Zusammenfassung
Zwischen Ethnologie und Sozialer Arbeit finden sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Gemeinsamkeiten. In beiden Disziplinen wird von grundlegenden Differenzen zwischen Forscher*innen und Beforschten ausgegangen, die häufig unter dem Begriff der Kultur gefasst werden. Mit den Schriften der ursprünglich als Sozialarbeiterin ausgebildeten Ethnologin Hilde Thurnwald (1890–1979) lassen sich Gemeinsamkeiten wie diese etwas besser verstehen. Ihre Texte machen greifbar, dass vielfältige Übergänge zwischen beiden Disziplinen bestanden haben, an denen die Autorin aktiv mitgewirkt hat. Insbesondere das Konzept des „Kulturwandels“ fungiert bei Hilde Thurnwald als ein Grenzobjekt, mit dem sie solche Übergänge – nicht nur zwischen diesen beiden Fächern, sondern auch zwischen politischen und sozialen Handlungssphären – gestaltet hat. Der Beitrag untersucht die Konstruktion und Verwendung des Begriffs „Kulturwandel“ in den Schriften Thurnwalds im größeren Zusammenhang kolonialer Wissensproduktion und fragt, wie dieser Begriff im Kontext von Ethnologie und Sozialer Arbeit konstruiert und verwendet wird, wie er für beide Welten und darüber hinaus anschlussfähig gemacht wird und welche Effekte dies für die gegenseitige Durchdringung zum Beispiel für den Blick auf die beforschten und behandelten Menschen hat.
Abstract
In the first half of the twentieth century, we find many similarities between ethnology and social work. In both disciplines, fundamental differences between the researchers and the researched are assumed that are often subsumed under the concept of culture. The writings of the ethnologist Hilde Thurnwald (1890–1979), who originally trained as a social worker, provide a better understanding of such commonalities. Her texts make tangible the manifold transitions between the two disciplines, in which the author actively participated. In Hilde Thurnwald’s work, the concept of “cultural change” in particular functions as a boundary object with which she has shaped such transitions—not only between these two subjects but also between political and social spheres of action. This article examines the construction and use of the term “cultural change” in Thurnwald’s writings in the larger context of colonial knowledge production and asks how this concept is constructed and used in the context of anthropology and social work, how it is made connectable to both worlds and beyond, and what effects this has on interpenetration, for example, for the view of the people who are researched and treated.
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1 Einleitung
Bevor Hilde Thurnwald (1890–1978)Footnote 1 nach dem Ersten Weltkrieg ihre Forschungen in ehemaligen Kolonien des Deutschen Kaiserreichs aufnahm und als Ethnologin international erfolgreich wurde, hatte sie zunächst einen – so scheint es – völlig anderen Weg eingeschlagen. In ihren frühen Zwanzigern gehörte Hilde Thurnwald zu den ersten Schülerinnen der von Alice Salomon 1908 in Berlin-Schöneberg gegründeten Sozialen Frauenschule (Melk-Koch 1989, S. 147).Footnote 2 Diese Schule, die ein Projekt der bürgerlichen Frauenbewegung gewesen ist und noch heute als Alice Salomon Hochschule fortbesteht, markierte einen großen Schritt in der Entwicklung der modernen Sozialen Arbeit auf ihrem Weg zu Profession und Wissenschaft. Auch wenn Hilde Thurnwald, soweit wir wissen, nicht weiter in der Sozialen Arbeit tätig gewesen ist, blieb sie mit den Berliner Frauenbewegungskreisen in beruflichem Kontakt und nahm auch die wissenschaftliche Entwicklung der jungen Disziplin zur Kenntnis.Footnote 3 Dazu zählen die ersten empirischen Forschungen der Sozialen Arbeit, die sich mit durch Krieg und Wirtschaftskrisen drastisch veränderten Lebenslagen ihrer Adressat*innen und ganz besonders mit der Situation von Frauen befassten und dabei unter anderem auch ethnografische Methoden einsetzten (Salomon und Baum 1930; vgl. Hoff 2015; Lau 2020).
