1 Freud und Jung – ein unerschöpfliches Thema

Das Verhältnis von Sigmund Freud und C.G. Jung ist ein unerschöpfliches Thema der tiefenpsychologischen Ursprungsgeschichte, das seit der kurzen Zusammenarbeit und dem Bruch miteinander zeitgleich (Stekel 1913) und bis in die Gegenwart hinein (Katz 2023) von einer mehr oder weniger (un-)parteiischen Anhängerschaft ausdauernd diskutiert wird. Die über wenige persönliche Begegnungen und gelegentliche Arbeitstreffen weitgehend auf postalische Kontakte reduzierte Arbeitsfreundschaft in den Jahren zwischen 1906 und 1913 ist über eine gekürzte und kommentierte Studienausgabe des Briefwechsels leicht einsehbar (Freud und Jung 1984) und stellt sich für die Nachwelt als faszinierendes Dokument einer sich selbst anwendenden „Psychoanalyse“ dar (Eidenberg 2014), in der eine überragende Autoritätsperson im Zenit ihres Schaffens beschließt, ihre Führungsposition an einen hoffnungsvollen Nachfolger mit eigenen, zuweilen eigensinnigen Ansichten abzutreten. Freud fühlte sich zu Beginn des Austauschs (1906) mit 50 Jahren bereits in einem Alter, in dem er dem knapp 20 Jahre jüngeren C.G. Jung die Verantwortung für das Geschick der Psychoanalyse übergeben wollte. Daraus ergaben sich vorschnelle Hoffnungen ebenso wie bittere Enttäuschungen mit nachhaltigen Konsequenzen für die Tiefenpsychologie.

Ein einziges Mal trafen Freud und Jung über einen längeren Zeitraum aufeinander. Da kannten Sie sich bereits 3 Jahre und traten auf Einladung des renommierten Psychologie-Professors Stanley Hall gemeinsam mit dem Freud-Vertrauten Sándor Ferenczi eine dreiwöchige Schiffsreise nach Amerika an. Diese führte sie aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der privaten Clark University gemeinsam nach Worcester/MA und brachte für beide eine Reihe von ehrenvollen Festvorträgen sowie die Erlangung der Ehrendoktorwürde der Universität ein. Sie stellte zugleich eine erste internationale Anerkennung der im deutschen Sprachraum allgemein beargwöhnten Psychoanalyse dar (Herman und Fair-Schulz 2018). Die Reise wurde zu einem Kulminationspunkt in der Zusammenarbeit der beiden Psychoanalytiker und zum Wendepunkt in der persönlichen Beziehung der ungleichen Partner. Ihr nicht ganz glücklicher Verlauf wie die zunehmend belastete Partnerschaft der beiden sind gut dokumentiert (Donn 1990; Rosenzweig 1992; McFarland Solomon 2003).

In ihrer umfangreichen Jung-Biografie kann Deirdre Bair deshalb zum Stand der Forschung in Sachen Freud und Jung konstatieren: „Es gibt nur wenige Fakten zu dem Fall, und diese sind allgemein bekannt und eigentlich eindeutig, dennoch sind der Interpretationen viele, und sie sind zumeist von vorgefassten Meinungen beeinflusst und häufig ‚einseitig und humorlos‘“ (Bair 2005, S. 147). Wer sich dieser Einschätzung bis dahin anzuschließen vermochte, kann sich seither an der ausgewogenen Darstellung in Bairs Jung-Biografie und weiteren abwägenden Aufsätzen neueren Datums erfreuen (z. B. von Falzeder 2011; Lesmeister 2011; Kenny 2015).

2 Sigmund Freud und C.G. Jung – Gemeinsamkeiten und Differenzen

Unbestritten sind Sigmund Freud und C.G. Jung (neben Alfred Adler) die bedeutendsten Vertreter der Tiefenpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zugleich die initialen Persönlichkeiten für die Gründung der ersten psychoanalytischen Zeitschrift, dem Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen (1909), und zwei Jahre später einer von Freud initiierten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung mit Jung als Präsidenten (vgl. dazu den Jubiläumsband von Metzner und Schimkus 2011).

Gemeinsam war ihnen der Ausgang von der Annahme einer vollständigen unbewussten Sinndeterminierung aller seelischer Produktionen, insbesondere der mit rationalen Mitteln nicht zu erschließenden Symptome psychischer Erkrankung, der Träume und Fehlleistungen. Daneben aber sahen sie sich mit bedeutsamen konzeptuellen Abweichungen in ihren Ansichten konfrontiert, die sie seit dem Beginn ihres brieflichen Austauschs im Jahr 1906, bei gegenseitigen Besuchen (im März 1907, September 1908, März 1909) und während verschiedener Arbeitstagungen (in den Jahren 1908–1913) beschäftigten.

  • So ging Freud im Grundsatz von einem naturwissenschaftlichen Modell des seelischen Geschehens aus, das aus biologischen Quellen psychische Repräsentationen hervorbringt, während Jung sich von einer anfänglich verfolgten biologistischen Auffassung sehr bald auf die Tiefgründigkeit kulturell geprägter Erfahrungen verlegte.

  • Freud gründete die Psychoanalyse auf die Vorstellung einer allen seelischen Vorgängen zugrunde liegenden Kraft mit eindeutig sexuellem Charakter („Libido“), während Jung den Metamorphosen der psychischen Energie in Bilder, Symbole, sinnliche und übersinnliche Erscheinungen hinein folgte.

  • Freud blieb trotz einer literarischen Ausdrucksweise in der Art und Zielrichtung seiner Beweisgänge dauerhaft den Gepflogenheiten naturwissenschaftlicher Rationalität verhaftet, während Jung sich gedanklich und argumentativ eher einer geisteswissenschaftlich geschulten und spirituell inspirierten Deutungsvielfalt zuordnete.

