehmen (Graf 2019). Alle Sitzungen wurden von den Coaches auf Video aufgezeichnet und im Anschluss nach HIAT (für die Transkriptionskonventionen siehe Ehlich 1993) linguistisch verschriftet. Der hier verwendete Coaching-Ansatz ist charakterisiert durch eine individualisierende, auf die Einzelperson und ihre Persönlichkeitsanteile ausgerichtete Philosophie der Veränderung und arbeitet mit einem therapeutischen Modell nach Schwartz (1995)Footnote 13. In dem Prozess, aus dem das analysierte Erstgespräch stammt, arbeitet die CoachFootnote 14 mit einer weiblichen Führungskraft im Rahmen von drei Sitzungen die emotionalen Folgen eines schwierigen Projektes auf, das bei der Klientin zu einem Zusammenbruch führte und ihr als Scheitern wahrgenommenes Ergebnis immer noch nachhängt.

Die Analyse hat den Charakter einer explorativen Fallstudie (McLeod 2003; Dörnyei 2007), da sie die „particularity and complexity of a single case“ (Stake 1995, S. xi) aufzeigt. Dörnyei zufolge (2007, S. 155) bietet sich dieses Herangehen besonders an, um unerforschte Gebiete zu explorieren oder Einsichten in besonders herausfordernde Forschungsbereiche zu gewinnen. Gleichzeitig hat eine explorative Fallstudie das Potential „knowledge and understanding that is highly relevant to counselling practice“ beizutragen (McLeod 2003, S. 99).

4 Analysen

Die folgenden exemplarischen Analysen der sprachlich-diskursiven Inszenierung von Geschlecht im Führungskräfte-Coaching basieren auf (chronologisch den Verlauf der Erstsitzung nachzeichnenden) Transkriptausschnitten sowie Paraphrasierungen von weiteren durch die Interaktionspartnerinnen getätigten Aussagen, die nicht in den Exzerpten enthalten sind. Sie fokussieren explizite und implizite Genderrepräsentationen im Kontext von Subjekt-Positionen, interpretativen Repertoires und/oder ideologischen Dilemmata. Neben der linguistischen Beschreibung wird im Rahmen der Anwendungsorientierung des Beitrags das Handeln der Coach aus gendertheoretischer und beratungswissenschaftlicher Perspektive kritisch beleuchtet.

4.1 Ausgangssituation und Prozess: Kontextualisierung der Analysen

Die Klientin (KL) arbeitet als Projektleiterin und Senior Consultant in einer DAX-notierten Unternehmensberatung und erwartet in absehbarer Zeit die Beförderung zur Partnerin. Konkreter Coaching-Anlass ist ein emotionaler Zusammenbruch nach einer sehr anstrengenden Projektphase. Zu Beginn der ersten Sitzung befindet sie sich (immer noch) in einem vulnerablen Zustand, was sie mit den Worten „also ich sag gleich von Vornherein: Ich werd’ mich wahrscheinlich demnächst mal auflösen“ ausdrückt. Über diese thematische Relevantsetzung unkontrollierbarer Gefühle indiziert die Klientin indirekt ihre Genderidentität durch Bezugnahme auf das interpretative Repertoire der „fehlenden Emotionskontrolle“ (Sunderland 2004; Fischer und Evers 2013; Brescoll 2015). Sie impliziert damit an initial-prominenter Stelle die Strukturierungskategorie Geschlecht und legt eine – auf dem hegemonialen Diskurs der Geschlechterunterschiede basierende – Interpretation ihrer Person als emotionales und deshalb weibliches Wesen nahe (Kotthoff und Nübling 2018, S. 36).

In der Erstsitzung und während des gesamten Prozesses thematisiert KL ihre drei beruflichen Rollen (Senior Consultant, Projektleiterin und antizipierte Partnerin), gleichzeitig jedoch werden rahmend, sowohl explizit als auch implizit, die Themen „Frau-Sein“ bzw. „Weiblichkeit“, „romantische Partnerschaft“ bzw. „Beziehung“, „weibliche Schwäche“, „männliche Stärke“ sowie „Emotionalität vs. Rationalität“ relevant gesetzt. Hierbei bedient sich KL verschiedener interpretativer Repertoires wie des „Mutterschafts-“ oder „Menstruationsdiskurses“ innerhalb derer sie sich als „echte“ Frau positioniert, die über die (theoretische) Liebe zu Kindern oder das sekundäre Geschlechtsmerkmal der Menstruation eindeutig der Kategorie „Frau“ zugeordnet werden kann (Sunderland 2004; Coates 2013). Gleichzeitig zeigen gerade Mutterschafts- und Menstruationsdiskurs die zugrundeliegende problematische Identitätskonstruktion der KL im Kontext des ideologischen Dilemmas „weibliche Führungskraft“ bzw. „Frau und Führungskraft“ sowie „Mutter und Führungskraft“ auf, das dem gesamten Coaching und mehr noch, dem gesamten beruflichen (und privaten) Alltag, zugrunde liegt und das verbunden ist mit virulenten (geschlechterunterscheidenden) Diskursen und institutionellen und sozialen Strukturen, die KL auf soziale Subjekt-Positionen festsetzen (Talbot 2010).Footnote 15 Dieses soziostrukturell rahmende ideologische Dilemma wird zum einen individualisiert und personifiziert, wobei sie versucht für sich Lösungen zu finden, wie z. B. Coaching in Anspruch zu nehmen.Footnote 16 Zum anderen rekurriert KL selbst auf den hegemonialen Diskurs der Geschlechterunterschiede und ist somit an ihrer eigenen diskursiven Positionierung innerhalb der aktualisierten gendered discourses beteiligt.

4.2 Exzerpt 1: Beziehungsgestaltung: (Explizite) Selbstdarstellung

Eine zentrale kommunikative Aufgabe zu Beginn der ersten Coaching-Sitzung ist die Etablierung der professionellen Coaching-Beziehung durch die Beteiligten (Graf 2019), wobei die reziproken Identitäten ‚Klient*in‘ und ‚Coach‘ kommunikativ-interaktiv ausgehandelt werden. Gleichzeitig kommen Klient*innen in ihrer funktionalen Rolle als Führungskraft ins Coaching und inszenieren davon diskursiv ein bestimmtes Bild auf der Coaching-Bühne (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Exzerpt 1: Beziehungsgestaltung: (Explizite) Selbstdarstellung