In ihren eigenen ethnologischen Forschungen, die sie in den ehemaligen deutschen Kolonialgebieten Papua-Neuguinea und Tansania durchführte, interessierte sich Thurnwald für die Folgen des „Ansturms des Europäertums“Footnote 4 für die sozialen Organisationen und die Einzelschicksale der Anwohner*innen. Dabei setzte sie ihren Fokus auf die Frage, wie die Beforschten die von der Kolonialherrschaft ausgelösten Wandlungsprozesse subjektiv erlebten und nahm insbesondere die Lebenswelten von Frauen in den Blick. Beides war bisher in ethnologischen Forschungen nicht prominentFootnote 5 und brachte Hilde Thurnwald später den Ruf einer Vorreiterin der ethnologischen Frauenforschung ein (Beer 2007; Hauser-Schäublin 1991).
Die vielfältigen lebensweltlichen Auswirkungen der massiven und gewaltvollen Eingriffe durch die Kolonialmächte auf die Bewohner*innen, die in erster Linie als Arbeitskräfte betrachtet wurden, und die damit verbundenen Anpassungsprobleme fassten Hilde Thurnwald und ihr Ehemann und Forschungspartner Richard Thurnwald unter den Begriff des Kulturwandels. Immer wieder brachten beide ihre Forschungen in Zusammenhang mit kolonialpolitischen Interessen. So schreibt etwa Hilde Thurnwald in ihrer Einleitung zu ihrer Publikation Menschen der Südsee. Charaktere und Schicksale (1937)Footnote 6:
„Durch exakte Studien der Charaktere und Typen, der Begabungs- und Leistungsunterschiede […] könnte auch den modernen Anpassungsproblemen der Naturvölker im kolonialpolitischen Interesse Rechnung getragen werden“ (ebd., S. 19).
Genauer äußert sich Thurnwald dazu in ihren Studien über die Mädchen und Frauen in Tanganyika (welches sie trotz Deutschlands längst verlorener Kolonialherrschaft 1942 noch (bzw. wieder) als „Deutsch-Ost“ bezeichnete).Footnote 7 Ihrer Ansicht nach seien „die Europäer“ an Eingriffen in die Erziehung lebhaft interessiert,
„1. Weil sie, wie schon angedeutet, in den tropischen Gebieten die schwarzen Arbeitskräfte brauchen und bei weiterem Erschließen der Kolonien immer dringender benötigen werden, 2. weil ein erheblicher Teil der Eingeborenen nur dann den weißen Arbeitgebern vollwertige Hilfe leisten kann, wenn sie genügend vorgebildet sind, 3. weil die Europäer sich verantwortlich fühlen müssen für die aus dem Gleichgewicht gebrachten schwarzen Menschen, die vor der schweren Aufgabe stehen, auf den Trümmern des Alten eine neue Lebensordnung aufzubauen und zwar eine Ordnung, die nicht versucht, das Europäertum zu imitieren, sondern das afrikanische Volkstum weiter auszugestalten“ (Thurnwald 1942).
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs gründeten Richard und Hilde Thurnwald in Berlin ihr Institut für Sozialpsychologie und Ethnologie, das sich 1951 der Freien Universität Berlin angliederte. Zuvor war es von der amerikanischen Militärregierung finanziert worden und legte seinen Schwerpunkt zunächst auf die Erforschung der Kriegsfolgen für die Bevölkerung. Hilde Thurnwald publizierte ihre in Deutschland wohl am meisten rezipierte Studie Gegenwartsprobleme Berliner Familien (Thurnwald 1948), in der sie nicht nur an ihren vorhergehenden ethnologischen Forschungen, sondern auch an die Salomonschen Sozialarbeitsstudien zur kriegs- und wirtschaftskrisenbedingten Situation des Familienlebens um 1930 anknüpfte.Footnote 8
In einer Zusammenschau ihrer Publikationen sehen wir, dass Hilde Thurnwald ihre so verschieden situierten Forschungen in einen Zusammenhang stellt. Wie ein roter Faden zieht sich das Konzept des Kulturwandels durch ihre Texte: Die Folgen sowohl des europäischen „Ansturms“ auf den afrikanischen Kontinent und die Südseeinseln als auch des Weltkriegs in Deutschland sind für sie insofern vergleichbar, als sie den Betroffenen die Grundlagen für ihr traditionelles wirtschaftliches, politisches und soziales Leben entzögen und sie vor Anpassungsprobleme stellten. Mit ihren Forschungen wollte Thurnwald stets auch einen Beitrag zu einer evidenzbasierten, funktionalen Steuerung der Kolonial- bzw. Sozialpolitik sowie kolonialer, pädagogischer und sozialer Organisationen leisten.