Obwohl beide von Beginn an die Unterschiede ihrer Ansätze sahen, waren sowohl Freud wie Jung entschlossen, ihre Positionen im Dienst der Psychoanalyse zu überbrücken und ein nach innen und außen geschlossenes Tandem zu bilden. Rasch entwickelten der jüdische Privatgelehrte und Nervenarzt aus Wien und der Pastorensohn und Psychiater an der international anerkannten Heilanstalt Burghölzli in Zürich ein derart vertrautes Verhältnis zueinander, dass in den eigenen Reihen sowohl bei den Wienern wie bei den Zürichern Vorbehalte und Verdächtigungen aufkamen. Insbesondere Freud geriet gegenüber seiner sonstigen (jüdischen) Gefolgschaft in Erklärungsnot und begründete seine vorbehaltlose Hinwendung zu Jung – z. B. in einem Brief an Abraham – beschwichtigend mit strategischen Interessen: „Ich hätte beinahe gesagt, dass erst sein Auftreten die Psychoanalyse der Gefahr entzogen hat, eine nationale jüdische Angelegenheit zu werden“ (Brief vom 03.05.1908; Freud und Abraham 1965, S. 46).

Ludwig Binswanger, ein zeitweise selbst am Burghölzli arbeitender Vertrauter Freuds und Zeuge des ersten Aufeinandertreffens von Freud und Jung am 03.03.1907 in Wien, gewann von dem 13-stündigen ununterbrochenen Gesprächsmarathon den Eindruck, Freud habe Jung ohne Umschweife als „seinen wissenschaftlichen ‚Stammhalter‘“ begrüßt (Binswanger 1956, S. 11). Den besten Überblick über die für die Entwicklung der Psychoanalyse höchst bedeutsame Männerfreundschaft erhält man, wie erwähnt, über den Briefwechsel zwischen Freud und Jung, der zwar nicht komplett erhalten geblieben aber in der auf Wesentliches gekürzten Buchausgabe überaus lesenswert ist (Freud und Jung 1984). Im Nachgang des ersten persönlichen Zusammentreffens bestätigt Freud, „daß ich keinen anderen und besseren Fortsetzer und Vollender meiner Arbeit wünsche als Sie, wie ich Sie kennen gelernt habe“ (Brief vom 07.04.1907, Freud und Jung 1984, S. 17).

Im Briefwechsel wird Jung von Freud immer wieder an seine Nachfolgeplanung erinnert, für die er strategische und persönliche Gründe anführt und dabei ein hohes Maß an Sympathie erkennen lässt: „Nebenbei habe ich Sie ja auch lieb; aber dieses Moment habe ich unterzuordnen gelernt“ (Brief vom 13.08.1908, Freud und Jung 1984, S. 82). Nach einem erneuten Besuch Jungs in Wien schreibt Freud, er habe Jung bei dieser Gelegenheit „förmlich als ältesten Sohn adoptiert … (und) zum Nachfolger und Kronprinzen (gesalbt)“ (Brief vom 16.04.1909, Freud und Jung 1984, S. 105), was einem Vater von drei leiblichen Söhnen und Oberhaupt einer eifersüchtigen Schar von wissenschaftlichen Avantgardisten sicher nicht unversehens aus der Feder floss.

Jung betont später, ihm sei die private und familiäre Nähe zu Freud von vornherein nicht geheuer gewesen, doch überbietet er (Freud und) sich im Briefwechsel mit fortwährenden Anspielungen auf die ehrenvolle Adoption (zuerst im Brief vom 20.02.1908, Freud und Jung 1984, S. 59, wie mehrfach im folgenden Jahr, vgl. S. 113, 115, 125). Beeindruckt von der Persönlichkeit und vom Wissen Freuds, war Jung zweifellos geschmeichelt von der Sonderstellung, die ihm der Begründer der Psychoanalyse von Anbeginn ihrer persönlichen Bekanntschaft unter allen Psychoanalytikern einräumte.

Angesichts der unleugbaren konzeptuellen Differenzen legt sich der Gedanke nahe, dass Freud und Jung mit ihrer überschießenden Zuwendung der gleichen unbewussten Übertragung zum Opfer fielen, deren Wirken sie in den Jahren ihrer Bekanntschaft pikanterweise wissenschaftlich erforschten. Entsprechende Verdächtigungen bei Biografen und Kritikern können nicht verwundern, zumal zu allen Zeiten versucht wurde, den Gründer der Psychoanalyse mit Mitteln seiner eigenen Aufklärungsmethode zu kompromittieren (so schon 1913 aus dem Kreis der Analytiker heraus von Stekel – frei nach dem übrigens im gleichen Jahr vom Zeitgenossen Karl Kraus geprägten Verriss der Psychoanalyse als „jene Geisteskrankheit (war), für deren Therapie sie sich hält“; Kraus 1913, S. 21).

Demgegenüber wird hier die These vertreten, dass die Verhältnisse komplexer waren und sich die unbestrittenen inhaltlichen Differenzen in den Ansichten von Freud und Jung in den kritischen Jahren 1909–1913 nicht etwa vertieften, sondern umgekehrt eine Nähe erreichten, wie sie vorher nicht bestanden hatte und nach Abbruch ihrer Beziehungen nie wieder erreicht wurde.

Gleichzeitig wird herausgestellt, dass sich die in den gleichen Jahren vertiefenden (ödipalen) Abhängigkeiten zwischen den beiden Psychoanalytikern nicht etwa unbemerkt und daher heimtückisch entwickelten, sondern den Beteiligten vielmehr von Anfang an derart präsent waren, dass sich beide mit den Vorzügen und Gefahren ihrer ödipalen Verkettung ausdrücklich auseinandersetzten und gegenseitig zu besonderer Vorsicht im Umgang miteinander ermahnten.

Beiden Aspekten, der inhaltlichen Kongruenz der Auffassungen und der persönlichen Dynamik der Beziehung, soll im folgenden Beitrag zur Freud-Jung-Debatte nachgegangen werden, wobei zunächst die konzeptuellen Gemeinsamkeiten der beiden Führungspersonen in der fraglichen Zeit differenzierter in den Blick geraten und schließlich ein bisher gänzlich unbeachtetes Detail der tragischen Beziehungsdynamik zum Vorschein kommen wird.

