Ein prägendes Merkmal der frühen modernen Kunst ist ihre „Preisgabe der Repräsentation“ („abandon de la représentation“, Riout 2000, S. 25). Nicht die Darstellung eines bestimmten Gegenstandes oder eines kulturellen Gehaltes steht im Vordergrund, sondern, wie Fernand Léger es ausdrückt, der malerische Wert („valeur picturale“) des Gemäldes als solcher (vgl. Riout 2000, S. 44). Diese Preisgabe gipfelt in der mit Wassiliy Kandinsky beginnenden abstrakten Malerei, die auf die Abbildung von etwas in der äußeren Welt Gegebenem ganz verzichtet. Im Dämmerlicht erblickt Kandinsky 1910 in seinem Atelier ein von ihm selbst gemaltes Bild, das ihm „unbeschreiblich schön“ erscheint, und an dem er, weil an die Wand angelehnt auf der Seite stehend, nur Formen und Farben, aber keine Gegenstände erkennt, während am nächsten Tag bei Tageslicht, wo er zugleich die Gegenstände sieht, der Eindruck vom Bild stark geschwächt ist, und er gelangt zu dem Schluss: „Ich wusste jetzt genau, daß der Gegenstand meinen Bildern schadet.“ (Kandinsky 1980, S. 38).

Die Entgegenständlichung der frühen modernen Kunst hat Konsequenzen für das Verhältnis von Kunst und Religion. Während die vormoderne Kunst „ideelle Gehalte, solche vor allem der religiös-kodifizierten Weltsicht zur sinnlich-sichtbaren Darstellung“ bringt, befreit die moderne Kunst sich „von diesen externen Bezugssystemen“. „Auch die Frage ihres Verhältnisses zur Religion kann nicht mehr mit Bezug auf etwaige Symbolisierungs- oder Repräsentationsleistungen diskutiert werden.“ Diese ex negativo Beschreibung des Verhältnisses von moderner Kunst und Religion von Wilhelm Gräb (Gräb 1998, S. 62), die in dieser Radikalität vor allem auf die abstrakte Kunst zutrifft, wirft die Frage auf, ob nicht jenseits solcher Symbolisierungsleistungen dennoch eine positive Bestimmung des Verhältnisses von moderner Kunst und Religion möglich ist. Mit Gräbs Worten ist dies nur möglich, wenn Kunst Religion zur Sprache bringt, „ohne etwas Bestimmtes über diese mitzuteilen“ (Gräb 1998, S. 70). Das jedoch kann die moderne Kunst, wenn sie als Ausdruck religiöser Subjektivität verstanden wird, als Ausdruck religiöser Subjektivität im malerischen Wert des Kunstwerkes. Zwar hat die gegenwärtige Kunst inzwischen eine Rückkehr zum Figurativen vollzogen, die Befreiung von den externen Bezugssystemen in der frühen modernen Kunst hat jedoch die Möglichkeit eröffnet, das Verhältnis von Kunst und Religion unabhängig von der Idee einer Vergegenständlichung religiöser Gehalte zu bestimmen. Es ist Raum geschaffen worden für eine gewissermaßen transzendentale, in der Beschaffenheit der menschlichen Psyche gründende Bestimmung dieses Verhältnisses.

Ein beachtenswertes Beispiel für die Ausformulierung einer solchen Verhältnisbestimmung stellt die Kunstphilosophie des französischen Phänomenologen Michel Henry (1922–2002) dar. Henry entwirft auf der Grundlage seiner Phänomenologie des Lebens und mit Blick auf die Malerei des genannten Wassily Kandinsky eine Kunstphilosophie, die ihre Inspirationsquelle im Verständnis moderner Malerei als Auflösung der klassischen gegenständlichen Malerei findet und zugleich von einem von der modernen Subjektphilosophie geprägten Verständnis der menschlichen Psyche ausgeht. Kunst ist für Henry in erster Linie Ausdruck von Subjektivität bzw. von Leben. Weil aber Religion intrinsischer Bestandteil von Henrys Subjektivitäts- und Lebensverständnis ist, erweist sich die Kunst – jenseits aller Symbolisierungsleistungen – zugleich als ein Ausdruck von Religion.

Henrys Kunstphilosophie gelangt vor allem in seinem noch nicht ins Deutsche übersetzten Buch „Voir l’invisible. Sur Kandinsky“ (1988) zur Darstellung. Das Verhältnis von Religion und Kunst wird neben diesem Werk noch in einem ebenfalls unübersetzten Interview mit dem Titel „Art et phénoménologie de la vie“ (1996) ausführlicher thematisiert. Zum besseren Verständnis der Subjektphilosophie, die seiner Kunstphilosophie zugrunde liegt, ist es sinnvoll, den Aufsatz „Phénoménologie de la vie“ (2001) sowie die späten religionsphilosophischen Schriften „C’est moi la vérité. Pour une philosophie du christianisme“ und „Incarnation: une philosophie de la chair“ (2000) hinzuzuziehen.Footnote 1

Meine Darstellung erfolgt in vier Schritten bzw. Abschnitten. Ich beginne 1) mit einer knappen Skizze seines Phänomenologieverständnisses, befasse mich 2) mit seiner Kunstphilosophie in ihrer Beziehung zu den kunsttheoretischen Schriften Kandinskys, erarbeite 3) Henrys subjektphilosophisches Religionsverständnis, um schließlich 4) auf der Grundlage der drei ersten Punkte das Verhältnis von Kunst und Religion bei Henry zu bestimmen.

