Hintergrund und Fragestellung

Sexuell übertragbare Infektionen (STI) sind häufige Erkrankungen, verlaufen in bis zu 90 % der Fälle asymptomatisch [13] und können bei Frauen mit schwerwiegenden Komplikationen einhergehen [21].

Während in vielen Ländern Meldesysteme für STI bestehen, gibt es in Deutschland für die Inzidenz vieler STI wenig belastbare Zahlen. Nur HIV, Syphilis, Hepatitis B und antibiotikaresistente N.-gonorrhoea-Stämme sind bundesweit meldepflichtig.

Die häufigste bakterielle STI in Europa ist die Chlamydieninfektion. Laut European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) lag die Inzidenz 2019 in 23 europäischen Ländern bei 157/100.000 Einwohner:innen, Männer und Frauen sind ähnlich häufig betroffen [17]. In Screeningangeboten für Frauen unter 25 werden in Deutschland 5 % der Frauen positiv getestet [2].

Die Inzidenz von Gonorrhö lag 2019 in 25 europäischen Ländern bei 31,6/100.000 und hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt [19]. In Sachsen ist Gonorrhö meldepflichtig, hier lag die Inzidenz 2019 bei 19,9/100.000 Einwohner:innen [38]. Die Infektionsraten nehmen auch unter heterosexuellen Frauen deutlich zu [19]. Insbesondere die verschärfte Resistenzlage gilt als besorgniserregend [2].

Die Zahl der Syphilisneuinfektionen 2019 lag in Europa bei 7/100.000 [18] und erreichte in Deutschland mit 9,5/100.000 Einwohner:innen einen Höchststand, in Berlin lag die Inzidenz bei 40/100.000 Einwohner:innen. Nur 6 % der Syphilisinfektionen betreffen Frauen (1,1/100.000), diese werden aber später diagnostiziert als bei Männern [36].

Unter den viralen STI sind Genitalherpes (ausgelöst durch Herpes simplex Virus, HSV-1 und -2) und humane Papillomaviren (HPV) weltweit sehr prävalent [47]. Bei persistierenden Infektionen mit Hochrisikotypen verursachen HPV fast alle Zervixkarzinome, die zweithäufigste Krebserkrankung bei Frauen weltweit [40]. Die Inzidenz der Zervixkarzinome in Deutschland lag 2019 bei 9,2/100.000 Einwohner:innen, es starben 2,5/100.000 an der Erkrankung [39].

In einer Querschnittstudie 10 Jahre nach Einführung der HPV-Impfung in Deutschland hatten 55 % der Frauen zwischen 20 und 25 Jahren eine vollständige Impfserie erhalten, die Prävalenz der Hochrisikotypen HPV 16/18 ist auch in ungeimpften Frauen gesunken und lag in der gesamten Kohorte noch bei 7,7 % [29].

Die Zahl der HIV-Infektionen lag 2019 in Deutschland bei 3,7/100.000, die höchsten Inzidenzen verzeichneten die Stadtstaaten (Hamburg 21,1/100.000, Berlin 8,0/100.000; [37]). Auch HIV-Infektionen werden bei Frauen verzögert diagnostiziert [42].

Zusätzlich können aufsteigende Infektionen über den Uterus oder Eileiter, etwa durch Chlamydien oder Gonokokken, bei Frauen zu Entzündungen in Becken oder Bauchraum, zu ektopen Schwangerschaften und Unfruchtbarkeit führen [21]. Aufgrund der überwiegend asymptomatischen Verläufe wird in der S2k-Leitlinie zu Infektionen mit Chlamydia trachomatis betont, dass eine symptomorientierte Diagnostik durch eine Diagnostik nach Risikokontakten ersetzt werden sollte [12].