3 Kurze Chronik der Zusammenarbeit

Wie erwähnt, ist die Chronik der wenigen Jahre, in denen Sigmund Freud die unbestrittene Führungsperson der Tiefenpsychologie in Europa war und C.G. Jung zum Hoffnungsträger für eine weltweite Etablierung der Psychoanalyse wurde, schnell erzählt und unbestritten. Nachdem dieser Freuds Traumdeutung gleich nach ihrem Erscheinen an der Jahrhundertwende angelesen und beiseitegelegt hatte, fielen ihm bei einer zweiten Lektüre im Jahr 1903 die Gemeinsamkeiten mit seinen eigenen Ansichten auf. 1906 kam es zu einem ersten postalischen Austausch von Werken, 1907 zu einem ersten persönlichen Aufeinandertreffen.

Die Höhepunkte des Kontaktes bestand in gemeinsamer redaktioneller Arbeit am Jahrbuch (1908/09), dem Aufsehen erregenden Gastbesuch an der Clark University (1909) und der gemeinsamen Gründung der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung (1910), an deren Spitze Freud seinen jüngeren Kollegen Jung optierte.

Damit war aber auch schon das Ende der Zusammenarbeit eingeläutet, denn die mit Ferenczi angetretene Amerikareise im Sommer 1909 war bereits getrübt durch gelegentliche Unverträglichkeiten und Missstimmungen, und bei der Gründungsversammlung und Wahl eines Präsidenten der psychoanalytischen Vereinigung (September 1910) waren die Gegensätze bereits unübersehbar, die mit Freud als unbestrittener Führungsfigur und Jung als von Freud protegiertem Präsidenten immer ernstere Animositäten hervorbrachten.

Inhaltlich manifestierte sich der Dissens in der Veröffentlichung des ersten Teils von Jungs Wandlungen und Symbole der Libido im Jahrbuch (August 1911) und Freuds zunächst ausbleibender, dann ausweichender Stellungnahme, persönlich insbesondere in der „Geste von Kreuzlingen“ im Jahr 1913, als Freud dem schwer kranken Ludwig Binswanger einen Besuch abstattete, ohne Jung ausreichend Gelegenheit für ein Zusammentreffen in der Nähe von Zürich gegeben zu haben.

Von da ab war es nur mehr eine Frage der Zeit, wie lange Jung noch das Jahrbuch herausgeben würde (bis Oktober 1913) und Präsident der IPV bleiben würde (bis April 1914).

4 Konzeptuelle Kongruenzen: Kulturpsychologie

Um die Frage aufzugreifen, was Freud und Jung in der Phase ihrer engen Beziehung inhaltlich beschäftigt hat und ob das Zerwürfnis möglicherweise in konträren Ansichten begründet ist, stelle ich zunächst die Interessenlagen der beiden Tiefenpsychologen zwischen ihrem ersten (1907) und letzten (1913) Aufeinandertreffen dar.

Anders als bei den meisten Anhängern aus seinem Wiener Kreis kam C.G. Jung mit den Lehren Freuds bereits als ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiater an einer angesehenen Nervenklinik in Kontakt. Es war nicht verwunderlich, dass er in den Jahren seiner Bekanntschaft mit Freuds Schriften außer überraschenden Übereinstimmungen gravierende Unterschiede mitbrachte, zum Beispiel, dass die Schizophrenie auf toxische Veränderungen im Gehirn zurückging. Freud ließ ihm – anders als den Wienern – solche Eigensinnigkeiten zunächst ohne (oder nur mit geringen) Beanstandungen durchgehen. So referierte Jung auf der ersten psychoanalytischen Tagung frei und ohne Bezug auf Freud über seine psychiatrischen Auffassungen, während von Abraham zum gleichen Thema eine enge Anlehnung an Freuds Thesen erwartet und geleistet wurde (Donn 1990, S. 139).

Historisch gesichert ist, dass sich C.G. Jungs Horizont immer stärker vom differenzialdiagnostischen Standpunkt des Psychiaters auf kollektive psychische Strukturen ausweitete, die dem kranken wie dem gesunden Seelenleben zugrunde liegen. Die kulturpsychologische Perspektive war in der frühen Psychoanalyse durchaus verbreitet (etwa in den Werken des Zürichers Franz Riklin und des Wieners Otto Rank; vgl. Riklin 1908; Rank 1909), in Freuds „Mittwochsgesellschaft“ waren Diskussionen zu Mythen, Märchen und Erzählungen der Menschheitsgeschichte in diesen Jahren an der Tagesordnung (vgl. Nunberg und Federn 2008).

Mit Jungs Erscheinen in der Psychoanalyse nimmt das Thema aber eine systematische Bedeutung an. Im Briefwechsel kommt interessanterweise Freud als erster auf das Thema einer Aufklärung der Neurosen über die kollektive Vergangenheit der Menschen und ihrer Mythologie zu sprechen: „Zusammenhänge haben mich auf die Mythologie gewiesen, und so dämmert mir, daß der Kern des Mythus derselbe ist wie [der] der Neurose …“ (Brief vom 13.08.1908, Freud und Jung 1984, S. 82). Jung greift das Interesse an kollektiven Merkmalen des Unbewussten nicht nur auf, sondern kündigt ein gutes Jahr später ein umfassenderes Eindringen in die Materie an, das er sogleich mit einer für die Vater-Sohn-Beziehung typischen Ergebenheitsgeste gegenüber Freud zur Sprache bringt: „Heute obsediert mich der Gedanke, einmal eine zusammenfassende Darstellung des ganzen Gebietes zu schreiben, natürlich nach jahrelanger Sammlung und Vorbereitung … Wollen Sie nicht einmal ein Licht dorthin werfen, wenigstens eine Art Spektralanalyse aus der Ferne?“ (Brief vom 14.10.1909, Freud und Jung 1984, S. 120).

Was Jung von Freud unterscheidet, ist zunächst nicht die Überzeugung von der Bedeutung der Mythologie für die Tiefenpsychologie, sondern der Anspruch, sich das Gebiet in umfassender Weise zu eigen zu machen. Das wiederum bemerkt Freud und verleibt sich wenige Tage nach Jungs diesbezüglicher Äußerung dessen Anspruch auf eine, über kasuistische Bemerkungen hinausgehende, intensivere Beschäftigung mit der Mythologie ein: „Es freut mich, daß Sie meine Überzeugung teilen, die Mythologie müßte ganz von uns erobert werden“ (Brief vom 17.10.1909, Freud und Jung 1984, S. 121).