In der Darstellung ihrer bisherigen Bewältigungsstrategien als weibliche Führungskraft bzw. Projektleiterin verweist KL explizit auf ihre Geschlechtszugehörigkeit. Als Subjekt-Position verwendet sie, neben der Verwendung des Pronomens der 1. Person Sg., die kategoriale Bezeichnung „Frau“ und das attributive Adjektiv „so typisch“ [Zeile 97]. Damit positioniert sie sich als prototypische Vertreterin der sozialen Kategorie ‚Frau‘ und beschreibt ihr im Kontext dieser Kategorie sozial erwartbares und deswegen positionstypisches Verhalten als multitaskingfähige, belastbare Managerin „ich lauf immer auf hundert Prozent“, „ich krieg das auch alles hin“, „ich schaukel dann irgendwie viel Sachen parallel“ [Zeile 96 f.]. Neben der Positionierung als multitaskingfähige und belastbare Frau präsentiert sich KL auch als kompetente Managerin, wobei sie – ganz im Sinne der kategorial erwartbaren weiblichen Bescheidenheit (Carli 2013, S. 211) – ihre Kompetenzdarstellung mittels der Abschwächungspartikel „recht gut“ [Zeile 99] und „ganz gut“ [Zeile 101], dem begleitenden Lachen sowie der expliziten Relevantsetzung „fällt nun mal schwer, das zu sagen, aber/ oder jetzz/ dir gegenüber“ [Zeile 100] relativiert. Die Coach (CO) signalisiert durch Hörerrückmeldungen und Bestätigungssignale, dass sie KL aktiv zuhört, sie greift aber nicht weiter in das Selbstdarstellungsgeschehen ein.

In ihrer initialen Selbstdarstellung setzt KL explizit ihre Geschlechtsidentität relevant. Die Verwendung der Subjekt-Position „typische Frau“ aktiviert, im Unterschied zur Kategorisierung mittels Eigennamen, ein über das Individuum hinausgehendes normatives soziales Wissen (= interpretatives Repertoire) bezüglich der ihr zugeschriebenen Eigenschaften und Verhaltensmuster sowie eine implizite Bewertung derselben. Besonders für die interaktive Herstellung sozialer Genderidentitäten ist diese moralisch-normative Komponente zentral, wobei Fragmente wie „typisch Frau“ ausreichen, um genderunterscheidendes kulturelles Vorwissen zu aktivieren. Gleichzeitig vermittelt KL der CO auf diese Weise, dass sie als Frau gesehen und angesprochen werden möchte. Die KL reproduziert auch verschiedene interpretative Repertoires eines vorherrschenden Weiblichkeitsbildes mit dem Verweis auf Leistungs- und Managementfähigkeit als typisch weiblich, des weiblich zugeordneten Multitaskings sowie der normativ zu erwartenden Relativierung des Könnens. Die CO zeigt durch ihre minimalen Hörerrückmeldungen, dass sie der Genderinszenierung der KL zustimmt.

4.3 Exzerpt 2: Anliegensformulierung

Im Folgenden formuliert KL ihr Anliegen, das sich auf ihre Emotionalität bzw. ihren (unangemessenen) Umgang mit Emotionen bezieht und rekurriert dabei auf ein stark genderdifferenzierendes bzw. genderindizierendes Thema: Männer und Frauen sind anderen feeling rules unterworfen und zeigen unterschiedliches Emotionsmanagement. Frauen, zumindest in der westlichen Tradition, werden als das emotionale, Männer als das rationale Geschlecht wahrgenommen (Brescoll 2015). Die genderdifferenzierende Stereotypisierung von Emotionen impliziert auch eine unterschiedliche Bewertung von Emotionen bzw. Emotionalität sowie, dass es Frauen weniger gelingt, ihre Gefühle zu kontrollieren (Fischer und Evers 2013, S. 184–194). Dabei sind „specific gender roles in line with specific emotions, and female roles especially require the enactment of powerless emotions that also form the core of the emotionality stereotype“ (Fischer und Evers 2013, S. 185). Darüber hinaus ist mit weiblicher Emotionalität stereotypisierend auch Irrationalität verbunden (vgl. Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Exzerpt 2: Anliegensformulierung

Initiiert durch eine rahmende Ankündigung thematisiert KL die Kontrolle von Emotionen („etwas dickere Haut zuzulegen“, „irgendeinen Mechanismus zu entwickeln“) sowohl nach innen als auch nach außen als zwei Punkte, die ihr (für das Coaching) wichtig sind. Bereits in der Anliegensformulierung (Selbstattribution formuliert in der 1. Person Sg.) macht KL deutlich, dass sie in ihrer individuellen Unzulänglichkeit, d. h. in ihrer Unfähigkeit ihre Emotionen zu kontrollieren, die Ursache für ihr Problem sieht. Durch die Relevantsetzung ihres Versagens positioniert sich KL als verletzliche und letztlich den Gefühlen ausgelieferte Person und indiziert dadurch ihre Geschlechterzugehörigkeit in dem sie auf das dominante interpretative Repertoire der „weiblichen Emotionalität“ rekurriert. Während ‚starke und kraftvolle‘ Emotionen – stereotyp männlich konnotiert – im Sinne von Macht und Dominanz im Führungskontext emotional angemessenes Verhalten darstellen, läuft der Ausdruck ‚machtloser‘ und im Kontext von Weinen ultimativ hilfloser (Fischer und Evers 2013, S. 188) Emotionen – der die Gendernorm weiblicher Emotionalität darstellt – dem Verständnis von Führung und Kompetenz zuwider. Mit ihrem Anliegen rekonstruiert bzw. reinszeniert sie eine gegenderte Vorstellung von Führung im Sinne einer Indexikalität 2. Ordnung (Ochs 1992; Kotthoff und Nübling 2018); willensstark ihre Gefühle zu kontrollieren, erlaubt ihr eine „bessere“ Führungskraft zu werden (Ladegaard 2011) und erhöht damit ihre Chancen Partnerin zu werden (Brescoll 2015). Gleichzeitig indiziert die Klientin hier auch das ideologische Dilemma zwischen ihrer weiblichen fehlenden Emotionskontrolle und einer männlichen Rationalität und Emotionskontrolle.

In ihrer Reaktion reformuliert die CO das Erleben der KL mittels einer extreme case formulation (Pomerantz, 1986) als „Weil irgendwas w/is ja/das klingt so, wenns was richtiges • • fast schon Traumatisches jedenfalls is“ (nicht im Exzerpt). Dadurch bestätigt und verstärkt sie die Attribution individueller Verantwortung für unangemessene und unkontrollierbare (weibliche) Emotionalität. Die CO nimmt eine retrospektive Haltung ein und re-aktualisiert auf diese Weise den erlebten, aber vergangenen emotionalen Ausnahmezustand der KL. Sie geht weder auf das Anliegen noch auf die darin zum Ausdruck gebrachte vorwärts gerichtete Veränderungsperspektive ein. Die CO fokussiert in pathologisierender Weise in diesem für Anliegensklärung und den gesamten Coaching-Prozess entscheidenden Moment ausschließlich das innere, emotionale Erleben der KL und schreibt ihr eine individualisierende, über-emotionale und unkontrollierbare (weibliche) Identität zu, womit sie die Genderintegrität der KL als Frau in einer Führungsposition schwächt. Jedoch ist diese als senior consultant in eine organisationale Struktur und Kultur mit Kolleg*innen und Kund*innen eingebunden, sodass die Verantwortung für den erlebten Zusammenbruch auf mehreren Ebenen und nicht nur bei der KL alleine liegt. Obwohl sie die Schwierigkeiten im Projekt angesprochen hat, werden diese explizit benannten Umstände nicht aufgegriffen. Auch thematisiert die CO nicht, dass Frauen bzw. weiblichen Führungskräften besonders häufig Führungsaufgaben angeboten werden, bei denen das Risiko zu scheitern besonders hoch ist (Carli und Eagly, 2016; Ryan et al. 2011). Die ideologischen Dilemmata, die aus den verschiedenen Repertoires erwachsen und in denen die Klientin gefangen ist, werden dadurch nicht gewinnbringend thematisiert und aufgelöst.