Die routinemäßige Erhebung einer Sexualanamnese im hausärztlichen Kontext wird in der Leitlinie zu Beratung, Diagnostik und Therapie von STI, an der neben der Deutschen STI-Gesellschaft (DSTIG) die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) beteiligt ist, empfohlen [13]. In einer aktuellen Repräsentativerhebung haben jedoch 92 % der Frauen und 96 % der Männer noch nie eine Sexualanamnese erhalten [3]. Das medizinische Personal hat Sorge, mit einem Gespräch über die sexuelle Gesundheit ein „Pulverfass“ zu öffnen oder Patient:innen zu verletzen [16]. Zu wenig Zeit, Ausbildung, Wissen und Ressourcen sowie persönliches Unwohlsein stellen ebenfalls Hürden dar [16]. Obwohl „sexualmedizinische Beratungsanlässe“ in der Musterweiterbildungsordnung für Allgemeinmedizin verankert sind, fühlen sich in einer Befragung deutscher Hausärzt:innen 43 % der Befragten für STI-Beratung nicht ausreichend ausgebildet [45].

In den Niederlanden und in England sind Allgemeinärzt:innen für die sexuelle Gesundheitsversorgung zuständig, in Deutschland und Polen dagegen hauptsächlich niedergelassene Gynäkolog:innen [23].

Mit der Ausbreitung von HIV sind zusätzliche spezialisierte Versorgungsstrukturen entstanden, unter anderem die HIV-Schwerpunktpraxen [23]. Heute beteiligen sich an der STI-Versorgung neben den medizinischen Fachrichtungen Gynäkologie, Urologie, Infektiologie, Dermatologie und Allgemeinmedizin auch Beratungsstellen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) sowie die Gesundheitsämter. Zuständigkeiten werden in der Leitlinie der DSTIG nicht benannt [13], die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzGA) verweist Patient:innen im Zweifel an ihre Hausärzt:innen [6].

Die Inanspruchnahme hausärztlicher Versorgung durch Frauen ist über alle Altersgruppen hinweg hoch [27]. Somit besteht ein großes Potenzial, niedrigschwellige und gruppenübergreifende STI-Beratung, -Diagnostik und -Therapie in der Primärversorgung zu leisten.

Ziel dieser Arbeit war es daher, Ausmaß und Strategien hausärztlicher STI-Versorgung von Frauen zu erfassen, um Best Practices und Barrieren in der STI-Versorgung zu identifizieren.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Wir nutzten teilstandardisierte Leitfadeninterviews und werteten diese mittels qualitativer Inhaltsanalyse und Komponenten der Grounded Theory aus. Andere Ergebnisse aus diesen Interviews wurden im Artikel von Meurer et al. 2023 publiziert, weiterführende Informationen zur Methodik können hier nachgelesen werden [31]. Die Interviews wurden von PM, einer medizinischen Doktorandin, als Einzelstudie geführt und ausgewertet.

Sampling und Zugang zum Feld

Wir entwickelten die Stichprobe iterativ und nach theoretischem Sampling. Zuerst wurden Hausärzt:innen kontaktiert, die an einer Einführungsveranstaltung zu sexueller Gesundheit teilgenommen hatten. Es wurden dann Praxen in verschiedenen, zunächst zufällig gewählten Vierteln Berlins über Google Maps ausgewählt und kontaktiert und weitere Praxen über ein Schneeballsystem eingeschlossen. Der Einschluss der Praxen erfolgte nach folgenden Stratifizierungsmerkmalen: Schwerpunktbezeichnung, Bezirk, Geschlecht und Altersgruppe. Nach Analyse der ersten Interviews ergänzten wir das Sample nach theoretischen Kriterien, unter anderem um Ärzt:innen in Randbezirken und Ärzt:innen in Weiterbildung, um mögliche Generationenunterschiede abzubilden.

PM kontaktierte 75 Praxen telefonisch oder per E‑Mail, davon lehnten 10 Praxen eine Teilnahme ab – meist aus Zeitgründen. Eine Schwerpunktpraxis lehnte ab, weil sie keine Frauen versorgt. Weitere 46 Praxen reagierten nicht auf Anfragen.