Aus dieser Beobachtung, der ich im folgenden Text noch genauer nachgehen werde, ergeben sich Fragen danach, was die Ethnologie mit der Sozialen Arbeit historisch verbindet. Ich nehme an, dass wir solche Verbindungen mit dem von Thurnwald zentral gestellten Konzept des Kulturwandels nachvollziehen können. Analytisch folge ich dem von Susan Leigh Star entwickelten Konzept des Grenzobjektes (Star und Griesemer 1989). Mit Grenzobjekten werden Übergänge zwischen sozialen Welten – als solche können wir Forschungsgebiete und wissenschaftliche Disziplinen verstehen – gestaltet, sie sind gewissermaßen Operatoren für die gegenseitige Durchdringung dieser Welten. Auf diese Weise können wir uns bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Disziplinen besser verständlich machen.
Bevor wir tiefer in das Werk von Hilde Thurnwald eintauchen und ihrem Beitrag zu dieser Durchdringung nachgehen, werde ich zunächst die Zusammenhänge der beiden Fächer in einem etwas weiter eingestellten Fokus betrachten. Denn zwischen Sozialer Arbeit und der Ethnologie lassen sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine ganze Reihe von Berührungspunkten ausmachen.
2 Gemeinsamkeiten von Ethnologie und Sozialer Arbeit
Ähnlich wie die Ethnologie hatte es auch die frühe Sozialarbeit Ende des 19. Jh. mit weißen Flecken auf der Landkarte zu tun. Jedoch ging es ihr nicht um ferne Länder, sondern um die Lebenswelten von Proletarier*innen, die Mietskasernenviertel und die Slums der Großstädte, die sich mit der Industrialisierung unaufhaltsam in Europa und Nordamerika ausgebreitet hatten; die gleichermaßen bedrohliche und faszinierende terra incognita, die sich vor der Haustür der Wohlhabenden und Gebildeten befand und das Interesse von Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen, Geistlichen und Sozialreformer*innen weckte (Koven 2006; Lindner 2004).
Solche Entdecker*innen im eigenen Land produzierten im Zuge ihrer Forschungsreisen eine hohe Zahl literarischer Erzeugnisse. Viele solcher Texte stammen aus England, das nicht nur die größte Kolonialmacht war, sondern im ausgehenden 19. Jahrhundert mit London auch die größte Metropole besaß. Die Londoner Slums waren berüchtigt für Überbevölkerung und unmenschliche Lebensbedingungen. Die meisten wohlhabenden Viktorianer*innen hatten nur äußerst vage, von Mythen durchsetzte Vorstellungen vom Leben in den Slums. Sie glaubten, dies sei die wohlverdiente Strafe für Faulheit, Sünde und Laster. Einige Reformer*innen begannen hingegen, den sozialen Ursachen der Slums auf die Spur zu gehen und Initiativen zur Verbesserung der dortigen Lebensbedingungen zu initiieren (Dießenbacher 1986; Lindner 2004; Treiber 2015).
Auf zunächst vorwiegend literarische Verarbeitungen von Entdeckungen in der heimatlichen Fremde baute sich eine ganze Forschungstradition auf. An deren Anfang steht das monumentale Werk von Charles Booth, dessen 17bändige Studie Life and Labour of the People of London (erschienen in den 1880er- Jahren) eine minutiöse soziale Kartografie von London darstellte, die auf Haus-zu-Haus-Visiten beruhte und ganz buchstäblich weiße Flecken von der Stadtkarte löschte. An diesen Gedanken der sozialen Kartografie knüpften verschiedene soziale Bewegungen an. Dazu zählte die bildungsbürgerliche Sozialreformbewegung Settlement House Movement, deren Aktivist*innen ganz ähnlich und äußerst produktiv zu allen nur denkbaren sozialen Problemen der Stadt forschten (Köngeter 2013).