1 Das Phänomenologieverständnis

Michel Henrys Phänomenologie gründet in der Unterscheidung zweier Erscheinungsweisen von Phänomenen, zweier Arten von „Phänomenalität“ (Henry 2003, S. 59 f., 2005a, S. 13 f.).Footnote 2 Sie entsprechen zwei Formen von Phänomenologie, eine Phänomenologie der Welt und eine Phänomenologie des Lebens.

Welt begegnet uns, indem wir uns intentional auf sie richten. Intentional richtet sich ein Subjekt auf ein Objekt, das er als von sich unterschieden erfährt, als etwas außer ihm Seiendes. Selbst im Fall eines Denkaktes oder wenn wir uns selbst zum Objekt einer intentionalen Bezugnahme machen, beziehen wir uns in gewisser Weise auf etwas Außer-uns-Seiendes. Die Art des Erscheinens, die Phänomenalität von Weltlichem ist mit anderen Worten das Vor-uns-da-sein von etwas:

„Als intentionales Bewußtsein verstanden, ist dieses letztere nichts anderes als die Bewegung, wodurch es sich ins Außen entwirft; seine ‚Substanz‘ erschöpft sich in diesem Ins-Außen-Kommen, welches die Phänomenalität hervorbringt. In einem solchen Ins-Außen-kommen, in einer Distanzierung zu offenbaren, heißt sehen lassen. Die Möglichkeit der Schau beruht in dieser Distanzierung dessen, was vor das Sehen gesetzt und somit von ihm gesehen wird.“ (Henry 2003, S. 61, 2005a, S. 15)

Anders gibt sich uns Leben. Es kann natürlich auch – in der Biologie etwa – als Weltphänomen in Erscheinung treten. Die besondere Phänomenalität jedoch, durch die sich Leben gibt, steht im Gegensatz zum Welterscheinen:

„Während letzteres im ‚Außer-sich‘ entbirgt, da es nur das ‚Außer-sich‘ als solches ist, so dass alles von ihm Entborgene äußerlich, anders, different ist, besteht das erste entscheidende Merkmal der Lebensoffenbarung darin, daß diese – da sie keinerlei Kluft in sich trägt und sich niemals von sich unterscheidet – immer nur sich selbst offenbart (…). Somit verschwindet im Fall des Lebens der Gegensatz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen …“ (Henry 2003, S. 65, Henry 2005a, S. 19)

Leben erscheint, ohne dass es zu einer Unterscheidung von Subjekt und Objekt kommt. Das Leben ist mit Henrys Worten „Selbstoffenbarung“ (Henry 2003, S. 65, 2005a, S. 19) im Sinn von „pathischer Selbstaffektion ohne Kluft noch Abstand sich selbst gegenüber“ (Henry 2003, S. 71, 2005a, S. 27). Es gibt keinen Gegensatz von Erscheinendem und Erscheinen. Das Leben „behält (…) das von ihm Geoffenbarte in sich“ (Henry 2003, S. 66, 2005a, S. 21).

Henrys Phänomenologie des Lebens untersucht dieses sich unmittelbar selbst affizierende Leben. Leid, Freude, Schmerz usw. sind unterschiedliche Lebensmodalitäten, unterschiedliche Weisen, wie sich das Leben erfährt (Henry 2003, S. 70, 2005a, S. 26). Es gibt positiv erlebte Modalitäten wie Eindrücke („impressions“) der Lust und des Glücks und negativ erlebte Modalitäten wie Eindrücke des Schmerzes und der Trauer (Henry 2003, S. 71, 2005a, S. 26). Dabei liegt allen Modalitäten eine ihnen vorausliegende, eine transzendentale Affektivität zugrunde (Henry 2000, S. 89, 97, 2002, S. 102, 111), ein kontinuierlich gegebenes Sichselbstempfinden, welches durch die sich stets ändernden Modalitäten der Selbstaffektivität hindurch erhalten bleibt.

Aus Sicht der Phänomenologie des Lebens ist sich das Subjekt zudem stets als lebendiger Körper, als „chair vivante“, wörtlich übersetzt als lebendiges Fleisch gegeben. Damit ist nicht der Körper als Objekt gemeint, sondern der Körper, aus dem heraus man lebt (Henry 2000, S. 172 ff., 2002, S. 190 ff.), der transzendentale Körper, der riecht, sieht, berührt, hört usw., der aber unsichtbar ist, solange man sich nicht intentional als Objekt auf ihn bezieht (Henry 2003, S. 73, 2005b, S. 29). Der transzendentale Körper ist nicht Objekt, sondern Prinzip der Erfahrung (Henry 2000, S. 158 f., 2005b, S. 176). Leben als selbstaffizierte, verkörperte Subjektivität ist das wesentliche Thema von Michel Henrys Philosophie.Footnote 3

2 Kunst als Ausdruck von Leben

Auf der Grundlage dieses Phänomenologieverständnisses entwickelt Michel Henry in „Voir l’invisible. Sur Kandinsky“ unter Heranziehung von Kandinskys kunsttheoretischen Schriften, vor allem von „Über das Geistige in der Kunst“ (2017 [1911/12]) und „Punkt und Linie zu Fläche“ (2016 [1926]), eine Philosophie der Kunst.