Im Sinne seines Primates in allen wesentlichen Grundlagen des psychoanalytischen Konzeptes ist es Freud im nächsten Brief wichtig zu betonen, dass die von Jung gewünschte Aufklärung zentriert bleibt um den von ihm entdeckten zentralen Wurzelpunkt der Beziehungsproblematik und Beziehungsgestaltung von Menschen, um die Problematik des Kernkomplexes, den er mit der Geschichte des Ödipus verbindet: „Daß Sie sich mit der Mythologie eingelassen haben, hat mich hell erfreut … Sie werden, hoff’ ich, bald meine Erwartung teilen, daß der Kernkomplex der Mythologie derselbe ist wie der der Neurosen“ (Brief vom 11.11.1909, Freud und Jung 1984, S. 124).

Inhaltlich ist das gemeinsame Interesse an kulturpsychologischen Fragestellungen damit auf ein von Freud gesetztes Grundproblem festgelegt: Es geht vorrangig nicht um allgemeine kulturhistorische und anthropologische Hintergründe des individuellen Seelenlebens, sondern um die Entdeckung des kulturgeschichtlichen Hintergrundes eines konkreten Konfliktfeldes der Beziehungsgestaltung, der prekären Ursprungserfahrung der Vater-Mutter-Kind-Konstellation. Und tatsächlich ordnet sich Jung auch in dieser Hinsicht sogleich brieflich unter und fügt beflissen Belege für das Vorkommen des Ödipuskomplexes in der Literatur an (Brief vom 15.11.1909, Freud und Jung 1984, S. 125).

Ein dritter Punkt, der Freud wichtig ist, hängt mit der von Jung angekündigten Dimension des Projektes zusammen. Freuds diesbezügliche Bemerkung ist zwar im Briefwechsel nicht erhalten geblieben; aus einer Antwort von C.G. Jung wissen wir aber, dass Freud die Arbeit am Mythos nicht etwa vollständig seinem wissenschaftlichen Stammhalter in die Hände geben wollte, sondern als Gemeinschaftswerk von Fachleuten unter seiner eigenen Deutungshoheit anlegen wollte. Sein dahingehend geäußerter Wunsch nach einem Austausch mit fachkundigen Repräsentanten der Kulturgeschichte veranlasst Jung zu der Bemerkung, er traue ihm das Projekt offenbar nicht zu: „Am meisten aber traf mich Ihre Bemerkung, daß Sie nach Archäologen, Philologen etc. lechzen. Damit, habe ich mir gesagt, meinen Sie wohl, daß ich zu der Arbeit unfähig bin. Eben dorthin geht bei mir aber ein leidenschaftliches Interesse … Das Letzte der Neurose und Psychose werden wir ohne Mythologie und Kulturgeschichte nicht lösen, das ist mir ganz klar geworden … Es ist ein hartes Los, neben dem Schöpfer arbeiten zu müssen“ (Brief vom 25.12.1909, Freud und Jung 1984, S. 129 f.).

Jungs Kränkung ist vor dem Hintergrund der bereits einsetzenden Entfremdung während der Amerikareise zu sehen, kann aber vorerst noch durch Freuds schnelle Antwort und begütigende Worte beruhigt werden. Und als dieser kurz darauf erste Entwürfe zu sehen bekommt, wie sich Jung eine größere Publikation der Problematik vorstellt, findet Freud für ihn aufmunternde Worte. Kein Wunder, denn seine Ermahnungen haben unübersehbare Wirkung gezeigt: Freuds Priorität wird sprichwörtlich vom ersten Satz an anerkannt. Und ab dem nächsten Satz des Manuskriptes geht es ausführlich und anhaltend um die von Freud aufgedeckte „Unsterblichkeit des Ödipusproblems“ (vgl. Jung 1911/12, S. 5), die Jung im Folgenden durch eine Vielzahl psychoanalytischer und kulturanthropologischer Schriften als Ausgangspunkt der psychoanalytischen Forschung belegt.

5 Eine Antwort lässt auf sich warten

Im August 1911 sind die Wandlungen und Symbole der Libido dann fertig gedruckt, und Jung wartet auf ein erneutes Zeichen der Anerkennung. Doch statt der gewohnten prompten Reaktion wartet er auf Freuds Kommentare diesmal vergeblich. Vielleicht, mag sich Jung gedacht haben, wartet Freud nur ab – schließlich steht im September ein Besuch in Zürich an, bei dem dieser Gelegenheit hat, das vollendete Werk ausführlich zu kommentieren, doch nichts dergleichen geschieht. Und auch beim nachfolgenden gemeinsamen Besuch des Weimarer Kongresses der psychoanalytischen Vereinigung bleibt das Thema ausgeklammert.

Im November bricht die von der Enttäuschung ihres Ehemanns tief beeindruckte Emma Jung das Schweigen und schreibt Freud einen vertraulichen Brief, in dem sie ihn um eine wie auch immer geartete Nachricht an ihren Ehemann bittet (Brief vom 30.10.1911, Freud und Jung 1984, S. 200 f.). Die folgt am Ende mit dreimonatiger Verspätung an Jung in merkwürdig indirekter Rede: „Eine der hübschesten Arbeiten, die ich jetzt (von neuem) gelesen, ist die eines bekannten Autors über ‚Wandlungen und Symbole der Libido‘ … Es scheint mir auch gelegentlich mehr über den Dingen zu schweben als in ihnen zu stecken. Es ist aber das Beste, was der hoffnungsvolle Autor bis jetzt von sich gegeben hat, nicht das Beste, was er noch leisten wird“ (Brief vom 12.11.1911, Freud und Jung 1984, S. 204).