Sowohl die Literatur dieser und anderer social explorers als auch die daran anschließende sozialreformerische Stadtforschung zeichnen ein Bild von den Armen- und Arbeitervierteln als unzivilisierte Wildnis. Ihre Bewohner*innen und deren Alltag erscheinen als vollkommen anders und unzugänglich; so fremd, dass sie von Grund auf durchleuchtet werden mussten. Ihre Lebenswelten werden von den Forscher*innen genauso behandelt, wie es Ethnolog*innen mit „fremden Kulturen“ taten (Lindner 2004).
Aber es ist nicht nur dieser ethnologische Blick auf die Beforschten und ihre Lebenswelten, den diese Sozialreformer*innen – und später die Soziale Arbeit – mit der Ethnologie gemeinsam hat. Es ging den Forscher*innen um mehr als nur Wissen für die Öffentlichkeit und die akademische Welt. Sie wollten auch den Weg weisen, wie die beschriebenen Probleme gelöst werden können. Ihre Schlussfolgerungen und Handlungsvorschläge umfassten politische, soziale, pädagogische und sozialhygienische Handlungs- und Reformvorschläge, die den sozialen Verwerfungen etwas entgegensetzen wollten (Lau 2021). Auch dies ist eine Ausrichtung, die die wissenschaftliche Sozialreform mit der Ethnologie – mithin der kolonialistischen und funktionalistischen Prägung Thurnwalds – verbindet.
3 Grenzobjekte und die Übergänge zwischen sozialen Welten
Ich gehe davon aus, dass diese Gemeinsamkeiten auf vielfältige, gegenseitige Durchdringungen zwischen den Sozialforschungen in der Stadt und den ethnologischen Forschungen in (ehemaligen) Kolonien gründen. In der interaktionistischen Wissenschaftsforschung werden solche Forschungsgebiete als soziale Welten beschrieben, zwischen denen mittels Grenzobjekten Übergänge hergestellt werden können. Solche Grenzobjekte können sehr unterschiedliche Gestalt annehmen – sie können Ideen, Konzepte, Methoden und Forschungsobjekte sein, die jeweils in beiden (oder mehr) Welten genutzt werden können.
„Boundary objects are both plastic enough to adapt to local needs and constraints of several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. […] They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable means of translation“ (Star und Griesemer 1989; Hörster et al. 2013).
Die Arbeiten von Hilde Thurnwald scheinen für die Untersuchung solcher Grenzobjekte prädestiniert, weil sich darin Übergänge zwischen den ethnologischen und sozialreformerischen Erkenntnis- und Anwendungsinteressen nachzeichnen lassen. Ideen und Konzepte wandern zwischen den Welten hin und wieder zurück, werden je unterschiedlich ausgeformt, behalten aber eine stets wiedererkennbare Gestalt. Die Frage nach den Folgen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Umwälzungen für die Beforschten bildet einen Ankerpunkt ihrer Forschungen, und zwar sowohl im Sinne eines roten Fadens innerhalb ihrer Arbeiten als auch als Anknüpfungspunkt nach außen, für Ethnolog*innen, andere Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Praktiker*innen. Neben dem Begriff des Kulturwandels lassen sich z. B. auch Thurnwalds Konzeption der Rolle von Frauen in der Tradierung vermeintlicher kultureller Werte und die monografische Methode der Einzelfallstudie zu den Grenzobjekten zählen. Ich konzentriere mich auf den Kulturwandel, weil diese Betrachtung besonders gut Aufschluss über die Erweiterung des Forschungszugangs hin zu den Möglichkeiten der Problemlösung bzw. des steuernden Eingriffs gibt.
Das Modell des Grenzobjektes ist von der Prämisse aus gedacht, dass solche Objekte Ergebnisse eines Konstruktionsprozesses sind, also keinen essenziellen Bedeutungskern haben. Ich frage mich daher: Wie wird der Kulturwandel im Kontext von Ethnologie und Sozialer Arbeit konstruiert und verwendet? Wie wird er für beide Welten und darüber hinaus, also für Akteur*innen in (Kolonial- und Sozial‑)Politik und (kolonialer und sozialer) Praxis, verwendbar gemacht? Welche Effekte hat die Verwendung dieses Konzepts am Übergang für die gegenseitige Durchdringung der beiden Welten, also zum Beispiel für den Blick auf die beforschten und behandelten Menschen?