4.4 Exzerpt 3: Anliegensbearbeitung

Vor dem folgenden Ausschnitt hat die CO die KL zur Konkretisierung der Zielsetzung mittels einer hypothetischen Frage (Graf 2019) eingeladen, den zukünftig – im Sinne einer positiven Zielerreichung – veränderten Zustand am Ende des Coaching-Prozesses zu imaginieren. KL nennt in diesem Zusammenhang „innere Gelassenheit“ (vgl. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Exzerpt 3: Anliegensbearbeitung

KL erläutert, was sie mit innerer Gelassenheit meint bzw. in welchem Bezug und in welchen Situationen sie diese braucht: mit den Worten „dass mich das Thema [Scheitern, Anmerk. EG & MF] gar nicht mehr angreift“ [Zeile 173–174]. Durch ihre Hochstufung mittels des Partikels „gar (nicht mehr)“ und der Verwendung der militärischen Metapher „angreifen“ zeichnet KL eine Idealvorstellung emotionaler Unberührbarkeit, die genderstereotyp mit Männern in Verbindung gebracht wird. Im weiteren Verlauf kontrastiert sie erstmals explizit ihre Emotionalität mit der ihrer männlichen Kollegen („meine Kollegen stecken das auch weg, wenn sie mal n Projekt in den Sand setzen“) und formuliert dabei ein ideological dilemma, das auf dem unterschiedlichen Umgang mit Emotionen und Niederlagen und der damit verbundenen soziokulturellen Bewertung fußt und den hegemonialen Diskurs der Geschlechterunterschiede re-aktualisiert. KL verweist damit einerseits wieder auf sich als Frau im Sinne einer Indexikalisierung 2. Ordnung und positioniert gleichzeitig die männlichen Kollegen im Kontext eines gesellschaftlich etablierten Männlichkeitsrepertoires (mit Hilfe der auf konventioneller Weise mit der Kategorie ‚Mann‘ verbundenen Aktivitäten bzgl. Scheitern „stecken das auch weg“ [Zeile 174] und „da wars dann auch alles andere außer ihnen selbst“ [Zeilen 175 f]). In dieser Positionierung entsprechen die männlichen Kollegen dem interpretativen Repertoire von Führungskräften im Sinne von „Think manager – think male“, aufbauend auf männlicher Assertivität und Rationalität (Ladegaard 2011). Auf dieser Bühne hegemonialer Männlichkeit (Connell 1995) ist für die KL keine definierte Subjekt-Position als Führungskraft vorgesehen, die ihr Orientierung bezüglich der Performanz als erfolgreiche weibliche Führungskraft bieten könnte. Sie ist daher auf sich selbst zurückgeworfen und sucht sich im Coaching als „unzulänglichen Performerin“ Hilfe: „Warum krieg ich das nicht hin?“ [Zeile 176]. Die Reaktion der CO ist eine explizite Bestätigung der thematisierten Genderunterscheidung mittels „ja“, wodurch sie ebenfalls den hegemonialen Diskurs der Geschlechterunterschiede bezüglich Emotionalität und Führung bedient bzw. bestätigt. Durch ihre, den emotionalen Gehalt fokussierende Interpretation und Fremdpositionierung (als Extension markiert durch „und“) „das ärgert dich auch“ [Zeile 176–177] nimmt sie eine erneute Individualisierung und Emotionalisierung des Anliegens von KL vor. Damit verstärkt sie die von der KL vorgebrachte subject position als unzulängliche Performerin. Diese wiederholt und ratifiziert diese Interpretation, d. h. sie einigen sich sowohl auf den individuellen Ursprung des Problems als auch auf die von KL vorgebrachten interpretativen Repertoires.

Für die weitere Bearbeitung des Anliegens bittet die CO die KL ihre Erkenntnisse aus dem TrainingFootnote 17 zu erzählen. KL berichtet von Persönlichkeitsanteilen, auf die sie nicht übermäßig stolz ist: sie indiziert implizit ihre Geschlechterzugehörigkeit durch ihre kritische Haltung gegenüber dem eigenen Geltungsbedürfnis und Ehrgeiz als genderdifferenzierende Qualitäten und rekurriert dabei auf das etablierte gender belief system (Eckes 2010), dass diese Qualitäten bei Frauen im Kontext des ihnen zugeschriebenen und von ihnen erwarteten gemeinschaftsorientierten Verhaltens nicht erwünscht sind (Carli 2013). Genderadäquates Verhalten findet seinen Ausdruck im interpretativen Repertoire der im privaten und öffentlichen Bereich sozial und gemeinschaftlich sowie selbstlos ausgerichteten Frau („female communality“ im Sinne Brescolls 2015). Diese soziale Bewertung hat KL übernommen und zum Ausdruck gebracht, wobei sie sich durch die geäußerte Selbstkritik selbst diesem interpretativen Repertoire zuordnet. Gleichzeitig wird an dieser Stelle erneut der double bind bzw. das ideologische Dilemma für KL als weibliche Führungskraft diskursiv sichtbar, da Geltungsbewusstsein und vor allem Ehrgeiz von (männlichen) Führungskräften erwartet werden und als Voraussetzungen für beruflichen Erfolg notwendig sind (Kimmel 2015), gleichzeitig von Frauen aber ein soziales und gemeinschaftlich orientiertes Verhalten erwartet wird und weiblicher Ehrgeiz negativ konnotiert ist. Auch an dieser Stelle versäumt es die CO aus genderintegrativer und beratungswissenschaftlicher Perspektive KL auf das für sie in ihrer beruflichen Rolle schädliche interpretative Repertoire, seine soziokulturelle Verankerung und Omnipräsenz, aber auch auf ihre eigene Rekurrenz hinzuweisen, um sie dadurch von ihrer persönlichen „Verantwortung“ zu befreien und diskursiv Raum für das Entwickeln alternativer Subjekt-Positionen wie z. B. dem einer gesund ehrgeizigen Person zu öffnen.