Malen scheint sich zunächst ganz auf das äußere Phänomen zu beziehen. Man malt den Weltgegenstand, den man sieht (Henry 1988, S. 20). Das entspricht dem traditionellen, von den Griechen übernommenen Verständnis von Kunst. Kunst als Mimesis, wie von Platon definiert (Henry 1988, S. 20). Kandinsky versteht Kunst im Gegensatz dazu vom inneren Phänomen her. Die rein äußere Betrachtung des Kunstbetrachters beschreibt er wie folgt: „Mit kalten Augen und gleichgültigem Gemüt wird dieses Werk beschaut. Die Kenner bewundern die ‚Mache‘ (so wie man einen Seiltänzer bewundert), genießen die ‚Malerei‘ (so wie man eine Pastete genießt). (…) Diesen Zustand der Kunst nennt man l’art pour l’art.“ (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 29) Das ist nicht die Kunst, wie Kandinsky sie versteht. Dem Betrachter oder auch Künstler soll es nicht um die „Mache“ gehen, um eine „künstlerische Nachahmung der Naturerscheinungen“ (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 58). Der Künstler hat vielmehr die Aufgabe, „seine innere Welt zum Ausdruck (zu) bringen“ (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 58). Kunst muss generell „auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele beruhen“ (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 68). Nur das Bild ist gut gemalt, „welches innerlich voll lebt“ (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 136). Der Kunstgegenstand muss mit anderen Worten eine „Vibration“ im Herzen hervorrufen, muss etwas im Menschen zum Klingen bringen (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 50).

Dieses Ins-Spiel-bringen der Affektivität ist der Anknüpfungspunkt für Michel Henry (vgl. Henry 1988, S. 141). Das Kunstwerk soll Subjektivität bzw. Leben zum Ausdruck bringen (Henry 1988, S. 33). In der abstrakten Kunst aber geschieht dies Henrys Meinung nach in reinster Form. Sie stellt keine realen Gegenstände dar, weder Naturphänomene noch menschliche Ereignisse. Sie versucht die Dissoziation zwischen innerem Gehalt und den Mitteln der Darstellung, wie sie bei der gegenständlichen Kunst gegeben ist, zu überwinden (Henry 1988, S. 23). Worauf es ankommt, ist lediglich, dass das in der abstrakten Kunst Dargestellte Ausdruck des unsichtbaren Lebens ist. Die Kunst macht sichtbar, was unsichtbar ist („… a pour but de nous faire voir ce qu’on ne voit pas“, Henry 1988, S. 24). Weder der Inhalt (das unsichtbare Leben) noch die Mittel der Darstellung (abstrakte Formen) sind Bestandteile der Welt (Henry 1988, S. 23).Footnote 4

Kandinsky versteht unter Abstraktion nicht die Vereinfachung eines konkreten Weltgegenstandes, vielmehr ist das Abstrakte für ihn etwas von der Realität der Welt völlig Getrenntes, das ihrer nicht bedarf (Henry 1988, S. 26 f., 33). Für den Kubismus hat Abstraktion immer noch den Charakter einer Wiedergabe dieser Realität. Ein Berg, eine sitzende Frau, eine Geige werden in geometrischer Form dargestellt. Auch die abstrakte Kunst eines Malewitsch oder Mondrian bleibt für Henry ausschließlich auf die Welt bezogen, indem sie das erste Erscheinen des Äußeren als solches thematisiert – geometrische Gebilde von Länge, Breite und Tiefe als die gewissermaßen transzendentale Bedingung aller Gegenständlichkeit (vgl. Henry 1988, S. 29 f.). Die Darstellung von Abstraktem in Kandinskys abstrakter Kunst soll hingegen ausschließlich Ausdruck des Innern sein. Was nicht Ausdruck des Innern, bzw. mit Henry gesagt, des selbstaffizierten Lebens ist, ist für Kandinsky kein Kunstwerk (Henry 1988, S. 45). Was Henry Leben nennt, wird gewissermaßen zum alleinigen Konstruktionsprinzip („loi de construction“) des Kunstwerkes (Henry 1988, S. 48).Footnote 5

Aufgrund der Selbstaffektivität des Lebens ist uns das Innere in Form von Emotionen, Gefühlen gegeben. Ziel der Kunst ist es von daher, Emotionen zu vermitteln (Henry 1988, S. 37). Kandinsky schreibt über sich selbst, er habe sein ganzes Leben lang nur Moskau gemalt, wobei Moskau für seine Erfahrung des Sonnenuntergangs über Moskau zu einer bestimmten Stunde, kurz bevor die Sonne rot wird, steht. Der Sonnenuntergang löste eine ekstatische Freude in ihm aus. Sie wurde zum Schlüsselerlebnis für sein gesamtes Kunstschaffen, zu dem, was wiederzugeben das höchste Glück für ihn als Künstler darstellt (Henry 1988, S. 35 f.; vgl. Kandinsky 1980, S. 29). Genauer besehen besteht Leben darin, dass die Gefühle ständig schwanken zwischen Leid und Freude. Leben ist ständiger Übergang von einem Gefühl zum nächsten. Die Kunst aber stellt diese Geschichte unserer Gefühle dar (Henry 1988, S. 144).