Nach 19 Interviews wurde eine inhaltliche Sättigung erreicht. Von den 19 teilnehmenden Hausärzt:innen arbeiteten 6 in Praxen mit infektiologischem Schwerpunkt (HÄiS, codiert als S01 bis S06), 13 in Praxen ohne infektiologischen Schwerpunkt (HÄ, codiert als A01 bis A13) befanden sich 4 noch in der Weiterbildung. Von den Teilnehmenden identifizierten sich 9 als Cis-Frauen und 10 als Cis-Männer, die Teilnehmenden waren 32–63 Jahre alt.

Ethikvotum und Datenschutz

Die Ethikkommission der Charité – Universitätsmedizin Berlin hat dem Vorhaben am 18.09.2020 zugestimmt. Alle Interviews und Transkripte wurden pseudonymisiert, alle Teilnehmenden gaben ihr schriftliches Einverständnis. Wir verarbeiteten die Daten auf einem passwortgeschützten institutionellen Server.

Datenerhebung

Die Interviewerhebung und -auswertung fanden parallel statt; wir bezogen erste Ergebnisse in die weitere Planung der Erhebung ein; der Leitfaden (Anhang 1) wurde ergänzt und angepasst. Für praxisnahe Interviews setzten wir 3 Fallbeispiele (Anhang 2) ein. Die einmaligen Interviews fanden zwischen Oktober 2020 und September 2021 in den Praxisräumen der Ärzt:innen statt, wurden als Tonspur aufgezeichnet und nach Kuckartz wörtlich transkribiert [28]. Zitate wurden für diesen Artikel geglättet und Füllwörter gekürzt.

Datenverarbeitung und -analyse

Die Interviews wurden mithilfe der Software MAX QDA® (VERBI Software GmbH, Berlin, Deutschland) transkribiert, kodiert und in Anlehnung an Kuckartz [28] analysiert. Vier Oberkategorien wurden anhand des Materials formuliert: strukturelle Handlungsbedingungen, Einstellungen, Wissen und Versorgungsstrategien. Wir analysierten Ergebnisse zwischen Kategorien auf Interviewebene und thematisch interviewübergreifend. Der Codebaum findet sich in Anhang 3.

Die Daten wurden wiederholt in Forschungskolloquien vorgestellt, interpretiert und reflektiert.

Ergebnisse

In diesem Artikel werden konkrete Herangehensweisen von HÄ bei Sexualanamnese, Diagnostik und Therapie von STI dargestellt, um Best Practices und Barrieren in der STI-Versorgung in Deutschland zu identifizieren.

Ergebnisse aus den Kategorien strukturelle Bedingungen, Wissen, Einstellungen und eine Typologie der hausärztlichen STI-Versorgung sind nicht Inhalt dieses Artikels und können im englischsprachigen Artikel nachgelesen werden [31]. Einzelne Ergebnisse, die dort zur Einordnung erwähnt wurden, werden hier für ein deutsches Publikum ausgeführt. Bereits publizierte Ergebnisse werden zur Kennzeichnung mit Referenz versehen.

STI-Anlässe im Praxisalltag

STI-Anlässe seien laut mehreren HÄ bei Frauen in der HÄ-Praxis selten, weil diese in der Gynäkologie versorgt würden [31]. HÄiS geben hingegen an, Frauen nach mangelnder Versorgung in der Gynäkologie zu versorgen [31].

A03:

„[…] Patientinnen wenden sich nicht so häufig an uns mit dieser Fragestellung. […] Ich gehe davon aus, dass da der Gynäkologe oder die Gynäkologin primärer Ansprechpartner sind […].“

(HÄ 03, männlich, 63 Jahre)

STI-Anlässe bei Männern seien häufiger als bei Frauen, manche HÄ geben an, dass männliche Patienten häufiger ungeschützte Sexualkontakte hätten. STI-Beratungsanlässe kamen bei manchen HÄ wöchentlich vor, bei anderen nie. Einen Zusammenhang mit dem Ort der Praxis konnten wir nicht erkennen.