4.5 Exzerpt 4: Anliegensbearbeitung: Anspruch und (Fremd‑)Bild als Projektleiterin

In der Reflexion ihrer anstehenden Aufnahme in die Partnergruppe thematisiert KL ihren Anspruch an sich selbst als Projektleiterin sowie ihren Ruf in der Organisation (vgl. Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Exzerpt 4: Anliegensbearbeitung: Anspruch und (Fremd-)Bild als Projektleiterin

Ihren Anspruch definiert KL dabei implizit genderdifferenzierend beziehungsorientiert über ihre (mögliche) Außenwirkung („wie ich gesehen werden möchte von den Kollegen“ [Zeilen 482 f]) und insbesondere darüber, dass ihr andere positive Gefühle entgegenbringen („bin ich jemand mit dem sie gerne zusammen arbeiten“ [Zeile 483 f], „die jüngeren Kollegen arbeiten gerne und schauen ob sie in meine Projekte kommen“ [Zeile 488 f]). Ihre Verortung der Außenwirkung bzw. des Rufs auf der Beziehungsebene rekurriert auf ein interpretatives Repertoire des als gemeinschaftlich und beziehungsorientiert wahrgenommenen und erwartbaren Verhaltens von Frauen. Dabei thematisiert KL explizit den Unterschied zu „Stufe XY“ [Zeile 483], einer männlich zugeschriebenen Orientierung an äußerem Status, Macht und Wettbewerb und bringt so das ideologische Dilemma „weibliche Beziehungsorientierung“ versus „männliche Statusorientierung“ diskursiv auf die Coaching-Bühne. Gleichzeitig zeigt sie bei der Aussage, dass sie einen guten Ruf in der Organisation hat wieder genderunterscheidende (sprachliche) Bescheidenheit durch das epistemische Verb „ich denk“ sowie den Abschwächungspartikel „nen ganz guten Ruf“ [Zeile 488] und verweist durch diese Indexikalität 2. Ordnung ebenfalls auf ihr soziokulturelles Geschlecht. KL nimmt so innerhalb des Repertoires der „female communality“ bzw. „women as natural carers“ explizit eine Subjekt-Position als sich „kümmernde, engagierte Projektleiterin“ ein, die aus dem beruflichen Weiterkommen ihrer Mitarbeitenden Spaß an der eigenen Arbeit zieht. Trotz der geschlechterunterscheidenden Reinszenierung von Weiblichkeit fokussiert KL an dieser Stelle Stärken und positive Aspekte.

Im weiteren Verlauf ihrer Reflexionen über ihren Ruf und ihre Außenwirkung – beides vermutlich relevante Größen in der anstehenden Beförderung zur Partnerin – geht KL kritisch auf ihr Auftreten in „brenzligen, kritischen Situation“ ein (vgl. Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Exzerpt 4: Anliegensbearbeitung: Anspruch und (Fremd-)Bild als Projektleiterin (kont.)

Die KL listet drei negative Aspekte ihres Auftretens in diesen Situationen („ich sprech zu schnell … ich geh auch zu hart und mit zu wenig Resonanz“ [Zeile 493 f]), wobei sie (dadurch) zurückkommt auf die vorher von ihr gestellte Frage „Bin ich jemand, der n Ruf hat, immer ruhig zu bleiben, oder jemand, der schnell aus dem Häuschen gerät“ [Zeile 485 f]. Hier rekurriert KL erneut auf das interpretative Repertoire „weiblicher Emotionalität“ sowie auf „weibliche Zurückhaltung und Sanftheit“. Sie positioniert sich selbstkritisch als emotional unkontrollierte und assertive Frau, die in der Situation selbst keine Handlungsalternativen hat und ihr Verhalten auch nicht (als unangebracht) wahrnimmt, im Nachhinein aber – durch die Einnahme einer normativ genderdifferenzierenden Außenperspektive – ihr eigenes Verhalten in Frage stellt; auch das ist eine implizite Inszenierung von Weiblichkeit (Scheffler und Büchele 2014). In ihrer Reaktion und zusammenfassenden Evaluierung des Gesagten geht die CO thematisch verengend ausschließlich auf die individuelle Unsicherheit der KL ein, wobei sie diese semantisch hochstuft im Sinne von „tief da drin eher nen Anteil, Gefühle, Seiten gibt, die sich sehr unsicher sind“ [Zeile 500]. Somit positioniert sie KL vorrangig als unsicheres Individuum, nicht aber als (heraus‑)geforderte Führungskraft. Trotz der eigenen differenzierten Darstellung ihrer Stärken und Schwächen stimmt KL der CO non-verbal und verbal zu, d. h. übernimmt deren Hypothese individueller und personifizierter Unsicherheit und Schwäche.

4.6 Exzerpt 5: Anliegensbearbeitung: Unvereinbarkeit sinnlicher Weiblichkeit und kühler Rationalität

Hier thematisiert KL ein wahrgenommenes, aber nicht gelöstes Dilemma zwischen ihren sinnlichen, emotionalen und weiblich-weichen Anteilen, die sie privat ausmachen, und ihren kühlen, rationalen Anteilen der erfolgreichen Geschäftsfrau, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind und verhandelt dabei zwischen verschiedenen Repertoires von Weiblichkeit(en) und damit verbundenen Subjekt-Positionen. KL erläutert zunächst, dass sie eine musische Seite hat, wobei sie ihre Musikalität zum einen relativiert („ich spiel (…) Klavier, nicht übermäßig gut“), zum anderen aber als einen zentralen Lebensinhalt beschreibt, der allerdings privat bleibt. Ihre Ausführung zu dem „Komplexschimmer“, den sie nicht wirklich „unterbringt“, kulminiert in der Explizitmachung eines ideologischen Dilemmas zwischen „weicher, sinnlicher Weiblichkeit“ und „kühler, rationaler, maskuliner Businesswelt“, das einen zentralen Aspekt des double bind weiblicher Führungskräfte darstellt und personalisiert erlebt und beschrieben wird (vgl. Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Exzerpt 5: Anliegensbearbeitung: Unvereinbarkeit sinnlicher Weiblichkeit und kühler Rationalität

Im Folgenden „verhandeln“ CO und KL über die Bedeutung dieses Komplexes, der sich bei der Arbeit mit KLs Persönlichkeitsanteilen gezeigt hat. Die CO kommentiert dieses Dilemma bzw. dessen Bedeutung zunächst mit „Vielleicht dass das alles le/lebt und noch mehr leben will, in dir. Auch unterschiedlich“ (nicht im Exzerpt). Die KL – nach einer Pause von einer Sekunde – widerspricht der Interpretation der CO und bietet eine alternative Interpretation initiiert durch die Konjunktion „oder“: Sie selbst spricht dabei ein Entwicklungspotential an: „Oder vielleicht seinen Platz noch nicht richtig gefunden hat“ [Zeile 591] und eröffnet somit ein alternatives Repertoire, das beide Anteile vereinen könnte. Die CO schließt dieses jedoch wieder, indem sie diese Anteile in den privaten Bereich „verbannt“, d. h. die Persönlichkeitsanteile haben keinen gleichwertigen Platz (vgl. Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Exzerpt 5: Anliegensbearbeitung: Unvereinbarkeit sinnlicher Weiblichkeit und kühler Rationalität (kont.) (1/2)