Kandinsky nennt die Mittel, durch die das innere Leben bzw. die Vibrationen der Seele in der Kunst zur materiellen Darstellung gelangen, allgemein Formen. Dazu gehören nicht nur die linearen Darstellungsmittel, Punkt, Linie und Fläche, sondern auch die Farben (Henry 1988, S. 43). Lineare Formen und Farben verwendet die abstrakte Malerei völlig frei von jeglicher Darstellung von Weltgegenständen. Es handelt sich um rein pikturale Formen (Henry 1988, S. 59). Ein unendliches Feld möglicher Kombinationen von Punkt, Linie, Fläche und Farbe entsteht auf diese Weise. Das Kunstwerk wird zu einem Produkt der freien Imagination (vgl. Henry 1988, S. 185), was Henry als die „große Befreiungsgeste der Abstraktion“ bezeichnet („le grand geste libérateur de l’abstraction“, Henry 1988, S. 58).

Kandinsky entwirft eine Theorie der Elemente, die aufzeigt, inwiefern die einzelnen Formelemente, Punkt, Linie, Fläche, Farbe, aber etwa auch das verwendete Material, einzeln und in Kombination miteinander Ausdruck von bestimmten Vibrationen, Emotionen, Gefühlen sind (Henry 1988, S. 64). Für jedes Formelement gibt es stets eine äußere und eine innere Seite. Die äußere ist der gemalte Punkt, die gemalte Linie usw., die innere ist die in dem Element lebende „innere Spannung“ oder „lebende Kraft“ (Kandinsky 2016 [1926], S. 31; Henry 1988, S. 65),Footnote 6 die macht, dass die gemalte Form eine „affektive Tonalität“ („tonalité affective“) besitzt (Henry 1988, S. 64).Footnote 7 Bei Kandinsky ist von „Klang“ die Rede (Kandinsky 2016 [1926], S. 36 f., 89).

Sehen wir uns zum besseren Verständnis dieser Theorie ein paar Beispiele von Kandinskys Analyse an. Zum Punkt etwa sagt Kandinsky folgendes: „Der Punkt krallt sich in die Grundfläche hinein und behauptet sich für alle Zeiten. So ist er innerlich die knappste ständige Behauptung, die kurz, fest und schnell entsteht.“ (Kandinsky 2016 [1926], S. 31.) Dabei ist die innere Spannung, die vom Punkt ausgeht, unterschiedlich, je nachdem in welchem Umfeld von anderen Punkten, Linien oder Flächen er sich befindet. Es gibt den Zweiklang Punkt-Fläche, etwa je nachdem, wo man einen Punkt in einem Quadrat platziert (Kandinsky 2016 [1926], S. 35). Die Linie ist Ausdruck von Bewegung. Die Gerade als Vertikale steht für warme Bewegung, die Horizontale für kalte Bewegung (Kandinsky 2016 [1926], S. 59). Der rechte Winkel ist Ausdruck des Kalten und Beherrschten, der spitze Winkel für das Scharfe und Höchstaktive, der stumpfe Winkel für das Unbeholfene, Schwache und Positive (Kandinsky 2016 [1926], S. 75). Die linke Seite der Grundfläche eines Gemäldes erweckt die Vorstellung größeren Lockerseins, ein Gefühl der Leichtigkeit, der Befreiung und schließlich der Freiheit (Kandinsky 2016 [1926], S. 135), die Bewegung nach links in einem Bild ist Bewegung in die Ferne, die Bewegung nach rechts in einem Bild Bewegung nach Hause (Kandinsky 2016 [1926], S. 137 f.) usw. Hinzu kommen die Farben. Kandinsky beobachtet Verwandtschaften zwischen zeichnerischen Formen und Farben. Es besteht eine Parallele zwischen Horizontale und Schwarz, Vertikale und Weiß, Diagonale und Rot, freier Geraden und Gelb oder Blau (Kandinsky 2016 [1926], S. 67). Die Farben in sich aber haben ebenfalls einen Klang. Jede Farbe erreicht die Seele auf eine bestimmte Weise (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 65). Hell oder Dunkel, Kalt oder Warm sind die vier Hauptklänge der Farbe (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 92; Henry 1988, S. 133). Die Neigung zu Kalt oder Warm ist „eine Neigung im Allgemeinen zu Gelb oder Blau“ (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 91). Gelb strahlt aus, Blau wirkt konzentrisch (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 92). Beide Farben implizieren Bewegung, Aktivität. Grün als Farbe zwischen Gelb und Blau hingegen steht für die Abwesenheit von Bewegung. „Wie das in Gelb gemalte Bild immer eine geistige Wärme ausströmt, oder ein blaues zu abkühlend erscheint (also aktive Wirkung …), so wirkt das Grün nur langweilend (passive Wirkung). Die Passivität ist die charaktervollste Eigenschaft des absoluten Grün, wobei diese Eigenschaft von einer Art Fettheit, Selbstzufriedenheit parfümiert wird.“ (Kandinsky 2017 [1911/12], S. 98).