A07:

„Extrem selten. Ich kann mich an 2 oder 3 Patienten erinnern, wo es um sexuell übertragbare Erkrankungen ging.“

(HÄ 07, weiblich, 54 Jahre)

Anamnese und Risikoeinschätzung

Einige HÄ in unserer Studie geben an, nie eine Sexualanamnese zu erheben, andere HÄ kommen bei konkretem Verdacht oder Initiative der Patient:innen darauf zu sprechen.

A08:

„Nein, wenn Leute mich darauf ansprechen, leite ich das so ein. Aber ich frage nicht, haben Sie wechselnde Geschlechtspartner, das ist keine Frage, die ich stelle.“

(HÄ 08, männlich, 57 Jahre)

Insbesondere HÄiS und einzelne HÄ geben an, routinemäßig Sexualität, Beziehungsstatus und sexuelle Aktivität zu erfragen.

Wie ein Risikokontakt zu definieren sei, bleibt oft vage:

A10:

„[…] Klar, kann ich sagen, HIV, mehr als 10 Partner in einem halben Jahr, die verschieden sind und ungeschützt, habe ich ein Risiko. Andererseits kann ich sagen, für eine Frau ist jeder ungeschützte Sex ein Risiko, sich Chlamydien einzufangen und dann eine Problematik zu haben.“

(HÄ 10, weiblich, 45 Jahre)

Während einige HÄ STI-Diagnostik bei Frauen ohne Symptome als nicht notwendig einschätzen; geben HäiS an, asymptomatische Patient:innen zu testen, sobald diese den Wunsch nach Testung äußern.

S01:

„[…] Wenn Leute kommen und sagen ‚ich brauche einen HIV-Test‘ oder ‚ich würde gerne einen Abstrich haben‘, dann muss ich nicht lange fragen, was die im letzten Vierteljahr gemacht haben, die werden ihre Gründe haben […].“

(HÄiS 01, männlich, 54 Jahre)

Diagnostik und Therapie

Zentrale Ergebnisse zur Diagnostik und Therapie sind in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Diagnostik und Therapie – zentrale Ergebnisse mit illustrierenden Zitaten

Abrechnungsstrategien

Nur einzelne HÄ, aber alle HÄiS in unserer Studie rechnen STI-Diagnostik über die Krankenkasse ab. Wenige HÄ rechnen bei erheblichem Verdacht auf STI über die Krankenkasse ab, z. T. werden STI-kompatible Symptome als Begründung für die Untersuchung ergänzt. Einige HÄ geben an, STI-Testung als IGeL abzurechnen und dies legitim zu finden. Laborausnahmeziffern für meldepflichtige Erkrankungen werden von allen befragten HÄiS, aber selten von HÄ genutzt.

Fachübergreifende Zusammenarbeit mit anderen Ärzt:innen

Frauen werden von vielen der befragten HÄ zur behandelnden Gynäkolog:in überwiesen [31]. Einzelne HÄ achten darauf, an ihnen bekannte Kolleg:innen zu überweisen, die STI versorgen [31].

A04:

„Es gibt ein paar dermatologische Praxen, von denen ich weiß, dass die das gut behandeln und wo man relativ schnell drankommt, das ist ja nichts, was man noch 4 Wochen aufschieben möchte. Da gibt es dann schon einige die ich kenne, auch bei den Infektiologen und auch bei den urologischen Praxen.“

(HÄ 04, weiblich, 50 Jahre)

Einige der befragten HÄ überweisen bei STI-Screening-Bedarf ohne Symptomatik oder bei Bedarf von Diagnostik nach Risikokontakten an gynäkologische Kolleg:innen.

I: [Fallbeispiel 2 präsentiert.]

A06:

„Also, der würde ich natürlich sagen, Sie sind bei mir nicht richtig, Sie müssen zu Ihrem Frauenarzt gehen.“

(HÄ 06, weiblich, 61 Jahre)

Manche HÄ überweisen erst an fachärztliche Kolleg:innen, wenn Patient:innen auf die Therapie nicht angesprochen haben oder wenn die Primärdiagnostik uneindeutig ist.

HÄ beschreiben eine teils erschwerte Überweisung akuter Fälle an fachärztliche Kolleg:innen, diese hätten oft keine Kapazitäten und seien schwer erreichbar.