Die Entwicklungsmöglichkeit wird von der CO nicht aufgegriffen. Stattdessen begründet sie die Interpretation, dass die Anteile noch keinen richtigen Platz gefunden haben damit (initiiert durch die Konjunktion „weil“), dass diese zum einen viel weicher und zum anderen „Und eben auch nicht so für die Öffentlichkeit“ [Zeile 592–594] sind. Die CO ordnet die Aussagen der KL damit dichotomisierend in das System der normativen Zweigeschlechtlichkeit ein und verstärkt so das ideologische Dilemma unvereinbarer Weiblichkeiten. Sie verletzt an dieser im Sinne einer möglichen Entwicklung zentralen Stelle im Coaching die Genderidentität der KL erneut. Diese akzeptiert die Einschätzung mit einem bestätigenden „Ne“, begleitet von einem verstärkenden Lachen [Zeile 591] und erzählt – zur weiteren verstärkenden Illustration – von der einzigen Situation, in der sie „öffentlich“ gesungen hat (im Familienkreis). KL hat somit die Interpretation der CO übernommen. In der anschließenden bestätigenden Reformulierung der CO kommt es zur erneuten individualisierenden Verstärkung im Rahmen der Dreierliste „lebt nur für Dich, nach innen, is nicht sichtbar“ [Zeile 595 f], d. h. die CO löst das Dilemma bzw. die sich teilweise widersprechenden Subjekt-Positionen der Klientin damit auf, dass eine davon unsichtbar bzw. privat bleiben soll.

Trotz der vorausgehenden finalen Bewertung ihrer Anteile als privat, persönlich und nicht sichtbar durch die CO, thematisiert KL im Folgenden die Notwendigkeit von mehr SichtbarkeitFootnote 18; sie tut dies allerdings nicht assertiv, sondern abgeschwächt durch die Wahl des Konjunktivs und des Adverbs „vielleicht“. Der Anspruch auf Sichtbarkeit und Öffentlichkeit sowie ein stolzes Zur-Schau-Tragen der eigenen Fähigkeiten wird bei Männern und Frauen genderunterscheidend bewertet (Skinner 2014, S. 103), sodass KL – als weibliche Führungskraft, für die Sichtbarkeit und Öffentlichkeit für ihre berufliche Akzeptanz und ihr Weiterkommen (z. B. als Partner [!] aufgenommen zu werden) zentral sind – wieder in einem Dilemma gefangen ist: entweder sie verhält sich genderkonform und gefährdet ihre Karriere oder sie verletzt die Erwartungen an das eigene Geschlecht und wird dadurch als unweiblich wahrgenommen und ebenfalls negativ bewertet (vgl. Abb. 8).Footnote 19

Abb. 8
figure 8

Exzerpt 5: Anliegensbearbeitung: Unvereinbarkeit sinnlicher Weiblichkeit und kühler Rationalität (kont.) (2/2)

Auch hier reflektiert die KL sehr differenziert, warum sie sich mehr Sichtbarkeit wünscht und spricht dabei u. a. von der Integration der weicheren Seiten als Teile ihrer Persönlichkeit, die wahrgenommen werden wollen. KL imaginiert hier eine integrative Subjekt-Position, die Widersprüchliches, auch gegen Gendernormen Verstoßendes (z. B. Gefallen daran zu finden, dass andere die eigene Leistung toll finden) gut vereinen kann und eröffnet dadurch ein alternatives Repertoire von Weiblichkeit. Da sie in ihrer professionellen Rolle als weibliche Führungskraft im Coaching ist, könnte dies als Weiterentwicklung ihrer Selbstwirksamkeit und Souveränität sowie Genderidentität, d. h. als zentrale Aufgabe von der CO fokussiert werden. Diese bietet stattdessen eine Zusammenfassung der weicheren Zustände, die KL in dieser Phase der Anliegensbearbeitung auf der intrapersonalen Ebene thematisiert hat und setzt „Unsicherheit und die Angst zu versagen und diese weiche, musische“ (nicht im Exzerpt) thematisch relevant. Durch ihre thematische Verengung auf unangenehm erlebte innere Anteile in der Vergangenheit, wird die von KL vorgeschlagene mögliche Entwicklung nicht aufgegriffen; stattdessen wird KL durch die CO die Subjekt-Position der „Unsicheren“ und „Weichen“ zugeschrieben. Im Sinne Wiggins (2017, S. 8) wird dabei durch die CO die alternative Version der KL zum Schweigen gebracht.

4.7 Exzerpt 6: Finalisierung der Anliegensbearbeitung

Beeinflusst durch eine vorausgehende thematische Fokussierung durch die CO, erforscht KL im folgenden Exzerpt einen Persönlichkeitsanteil, der im Zusammenhang mit ihrem Kämpfen und dem Scheitern im Projekt steht, wodurch die Individualisierung struktureller Probleme abschließend auf den Punkt gebracht und erneut relevant gesetzt wird. Auf die Frage der Coach „Hat der n Namen, oder kannst du den ma • umschreiben, so wie du • • diesen Teil auch • erlebst?“ (nicht im Exzerpt) benennt und beschreibt KL diesen Persönlichkeitsanteil (vgl. Abb. 9).

Abb. 9
figure 9

Exzerpt 6: Finalisierung der Anliegensbearbeitung

Die KL referiert zunächst mit einem explizit männlichen, substantivierten Verb auf ihren Persönlichkeitsanteil, wobei sie sich männlich attribuierter Kriegsmetaphorik bedient (Pannewitz 2012): „Kämpfer“. Diese Referenz, d. h. die von ihr eingenommene Subjekt-Position, spezifiziert sie dahingehend „nicht der Kämpfer im Verbund, sondern eher der Einzelgänger“ [Zeilen 1140–1141]. Die CO wiederholt zunächst im Sinne eines aktiven Zuhörens „Einzelgänger“, substituiert den Begriff dann aber durch „Einzelkämpfer“, was KL jedoch nicht übernimmt. Stattdessen bietet KL synonym noch „der eiserne Wolf“ [Zeile 1141], relativiert aber die Passung dieses männlichen Begriffs sofort und verwendet erneut den männlichen Begriff „Einzelgänger“ [Zeile 1143]. Die begriffliche Ko-Konstruktion wird von der CO noch im Sinne einer stärkenden Intervention um das attributive Adjektiv „stark“ erweitert bzw. re-interpretiert. Durch die Subjekt-Positionen „Kämpfer“, „Einzelgänger“, „eiserner Wolf“ wird hierbei erneut das Repertoire „Think manager – think male“ bedient.