Das Kunstwerk ist die Zusammenstellung („composition“) des Ganzen des Bildes. Die Elemente werden so zueinander geordnet, dass ein bestimmter, aus den Klängen der Elemente hervorgehender Klang der Zusammenstellung entsteht (Henry 1988, S. 166). Der Künstler stellt das Bild nicht nach Maßgabe darzustellender Weltobjekte zusammen, sondern nach Maßgabe des Klangs, des Pathos, den die pikturalen Elemente (Farben, Punkte, Linien, Flächen) zum Ausdruck bringen. Die Zusammenstellung ist Ausdruck einer inneren Notwendigkeit („nécessité intérieure“, Henry 1988, S. 95), der Notwendigkeit nach der die verschiedenen Elemente sich dem Klang bzw. Pathos bzw. der affektiven Tonalität des Gesamtbildes unterordnen (Henry 1988, S. 169).Footnote 8

Die Formen sind nicht beliebig im Verhältnis zum Leben, das sie ausdrücken (Henry 1988, S. 63). In Kandinskys Theorie der Elemente geht es nicht um private Assoziationen, sondern um allgemeine Gesetze der Verbindung von Formen mit seelischen Vibrationen. Die Verbindung der Elemente mit Affekten ist seiner Auffassung nach für alle Menschen gleich (Henry 1988, S. 61). Die Theorie der Elemente soll daher eine allgemeingültige Kunstwissenschaft in die Wege leiten: „Die Methoden der Kunstanalyse sind bis jetzt immer noch sehr willkürlich gewesen und nicht selten viel zu persönlicher Natur. Die kommende Zeit drängt auf einen genaueren und objektiveren Weg, auf dem eine kollektive Arbeit in der Kunstwissenschaft möglich sein wird.“ (Kandinsky 2016 [1926], S. 81).

Die Hauptthese („thèse essentielle“) des Kandinsky-Buches ist, dass die abstrakte Malerei das Wesen der Malerei überhaupt definiert (Henry 1988, S. 104). Mit der Eliminierung der Darstellung von Welt werde „das reine Wesen der Malerei“ freigelegt („l’essence pure de la peinture“, Henry 1988, S. 73). Malerei sei nichts als Ausdruck menschlicher Affektivität bzw. Subjektivität (Henry 1988, S. 74). Ausdruck bedeutet nicht, dass die Malerei das Leben zum Gegenstand von Vorstellungen macht. Sie ist genauso wenig Mimesis des Lebens wie sie Mimesis der Welt ist (Henry 1988, S. 206). In der Kunst Kandinskys ist die Subjektivität Inhalt der Malerei, weil das Pathos, das den Farben und Formen als deren unsichtbare Seite zugrunde liegt, sich durch sie hindurch offenbart (Henry 1988, S. 210).Footnote 9

Erst da, wo die Malerei Ausdruck von Leben bzw. Subjektivität ist, haben wir es überhaupt mit ästhetischer Erfahrung zu tun, entsteht nach Henrys Auffassung ästhetischer Genuss („plaisir esthétique“, Henry 1988, S. 76). Damit wird die ästhetische Erfahrung allerdings, so jedenfalls an einer Stelle von „Voir l’invisible“, völlig losgelöst vom kulturellen Kontext, in dem das Kunstwerk auftritt. Kultur definiert Henry an dieser Stelle als das Ganze der durch Sprache vermittelten Bedeutungen (Henry 1988, S. 128), Sprache, die ein Geflecht von Vorstellungen und Gedanken konstituiert. Die ästhetische Erfahrung hingegen finde allein auf dem Gebiet der Empfindungen statt, der „sensibilité“ (Henry 1988, S. 128). Die abstrakte Kunst im Sinn Kandinskys umgehe Sprache und Kultur, weil sie allein auf das Verhältnis des Dargestellten zum inneren Leben fokussiert sei (Henry 1988, S. 131), auf das Pathos, das Farbe, Punkt, Linie und Fläche im Betrachter hervorruft (Henry 1988, S. 132).Footnote 10

3 Leben und Religion

Der Lebensbegriff schiebt sich nach und nach ins Zentrum von Henrys Philosophie, und nicht erst in seinen späten, ausdrücklich religionsphilosophischen Schriften verleiht er dem, was er unter Leben versteht, eine religiöse Dimension.Footnote 11 Mit seinem Kunstverständnis lässt sich die religiöse Dimension am besten in Verbindung bringen, wenn man das 1996 original auf Französisch erschiene Werk „‚Ich bin die Wahrheit‘“ heranzieht, obwohl es nach dem Kandinsky-Buch erschienen ist, und obwohl es völlig unvermittelt die neutestamentliche Begrifflichkeit, insbesondere die des Johannesevangeliums, in Anspruch nimmt. Man könnte Henry den Vorwurf machen, er betreibe Theologie.Footnote 12 Henry selbst sieht in dieser Vorgehensweise kein Problem. Die johanneischen und paulinischen Texte würden es ermöglichen, seine Phänomenologie des Lebens direkter zum Ausdruck zu bringen, als die Philosophie es kann.Footnote 13