A03:

„[…] Das hat sich über die Jahre […] entwickelt, dass viele Spezialisten keine wirkliche Akutversorgung mehr machen. […] Dass, wenn ich akute Patienten habe, das war z. B. bei einem Syphilisfall, […] da haben die gesagt, ist nicht unser Patient.“

(HÄ 03, männlich, 63 Jahre)

In dringlichen Fällen rufen manche HÄ für Termine bei Kolleg:innen an.

HÄiS führen teilweise Listen mit nichtstigmatisierenden oder trans-sensiblen Kolleg:innen, an die bei weiteren Bedarfen überwiesen wird.

Interprofessionelle Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern

HÄ kennen nicht immer das Angebot der Gesundheitsämter bezüglich STI [31].

A03:

„Nein, was soll das Gesundheitsamt. Also wir müssen bestimmte Dinge melden, wenn wir was feststellen, aber damit ist das für das Gesundheitsamt in der Regel erledigt.“

(HÄ 03, männlich, 63 Jahre)

Einige HÄ würden in bestimmten Fällen an die Beratungsstellen der Gesundheitsämter verweisen; etwa bei Wunsch nach anonymer oder kostenfreier Testung. Es ist unklar, ob das Gesundheitsamt für die Allgemeinbevölkerung oder für bestimmte Gruppen (Sexarbeitende, Unversicherte) zuständig ist, für asymptomatische Testung oder im Gegenteil nur bei bestehender Symptomatik.

A04:

„[…] Dass wir meistens, wenn es erstmal kein wirkliches Risiko gibt oder das nicht so eruierbar ist und keine Beschwerden bestehen, an das Gesundheitsamt verweisen und sagen, dass die Tests dort gemacht werden für die Allgemeinbevölkerung.“

(HÄ 04, weiblich, 50 Jahre)

Diskussion

Zusammenfassung

In dieser Studie wurden 19 HÄ und HÄiS mit qualitativen Leitfadeninterviews zu STI in der hausärztlichen Praxis befragt. Einige befragte HÄ erheben keine Sexualanamnese, für andere HÄ und alle HäiS gehören Fragen zur sexuellen Gesundheit zur Routineanamnese. Die Risikoeinschätzung bleibt vage. Urin-PCR-Untersuchungen, Vaginalabstriche und serologische Untersuchungen werden in den eingeschlossenen Hausarztpraxen ohne infektiologischen Schwerpunkt selten angewendet. Alle befragten HÄ behandeln Harnwegsinfekte, bei weiteren Bedarfen wird meist an Fachärzt:innen überwiesen. Einzelne HÄ leisten Diagnostik und Therapie von STI nur für männliche Patienten. Während HÄ in unserer Studie STI-Diagnostik oft als IGeL abrechnen, rechnen HÄiS über die Krankenkassen ab. Die Überweisung an Fachärzt:innen ist laut HÄ in Akutfällen erschwert, die Rolle des Gesundheitsamts in der STI-Versorgung ist vielen HÄ unklar.

Vergleich mit anderen Arbeiten

STI-Anlässe im Praxisalltag

Die Wahrnehmung der Häufigkeit von STI-Anlässen variiert bei den befragten Ärzt:innen und scheint in dieser Erhebung nicht mit dem Ort der Praxis zusammenzuhängen. Stattdessen haben Ärzt:innen, die nie STI-Anlässe sehen, weniger Fort- und Weiterbildungen zum Thema und zeigen eher vorurteilsbehaftete Wahrnehmungen [31]. In einer griechischen Befragung waren die Teilnahme an Fortbildungen, Einstellungen zu Sexualität sowie die Orientierung zu psychosozialer Versorgung wichtige Einflussfaktoren auf die Erhebung von Sexualanamnesen. Der relevanteste Prädiktor war die Teilnahme an Kursen zur Arzt-Patienten-Kommunikation [44].