Es ist im Folgenden die CO, die die genderunterscheidende Attribution an den Begriff des Einzelkämpfers explizit macht und die Genderkategorie ändert (ohne allerdings die hier zugrundeliegenden Repertoires der „einsamen weiblichen Führungskraft“, die im männlich geprägten organisationalen Umfeld permanent um Anerkennung, Ressourcen, gute Projekte etc. kämpfen muss, aufzuzeigen) (vgl. Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

Exzerpt 6: Finalisierung der Anliegensbearbeitung (kont.) (1/2)

Während die KL den von der CO eingebrachten Begriff der Stärke übernimmt („Ja, ich glaube, also auf jeden Fall stark“ [Zeile 1145]), bleibt sie bei dem männlichen (und maskulin konnotierten) Begriff des Einzelkämpfers: „starker Einzelkämpfer“ [Zeile 1146].

Zum Abschuss der ersten Sitzung initiiert die CO noch eine Intervention im Kontext von KLs Persönlichkeitsanteils des ‚Einzelkämpfers‘ und bittet sie zu dem Teil „hinzuspüren“ und diesem in Aussicht zu stellen, dass „du dich um die kümmerst, ((5s)) und diesem Anteil, diesem verletzlichen Anteil helfen würdest, das deer ((2,5s)) sich nich so wie so n Versagerin fühlt, nh, oder diesen •/wie wär das für diese Einzelkämpferin?“ [Zeile 1155 ff] (nicht im Exzerpt). Die KL beantwortet die Frage der CO nach einer 5 s langen Reflexion (siehe Abb. 11).

Abb. 11
figure 11

Exzerpt 6: Finalisierung der Anliegensbearbeitung (kont.) (2/2)

KL führt die Aufgaben, die die Einzelkämpferin leistet, aus und – ganz im Sinne der Individualisierung und Personalisierung der gemeinsamen Coaching-Arbeit bzw. initiiert durch die Coach, die davon spricht, dass KL sich selbst um den Anteil kümmern und ihn entlasten soll – elaboriert diese als etwas, was in ihr passieren muss, sodass auch die Entlastung durch sie selbst geschehen muss. Hierbei kommt es abschließend zu einer wechselseitigen Bestätigung dieser Interpretation durch KL und CO. Trotz mehrfacher Initiativen der KL, andere Subjekt-Positionen und interpretative Repertoires anzudenken und zu entwickeln und die ideologischen Dilemmata dadurch konstruktiv für sich aufzulösen, steht diese somit am Ende der Sitzung am gleichen Punkt, wie zu Beginn der Sitzung.

5 Interpretation der Ergebnisse

Die Analysen haben gezeigt, dass Genderrepräsentationen ein, wenn nicht das wesentliche Thema in dem Coaching-Erstgespräch ist, als solches aber nicht explizit thematisiert und als offizielles Anliegen bearbeitet wird. Stattdessen wird es von den Beteiligten primär implizit in genderunterscheidenden Subjekt-Positionen, interpretativen Repertoires und ideologischen Dilemmata im Zusammenhang mit Karriere- und Führungsfragen auf die Coaching-Bühne gebracht und individualisiert. Führungskräfte-Coaching und der hier diskutierte Coaching-Ansatz bilden dabei für die Inszenierung von Geschlecht und Gender einen spezifischen sozialen und interaktiven Kontext, der für die Interpretation der Ergebnisse eine wichtige Rolle spielt: Laut Pannewitz (2012) stellt Coaching einen Kommunikationsraum dar, in dem Deutungen und Narrative über Führung, Geschlecht und Gender verbunden mit geschlechtlicher sozialer Ungleichheit evident werden, da insbesondere Krisen der Führung oftmals explizit als Anlass für Coaching angeführt werden. D. h. hegemoniale Diskurse zu Gender, Organisation und Führung finden sich in verdichteter, zugespitzter Form im Coaching (weiblicher Führungskräfte) und werden daher im Folgenden skizziert. Die Diskurse sind geprägt von der alle Lebensbereiche dominierenden essentialistischen Geschlechterdichotomie. Laut Wetterer (2010, S. 126) gehört es dabei

zu den fraglosen und nicht weiter begründungsbedürftigen Selbstverständlichkeiten unseres Alltagswissens …, die Geschlechterzugehörigkeit von Personen und die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als natürliche Vorgabe sozialen Handelns und sozialer Differenzierung zu betrachten.

Diese wiederum geht auf die Arbeitsteilung zurück, die ein sameness taboo institutionalisiert und Frauen und Männer zu Verschiedenen macht (Wetterer 2010, S. 128). Geschlecht ist entscheidend für die Art und Weise, wie Arbeit organisiert wird und Arbeit ist entscheidend für die Konstruktion von Geschlechtlichkeit. Wilz (2010, S. 514) argumentiert, dass die Trennung von Produktion (Erwerbsarbeit) und Reproduktion (familiale Arbeit) in modernen, postindustriellen Gesellschaften untrennbar mit Differenzierung und Hierarchisierung der Geschlechter verwoben ist. Differenzierung und Hierarchisierung liegen auch Organisationen zugrunde, wobei sich eine vertikale Segregation bzw. hierarchische Dimension bezüglich Positionen innerhalb einer Organisation (d. h. welches Geschlecht ist stärker in der Führungsebene vertreten?) und eine horizontale Segregation in geschlechtsunterscheidende Tätigkeitsfelder (d. h. welches Geschlecht ist im administrativen Bereich stärker vertreten?) finden. Vertikale und horizontale Dimension erfahren dabei vielfache Verknüpfungen, wie im vorliegenden Fall einer weiblichen Führungskraft in einer Consulting-Firma (Pannewitz 2012, S. 35–38). Mit Arbeits- und Organisationsprozessen sind Darstellung und Zuschreibung adäquater Geschlechtlichkeit verknüpft. Die unterschiedliche Verteilung von Einkommen, Aufgaben und Positionen zwischen Männern und Frauen ist dabei nicht zufällig, sondern – da Organisationen keine entpersonalisierten Systeme darstellen (Wilz 2010, S. 516–517) – geprägt von den sie umgebenden Kontexten, gesellschaftlichen Verhältnissen und sozialen Beziehungen. Mit Acker (1990) können wir (immer noch) von „gendered organization“ sprechen, in der es eine Verbindungslinie zwischen Konstruktion der idealen Arbeitskraft als Norm und Maß organisatorischer Praxis und geschlechtlicher Körperlichkeit von Männern und Frauen gibt, wobei das Vorbild, vor allem im Kontext von Führung, (immer noch) ein männliches ist. Von Führungskräften werden maskuline Eigenschaften wie autoritäres, willensstarkes, entschiedenes, aggressives, kompetitives und zielgerichtetes Verhalten erwartet; Eigenschaften, die primär männlichen Führungskräften zugeschrieben werden (Ladegaard 2011; Skinner 2014; Holmes 2017). Trotz einer von Eagly und Carli schon 2003 attestierten „feminization of leadership“ (Schnurr 2009, S. 115), stellt Führung bzw. als kompetente Führungskraft wahrgenommen zu werden somit immer noch eine größere Herausforderung für Frauen dar. Dabei ergibt sich für weibliche Führungskräfte vor allem folgendes ideologische Dilemma: die ihnen normativ zugeschriebene und von ihnen erwartete Orientierung an Beziehung und Gemeinschaft („female communality“ sowie „women as natural carers“) als Verkörperung von Weiblichkeit, steht im Widerspruch zur normativ zugeschriebenen und erwarteten Orientierung an Wettbewerb und Durchsetzungsvermögen („masculine agentiveness“) als Verkörperung von Führungskompetenz und gleichzeitig Männlichkeit (Schnurr 2009; Carli 2013; Brescoll 2015). D. h. weibliche Führungskräfte erleben (oftmals) einen double bind, da sie, wenn sie sich an den maskulin konnotierten, agentiven Führungsnormen orientieren, nicht den weiblichen kommunalen Gendernormen entsprechen (Mullany und Yoong 2017), während sie, wenn sie sich an diesen orientieren, oftmals das Problem haben, dass sie als nicht ausreichend willensstark, zielorientiert und/oder kompetent wahrgenommen werden (Carli 2013, S. 208; Kotthoff und Nübling 2018, S. 285). Dass Frauen aufgrund des immer noch geltenden interpretativen Repertoires des „think manager, think male“ (und anderer Genderdiskurse) Führungspositionen weniger anstreben und für diese weniger berücksichtigt werden, geht dieser Problematik voraus bzw. rahmt sie. Im Sinne einer homosozialen Kooption (Welpe et al. 2015) werden eher männliche als weibliche Kandidat*innen in die von Männern dominierte Führungsebene aufgenommen. Und obwohl sich das Verständnis von Führung und „gutem“ Führungsstil wandelt (Ladegaard 2011; Holmes 2017) und mehr Frauen Führungspositionen übernehmen schreiben Carli und Eagly (2016, S. 520–521), dass:

women face a multitude of challenges not faced by men. Stereotypes continue to portray successful leaders as more similar to men than to women … Women are seen as lacking the agentic qualities needed to be good leaders, but are also expected to be highly communal and exhibit such qualities as kindness, warmth, and helpfulness.

So werden Frauen insgesamt immer noch eher dafür „bestraft“ (im Sinne von weniger gemocht oder gar verunglimpft), wenn sie sich dominant geben, einen autokratischen anstelle eines demokratischen Führungsstils pflegen, widersprechen, energisch auftreten oder „Eigenwerbung“ betreiben (Carli 2013, S. 207). Die Wahrnehmung einer mangelnden Passung zwischen der weiblichen Geschlechterrolle und der Führungsrolle führt dabei zu verschiedenen Formen von Vorurteilen, die gemeinsam dazu beitragen, dass Frauen weniger Chancen haben in Führungspositionen aufzusteigen (Eckes 2010, S. 186; Holmes 2017, S. 19).

Führungskräfte-Coaching adressiert das Individuum und dessen Potential – in Begleitung eines/einer professionell agierenden Coach – eigene Lösungen für berufliche Herausforderungen im Kontext von Individuum, Führung und Organisation zu finden. Obwohl sich hier die Idee des empowerment für Klient*innen findet, ist die hier analysierte Coaching-Arbeit in zweierlei Hinsicht kritisch zu interpretieren. Zum einen findet die Individualisierung und Personifizierung der von der Klientin (KL) vorgebrachten Anliegen ohne Rückbezug auf das System und dessen strukturierende Aspekte statt. Vor dem Hintergrund der Omnipräsenz und Omnirelevanz der Strukturkategorie Geschlecht im Sinne eines zweifachen doing gender while doing coaching (Begegnung einer geschlechtlichen Coach und einer geschlechtlichen Klientin, die als weibliche Führungskraft in einer gendered organization tätig ist), die sich durchgängig in mehr oder weniger salienten und relevant gesetzten Indexikalisierungen des soziokulturellen Gender (der Coach und) der Klientin manifestieren, ist der hier praktizierte Ausschluss des Systems ‚Organisation‘ mit den erwartbaren und zugeschriebenen Subjekt-Positionen der Mitglieder bzw. der Führungskräfte, den interpretativen Repertoires sowie den ideologischen Dilemmata höchst problematisch und kontraproduktiv für KL. Zum anderen zeigt sich in den Daten eine Reduzierung auf die als unangenehm erlebten inneren Anteile wie Angst oder Alleinsein und ein Außenvorlassen der Ressourcen, der Souveränitätserfahrungen und Erfolgserlebnisse. Gerade auch dort, wo KL Initiativen zeigt naturalisierte Gendernormen zu durchbrechen (z. B. ihre weichen, sinnlichen Teile auch in der Öffentlichkeit zu zeigen) oder wo sie selbst ideologische Dilemmata relevant setzt (z. B. den Gegensatz ihrer weiblichen Sinnlichkeit und der männlichen Businesswelt), rekurriert die Coach (CO) auf ihre sensiblen, zu schützenden, d. h. privat zu haltenden, Teile und behindert so eine Weiterentwicklung der Selbstwirksamkeit und der Souveränität der KL. Der durch die CO initiierte und verstärkte (naturalisierte) Individualisierungsdiskurs, der von KL gegen Ende der Coaching-Sitzung vollständig übernommen wird, verhindert dass ein kritischer Diskurs darüber geführt werden kann, dass KL mit genderunterscheidenden beruflichen Lebensrealitäten für männliche und weibliche Führungskräfte konfrontiert und dadurch beeinträchtigt ist und diese gleichzeitig aber auch selbst „am Leben erhält“. Während eine grundsätzliche Individualisierung und Innenschau dem hier praktizierten Coaching-Ansatz inhärent ist (siehe FN 13) und die Coach somit „ansatzkonform“ arbeitet, ist es im Zusammenhang mit einer impliziten und/oder expliziten Genderthematik – wie im vorliegenden Fall – jedoch nicht ausreichend, auf der individuellen Ebene zu arbeiten, da ein solches strukturelles Problem nicht auf der Ebene der Klientin lösbar ist.