Inhaltlich erfährt Jung in Freuds knapper Stellungnahme nur etwas über Freuds Gereiztheit durch zu viel ‚Christliches‘ und, was ihn umso härter trifft, dass Freud inzwischen an einem eigenen Werk über die Religionsgeschichte arbeitet. Was später etwa zeitgleich mit Jungs zweitem Teil der Wandlungen unter dem Titel Totem und Tabu (Freud 1911b) veröffentlicht wird, erscheint Jung in dieser kritischen Phase der Korrespondenz alles andere als verheißungsvoll: „Ich danke Ihnen bestens für den sehr netten Brief. Es ist allerdings für mich sehr bedrückend, wenn Sie auch auf dem Gebiet der Religionspsychologie herauskommen. Sie sind ein gefährlicher Konkurrent, wenn man von Konkurrenz sprechen will. Jedoch denke ich, es müsse wohl so sein und man könne etwas, das natürlich ist, nicht aufhalten und solle auch nichts daran ändern“ (Brief vom 14.11.1911, Freud und Jung 1984, S. 205).

6 Was war geschehen?

Mit dem Abstand eines Jahrhunderts kann konstatiert werden, dass sich die inhaltlichen Interessen von Freud und Jung in den Jahren 1909–1913 deutlich aufeinander zu bewegt haben, ohne dass die unterschiedlichen Sichtweisen davon berührt wurden. Die von beiden im Jahr 1911 gesehenen Übereinstimmungen in zwei Prinzipien der psychischen Organisation (Freud 1911a/40 und Jung 1911/12, Kap. II, S. 7–35) wie auch die von beiden betonte zentrale Rolle des Ödipuskomplexes für die Entstehung von Neurosen (Freud 1911b/43 und Jung 1911/12, ebd.) sprechen eine weitgehend gemeinsame Sprache. Gemeinsames Thema ist besonders in Letzterem die kulturhistorische Fundierung symptomatischer individueller Entwicklungen (Falzeder, S. 9 f.). Es deutet sich hier ein weitgehend übereinstimmendes kulturpsychologisches Projekt an, bei dem es in Jungs Worten um „die weitreichende Analogie zwischen dem psychologischen Aufbau der historischen Relikte und der Struktur rezenter individualpsychologischer Produkte“ geht (Jung 1911/12, S. 6).

„Infantile Reminiszenzen (aus der individuellen Vergangenheit)“ weisen nicht nur eine Analogie auf zur Wiederbelebung „einmal manifest gewesener archaischer Geistesprodukte“ (Jung 1911/12, S. 32). Sie weisen den historischen und genetischen Vorrang des kulturgeschichtlichen Erbes in der Bewältigung von Lebensproblemen aus. Die Kulturgeschichte nimmt in der gemeinsamen Entdeckungsgeschichte von Freud und Jung also nicht die Funktion eines Anwendungsbeispiels für eine grundlegend biografisch orientierte Psychoanalyse an, sondern wird umgekehrt zur Evidenzgrundlage für persönliche Lebensproblematiken – egal ob diese nun als „kollektives Unbewusstes“ zu bezeichnen ist oder nicht.

In den Jahren zwischen 1909 und 1914 wurde die Kulturpsychologie demnach für beide zu einer Protopsychologie für individuelle und klinische Erfahrungen und Erscheinungen – noch einmal in den Worten Jungs: „Denn genauso wie die psychoanalytischen Erkenntnisse das Verständnis historisch-psychologischer Gebilde fördert, können umgekehrt historische Materialien neues Licht über individualpsychologische Probleme verbreiten“ (Jung 1911/12, S. 6).

Die krisenhafte Zuspitzung des Verhältnisses ist folglich nicht dadurch zu erklären, dass Jung mit der Annahme des kollektiven Unbewussten eigene Wege ging und sich dadurch von Freud entfremdete, vielmehr kamen sich Freud und Jung mit der Arbeit an kulturpsychologischen Fragen inhaltlich (gefährlich) nahe, ohne zu diesem Zeitpunkt bereits überblicken zu können, in welche Richtungen sie das Experiment am Ende führen würde (nämlich Freud in die Richtung, dass sich erlebte Familiendramen in mythischen Geschichten niederschlagen, Jung in die Gegenrichtung, dass aktuelle Konflikte kollektive Erinnerungen beleben). Zu einem Austragen der resultierenden Konzepte kam es indessen nicht mehr, weil zum Zeitpunkt des Erscheinens der Schlüsseltexte bereits eine zwischenmenschliche Sprachlosigkeit eingesetzt hatte.

7 Persönliche Dissonanzen: ödipale Verstrickungen

Das provokative Moment der Tiefenpsychologie hat spätere Generationen von Psychoanalytikern (und Hobbypsychologen) immer wieder gereizt, die Lehren der Psychologie höchstpersönlich auf deren Begründer zu wenden. Freuds eigene „Komplexe“ werden seit Maylans diesbezüglicher „Analyse“ (1929) immer wieder genüsslich seziert. Es erstaunt daher nicht, dass dem persönlichen Konflikt zwischen Freud und Jung gelegentlich eine triebgesteuerte Begründung unterlegt wird, deren unbewusste Wirkung die Protagonisten unweigerlich in eine ödipale Katastrophe hineinführen musste. Das Argument ist – wie das inhaltliche – nicht völlig von der Hand zu weisen, doch verdient es wie jenes eine differenziertere Betrachtung.

Freud und Jung wurden in ihrem Bemühen um kooperative und vertrauliche Arbeit durchaus nicht von einer unbemerkt aufflammenden, daher unkontrollierbaren ödipalen Rivalität überrascht. So naiv waren die Begründer der Tiefenpsychologie in eigenen Angelegenheiten keineswegs. Der Briefwechsel zeigt, dass sie ihr Verhältnis vielmehr von vornherein und ganz bewusst dem Ödipusgeschehen einschrieben; im Briefwechsel sind Lust und Leiden am Lehrer-Schüler- und, grundlegender, Vater-Sohn-Verhältnis ausdrücklich präsent. Freud wie Jung haben den ödipalen Charakter ihrer Beziehung zu verschiedenen Anlässen ausdrücklich thematisiert; man könnte sagen, sie haben sich ihre Übertragung streckenweise gegönnt.

