Organisationale Ambidextrie bezeichnet die Fähigkeit von Unternehmen, Leistung sowohl stabil und effizient als auch flexibel und kreativ zu erbringen. Daraus resultieren gegensätzliche Anforderungen an das Management, deren erfolgreiche Beantwortung sich jedoch in einen strategischen Wettbewerbsvorteil wandeln lässt. Voraussetzung ist, dass die Organisation über Kernkompetenzen verfügt, die sie nicht nur für die Exploitation, sondern auch für die Exploration einsetzen kann. In diesem Artikel postulieren wir, dass IT-Know-how im Zeitalter der Digitalisierung eine solche Kernkompetenz darstellt. Die Orchestrierung der Zuständigkeiten des Chief Information Officer (CIO) für IT-Stabilität und -Kosteneffizienz (Exploitation) und des Chief Digital Officer (CDO) für digitale Kreativität und Flexibilität (Exploration) liefert den Schlüssel zum Gelingen. In diesem Artikel stellen wir Gestaltungskriterien für den Erfolg und Handlungsempfehlungen vor.

Der Begriff Ambidextrie ist aus der Medizin entlehnt und bezeichnet Beidhändigkeit. Gemeint ist die Fähigkeit, mit der rechten und linken Hand gleich gut Dinge zu verrichten, beispielsweise zu schreiben. Verallgemeinert kann man sich auch das Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften vorstellen. Die eine Hälfte ist für Kreativität zuständig und die andere für analytisches, erprobtes und systematisches Vorgehen. Bei jedem Menschen ist das Zusammenspiel der Hälften anders gestaltet, Fähigkeiten sind unterschiedlich gewichtet. Oftmals ist eine einseitige Ausprägung und der damit einhergehende Erfolg für das stärkere Aktivieren der anderen Hälfte hinderlich. Eine ausgewogene Beidhändigkeit, so sehr sie Menschen wünschenswert erscheint, ist schwer zu erreichen.

Die Übertragung dieser Fähigkeit der ausgewogenen Beidhändigkeit auf Unternehmen wird konsequenterweise als organisationale Ambidextrie (organizational ambidexterity) bezeichnet. Ihre wesentlichen Protagonisten, Charles O’Reilly und Michael Tushman, haben damit zusammenhängende Phänomene analysiert und zu strategischen Handlungsempfehlungen zusammengefasst [1]. Sie thematisieren insbesondere die gefährliche Situation des sogenannten Erfolgssyndroms: Firmen sind meist gerade durch Optimierungs- und Effizienzsteigerungen sehr erfolgreich. Und gerade deshalb ist ihre Fähigkeit zur Adaption an Veränderungen nicht ausgeprägt, da hierfür eine andere Kultur notwendig ist. Bei Veränderungen und mit ihnen einhergehenden Problemen können sie oft nicht mehr angemessen schnell reagieren.

Somit ist in Zeiten von wenig Veränderung eine Beidhändigkeit oftmals gar nicht gewünscht. Eine einseitige Spezialisierung im Bestandsgeschäft (Exploitationsbereich) ist die solide Grundlage für den aktuellen Erfolg. Entsprechend ist die Unternehmenskultur dann ausgeprägt. In Zeiten von Wandel und Transformation ist jedoch die Fähigkeit, beide Seiten angemessen zu aktivieren, entscheidend.

In unserem Beitrag definieren und detaillieren wir Ambidextrie neu für die Digitale Transformation im Zusammenhang mit IT-Kompetenzen mit einer aktiven Rolle des Chief Innovation Officer (CIO) für Exploit und einem bewussten Zusammenspiel mit dem Chief Digital Officer (CDO) für Explore als eine Kernkomponente unseres übergeordneten Ansatzes zur New School of IT.

New School of IT

Angesichts des zunehmenden Tempos der Digitalen Transformation und schnell getakteter IT-Technologieschübe fassten wir in [2] Empfehlungen für eine neue Denkschule für IT-Organisationen unter dem Begriff New School of IT zusammen. Richtig eingesetzt ist IT eine Kernkompetenz für die Digitale Transformation, mit der den anstehenden Herausforderungen besser begegnet werden kann und neue Potenziale besser gehoben werden können.