4 Der Kulturwandel als Grenzobjekt im Werk von Hilde Thurnwald
In ihren Studien über Frauen im ostafrikanischen Tanganyika beschreibt Hilde Thurnwald die Folgen des europäischen Eingriffs als tiefe Krise für die afrikanischen Völker, die die Angehörigen der Kolonialmächte zur Verantwortungsübernahme verpflichte. Die Auswirkungen dieser Krise stellten sich aus verschiedenen Gründen ganz anders für die Frauen dar, was sowohl an der „weiblichen Eigenart“ als auch an der „bei ‚Naturvölkern‘ weitgehend in sich abgeschlossenen Lebenssphäre der Frauen“ (Thurnwald 1935, S. 3) liege.
In ihrer Analyse des Wandels stellt Hilde Thurnwald fest, dass Frauen zwar stärker noch als Männer in den traditionellen Strukturen verwurzelt und dem Kontakt eher indirekt ausgesetzt seien, der Einfluss aber auch in ihren Lebenswelten zunehmend um sich greife (ebd., S. 80). An die Stelle traditioneller Bindungen und Organisationen setze sich aber keine durch einen ausgewogenen Anpassungsprozess entstehende neue Struktur, sondern lediglich das Streben nach dem Europäertum. Diese Entwicklung, die sie als problematisch interpretiert, führt Thurnwald auf die europäische Kolonialpolitik zurück, die Güter, Bildungs- und Lebensideale ungebrochen auf die Einwohner der Kolonien übertragen habe. Diese Form des Kulturwandels berge für Frauen die Gefahr, sie in ihrer sozialen Stellung herabzudrücken und von ihren Traditionen so weit zu entwurzeln, dass sie tendenziell nicht mehr subsistenzfähig seien. Im Hinblick auf notwendige kolonialpolitische Steuerungen stellt sie die Frage nach dem Umgang damit so:
„Ist es möglich, mit Erziehungsmitteln, die einer so andersartigen Geistesverfassung entnommen sind, die Frauen als die Bewahrerinnen afrikanischen Volkstums zu erhalten und sie gleichzeitig zu befähigen, die Lebenshaltung in ihren Familien und Dorfgemeinden zu heben und in Einklang mit unseren zivilisatorischen Forderungen zu bringen?“ (ebd., S. 129).
Mit dieser Frage konstruiert Thurnwald nicht nur Frauen aus den Kolonialgebieten als Trägerinnen ihrer vermeintlichen Kultur, sondern endet zudem bei der Bildungsfrage, der sie sich auch in anderen Texten zu Tanganyika ausführlich widmet.
„Krisen sind […] unvermeidlich, weil auch [die Frauen] eine tiefe Kluft von der europäischen Geistesverfassung trennt, eine Kluft, die keineswegs nur durch intellektuelle Brücken übersprungen werden kann. [… V]iel, wenn nicht alles [hängt] von der Haltung der weißen Kolonisatoren ab. Man darf daher das Anpassungsproblem nicht nur auf Seite der Eingeborenen sehen, sondern auch auf Seite der Europäer, von deren Einsicht in die Denk- und Lebensweise der afrikanischen Völker es abhängt, ob ihnen ein arteigenes Dasein ermöglicht wird oder nicht“ (ebd., S. 203).
In ihren Reformvorschlägen für das koloniale Bildungswesen empfahl Hilde Thurnwald der Kolonialverwaltung, Schulen zu konzipieren, die den Frauen den modernisierten Bedingungen entsprechendes „reales“ Wissen vermitteln, ohne in ihnen „überzogene“ Ansprüche zu wecken. Ziel müsse sein, gute Arbeitskräfte zu bilden; dazu müsse auf den Trümmern des Alten eine „neue Lebensordnung“ aufgebaut werden, ohne jedoch das Europäertum zu imitieren (Thurnwald 1942, S. 138).