Die „Bühne“ des Führungskräfte-Coachings könnte den idealen Entwicklungs- und Lernraum darstellen, um durch kritisches Reflektieren des mehr oder weniger bewussten eigenen Genderindexes vor dem Hintergrund der organisationseigenen, institutionalisierten Genderisierungspraktiken Relevanzgraduierung auszuprobieren bzw. sich diese anzueignen. D. h., um mit den Konzepten der KDP zu sprechen, von gendernormativen und genormten Subjekt-Positionen auszubrechen und sich auf alternative Positionen zu begeben, wie etwa im vorliegenden Fall das Zeigen von (unangemessenen) Emotionen nicht mehr als eigenes Defizit zu rahmen, sondern z. B. diskursiv in den Kontext eines schwierigen Projektes und einen von der Organisationskultur vorgegebenen Leistungsanspruch zu stellen. Obwohl dies in der analysierten Coaching-Sitzung nicht geschehen ist, bleibt natürlich die Frage, inwieweit die „Arbeit“ mit Genderstereotypen auf Coach-Seite als strategisches Mittel verstanden werden kann oder muss, um eine mögliche Unsicherheit von Klient*innen auszugleichen. So formuliert Schigl (2018, S. 17) für Psychotherapie:

(…) die Orientierung entlang der den Geschlechtern zugeschriebenen Verhaltensweisen und Eigenschaften hilft in offenen, unsicheren Situationen … Es liegt daher nahe, dass hier immer wieder Verhalten und Verhaltenserwartungen entlang der Geschlechterstereotypen zur Orientierung herangezogen werden.

Die Festlegung entlang musterhafter Weiblichkeiten und Männlichkeiten kann möglicherweise als kommunikative Leitlinie für therapeutische Zwecke im Sinne einer Entlastung der Klient*innen verstanden werden (Schigl 2018, S. 15). Allerdings sollte auch dann die hier geforderte und angestrebte Gendersensibilität und -kompetenz auf professioneller Seite vorhanden sein, um gerade Genderpraktiken in „unauffälliger Alltagsbekleidung“ kritisch zu durchschauen und anschließend – je nach Bedarf – auf Coach-Seite strategisch einzusetzen.

6 Conclusio

Ausgehend von einem dialogischen Verständnis des Coaching-Prozesses war es das Ziel dieses Beitrags Praktiken mehr oder weniger relevant gesetzter diskursiver Ko-Konstruktionen und Re-Inszenierungen von Gender im Coaching-Gespräch zu erschließen und die dadurch vermittelten kollektiv- und subjektiv-mentalen Repräsentationen zu erkunden, die wiederum auf zugrundeliegende Machtverhältnisse, Wert- und Normvorstellungen in Bezug auf Geschlecht und Gender im Führungskontext verweisen. Zentral war dabei das Argument Gildemeisters (2010, S. 137):

Geschlecht bzw. Geschlechterzugehörigkeit nicht als Eigenschaft oder Merkmal von Individuen zu betrachten, sondern jene sozialen Prozesse in den Blick zu nehmen, in denen „Geschlecht“ als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird.

Es wurde aufgezeigt, wie eine individualisierende Coaching-Arbeit Genderstrukturen und -kulturen in Organisationen bestätigt und verstärkt, was für die KL im Sinne ihrer beruflichen Weiterentwicklung als Führungskraft, aber auch im Sinne ihrer Genderintegrität, limitierend erscheint. Im Unterschied hierzu hätte eine genderkompetente Vorgehensweise dazu beitragen können, dieses strukturelle Problem zu beleuchten und damit die Handlungsfähigkeit der weiblichen Führungskraft zu stärken. Da die dialogische Reflexion bezüglich der eigenen Rolle bzw. Identität als Führungskraft ein zentraler Bestandteil im Führungskräfte-Coaching ist, könnte gerade Coaching als diskursiver, geschützter Reflexionsraum ein positiver Anlass sein, hegemoniale Konventionen bezüglich Gender und Geschlecht zu thematisieren, kritisch zu diskutieren und zu verändern. Coaches fungieren hier (idealerweise) als role model für das Arbeiten an der eigenen Führungsidentität, da sie ein zusätzliches, existierende Genderdynamiken und -normen in Frage stellendes, Repertoire an Kommunikations- und Interaktionsformen sowie thematischen Inhalten dialogisch auf die Bühne bringen und diese Klient*innen auch im Sinne alternativer interpretativer Repertoires zur Verfügung stellen können (Skinner 2014, S. 106–107). Die zentrale Rolle der Coaches als Ermöglicher*in oder Unterstützer*in bei der Erweiterung der (weiblichen) Führungsidentität unterstreicht wie essentiell es ist, dass Coaches genderkompetent die Genderidentität und -integrität ihrer Klient*innen wahren und stärken (Abdul-Hussain 2012).

Im Sinne einer angewandt-problemorientierten Forschungsarbeit möchte der Artikel dazu beitragen, für die Omnipräsenz von Gender im Kontext von Führung und Organisation zu sensibilisieren und über das Aufzeigen konkreter diskursiver Praktiken einen Beitrag zur Genderkompetenz von Coaches zu leisten. Für genderkompetentes Coaching bedarf es auf Seiten der/des Coach eines fundierten Wissens über die Omnipräsenz impliziter und expliziter Genderideologien sowie einer kritischen Selbstreflexion der eigenen Genderzuschreibungen und Gender(-re‑)aktualisierungen in der Arbeit als Coach. Darüber hinaus sollten Coaches eine Sensibilität dafür entwickeln, dass ihre Verhaltens‑, Denk- und Sprechweisen (sowie die ihrer Klient*innen) mehr oder weniger salient (direkt oder indirekt) auf Geschlecht verweisen. Im vorliegenden Fall wird entlang der gesamten Sitzung versäumt, die mehr oder weniger hervorgehobene Relevanz der Strukturkategorie Geschlecht vor dem Hintergrund der organisationalen und diskursiven Einbettung der KL als weibliche Führungskraft in den hegemonialen Diskurs der Geschlechterunterschiede, in die Repertoires der „männlich-maskulinen Führung“, der „unangemessen emotionalen Frauen“, der „female communality“ etc. wahrzunehmen, kritisch zu hinterfragen und thematisch relevant zu setzen.

Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass, neben der „eigenen normativen Verwurzelung hinsichtlich Zweigeschlechtlichkeit etc.“ (Tuider 2014, S. 138), die man als Forscher*in zu jedem Zeitpunkt des Analyseprozesses vor Augen haben sollte, die hier im Zentrum der Analysen stehenden Personen eingebettet sind in gesellschaftlich omnipräsente Genderideologien und den hegemonialen Diskurs der Geschlechterunterschiede. Die mehr oder weniger hervorgehobene Relevanz solcher Kategorien zeigt sich oft nur den Forschenden, die systematische Vergleiche anstellen (Kotthoff und Nübling 2018, S. 33). Während die kritische Analyse ihres Coaching-Handelns mit dem Ziel der Sensibilisierung und Entwicklung von Genderkompetenz angemessen und notwendig erscheint, möchten wir im Sinne der Wahrung der Integrität von Coach und Klientin explizit Abstand von persönlicher Kritik an ihrer Person bzw. Professionalität nehmen.