Die New School of IT beruht auf einer engen Verknüpfung von Technologien und Branchenwissen: Ohne Kenntnis der technischen Möglichkeiten werden Innovationen übersehen. Umgekehrt bleiben ohne Kenntnis der fachlichen Zusammenhänge auch bekannte Potenziale neuer Technologien ungenutzt. Die Ambidextrous Attitude ermöglicht also Innovation und Resilienz gleichzeitig und ist somit die kulturelle Grundlage für die Digitale Transformation.

Neben der hier vorgestellten vorgestellten CDO-CIO Ambidextrie Ambidextrous Attitude sind und Cloud Native Thinking Data Mindedness Teile derjenigen Kernelemente, die wir als kulturell prägend für das Gelingen der Digitalen Transformation und als unentbehrlich für die zukunftssichere Ausrichtung von IT-Kompetenzen ansehen. Dies sind stabile Kernthemen, die langfristig zentral auf dem Radar jeder digitalen Agenda im Rahmen der New School of IT bleiben werden [2].

Dreiklang im Digitalisierungsorchester: CEO, CDO und CIO

Für das beidhändige Management der Digitalen Tranformation gehen wir insbesondere auf die Rollen Chief Executive Officer (CEO), CDO und CIO ein. Wir verwenden diese Rollen in einer plakativen Form, das heißt in dem Bewusstsein, dass es in Unternehmen diesen Satz an Rollen und Berichtswegen in Reinkultur selten gibt. Jedoch lässt sich dieses Konstrukt der plakativen Rollen leicht auf die aktuellen Rollen in jedem Unternehmen, das sich mit der Digitalen Transformation beschäftigt, sinngemäß übertragen. In einem großen Konzern können diese Rollen auch mehrfach vorkommen. Dann entspricht der CEO einem Bereichsvorstand und CDO beziehungsweise CIO bekleiden die entsprechenden Rollen innerhalb dieses Vorstandsbereiches.

In diesem Dreiklang ist die Position des CDO die jüngste und unterliegt noch einer stärkeren Variation in der Interpretation [5]. Er ist der Beauftragte für die Digitale Transformation. Der CDO arbeitet produkt- und kundenorientiert, kreativ und innovativ. Gegenstand der digitalen Innovationen sind neuartige Geschäftsmodelle, Produkte und Dienste oder das Umgestalten interner Prozesse. Der CDO entdeckt und realisiert also neue Geschäftsmöglichkeiten über digitale Konzepte und das Einbetten in bestehende Strukturen. Dies entspricht dem Kulturprofil von „Explore“.

Der CIO repräsentiert als IT-Leiter eine schon etablierte Rolle. Unabhängig davon, ob er selbst als C‑Level in der Geschäftsleitung sitzt. Oftmals berichtet er nicht direkt an den CEO, sondern an ein anderes Boardmitglied, etwa den CFO oder einen COO. Dies liegt an den bisherigen Erwartungen an ihn: Er soll im Wesentlichen kosteneffizient und stabil arbeiten, ist jedoch nicht in geschäftsstrategische Aufgaben involviert. Dies entspricht dem Kulturprofil „Exploit“. Der CIO verfügt aber über wichtige IT-Kompetenzen, deren Hebelkraft entscheidend auch für die Exploration ist. Er hat übergreifende Verantwortung und Kenntnisse über dispositive Systeme, beispielsweise Data Lakes, als entscheidende Informationsquellen für neues Geschäft. Auch das Bündeln kritischer Kompetenzen aus den Bereichen Cloud und künstliche Intelligenz lässt das Vernachlässigen seiner Rolle im Zeitalter der Digitalisierung nicht weiter zu. Somit ist die Beförderung des CIO vom Keller ins Board mit einer Anpassung seines Leistungskatalogs in Richtung Initiierung neuer Geschäftsmodelle unerlässlich. Bisher war der CIO für die Digitalisierung unterstützend tätig, jedoch weitgehend eingeschränkt auf die interne Prozessautomatisierung und -optimierung. Wichtig ist, dass er seine Kompetenzen nun aktiv für neue digitale Produkte und Dienste einbringt.

Ambidextrous Attitude bezieht sich auf einen Überlappungsbereich zwischen den Aufgaben des CDO und CIO. Es gibt auch Tätigkeiten, wo Ambidextrie weniger im Vordergrund stehen sollte, z.B. bei der Wartung eines Enterprise Resource Planning-Systems (Abb. 1).