Sexualkontakte bei Männern werden von den befragten HÄ als risikobehafteter wahrgenommen. Dagegen zeigen Untersuchungen, dass sich die Kondomnutzung in Deutschland zwischen heterosexuellen Männern und Frauen nicht unterscheidet [8]. Zwar sind Frauen von einigen STI seltener betroffen, aber bis zu 65 % der Chlamydieninfektionen, der häufigsten STI in Deutschland, betreffen Frauen [35].

Anamnese und Risikoeinschätzung

Einige HÄ in unserer Studie erheben keine Sexualanamnese. Auch in quantitativen Erhebungen geben 16 % der befragten HÄ an, nie mit weiblichen Patientinnen über Sexualität zu sprechen [7], und nur 0,5 % der Frauen und 1,2 % der Männer berichten von einer in der hausärztlichen Praxis erhobenen Sexualanamnese [3]. Viele HÄ in unserer Studie und in quantitativen Untersuchungen kommen primär bei Patient:inneninitiative auf Sexualität und STI zu sprechen [7, 26]. Auch international ist die hausärztliche Sexualanamnese keine Routine [32, 34]. Zu möglichen Barrieren gehören neben fehlender Zeit und Kompetenzen auch fehlendes Verantwortungsgefühl, Angst, Patient:innen zu verletzen, und eigene Scham [16, 26]. Neben der Prävention von STI ist eine proaktive Sexualanamnese in der Primärversorgung relevant, um sexuelle Funktionsstörungen zu erkennen und um organische oder psychische Erkrankungen sowie Adhärenzprobleme zu erkennen [33].

Während Themen der sexuellen Gesundheit aufgrund Unsicherheiten des Gesundheitspersonals selten aktiv angesprochen werden, finden 71 % der Befragten in einer aktuellen deutschen Studie, Hausärzt:innen sollten öfter Fragen zur Sexualität stellen; 15 % der Frauen und 17 % der Männer wünschen sich ärztliche Ansprechpartner:innen zum Thema STI [4].

Patient:innen sprechen Probleme teils nicht von sich aus an [7], das Wissen zu STI ist gering und die gezielte Inanspruchnahme von Präventionsangeboten somit eingeschränkt [30]. Zusätzlich führt die Stigmatisierung von HIV und STI zu einer geringeren Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen [24]. In unserer Studie zeigten HÄ teils stigmatisierende Wahrnehmungen von Patient:innen mit STI-Anlässen [31], dies stimmt mit den Ergebnissen in einer aktuellen Befragung deutscher Medizinstudierender überein [25].

Vielen Ärzt:innen in unserer Befragung fiel die Risikoeinschätzung in Bezug auf STI schwer. Niedergelassene Ärzt:innen scheinen Diagnostik vor allem symptombezogen durchzuführen [35] – STI verlaufen jedoch oft asymptomatisch. Eine Testung wird daher unter anderem auch bei Partner:innenwechsel [10] und alle 6 Monate bei Personen mit ≥ 5 heterosexuellen Kontakten im Jahr empfohlen [14] und sollte HIV- und Syphilisserologie, Chlamydien- und Gonorrhödiagnostik beinhalten sowie weitere Diagnostik je nach Symptomen [10]. Zusätzlich sollten Patient:innen unterstützt werden, wenn sie Verantwortung für ihre sexuelle Gesundheit übernehmen und den Wunsch nach STI-Testung äußern. Diesen Empfehlungen kommt ein Großteil der HÄ in unseren Interviews nicht nach. Auch HÄ in den Niederlanden folgen Empfehlungen zu umfassender STI-Testung nicht immer und tendieren dazu, selektiv zu testen [43].

Diagnostik und Therapie

Viele HÄ in unserer Erhebung nutzen nur Urinteststreifen oder bieten Abstriche nur für Männer an. In den Niederlanden führen HÄ die meisten STI-Tests bei Frauen durch [11], auch in England werden besonders Frauen oft von HÄ auf Chlamydien getestet [46]. Die Präferenz für die Versorgung von Männern in unserer Untersuchung lässt sich daher durch Systemunterschiede erklären, nicht durch tatsächliche diagnostische Schwierigkeiten. Einzelne befragte HÄ nutzen Urin-PCR-Untersuchungen oder vaginale Selbstabstriche zur einfacheren STI-Diagnostik, beide Methoden erreichen eine hohe Sensitivität [20].