Henrys Analyse stützt sich auf zwei grundlegende Aspekte von Leben. Leben zeichnet sich einerseits durch Ipseität aus, d. h. es ist immer ein singuläres Selbst, das lebt bzw. selbstaffiziert ist (Henry 1996, S. 75, 1997, S. 83). Leben ist immer das Leben eines bestimmten Lebewesens, „… das sich selbst affiziert, das sich selbst erlebt und sich selbst genießt …“ (Henry 1996, S. 76, 1997, S. 84.) Er vertritt damit ein anderes Lebensverständnis als etwa die Romantik (Henry 2000, S. 257, 2002, S. 284), für die die Individualität sich im Leben letztlich auflöst. Es gibt kein unpersönliches anonymes Leben (Henry 2003, S. 66, 2005b, S. 21). Andererseits zeichnet sich Leben durch Passivität aus. Ein Lebewesen bringt sein Leben nicht selbst hervor (vgl. Henry 1996, S. 136, 1997, S. 151), es findet sich als selbstaffiziert vor (Henry 2003, S. 71, 2002, S. 27). Es ist in seiner Selbstbezüglichkeit immer zugleich auf etwas anderes bezogen, auf das Leben, das sich ohne sein eigenes Zutun in ihm vollzieht.Footnote 14

Man kann Henrys Phänomenologie des Lebens bis zu diesem Punkt als Philosoph gut folgen. Leben, als Subjektivität gedacht, zeichnet sich durch Ipseität und Passivität aus. Die weiteren Ausführungen zeugen dann allerdings, aller Bedenkenlosigkeit Henrys zum Trotz, eher von einer vom Neuen Testament angeregten theologischen Explikation des phänomenologischen Befundes von Ipseität und Passivität als von einer philosophischen Phänomenologie im strengen Sinn. Henry fährt mit der Aussage fort, es gebe nur einziges, selbes Leben, das in jedem Lebendigen wirksam sei (Henry 1996, S. 128, 1997, S. 142). Er nennt es absolutes Leben („Vie absolue“, Henry 1996, S. 68, 1997, S. 76). Wenn ich mich als Lebendiger zu mir selbst verhalte, verhalte ich mich zugleich zum absoluten Leben in mir. Es wird absolut genannt, weil es sich im Gegensatz zum lebenden Individuum selbst hervorgebracht hat („auto-génération“, vgl. Henry 1996, S. 128, 1997, S. 142). Henry setzt dieses absolute Leben mit Gott gleich (Henry 2000, S. 29, 2002, S. 37 f.). In diesem Zusammenhang wird dann auch der Religionsbegriff verwendet. Das Verhältnis des Lebenden zum absoluten Leben ist „religio“ (Henry 2004, S. 296).Footnote 15

Henry befasst sich in „‚Ich bin die Wahrheit‘“ zunächst mit dem absoluten Leben als solchem. Auch das absolute Leben ist wesentlich Subjektivität, auch in ihm gibt es Ipseität.Footnote 16 Das erste lebendige Sich, den ersten Lebenden, bzw. die erste Individualität nennt Henry „Sohn“ bzw. „Wort“. Das absolute Leben zeugt diesen ersten Lebenden: Der Vater zeugt den Sohn (Henry 1996, S. 76, 1997, S. 85). Diesen Sohn nennt Henry den „archi-fils“, den Ur-Sohn (Henry 1996, S. 77, 1997, S. 85). Durch den Ur-Sohn hat Gott ein Sich. In Analogie zu diesem absoluten Leben aber ist auch das menschliche Leben zu verstehen. So wie das absolute Leben sich zum ersten Lebendem verhält, dem Ur-Sohn, so verhält sich das absolute Leben zum Menschen als lebendes Individuum. D. h., auch der je einzelne Mensch ist, dem neutestamentlichen Gebrauch des Wortes entsprechend, Sohn.

Der Mensch jedoch vergisst seine Bindung („religio“) an das absolute Leben. Henry führt an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen Sich („moi“) und Ego („je“) ein. Das vom Ur-Sohn hervorgebrachte, gezeugte Selbst ist das „moi“, das Ich im Akkusativ (Henry 1996, S. 171, 1997, S. 189). Durch den Akkusativ wird zum Ausdruck gebracht, dass dieses Ich sich nicht selbst gezeugt hat. Das Mich („moi“) ist das Selbst, dass sich vom absoluten Leben gezeugt und begründet erfährt. Der Mensch ist jedoch zugleich so beschaffen, dass er sich als im Besitz seiner selbst erfährt, seiner eigenen Kraft, seiner Fähigkeiten. Das macht ihn zu einem „ego“, genauer gesagt zu einem „Ich kann“ („je peux“) (Henry 1996, S. 172, 1997, S. 191). Dieses Können, seine Freiheit, ist ihm gegebenes Können. Es verdankt sich dem absoluten Leben (Henry 1996, S. 173, 1997, S. 191). Der Mensch kann dies jedoch ignorieren. Es besteht die Möglichkeit einer „transzendentalen Illusion des Ego“ („illusion transcendentale de l’ego“, Henry 1996, S. 177, 1997, S. 196), die darin besteht, dass das Ich sich für den Grund seines eigenen Seins hält (Henry 1996, S. 177, 1997, S. 196).