Schauen wir nun in die Studie zu den Berliner Familien im Nachkriegsdeutschland um 1947 (Thurnwald 1948). Diese Studie folgt, wie eingangs erwähnt, in ihrer Anlage und Methodik an vielen Stellen den Salomonschen Familienforschungen. Genau wie in der Anfang der 1930er-Jahre publizierten StudieFootnote 9 handelt es sich um eine Kombination aus teilnehmender Beobachtung und Befragung, die – ebenfalls wie im derzeit schon historisch gewordenen Vorbild – vorwiegend von Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen durchgeführt wurde (Thurnwald 1948, S. 8).Footnote 10 Auch das Erkenntnisinteresse ist ähnlich angelegt, geht es doch in beiden Studien um die unmittelbaren und mittelbaren Folgen des Kriegs auf das Zusammenleben und den Zusammenhalt der Großstadtfamilien.Footnote 11
Die Ursache für die aus der „Zersetzung“ der alten Sozialstruktur folgenden „Anpassungsprobleme“ liegen laut Thurnwald nicht nur im von ihr so genannten „Zusammenbruch“ und den Kriegsfolgen, sondern werden von ihr auch in diesem Kontext als langfristige Folgen der Modernisierung betrachtet, die eine Entwertung der traditionellen Ordnung zur Folge habe. Ein wesentlicher Bestandteil dieser gewissermaßen in langen und kurzen Wellen entstandenen „Kulturkrise“ sei die Auflösung des Familienlebens. Familien sinken vielfach materiell und kulturell ab und seien dadurch von Auflösung bedroht (ebd., S. 213).
Auch wenn Thurnwald den Begriff des Kulturwandels nicht explizit anwendet, ist diese Betrachtungsweise doch offenkundig daraus abgeleitet. Genauso wie in der Berliner Studie der Krieg zwar als Katalysator, nicht aber als Ursache der Veränderung des Zustands von Familiengefügen verstanden wird – diese entdeckte Thurnwald in der langfristig verlaufenden Enttraditionalisierung –, sah sie in ihren völkerkundlichen Studien nicht die koloniale Gewaltherrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung als Ursache von Marginalisierung, sondern den über Jahrhunderte bestehenden „Kulturkontakt“ zwischen „zivilisierten“ und „nicht zivilisierten“ Gruppen als Auslöser für „Anpassungsprobleme“ Letzterer. Nicht zuletzt nehmen auch in dieser Studie Frauen als Trägerinnen und Gestalterinnen des Familienlebens eine tragende Rolle ein.
Thurnwalds Handlungsempfehlungen weisen Bezüge sowohl zu ihren eigenen ethnologischen Forschungen als auch zur Salomonschen Familienstudie auf. Als Institution könne die Familie laut Thurnwald erhalten bleiben, wenn sie dynamisch gestaltet werde. Bildung ist auch hier zentral: Es komme darauf an, „in der Jugend ein umfassendes Verständnis zu wecken für den Sinn der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, von Eltern und Kindern“ (ebd. S. 231). In diesem Entwurf greifen Ethnologie, Pädagogik und Soziale Arbeit eng ineinander, indem Hilfseinrichtungen auf der Basis von empirischem Wissen über „soziale Umbildungsprozesse“ gestaltet werden (ebd., S. 230f.).
5 Fazit
In den Schriften Hilde Thurnwalds trifft sich ein als gemeinsam konstruiertes Erkenntnisinteresse der Forschungsfelder empirische Sozialforschung und Ethnologie. Thurnwald untersucht den Kulturwandel als Entwurzelung aus traditionellen Strukturen und damit verbundenen Problemen wie Orientierungslosigkeit, sozialem Abstieg, Demoralisierung und Entsittlichung, Krankheit und Arbeitsunfähigkeit, Bevölkerungsentwicklung usw. Insofern, und darauf verweist Thurnwald selbst immer wieder, ist das Konzept des Kulturwandels für die verschiedensten Akteur*innen in Wissenschaft, Politik und Praxis tauglich, im je spezifischen Kontext auftauchende Fragen und Probleme zu beschreiben, zu erklären und Lösungsstrategien zu entwickeln, die im Sinne kolonial- bzw. sozialpolitischer Steuerungsinteressen sind. Auch wenn Thurnwald die Situation von Familien im Nachkriegsberlin um 1947 keineswegs mit der Lage traditionsentwurzelter Familien in postkolonialen Gebieten gleichsetzt, zieht sie hinsichtlich wirksamer Mechanismen und Steuerungsmöglichkeiten vielfältige Parallelen.