In unserem Modell berichten CDO und CIO an den CEO. Entscheidend ist hier nun die Zuständigkeit des CEO: Er verantwortetet sowohl die kreativ-innovativen Aufgaben des CDO als auch die effizienzgetriebenen und stabilitätsorientierten Aufgaben des CIO. Die Digitale Transformation ist Chefsache und mit diesem Bewusstsein muss der CEO das Thema angehen. Es obliegt ihm, das Zusammenspiel der Pole zu orchestrieren.

Abb. 1
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Plakative Rollen CIO und CDO. Der Ambidextriebereich fokussiert sich auf die Überlappung zwischen CDO und CIO

Ambidextrie zwischen CDO und CIO

Das Prinzip der organisationalen Ambidextrie geht in seinen Anfängen schon auf die 1970er-Jahre zurück. Im Zusammenhang mit immer kürzeren Innovationszyklen erhielt das Thema weitere Bedeutung, und das in folgendem Zusammenhang:

Christensen hat den Ausdruck der disruptiven Innovation und des zugrunde liegenden Innovator’s Dilemma geprägt [3]: Disruptive Innovationen bedrohen das stabile Bestandsgeschäft. Das eigene Umsetzen von disruptiven Innovationen führt zur Kannibalisierung des Bestandsgeschäfts. Der naheliegende Reflex ist, das Bestandsgeschäft zu schützen. Dies führt jedoch schnell dazu, das auf disruptiven Innovationen beruhende Zukunftsgeschäft anderen zu überlassen. Aus diesem Dilemma folgt die Empfehlung Christensens, disruptives Neugeschäft in einer Ausgründung mit einer eigenen Kultur unabhängig vom Kerngeschäft umzusetzen.

Dieser Empfehlung folgen viele Firmen. Mittlerweile ist es schon Mode oder geradezu eine Pflicht für Firmen geworden, eine unabhängige Kreativabteilung in einem Berliner Loft oder einer High-Tech-Garage im Silicon Valley zu betreiben. Das Problem ist, den Anschluss an das Bestandsgeschäft wiederzufinden und die Anschlussfähigkeit der Resultate für die Mutterfirma zu ermöglichen. Ebenso vergeben Unternehmen Wettbewerbsvorteile, wenn sie Kompetenzen aus dem Bestandsgeschäft nicht strategisch für das Neugeschäft einsetzen (zum Beispiel [4]).

Hier kommt die organisationale Ambidextrie ins Spiel. O’Reilly und Tushman bekräftigen, dass die Trennung der Kulturen notwendig ist. Jedoch setzen sie mit der Ambidextrie einen Organisationsrahmen, der sich ebenso auf eine Brückenbildung zwischen diesen Welten konzentriert. In unserem Artikel fokussieren wir diesen Blick, wobei die Kulturpole durch CDO und CIO übernommen werden: Der CDO vertritt also die Exploreaufgaben und der CIO die Exploitaufgaben.

Wie können Unternehmen diese CDO-CIO-Ambidextrie anwenden? Auch hier wollen wir zunächst O’Reilly und Tushman folgen. Sie fordern als notwendige Voraussetzung ein klares strategisches Vorhaben (Explore), das mit der Hebelwirkung von Core Business Assets aus dem Exploitgeschäft besonders gut zur Geltung gebracht werden kann. Core Business Assets sind beispielsweise Kompetenzen, Technologie, Produktion, Marketing, Vertrieb oder Kanäle zu Kunden.

Wir machen uns diesen Ansatz also für die digitale Transformation zu eigen und postulieren: Jedes größere Vorhaben der Digitalen Transformation erfüllt die Bedingung der strategischen Bedeutung. Des Weiteren postulieren wir, dass IT-Kompetenzen im Zeitalter der Digitalen Transformation ein Core Business Asset darstellen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Wann beidhändiges Handeln für die Digitale Transformation hilft – basierend auf [1]

Wir fassen die Voraussetzungen für das Gelingen eines beidhändigen Transformationsansatzes wie folgt zusammen:

  • Ein klares strategisches Vorhaben der digitalen Innovation. Dabei müssen notwendige IT-Kernkompetenzen aus dem Exploitbereich (CIO), die einen strategischen Wettbewerbsvorteil für die Exploration (CDO) darstellen können, explizit benannt werden.