Das Vergessen der „religio“ hat noch einen anderen Grund: Das Leben verbirgt sich ständig (Henry 1996, S. 179, 1997, S. 198 f.). Je mehr es sich verbirgt, desto mehr wendet der Mensch sich der Welt zu, sorgt sich um sich selbst, ist in Sorge, in der Welt dieses oder jenes zu erreichen. Zugleich mit Heideggers Sorge klingt hier der neutestamentliche Aufruf an, die Sorge um das Weltliche hinter sich zu lassen. In der Sorge nimmt das Vergessen des Lebens seine äußerste Form an (Henry 1996, S. 185, 1997, S. 205). Das Leben aber verbirgt sich deshalb, weil es nicht intentional, sondern unmittelbar auf sich selbst bezogen ist. Es kann sich als Leben weder denken, noch sich an sich selbst erinnern. Es ist radikales Sichvergessen („oubli de soi en un sens radical“, Henry 1996, S. 186, 1997, S. 206). Auch weil das Leben sich selbst vergisst, vergisst der Mensch seine Bindung („religio“) an das absolute Leben.

Die Überwindung dieses Vergessens kann nach Ansicht von Henry nicht mittels eines Aktes der Selbstreflexion vollzogen werden (Henry 1996, S. 193, 1997, S. 214). Zurück zur Erfahrung der Bindung an das absolute Leben, bzw., wie es früher in seinem Werk formuliert wird, zum Wesen des Lebens („essence de la vie“), gelangt der Mensch vielmehr durch das ethische Handeln, durch ein Handeln im Sinn der christlichen Ethik (Henry 1996, S. 209, 1997, S. 231). Gemeint ist ein Handeln, das gemäß Mt 12,50 den Willen Gottes vollzieht: „Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter.“ Der aber ist mein Bruder, Schwester und Mutter, d. h. der ist wie ich, Jesus, der Ur-Sohn, der vom absoluten Leben durchdrungen ist: „Den ‚Willen des Vaters‘ tun, der im Himmel ist, heißt, den Selbstbezug, der das singuläre ‚Sich‘ mit diesem selbst vereint, sich als den Selbstbezug des absoluten Lebens erfüllen lassen …“ (Henry 1996, S. 210, 1997, S. 232). Christliches Handeln wird von Henry durch die sieben Werke der Barmherzigkeit exemplifiziert, also u. a. Hungernde speisen, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Gefangene besuchen. Wer so handelt, dessen Leben wird zurück ins Verhältnis zum absoluten Leben gebracht (Henry 1996, S. 210 f., 1997, S. 233 f.), wer so handelt, erlangt, biblisch ausgedrückt, das Heil („le salut“). Wer im Sinn der Werke der Barmherzigkeit handelt, überwindet die Selbstherrlichkeit des sich selbst genügenden Ego (Henry 1996, S. 213, 1997, S. 236).

4 Religion und Kunst

Was bedeuten nun diese philosophisch gesehen recht steilen Ausführungen zum Verhältnis von Leben und Religion für das Verhältnis von Kunst und Religion, wo doch die Kunst ebenfalls als ein Ausdruck von Leben zu verstehen ist?

In einem Interview von 1996 mit dem Titel „Art et phénoménologie de la vie“ macht Henry deutlich, dass die Kunst für ihn eine ähnliche Funktion erfüllt wie die Ethik. „Die Kunst ist von Natur aus ethisch“ („L’art est par nature éthique“) gibt Henry in diesem Interview zu verstehen (Henry 2004, S. 297).Footnote 17 Die Ethik im Sinn der christlichen Ethik führt wie gesehen den Menschen zur „religio“, also zur Bindung an das absolute Leben zurück. Henry drückt es in diesem Gespräch so aus: „Der Ethik geht es darum (…), uns dahin zu bringen, dass wir, anstatt ein in der Sorge um die Welt verlorenes Leben zu leben, innerlich diese radikale Bindung neu erleben.“ (Henry 2004, S. 297).Footnote 18 Dabei nennt er dieses Neuerleben mehrmals Intensivierung des Lebens. Die christliche Ethik komme einer „radikalen Intensivierung des Lebens gleich“ („intensification radicale de la vie“, Henry 2004, S. 297). Und gleich anschließend heißt es: „Es gibt noch eine andere Sphäre, die dies von ihrem Prinzip her ermöglicht, die Kunst. Die Kunst ist von Natur aus ethisch.“ (Henry 2004, S. 297.)Footnote 19 Somit kann auch die Kunst zur „religio“ führen, zum Erleben der radikalen Bindung. Die Kunst sei gar „eine Form von religiösem Leben“ (Henry 2004, S. 297), die ästhetische Erfahrung grundsätzlich von sakraler Natur, die Ästhetik eine Form von Religion „im Sinn der konstitutiven Grundbindung eines jeden transzendental Lebendigen mit dem absoluten Leben“ („au sens de lien fondamental constitutif de tout vivant transcendental, avec la Vie absolue“), alles Formulierungen aus diesem Interview (Henry 2004, S. 297).Footnote 20