Im (post)kolonialen Kontext ist dabei Bildung besonders bedeutsam. Verheißungsvoll verspricht sie „kulturelle Hebung“, Aufstieg und Teilhabe an der Macht, in Wahrheit ist sie Teil der kolonialen Unterwerfung – denken wir nur an die Vorstellung des „arteigenen Daseins“, von der Thurnwald spricht. Mit ihren Bildungsvorschlägen verbindet Thurnwald keinen Emanzipationsgedanken, sondern will Subsistenz ermöglichen und „gute Arbeitskräfte“ hervorbringen.
Solche Zivilisierungsnarrative finden sich auch in den Sozialreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts wieder. Auch Alice Salomon richtete ihre Bildungsarbeit mit Proletarier*innen darauf aus, diesen zu ihrem gebührenden „Platz an der Sonne“ (Salomon 1901, S. 75) zu verhelfen – eine treffende Verbindung bürgerlich-weiblicher Arbeit an Klassengegensätzen mit dem deutschen Weltmachtstreben.
Hier lässt sich eine ganze Reihe offener Fragen anschließen. Historiografisch scheint mir äußerst lohnenswert, die Frage nach den Übergängen zwischen sozialen Welten als prägende Bedingung wissenschaftlicher Disziplinen auch systematisch zu stellen und damit zum Beispiel dem – wie hier geschehen – Verhältnis der Wissenschaften zum Kolonialismus genauer nachzugehen. Daran anknüpfend ließe sich fragen, welchen Einfluss diese Übergänge auf den Anwendungsbezug der Wissenschaften Soziale Arbeit und Ethnologie und insbesondere die Bildungs‑, Hilfe- und Teilhabekonzepte ihrer zugehörigen Professionen haben. Was die Mechanismen ihrer Überlieferung sind, ist eine Schlüsselfrage zur derzeit vielfach geforderten Dekolonisierung westlicher Wissenschaftsdisziplinen.
Notes
Zur Biografie Hilde Thurnwalds wissen wir bis heute vergleichsweise wenig. Die meisten der hier verarbeiteten Informationen entnehme ich der Studie von Marion Melk-Koch über zwei Forschungsreisen Richard Thurnwalds (1989). Weitere Hinweise finden sich bei Malpel (2021); Melk-Koch (2017); Neuland-Kitzerow (1995); Westphal-Hellbusch (1979).
Die Akten der sozialen Frauenschule werden heute im Alice Salomon Archiv der Alice Salomon Hochschule Berlin erhalten. Die Schülerinnenakten aus dieser frühen Zeit sind jedoch nicht überliefert.
So wurde Thurnwald zum Beispiel in den 1930er-Jahren von Anna von Gierke zu einem Vortrag über ihre Südseeforschungen eingeladen (Wegener 2009). Auch mit Marie Baum pflegte sie sporadische Kooperationen. (vgl. Briefe im Nachlass Marie Baum, UA Heidelberg, Heid. Hs. 3675). Baum und Gierke waren in Kaiserreich und Weimarer Republik Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung sowie Pionierinnen auf dem Gebiet der Sozialen Arbeit.
So bezeichnet Richard Thurnwald in seinem Vorwort zu Hildes Publikation Menschen der Südsee (Thurnwald 1937) die koloniale Machtausübung der europäischen Imperialstaaten (S. V).
Zum Ansatz der Einzelfallstudien schreibt Hilde Thurnwald: „Das Studium von Persönlichkeiten und Einzelschicksalen unter Naturvölkern ist bisher stark vernachlässigt worden. […] Die nachfolgenden Geschichten stellen […] einen […] Versuch dar, von einer anderen Seite her als der üblichen völkerkundlichen Beschreibung an primitive Lebensformen und ihre Träger heranzutreten“ (Thurnwald 1937, S. 19).
Die Studie basiert auf der zweiten Forschungsreise von Hilde Thurnwald, die sie in den Jahren 1933–1934 nach Buin auf der Salomon-Insel Bougainville im heutigen Papua-Neuguinea im Auftrag des Australian National Research Council, Sydney durchgeführt hat (Melk-Koch 1989). Das Council förderte verstärkt Feldforschungen über die indigenen Bevölkerungsgruppen Australiens, eingeschlossen derer Neu-Guineas und Melanesiens. Richard Thurnwald führte eine Follow-up-Studie zu seiner ersten Buinreise im Jahr 1908 durch, während der er als einer der ersten Weißen die Bevölkerung Buins aufgesucht hatte. Das Council wollte mit seinem Papua-Neuguinea-Forschungsprogramm eine vergleichende Studie über die koloniale Entwicklungspolitik Deutschlands und Australiens und die Reaktionen der Adressat*innen anstoßen, um nicht zuletzt die eigene Kolonialregierung zu optimieren (Stoll 2020).