Es ist durchaus faszinierend zu lesen, wie grundsätzlich beide Wissenschaftler – anfangs noch halb scherzhaft, später in düsterer Vorahnung – auf die Besonderheit ihrer Beziehung reflektierten. So wagt Jung bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Freundschaft – beide hatten sich erst einmal persönlich gegenübergestanden – ein kompromittierendes Eingeständnis: „Eigentlich – was ich Ihnen mit Widerstreben gestehen muß – bewundere ich Sie als Menschen und Forscher schrankenlos, … der Selbsterhaltungstrieb … kommt daher, daß meine Verehrung für Sie einen ‚religiös‘-schwärmerischen Charakter hat, der mir zwar weiter keine Molesten verursacht, mir aber wegen seines unverkennbar erotischen Untertones ekelhaft und lächerlich ist … Ich fürchte deshalb Ihr Vertrauen“ (Brief vom 28.10.1907, Freud und Jung 1984, S. 44). Und erntet postwendend von Freud eine weitsichtige Replik: „[D]ie Übertragung von der Religiosität erschiene mir besonders fatal; sie könnte ja nur mit dem Abfall enden … Ich werde deshalb alles tun, um mich als ungeeignet zum Kultgegenstande erkennen zu lassen“ (Brief vom 15.11.1907, Freud und Jung 1984, S. 47).

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das frühe und für beide Seiten riskante Ansprechen der persönlichen Übertragung dem Versuch dienen sollte, sich der unbewussten Tücke des ödipalen Geschehens auf gemeinsame und aufgeklärte Weise zu erwehren und damit dem Interesse einer institutionellen Verankerung der Psychoanalyse zuzuarbeiten. Anders als in weniger sensiblen Männerfreundschaften schafften die beiden in Fremd- wie Selbstreflexion geübten Tiefenpsychologen es mehrfach, sich in ihren Briefen und Unterredungen an kritischen Stellen ausdrücklich über die Risiken und Abgründe der von ihnen gelebten Vater-Sohn-Rivalität auszutauschen. Sie gewannen dadurch (gleichsam im Selbstversuch) brauchbares wissenschaftliches Material wie auch eine über Jahre tragfähige Verständigungsgrundlage dafür, aufkommende Beunruhigungen hinsichtlich von Frequenz, Transparenz und Intensität ihres Briefkontaktes offen anzusprechen, zu deuten und zu korrigieren.

Interessant ist nun, dass die beiden Psychologen ihre hinter dem Arbeitsbündnis kenntlich werdende Vater-Sohn-Problematik zwar bei verschiedenen Anlässen thematisieren, dabei aber wie selbstverständlich davon ausgehen, dass mit dem Ansprechen der Beziehung bereits geklärt sei, wie beide Partner ihre Rolle definieren. Welches Bild einer Vater-Sohn-Beziehung auf Seiten des Älteren und des Jüngeren gelebt (akzeptiert oder abgelehnt) wird, bleibt in ihrer Korrespondenz miteinander ungeklärt. Schließlich ist die ödipale Verstrickung bei (ungleichen) Partnern selbst nicht außergewöhnlich, muss aber in ihrer Ausgestaltung von den Beteiligten zur gegenseitigen Kongruenz (und Zufriedenheit) ausgestaltet werden. Und dazu lassen sich von beiden Seiten zunächst nicht mehr als vage Andeutungen finden, die im Folgenden aufgegriffen und mit dem entstehenden Text von C.G. Jung zusammengebracht werden.

8 Moses und Josua

Von Freud erfährt man im Briefwechsel noch am ehesten, was er sich aus väterlicher Sicht von seinem Nachfolger erwartet: Dass er nämlich wie ein „Alexandros“ zu Eroberungen aufbricht (Brief vom 06.03.1910, Freud und Jung 1984, S. 138), seine Untergebenen regiert (Brief vom 10.08.1910, Freud und Jung 1984, S. 155) und sein Reich mehrt (Brief vom 01.03.1911, Freud und Jung 1984, S. 178). Einmal bringt Freud dabei seine persönliche Identifikationsfigur ins Spiel und sieht seine Erwartungen an Jung durch die Brille des biblischen Volks- und Religionsführers der Juden: „So kommen wir doch unzweifelhaft vorwärts, und Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur von Ferne erschauen darf, in Besitz nehmen“ (Brief vom 17.01.1909, Freud und Jung 1984, S. 93).

Es ist erstaunlich, dass der Halbsatz von tiefgründiger Bedeutung im Briefwechsel quasi in der Luft hängen bleibt. Freuds lebenslange Identifizierung mit Moses ist Jung sicher nicht verborgen geblieben und auch der Öffentlichkeit gegenüber bekannt geworden, lange bevor er sich am Lebensende in dessen Biografie versenkte und eine ausführliche biografische Skizze vorlegte (so arbeitete er parallel zur Jung-Problematik an einem zunächst anonym erschienenen Essay mit autobiografischen Anklängen mit dem Titel Der Moses des Michelangelo; Freud 1914a/46).

In der Bildlichkeit des Paares Moses und Josua sind Freuds Erwartungen an einen Nachfolger zutreffend beschrieben: Ihm ging es wohl weniger um eine inhaltliche Weiterentwicklung der psychoanalytischen Einsichten, sondern um die Eroberung der wissenschaftlichen Welt für die Psychoanalyse (in Analogie zur biblischen Gestalt des Josua) oder wenigstens um eine solide Ausbreitung über die engen Grenzen der Wiener Intellektuellen hinaus; als Ausgestalter der Psychoanalyse mit eigenem, eigenwilligem Profil konnte Freud Jung nicht akzeptieren.

Eine Antwort Jungs zum Bild von Moses und Josua und seinen Implikationen ist nicht bekannt. Wenn Jung Freuds Kritik zufolge ‚(zu) christlich‘ argumentierte, mag der Moses dem ‚Sohn‘ und ‚Schüler‘ komplementär zu alttestamentarisch erschienen sein. Im Briefwechsel überlässt Jung in diesem Punkt Freud die Deutungshoheit; es ist auch andernorts kein Alternativentwurf für die Vater-Sohn-Konstellation aus Jungs Perspektive bekannt. Allerdings greift dieser im erwähnten ersten größeren Werk, in dem er Freuds Beitrag zum Ödipuskomplex ausführlich würdigt, ein Beispiel auf, wie es nicht christlicher und dabei zugleich nicht ödipaler hätte ausfallen können. Wenngleich Jung es also nie gewagt hat, im Briefwechsel eine eigene Deutung der Ödipusproblematik mit Freud zu benennen, ist es doch bemerkenswert, mit welchem Material Jung die von Freud eingeforderte Solidarität mit dem analytischen Grundkomplex bebildert – wohlgemerkt ohne ausdrücklichen Hinweis auf die eigene Lebenserfahrung.