In Einklang mit den in quantitativen Erhebungen berichteten generellen Unsicherheiten [7, 45] gaben befragte HÄ Wissenslücken bezüglich serologischer Diagnostik an. Während manche HÄ nur „einspringen“, wenn kein fachärztlicher Termin verfügbar ist, oder nur Männer behandeln, behandeln andere HÄ alle STI außer HIV. Bei Unsicherheiten könnten neben den ausführlichen Leitlinien für einzelne Erkrankungen auch die übergreifenden Zusammenfassungen der British Association for Sexual Health and HIV (BASHH; [10]) oder der DSTIG; [14] genutzt werden.

Abrechnung

Unklare Abrechnungsmöglichkeiten von STI-Diagnostik sorgen für Verunsicherung und gehen mit häufiger Abrechnung von STI-Tests als IGeL einher. Patient:innen müssen dann bis zu 200 € bezahlen; wie häufig so abgerechnet wird, ist unklar. Gynäkolog:innen in Deutschland scheinen besonders häufig IGeL abzurechnen [15].

HÄiS in unserer Erhebung rechneten STI-Diagnostik über die Krankenkasse ab, vermutlich gehen die meisten infektiologischen und HIV-Schwerpunktpraxen so vor. Laboruntersuchungen für STI können bei Verdacht auf und Testung von Erkrankungen mit gesetzlicher Meldepflicht budgetneutral abgerechnet werden [22]. Bei den oft asymptomatischen STI müssen hierfür keine Symptome vorliegen. In unserer Befragung war vielen diese Abrechnungsmöglichkeiten nicht bekannt.

Auch vor dem Hintergrund enormer Gesundheitskosten durch STI und HIV [9] und in Einklang mit der Strategie der Bundesregierung zur Eindämmung sexuell übertragbarer Infektionen [5] sind Prävention, frühzeitige Diagnostik und die Kenntnis entsprechender Abrechnungsmöglichkeiten von besonderer Bedeutung.

Fachübergreifende Zusammenarbeit mit anderen Ärzt:innen

Viele HÄ vermuten, Frauen würden sich mit Fragen zur sexuellen Gesundheit und zu STI-Anlässen an Gynäkolog:innen wenden, allerdings haben nur 6,5 % der Frauen bislang eine Sexualanamnese in der Gynäkologie erhalten [3].

Viele HÄ verweisen Frauen mit STI-Anlässen sofort an die Gynäkologie oder seltener an infektiologisch spezialisierte Ärzt:innen; HäiS in unserer Erhebung erwähnen mangelnde Versorgung in der Gynäkologie, zugleich lehnte eine Schwerpunktpraxis die Studienteilnahme ab, da keine Versorgung für Frauen übernommen wird. In quantitativen Erhebungen gaben 89 % der HÄ an, Patient:innen bei Verdacht auf oder vorliegender STI-Diagnose an Fachärzt:innen oder das Gesundheitsamt zu überweisen [45]. Wie häufig unterschiedliche Fachärzt:innen STI-Versorgung für Frauen leisten, ist unklar; weder alle Gynäkolog:innen noch alle Schwerpunktpraxen scheinen Frauen mit STI-Anlässen zu versorgen.

HÄ sehen sich in dieser Untersuchung oft als erste Ansprechpartner:innen in der Verantwortung, durch Überweisung oder Primärversorgung zu helfen [31]. Im Einklang hiermit erwarten britische Patient:innen, entweder von ihren HÄ versorgt zu werden oder eine formelle Überweisung zu erhalten; mit einer Überweisung oder einem durch den HA vereinbarten Termin nahmen Patient:innen Weiterversorgung schneller in Anspruch und fühlten sich sicherer [41]. In Anbetracht teils hoher Kosten für Patient:innen, möglicher Stigmatisierung und unklarer Zuständigkeiten ist eine gezielte Überweisungsstrategie durch HÄ entscheidend für die Versorgung.