Diese entstanden auf der Grundlage ihrer ersten Forschungsreise nach Tanganyika, die Hilde Thurnwald zwischen 1930 und 1931 ebenfalls gemeinsam mit Richard durchführte. Finanziert wurde die Reise durch das International Institute of African Languages and Cultures in London, das zu dieser Zeit unter der Leitung des deutschen Afrikanisten und Kolonialforschers Diedrich Westermann – einem Freund Richard Thurnwalds – stand. Das Institute war 1926 von Frederick Lugard, ehemaliger Gouverneur von Nigeria und Befürworter einer afrikaweiten Politik der „indirekten Herrschaft“, gegründet worden (Stoll 2020).
Der erwähnte Text bildet eine Anschlussstudie zu den Feldstudien, für die Hilde Thurnwald nicht auf den afrikanischen Kontinent zurückkehrte, sondern – im nationalsozialistischen Deutschland weiterhin den kolonialpolitischen Bewegungen zuarbeitend – auf Berichte der Mandatsregierung an den Völkerbund, Jahresberichte von Schulbehörden und Berichte der Missionsgesellschaften zurückgriff (Thurnwald 1942).
Den vorhandenen biografischen Quellen zu Hilde Thurnwald ist zu entnehmen, dass sie kaum jemals für ihre wissenschaftliche Arbeit angestellt war. Von der Militärregierung war sie immerhin als Oberassistentin für die Berliner Familienstudie eingesetzt worden. In diesem Kontext leitete Thurnwald noch weitere Projekte, darunter die von Hans Märtin durchgeführte Studie zum Thema Der Großstadtjugendliche und das Problem seiner Straffälligkeit (Märtin 1951).
Die Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, unter dessen Trägerschaft die Familienstudien durchgeführt wurde, löste sich angesichts der Bedrohung einer ganzen Reihe ihrer Mitglieder durch die Nationalsozialist*innen 1933 selbst auf. Aus diesem Grund konnte das großangelegte Vorhaben nur ungefähr zur Hälfte umgesetzt werden.
Insgesamt beteiligten sich 35 Personen an der Studie. Unter ihnen befanden sich neben den genannten Berufsgruppen auch vereinzelt Kolleg*innen der Thurnwalds, z. B. Gert Kutscher, in dessen Nachlass sich Forschungsmaterial und Korrespondenz zu dieser Untersuchung findet (vgl. Archiv des Ibero-Amerikanischen Instituts Berlin, Nachlass Gert Kutscher).
Während es Salomon und ihren Kolleg*innen um die Spätfolgen des Ersten Weltkriegs ging, betrachteten Thurnwald und ihre Forschungsgruppe die Auswirkungen des vergleichsweise kurz zurückliegenden Zweiten Weltkriegs und die damit verbundenen „Anpassungsprobleme“. In beiden Studien finden sich dichte Beschreibungen ausgewählter Familien, die bei Salomon „Familienmonographien“, bei Thurnwald „Familienberichte“ heißen und jeweils bewusst Beurteilungen der Beobachter*innen wiedergeben. Beide Studien bewerteten den vorgefundenen Zustand der Familien in drei Kategorien (gefestigt, gelockert und aufgelöst) (vgl. Thurnwald 1948, S. 181ff.). Neben Berliner Familien bezogen Salomon und Kolleg*innen auch Familien aus anderen Regionen und aus dem ländlichen Raum mit ein.
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Lau, D. Grenzgängerin zwischen den Disziplinen. cult.psych. 3, 25–35 (2022). https://doi.org/10.1007/s43638-022-00049-9
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DOI: https://doi.org/10.1007/s43638-022-00049-9
Schlüsselwörter
- Kolonialwissenschaften
- Ethnologische Geschlechterforschung
- Sozialstudien der Wissenschaft
- Kolonisierung
- Sozialpolitik