9 Jesus und Judas

Wie von Freud beklagt, wählt Jung dafür ein Beispiel aus der ‚christlichen‘ Erzähltradition, an dem er die Begründung von persönlicher Lebensgeschichte in mythologischen Grundthemen erläutern konnte. Jung interessiert an einer frühen und prominenten Stelle seiner Wandlungen, wie aktuelle Lebenskonflikte auf dem Weg über die Beschäftigung mit ihnen zugrunde liegenden mythischen Themen und Konstellationen unbemerkt bearbeitet, modelliert und einer Lösung zugeführt werden können.

In diesem Zusammenhang zitiert Jung eine Erzählung von Anatol France, nach der ein schweizerischer Geistlicher, der fromme Abbé Oegger, sich beinahe zwanghaft mit der Frage auseinandersetzt, ob ein vom Glauben Abgefallener aus eigener Schuld handelt oder unter bestimmten Umständen vom Schicksal dazu ausersehen sein kann – und damit letztlich unschuldig bleibt. Den frommen Mann verfolgt die Auseinandersetzung mit der biblischen Gestalt des Judas, der ihm weit mehr zu sein scheint als ein vom Schicksal geächteter Verräter. Ist Judas nicht vielmehr ein unverzichtbares Instrument des christlichen Erlösungswerkes, das durch den Verrat im Garten Gethsemane seinen Ausgang nehmen konnte – ohne Judas kein Kreuzestod, ohne Kreuzestod keine Erlösung?

Was den frommen Abbé unaufhaltsam mit dem Schicksal der mythologischen Figur verwickelt, ist ein sehr privates Erlösungsmotiv als „Person, die sich durch die Lösung des Judasproblems den Weg in die Freiheit bahnen will“ (Jung 1911/12, S. 34). Die Besessenheit von der Judasthematik wird in der Erzählung durch den Umstand aufgeklärt, dass der fromme Mann, „um das Evangelium der Barmherzigkeit zu predigen … aus der katholischen Kirche aus(trat) und … Swedenborgianer (wurde). Nun verstehen wir seine Judasphantasie: Er war der Judas, der seinen Herrn verriet; deshalb mußte er sich vorerst der göttlichen Barmherzigkeit versichern, um ruhig Judas sein zu können“ (ebd.).

Ist es legitim, Jungs christliche Jesus-Judas-Geschichte als indirekte Antwort auf Freuds Moses-Josua-Phantasie zu verstehen? Es gibt keine Belege dafür, dass Derartiges von Jung intendiert gewesen sein könnte oder Freud es aus der Schrift über die Wandlungen der Libido herausgelesen hat. Allerdings handelt es sich beim Kontext der Judasphantasie zweifellos um den von Freud eingeforderten Beleg dafür, dass Jung den Ödipuskonflikt ausdrücklich in seinem Erstlingswerk anerkennt – mit der Einschränkung, dass Jung es sich nicht nehmen lässt, diese Bestätigung an ‚christlichem‘ Material zu erweisen, dem eine ganz andere Ausgestaltung ödipaler Verhältnisse zugrunde liegt als in der Moses-Josua-Konstellation. Bemerkenswert für die hier verfolgte Fragerichtung nach der spezifischen Eigenart der geschilderten Beziehung ist, dass die ödipale Herausforderung im Paar Jesus-Judas nicht durch die Annahme der Regentschaft charakterisiert ist, sondern durch eine im Hinblick auf höhere Mächte (Wahrheitsfindung) gerechtfertigte Illoyalität. Jung strebte nicht die Regentschaft über das Reich der Psychoanalyse an, sondern eine aus seiner Sicht dringliche Korrektur der Freud′schen Sexualtheorie –, was dieser als Verrat an der gemeinsamen Sache empfand.

In der Erzählung von Anatol France geht es nicht einfach um das, was der Vorbildfigur und aller Welt als billiger Verrat erscheinen musste, sondern um die Gewissensnöte eines unschuldig zum Verräter werdenden Wahrheitsverfechters –, als der sich Jung im Zuge seiner zunehmenden Entfremdung bis hin zum späteren Bruch mit seiner wissenschaftlichen und persönlichen Leitfigur zweifellos gefühlt hat. Ein der Wissenschaft verpflichteter Anhänger kann die Dinge nicht laufen lassen, wenn sie seiner Überzeugung zuwiderlaufen. Er muss im Sinne einer höheren Gerechtigkeit eingreifen, auch wenn er damit vor den Augen des Vorbildes und der Nachwelt zum Verräter wird. Zu diesem Selbstverständnis passen die predigtartigen Sentenzen, mit denen Jung den Briefkontakt mit Freud nach einer von diesem entdeckten handschriftlichen Fehlleistung eskalieren lässt und dabei sprichwörtlich aus der Vater-Sohn-Beziehung ausbricht: „Sehen Sie, mein lieber Professor, solange Sie mit diesem Zeugs laborieren, sind mir meine Symptomhandlungen ganz wurscht, denn die wollen gar nichts bedeuten neben dem beträchtlichen Balken, den mein Bruder Freud im Auge trägt …“ (Brief vom 18.12.1912 [Hervorhebung H.F.], Freud und Jung 1984, S. 250).