Interprofessionelle Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern

Während HÄ laut quantitativen Befragungen Patient:innen auch an Gesundheitsämter überweisen [45], war vielen HÄ in unserer Studie das Angebot der Gesundheitsämter nicht bekannt oder der Aufgabenbereich unklar. Die Gesundheitsämter haben einen subsidiären Versorgungsauftrag insbesondere für nicht versicherte Personen und Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände ein erhöhtes Risiko für STI haben, etwa Sexarbeitende. Darüber hinaus sind in Berlin alle Menschen in den offenen Sprechstunden willkommen, insbesondere auch asymptomatische Patient:innen, die in der Regelversorgung teils keine Testung bekommen würden. Patient:innen mit Symptomen, die krankenversichert sind, werden meist an niedergelassene Ärzt:innen verwiesen. Alle deutschen Gesundheitsämter bieten anonyme, kostengünstige HIV-Tests an, bezüglich weiterer STI-Tests variiert das Angebot [1].

Stärken und Schwächen der Arbeit

Die Interviews wurden in Berlin geführt, Teile der Ergebnisse lassen sich nicht auf andere Regionen übertragen. Möglicherweise werden Probleme, die in unseren Interviews beschrieben wurden, durch die andernorts noch angespanntere Versorgungssituation verstärkt. Wir gehen davon aus, dass viele der Herausforderungen deutschlandweit bestehen.

Durch die qualitative Methodik wurde eine kleine Gruppe Ärzt:innen interviewt, anhand derer wir die Perspektive der HÄ in der STI-Versorgung erstmals detailliert darstellen konnten. Möglicherweise hatten einige der ersten teilnehmenden Ärzt:innen ein besonderes Interesse am Thema, dem wurde durch heterogenes Sampling im Anschluss entgegengewirkt. Vermutlich wurden teils sozial erwünschte Antworten gegeben, wir konnten aber eine große Breite an Sichtweisen einschließen und erreichten theoretische Sättigung. Wir gehen daher davon aus, dass die Ergebnisse auf HÄ außerhalb dieser Studie übertragbar sind. Leider konnten Ergebnisse aufgrund begrenzter zeitlicher Verfügbarkeit der teilnehmenden HÄ nicht nochmals validiert werden. Der Einfluss einer feministischen Grundposition der Forschenden PM und AS und die Vorannahme einer Unterversorgung von Frauen in Bezug auf STI wurden im Forschungsprozess wiederholt diskutiert. Perspektiven und abweichende Interpretationen verschiedener Forschender wurden miteinbezogen. Eine Stärke sind die gewählten Fallbeispiele (Anhang 2), aufgrund derer praxisnahe Probleme und Versorgungsroutinen eingeordnet werden konnten. Zudem konnten durch die Befragung von Hausärzt:innen mit und ohne infektiologische Schwerpunktbezeichnung verschiedene Perspektiven erhoben werden.

Fazit für die Praxis

  • Einige HÄ leisten gruppenübergreifende, niedrigschwellige Versorgung und unterstützen ihre Patient:innen mit STI-Anlässen durch Beratung, kostenfreie Diagnostik und gezielte Überweisung.

  • Sexualanamnese und die Möglichkeit der Selbstabstriche oder Urin-PCR sollten in der Aus- und Fortbildung von Hausärzt:innen eine größere Rolle spielen.

  • Zusammenfassungen der BASHH oder der DSTIG bereiten Leitlinienempfehlungen übersichtlich auf und können HÄ darin unterstützen, leitliniengerechte Versorgung zu übernehmen.

  • Da spät diagnostizierte STI ebenfalls zu hohen Gesundheitskosten führen können, sollte eine klare Screeningstrategie, die Risikoabschätzung, diagnostische Entscheidungen und Abrechnung vereinfacht, etabliert werden.

  • Eine Screeningstrategie, klare Zuständigkeiten und transparente Überweisungspfade könnten sowohl Patient:innen als auch HÄ deutlich entlasten.