  • Topmanagement-Commitment und -Aufsicht, um das neue Vorhaben zu ernähren sowie gedeihen zu lassen und gegen negative (interne) Einflüsse abzuschirmen. Der CEO muss das Thema täglich auf dem Schirm haben.

  • Ausreichend Abstand der Explorevorhaben zum Exploitgeschäft und sorgfältige Gestaltung der Schnittstellen, um die kritischen Assets und Kompetenzen der reifen Seite bestmöglich für die Exploration einzusetzen. Dazu gehören klare Kriterien, wann die Exploration entweder aufgegeben oder in die Mutterorganisation integriert werden soll.

  • Vision, Werte und Kultur, die eine übergreifende Identität für die Geschäftseinheiten zu Exploitation und Exploration ermöglichen und helfen, dass sich alle Beteiligten als Teil eines gemeinsamen Teams verstehen können.

Somit bedeutet Ambidextrie in der New School of IT auch, dass die Digitalisierungsvorhaben nicht ausgegründet werden, sondern mit Unabhängigkeit unter Topmanagement-Aufsicht eine eigene Kultur leben dürfen, aber mit Zugriff auf bestehende IT-Kompetenzen. Entscheidend ist der regelmäßige Austausch mit dem Bestandsgeschäft.

Die Beidhändigkeit für die Digitalisierung anwenden

Die New School of IT verfeinert also das Konzept der organisationalen Ambidextrie für die Digitale Transformation. Aber ist diese Spezialform der Ambidextrie überhaupt auf alle Organisationen anwendbar? Für die Antwort lohnt sich ein Blick auf den eigenen CIO-Bereich. Zuweilen ist eine CIO-Organisation schon so weit ausgedünnt, dass der CIO eher die Funktion eines Einkäufers als eines echten Kompetenzträgers hat. In anderen Fällen ist die IT über einen Konzern und einzelne Ressorts aufgeteilt worden. So hat sie nicht mehr viel an Netzwerkeffekten zwischen den verstreuten Kompetenzträgern zu bieten.

Vor diesem Hintergrund ist das Bündeln der IT-Kompetenzen sicherlich sinnvoll. Es gibt auch eine Reihe von Gründen, die gegen eine Bündelung sprechen. Jedoch überwiegen aus unserer Sicht die Vorteile: unter anderem das Aufbauen einer kritischen Masse an Kompetenz, die dann für die Firma zu einer Speerspitze geformt werden sollte. Auch die Rekrutierung von Talenten wird erleichtert, da die Aussicht auf eine direkte Zusammenarbeit mit anderen Talenten anziehend wirkt. Man stelle sich im Gegensatz dazu eine organisatorische Fragmentierung mit Verteilung der Kompetenzträger auf einzelne Fachseiten – bis hin zum Einzelkämpfer in etwa der Datenanalyse – vor. In der Regel halten sich solche Konstrukte maximal so lange, bis die dringend benötigte Ressource sich einen anderen Arbeitgeber sucht. Einen Arbeitgeber, bei dem sie sich im Team fachlich besser weiterentwickeln kann. Wenn eine Bündelung nicht möglich ist, dann sollten Unternehmen eine strategische Partnerschaft mit einem IT-Dienstleister schließen, die den Zugriff auf diese Ressourcen und Kompetenzen jederzeit ermöglicht.

Ambidextrous Attitude

Aber wie dirigiert man nun ein solches Orchester und wie spielt man darin an den führenden Stellen? Hierfür synchronisieren wir unsere eigene Erfahrung mit Übersichten und Empfehlungen zur Digitalisierung, beispielsweise aus O’Reilly und Tushman [1], Hess [5] sowie Wildhirt und Bub [4].

Führen einer beidhändigen Organisation

Um den Schwung für Digitalisierungsvorhaben aufzubauen, muss sich das Führungsteam für einen emotional überzeugenden, übergreifenden strategischen Anspruch begeistern. Dieser Anspruch muss die zukünftige Organisation leiten. Je nach gewünschtem Einfluss liegt es entweder am CEO, das Team dafür zu gewinnen, oder das Führungsteam leistet das selbst. Beispielsweise, in dem ein gemeinsames Verständnis für die Sache aufgebaut wird.