Die Korrespondenz der im Briefwechsel genannten alttestamentarischen Figuren Moses und Josua bei Freud mit der in Jungs halbloyaler Veröffentlichung genannten neutestamentarischen Figuren Jesus und Judas ist – gewollt oder ungewollt – bezeichnend dafür, was an der von Freud und Jung gesehenen Übertragungskonstellation schiefgelaufen ist. Freuds Modellierung des Ödipusgeschehens in Richtung von blinder Nachfolge ohne konzeptuelles Mandat (Josua) und Jungs Verratsthema im Sinne einer übergeordneten Gerechtigkeit (Judas) machen plausibel, dass das ödipale Geschehen bei beiden Protagonisten letztlich unvermittelt blieb. Jung wollte (und konnte) Freud aus seiner Sicht nicht als unkritischer Jünger begegnen, und Freud duldete an dem von ihm durchaus auf Augenhöhe gemessenen Nachfolger keinen inhaltlichen Widerspruch. Insofern erfüllt sich weder die Übergabe des gelobten Landes vom greisen Führer an den rüstigen Vollstrecker noch die heroische Erlösung der Psychoanalyse durch einen zu allem bereiten Abtrünnigen.

10 Folgen und Nachwirkungen

Bleiben die Parallelen der Äußerungen von Freud und Jung in verschiedenem Kontext auch hintergründig, so ist nicht zu verkennen, dass der mythologische Hintersinn der Geschichte von Jesus und Judas die Freud′sche Perspektive von Moses und Josua geradezu ‚verteufelt‘ gut kontrastiert. Einem Führer, der die Befugnisse des Nachfolgers unter dem Vorwand einer vollständigen Machtübergabe einschränkt, mag man sich nicht vorbehaltlos ausliefern. Freud hätte Jungs Widerspruch durchaus als Anregung zu einer sensibleren Kritikfähigkeit ernst nehmen können. Doch machte es ihm dessen christliches Erlösungspathos doppelt schwer, wenn es etwa heißt, „daß Gott den Judas in seiner Allweisheit zu einem Instrument erkoren hatte, um den Höhepunkt des Erlösungswerkes Christi herbeizuführen“ (Jung 1911/12, S. 32). Für so viel christliche Selbstbeweihräucherung hatte der nüchterne Denker Freud am Ende nur Spott übrig: „Manchmal habe ich den Eindruck, als begrenze das Christentum allzu eng den Horizont“ (Brief vom 12.11.1911, Freud und Jung 1984, S. 204).

Ob Jung in der Wahl seines Judas-Beispiels die heikle Übertragungsproblematik bewusst war und ob Freud mit seiner Kritik am ‚Christlichen‘ eine (weitere) Spitze gegen seine väterliche Autorität abwehren wollte, ist unbekannt und für den hier dargestellten Sachverhalt letztlich unbedeutend. Jedenfalls brach – trotz des gemeinsamen Interesses am Projekt Kulturpsychologie und der bewussten Austragung der Übertragungsproblematik – die krisengeschüttelte Freundschafts- und Arbeitsbeziehung an dieser Stelle vollkommen auseinander.

Für die Kulturpsychologie sind dabei, wie etwa Falzeder (2011) und Kenny (2015) betonen, wertvolle Ansätze seitens der Tiefenpsychologie zerrieben worden. Freud sah sich genötigt, die eigenen kulturpsychologischen Ansätze entweder selbst als wissenschaftliche ‚Phantasie‘ zu diskreditieren (Massenpsychologie und Ich-Analyse; Freud 1923/40) oder gänzlich zu unterdrücken (wie es das erst in den 80er-Jahren wiederentdeckte Manuskript Übersicht der Übertragungsneurosen belegt; Freud 1985). Jung nahm demgegenüber mit seinen Interessen an Träumen, Symbolen und sinnlichen wie übersinnlichen Erscheinungen immer weniger Rücksicht auf wissenschaftliche Konventionen (bezeichnend ist der Kult um Jungs sogenanntes „Rotes Buch“). Eine Rückkehr zu einer tiefenpsychologisch fundierten wissenschaftlichen Kulturpsychologie blieb späteren Generationen vorbehalten (z. B. der Ethnopsychoanalyse wie auch der psychologischen Morphologie; vgl. Fitzek 2022).

Persönlich bedeutete der Bruch für Freud und Jung eine biografisch nur schwer einzuordnende dauerhafte Enttäuschung. Bei aller sich durchsetzender Berühmtheit der beiden Gründerpersönlichkeiten der Tiefenpsychologie litten Freud und Jung unverkennbar unter ihrer (krisenhaften) Beziehung und noch stärker unter dem Zerwürfnis; aber sie taten es, wie nicht anders zu erwarten ist, auf sehr unterschiedliche Art. Freud verarbeitete den Konflikt mit Jung durch fortgesetzte Arbeit: persönlich in der zunächst anonym herausgegebenen kleinen Schrift Der Moses des Michelangelo (1914a/46), konzeptuell in dem im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (1914b/46). Für Jung bedeutete das Ausscheiden aus der Psychoanalyse sowohl konzeptuell wie persönlich einen Sturz ins Bodenlose, von dem er sich erst allmählich wieder erholte (vgl. Bair 2005).

Noch Jahrzehnte nach den Vorgängen vermieden es beide, sich in die Kreise des jeweils anderen hineinzubewegen. Falzeder schildert zwei Vorkommnisse, in denen es ausnahmsweise einmal Anhängern des jeweils anderen gelang, Fragen zur Beziehung an Freud bzw. Jung zu richten: „Obwohl Freud und Jung nach ihrer Trennung alle Brücken abbrachen, war wohl für beide der Verlust der Freundschaft und der Beziehung ein sehr schmerzhafter. Als der Jungianer E.A. Bennet Freud über den Bruch mit Jung [fragte], sagte Freud nur ganz leise, nach einer Pause: Jung war ein großer Verlust. Nichts weiter … Und als der Freudianer Kurt Eissler Jung darüber befragte und meinte, es wäre eine wirkliche intensive Begegnung zwischen den beiden gewesen, meinte Jung: ‚Ja, … das war’s! Ja, das zeigt, nicht wahr, … welchen Umfang, welche Tiefe er hatte! Nicht wahr!? … Gott, wenn er nur über sich selber weggekommen wäre, nicht wahr! Aber das war dieses neurotische Element, nicht?! … Wenn er über das weggekommen wäre. [Pause] Es wäre ja verrückt gewesen, … jemals etwas anderes wollen, als mit ihm zusammen zu arbeiten!‘“ (Falzeder 2011, S. 8).