Kommen wir noch einmal auf das Kandinsky-Buch zurück, auf dessen Schluss, wo das Verhältnis von Kunst und Religion ebenfalls zum Ausdruck kommt, wenn auch nicht so explizit wie im Interview. Henry stellt die Frage: Inwiefern ist das Leben in der Kunst anders als im gewöhnlichen Leben gegenwärtig? Und die Antwort lautet: Es ist in ihr seinem ihm eigenen Wesen nach gegenwärtig („selon son essence propre“, Henry 1988, S. 209). Wesen des Lebens („essence de la vie“) aber bezeichnet nichts anderes als die sich dem absoluten Leben verdankende Selbstaffektion, als das sich dem absoluten Leben verdankende, in Passivität vollziehende Leben. Wo das Leben seinem eigenen Wesen nach gegenwärtig ist, findet, so Henry auch im Kandinsky-Buch, eine Steigerung des Selbst statt („un accroissement de soi“, Henry 1988, S. 209) bzw. eine Intensivierung des Pathos („intensification de son pathos“, Henry 1988, S. 210), was an die Formulierung „Intensivierung des Lebens“ im Interview erinnert. In der Kunst kommt dieses intensivierte Leben zum Ausdruck: „Die Kunst ist die Vollendung des Wesens des Lebens.“ (Henry 1988, S. 212). Im gewöhnlichen Leben wird dieses Pathos nicht voll ausgeschöpft.Footnote 21

Wenn das Kunstwerk nach den Regeln der Kunst gestaltet wird, also den von Kandinsky aufgestellten Prinzipien gemäß, dann bringt es das Leben seinem Wesen nach zum Ausdruck, bzw. es ist die Notwendigkeit des Lebens selbst, die zum Ausdruck kommt. Henry spricht von einer mystischen Notwendigkeit („nécessité mystique“, Henry 1988, S. 213). Die Kultur im Allgemeinen definiert er – konträr zum bereits erwähnten Kulturverständnis an anderer Stelle, welches die Malerei gewissermaßen von der Kultur ausschließt (vgl. Abschn. 2 bzw. Henry 1988, S. 131) – als einen Prozess, durch den das Leben sich seinem ewigen Wesen nach verwirklicht („la vie réalise son essence éternelle“, Henry 1988, S. 214).Footnote 22 In den großen Kunstwerken erreicht die Empfindungsfähigkeit ihr Maximum an Intensität und Kraft.Footnote 23 Das Wesen des Lebens, die „essence de la vie“, die höchste Intensität und Kraft des Lebens, aber findet sich nur da, wo „religio“ gegeben ist, wo das sich selbst affizierende Individuum lebendig im absoluten Leben gründet. Nicht umsonst war die Kunst in ihren Anfängen von sakraler Natur, war das Übernatürliche ihr ausschließliches Anliegen (Henry 1988, S. 217). Es ist das Leben selbst das heilig („sacré“) ist. Es ist heilig, „weil wir es in uns leben als das, was wir weder gesetzt noch gewollt haben“ („parce que nous la vivons en nous comme ce que nous n’avons ni posé ni voulu“), aufgrund der „Passivität des Lebens in uns“ („passivité en nous de la vie“, Henry 1988, S. 217). Weil dem so ist, sind Kunst und Religion nicht nur in ihrem Anfang, sondern konstitutiv aufeinander bezogen, wie das Interview „Art et phénoménologie de la vie“ zum Ausdruck bringt (Henry 2004, S. 297).

Wie problematisch die Herleitung von Religion aus dem Lebensbegriff rein philosophisch gesehen auch sein mag: Michel Henry gelingt auf der Grundlage seiner Subjektphilosophie eine transzendentale Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion. In Anlehnung an die nichtfigurative Kunst Kandinskys gelangt er zu einem Verständnis dieses Verhältnisses, das völlig unabhängig von der Idee einer Symbolisierung des Religiösen durch die Kunst ist, und das zugleich auf jede Form von Kunst anwendbar ist, weil Religion allein im malerischen Wert des Kunstwerkes zum Ausdruck kommt. Kunst ist ein Ausdruck von Religion, weil Kunst Ausdruck der passiven Selbstaffektion ist, die ein Gründen dieser Selbstaffektion im absoluten Leben und damit „religio“ voraussetzt. Kunst ist ein Ausdruck von Religion, könnte man noch hinzufügen, zumindest soweit, wie sie ein Ausdruck des im absoluten Leben gründenden „moi“ und nicht des lebensvergessenen „ego“ ist.