Wenn CDO und CIO aber ihre jeweiligen Stärken ausspielen, dann führt dies an verschiedenen Stellen zu Reibungspunkten, zum Beispiel beim Ressourcenzugriff. Der CEO oder das Führungsteam muss diese Reibungspunkte explizit lokalisieren oder vielleicht sogar im Vorfeld bewusst steuern beziehungsweise antizipieren. Der CEO muss dann gegebenenfalls als Schiedsrichter Entscheidungen treffen und Ressourcen entsprechend zur Verfügung stellen beziehungsweise in Zusammenarbeit lokalisieren. Der Leiter oder die Leitung der effektiven beidhändigen Organisation nimmt sich entweder selbst der Reibungen/Spannungen zwischen CDO und CIO an oder moderiert sie im Führungskreis. Keinesfalls sollte die Leitung Konflikten aus dem Weg gehen, sondern bereits Anzeichen mit besonderer Sorgfalt identifizieren und schnell adressieren. So können die Leitung und die Organisation von den Spannungen und Reibungen lernen, die dieses Orchestrieren erzeugt. Einen Ambidextriekonflikt sollten die Verantwortlichen nicht in die Organisation zurückdelegieren oder ihn gar hineindrücken. Dieser proaktive Umgang mit Konflikten ist Chefsache und das Führungsteam muss sich Zeit reservieren, um das Treffen der Entscheidungen zu diskutieren und zu adaptieren.

Was die Organisation angeht, so schlagen O’Reilly und Tushman vor, dass die Exploreeinheit in einer vorher vereinbarten Weise auf strategisch wichtige Kernkompetenzen der Exploiteinheit zugreifen kann. Wie wir schon ausgeführt hatten, sollte die entsprechende organisatorische Implementierung in unserer Ausprägung dadurch realisiert werden, dass die CIO-Organisation kritische IT-Kompetenzen auch für die Digitale Transformation bündelt. Insbesondere für neue, anspruchsvolle Themen wie Cloud, Data Analytics und Engineering oder künstliche Intelligenz (Abb. 3). Beim Einsatz von gemischten Teams spricht man von kontextueller Ambidextrie, da sich die Einzelpersonen je nach Kontext sowohl in der Explore- als auch in der Exploitkultur zu Hause fühlen sollen. Dementsprechend sollte bei der Rekrutierung und auch in laufenden Trainings darauf geachtet werden, dass sowohl agile und explorative Konzepte als auch strukturiertes und stabilitätsorientiertes Denken geläufig sind. Dies ist aber gerade bei modernen IT-Kompetenzen auf der Ebene von Einzelpersonen deutlich einfacher umzusetzen als die Beidhändigkeit ganzer Organisationen. (Der Begriff Agilität in diesem Kontext kommt ursprünglich aus der Softwareentwicklung.).

Abb. 3
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Beidhändiges Organisationsdesign für die Digitalisierung. Das Organigramm stellt eine strukturelle Ambidextrie, die gestrichelte Linie mit gemeinsamem Zugriff auf einen operativen Ressourcenpool stellt eine kontextuelle Ambidextrie dar

Auf die Einstellung kommt es an

Sicherlich ist das passende Organisationsdesign stark abhängig von Faktoren wie den handelnden Personen und deren Persönlichkeit, der Kultur, dem Geschäftsmodell und dem eigenen Ziel der Digitalen Transformation. Das Bestimmen des besten Arbeitspunktes für eine bestimmte Organisation in Aufbau und Ablauf ist ein eigenes Projekt. Heß [5] sowie Wildhirt und Bub [4] bringen die Schlüsselfaktoren für das Gelingen des Zusammenspiels von CDO und CIO auf einen Nenner, der sich mit unserer Erfahrung deckt:

Beide müssen ein einheitliches Verständnis von den Zielen der Digitalen Transformation haben und ihre Zusammenarbeit diesbezüglich abstimmen. Es bedarf klar definierter Schnittstellen in dieser Zusammenarbeit, wobei Methodendurchlässigkeit gewünscht ist. Die Grenzen zwischen den beiden Zuständigkeitsbereichen sollten dabei aber nicht verfließen. Jeder sollte sich auf seine Wissensgebiete komplementär spezialisieren. Dies reduziert die kognitive Last und fokussiert die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf ihre Spezialisierung. Diese definierten Schnittstellen sollen aber gleichzeitig eine enge und häufige Abstimmung ermöglichen, denn gemischte Projektteams bilden die Regel für die strategischen Vorhaben. So müssen CDO und CIO Vertrauen und Respekt in Bezug auf die jeweils andere Person und deren Kompetenzen aufbringen. Im Konfliktfall löst eine übergeordnete Instanz Widersprüche auf– bei unseren plakativen Rollen ist dies der CEO. Dies begünstigt eine weitere wichtige Rahmenbedingung, nämlich die der hohen Handlungs- und Entscheidungsautonomie der Schlüsselspieler. Ist das strategische Digitalisierungsvorhaben abgeschlossen, etwa durch das Realisieren einer digitalen Produktinnovation, folgt das sukzessive Anbinden an das Kerngeschäft.

Wir sind davon überzeugt, dass es eine optimale Dimensionierung pro Firma und Aufgabe gibt, geben daher aber auch keine pauschale Empfehlung zur genauen Ausgestaltung ohne ein situatives Assessment ab. Jedoch ist es unabhängig von diesen Kriterien unabdingbar, dass die Einstellung der beiden Pole CDO und CIO beidhändig geprägt ist, das heißt, dass der Blick und das Verständnis für die andere Seite und ein dadurch geprägtes Handeln gegeben sind. Ein CIO, der Vorschläge für die Geschäftsverbesserung oder gar neues Geschäft auf Basis seines Wissens und der Kompetenzen seiner Einheit gibt. Ein CDO, der sieht, dass er notwendige Kompetenzen in den Bereichen Cloud, Daten und künstliche Intelligenz kaum selbst in kritischer Masse vorhalten kann, und diese Ressourcen fallweise anfordert. Ein CEO, der die Orchestrierung der Pole selbst übernimmt und fallweise für die eine oder andere Seite entscheidet, anstatt diese Entscheidungen in die Organisation zu delegieren. Das ist Ambidextrous Attitude.

Eine gut formulierte Strategie und ein gutes Organisationsdesign können durch eine kulturelle Fehlanpassung zunichtegemacht werden. Umgekehrt verzeiht eine gute Kultur auch suboptimale Strategien und Organisationsformen. Das von Peter Drucker formulierte Bonmot „Culture eats strategy for breakfast“ formuliert auch hier treffend. Dieser Artikel fokussiert auf die Leitbilder und Kriterien für Ambidextrie in den CDO- und CIO-Organisationen und nicht auf die operative Durchführung des Kulturwechsels, zu dem es bereits ausreichend Fachliteratur gibt.

Auch für Ambidextrous Attitude liegt die Trennungslinie für unterschiedliche Managementgrundsätze zwischen den Subkulturen Explore und Exploit – und nicht zwischen Business und IT-/Technikkompetenz. Gerade die aktuellen Themen Cloud, Daten und künstliche Intelligenz helfen dem CIO die Brücke von Exploit hin zu Explore zu schlagen. Stabilität und Sicherheit sind in diesem Bereich zum großen Teil zum Cloud Provider outgesourct und die Prozess- und Toolunterstützung für Agilität ist durch die Anwendung von DevOps-Prozessen bereits sehr hoch. Wir sehen beim CDO eher ein Portfolio an strategischen Projekten und Vorhaben, weniger ein stehendes IT-Kompetenzangebot.

Es stellt sich nun angesichts dieser Tendenzen womöglich die Frage, ob CDO und CIO nicht besser gleich von ein und derselben Person wahrgenommen werden sollten. Auch diese Frage kann nur situativ beantwortet werden, denn es kommt auf die persönliche Eignung der Person an. Es bleibt aus unserer Sicht aber eher eine Ausnahme, denn hier sollten keine Kompromisse gemacht werden. Gleichzeitig kreativer Geschäftsentwickler und auch stabiler und sicherer IT-Spezialist zu sein, ist zu gegensätzlich in den Anforderungen und man kommt leicht in eine kognitive Überlastsituation, wobei mindestens eine der beiden Ausprägungen stark leidet.

Was sind denn nun die größten Hindernisse bei der Umsetzung?

Erfahrungsgemäß ist das Haupthindernis, dass die Exploitorganisation die Exploreorganisation „plattmacht“. Dies geschieht oftmals sogar ohne bösen Willen, aber einfach über die etablierten Reportingwege und Erfolgsargumente über eingespielte KPI-Beurteilung etc. In diesem Fall könnte der CIO den CDO leicht auflaufen lassen, wenn er Personal- oder Finanzierungsengpässe aus anderen seiner Aufgaben vorführt. Hier ist also die übergeordnete Instanz – der CEO – gefragt, der beispielsweise Ressourcen für ein CDO-Projekt freigibt, obwohl gerade ein anderes wichtiges Vorhaben aus der CIO-Organisation gestoppt wurde.

Ein anderes häufiges Hindernis ist von umgekehrter Natur: Die Exploreorganisation macht sich selbstständig und verliert die Anschlussfähigkeit an das Bestandsgeschäft. Womöglich glaubt der CDO, allein schneller voranzukommen, und glaubt aus kurzfristigem Denken heraus nicht an die Lieferfähigkeit der CIO-Organisation für seine Zwecke. Auch hier muss der CEO achtsam sein.

Diese wesentlichen Hindernisse müssen also durch die Orchestrierung des CEO und des Führungskreises abgefangen werden. Das entsprechende Bewusstsein ist zu Beginn notwendig und bestimmt die Ambidextrous Attitude.

Das Leben von Ambidextrous Attitude

Somit muss sich jede Organisation zunächst die ehrliche Frage stellen, ob eine strategische Erneuerung überhaupt gewünscht ist. Aus unserer Sicht muss die Antwort für die Digitalisierung klar „Ja“ lauten. Auf die Frage des „Warum“ muss aber jede Organisation eine eigene Antwort finden. Eine nachgelagerte Eingangsfrage für Ambidextrie ist, ob die Firma überhaupt über IT-Kompetenzen verfügt, oder ob der CIO eher die Rolle eines Einkäufers und somit eher den Charakter einer Stabsstelle hat. In diesem Fall müsste die Kompetenz selbst neu aufgebaut werden, was im Nachhinein sicherlich schwierig ist. Eine strategische Partnerschaft mit einem Kompetenzträger, etwa mit einem IT-Dienstleister, kann aber einen gangbaren Weg darstellen.

Wenn diese Eingangsfragen bereits geklärt sind, müssen sich Unternehmen fragen, ob es eine digitale Geschäftsmöglichkeit gibt, die die Strategie ihrer Organisation verändern könnte. Liegt diese Gelegenheit (Chance oder Bedrohung) außerhalb der Kernmärkte? Ist diese Gelegenheit eine Bedrohung für die Kernkompetenzen der Firma und die damit verbundene Identität? Die bestätigende Beantwortung ist bereits ein klarer Indikator für das Aufsetzen von Exploreaktivitäten im Rahmen einer organisationalen Ambidextrie.

Nicht zuletzt gelten die allgemeinen Empfehlungen von O’Reilly und Tushman [1] zur strategischen Erneuerung auch für das Gestalten der Digitalisierung mit Ambidextrous Attitude:

Verantwortliche müssen einen Zielanspruch für die Digitale Transformation definieren, der emotional verbindet. Dieser sollte bei den Mitarbeitern verfangen und von ihnen aktiv weitergetragen werden. Die Strategie sollte als Dialog gestaltet werden und nicht als ritualisierter, dokumentenbasierter Planungsprozess.

Bei der Umsetzung sollten Unternehmen sich auch auf kontrollierte Experimente einlassen, die lehrreich für die Zukunft sind. Bereitschaft zum Pivoting, das heißt zur laufenden Anpassung anhand neuer (Markt‑)Erkenntnisse, sollte jederzeit gegeben sein.

Das Topmanagement muss auch den erweiterten Führungskreis in das Erneuerungsprojekt einbeziehen. Das Vorgehen muss so gestaltet werden, dass Druck von unten (bottom-up) durch innovative IT-Experten mindestens so stark ist wie der Druck durch die Leiter von oben (top-down).

Ebenso sollte man Umsetzungsdisziplin vorsehen und Aufwand für den Wandel reservieren – man darf sich nicht von der Idee verführen lassen, dass sich die Erneuerung über Nacht erreichen lässt.

Fazit und nächste Schritte

Die wesentlichen Rollen sind CDO für Explore und CIO für Exploit. Ambidextrie stärkt die Position des CDO dahingehend, dass er Zugang zu gebündelten IT-Ressourcen (z. B. über die CIO-Organisation mit Cloud, AI, Data-Profis) erhält, die er nur schwer oder unmöglich selbst vorhalten könnte. Er kann sich dadurch auf seine Rolle als visionärer und kreativer Business-Leader konzentrieren und kognitive Überlast durch die Notwendigkeit wirklich tiefgehenden IT-Know-hows vermeiden. Der CIO positioniert sich durch seine Rolle als proaktiver Gestalter und Enabler, wobei er sich aber auf seine angestammten IT-Kernkompetenzen konzentrieren kann. Er kann mehr Ressourcen aufbauen, denen er ein technisch orientiertes und motivierendes Arbeitsumfeld liefert, aber einen deutlich größeren Wirkungshebel bietet. Er positioniert seinen Bereich somit weg vom reinen Kostenfaktor hin zu einer geschäftsmitgestaltenden Einheit, ohne zu tief in die Geschäftsverantwortung eintreten zu müssen.

Digitalisierung ist Chefsache und der CEO darf das Thema nur teilweise delegieren. Insbesondere der Ausgleich des kulturellen Unterschieds zwischen CDO und CIO und das Auflösen oder das Vorhersehen von Konflikten muss auf der Tagesordnung des CEO stehen. Entlohnt wird dies durch eine zukunftsfähige und proaktive Gestaltung digitaler Innovation. Für die konkrete Umsetzung der Empfehlungen sehen wir ein detailliertes Reifegradmodell vor. Hier sollen durch ein Assessment der Status in einer Organisation erfasst, ein Zielbild definiert und entsprechende Umsetzungsprojekte identifiziert werden. Ziel der Umsetzung von Ambidextrous Attitude ist dabei nicht die maximale Erfüllung aller Kriterien, sondern die optimale Adressierung der Bedarfe für die Digitale Transformation in Abhängigkeit von den handelnden Personen, der bestehenden Organisationskultur und der Branche.

Zusammenfassung

Für die Digitalisierung ist IT-Know-how unentbehrlich – ohne technisches Wissen werden digitale Innovationen übersehen oder können nicht gestaltet werden. Je nach Verwendung für Kreativität (Explore) oder für Stabilität und Effizienzsteigerung (Exploit) muss dieses Wissen jedoch in unterschiedlichen Kulturen zur Wirkung gebracht werden. Für die Schaffung solch unterschiedlicher Kulturen in einer Firma – inklusive des wichtigen Brückenschlags dazwischen – wurde das Paradigma der organisationalen Ambidextrie eingeführt. Im vorliegenden Artikel stellen wir vor, wie Empfehlungen auf das spezielle Zusammenspiel von Chief Digital Officer für Explore und Chief Information Officer für Exploit im Rahmen der Digitalisierung umgesetzt werden. Wir zeigen die Herausforderungen ans Management und stellen Lösungsansätze vor.

Handlungsempfehlungen

  • Digitalisierungsthemen nicht outsourcen. Kulturelle und organisatorische Trennung ermöglichen. Aber mit einem übergreifenden Management.

  • Eigenen, flexiblen Zugriff auf IT-Kompetenzen sichern: möglichst eigenen Aufbau systematisch weiterentwickeln oder über Partnerschaften.

  • Das Spannungsfeld unterschiedlicher Kulturen zwischen CDO und CIO bewusst steuern, nicht sich selber auspendeln lassen.

Kernthesen

  • Die geschäftsnahe IT für Digitalisierung (z. B. CDO) kulturell als Explore führen. Die stabilitätsorientierte IT (z. B. CIO) kulturell als Exploit führen.

  • Zusammenspiel von digitaler Transformation und IT-Organisation durch die übergeordnete Instanz (z. B. CEO) nach dem Paradigma der organisationalen Ambidextrie führen.

  • Die genaue Implementierung ist branchen-, unternehmenskultur- und personenabhängig. Die vorgestellten Handlungsanweisungen sind notwendig, um den Einstellpunkt zu finden.