1 Einleitung

Was die Motive und inneren Beweggründe sind, weshalb sich Wissenschaftler:innen für bestimmte Projekte begeistern und ihnen nachgehen, liegt häufig in den spezifischen biografischen Umständen begründet. Wenn sich diese Forscher:innen als Suchende auf den Weg machen und sich eher jenseits des Mainstreams bewegen, bedeutet dies häufig eine Vereinzelung und ist zumeist mit einschneidenden Schlüsselerlebnissen in bisher unbekannten Lebenswelten verbunden. Ernst E. Boesch (1916–2014), der bekannte Nestor der deutschen Kulturpsychologie, beschrieb seine Annäherung an Kultur und ihre psychologischen Prozesse anhand seiner Erfahrungen in Thailand in den 1950er-Jahren, die ihn für die Subtilitäten des Alltagshandelns in dieser für ihn fremden Kultur sensibilisierten: „Eine zufällige Beobachtung in den Straßen von Bangkok ließ mich schließen, dass Kultur die Wirklichkeit – also etwa Raum, Zeit und die entsprechenden Handlungen – unterschiedlich strukturiere“ (2021, S. 34/35). Es sind derartige Schlüsselerfahrungen, die ein tiefes Verständnis für den Entwicklungsweg eines Menschen vermitteln, der sich suchend und tastend auf ein unbekanntes Feld der Erkenntnis wagt.

Es gehört Mut und Eigensinn dazu oder, wie Hermann Hesse schrieb, der „Sinn für das Eigene“, mit einer gewissen Radikalität der Tat sein Ziel zu verfolgen und das Vorhaben schlussendlich zu realisieren. Das Projekt Kulturpsychologie verband zwei Psychologen, die sich nicht kannten, wohl aber gewisse Parallelen in ihren Biografien aufwiesen: Julius Bahle (1903–1986) und Hans Werbik (1941–2021). Wir wollen uns diesen beiden Forscherpersönlichkeiten nähern und verdeutlichen, was es aus einer kritisch-historischen Perspektive heißt, das Projekt einer Kulturpsychologie zu verfolgen.

2 Julius Bahles Werdegang und sein Beitrag zur Kulturpsychologie

Julius Bahle schreibt in einem unveröffentlichten Manuskript Mein Forschungsweg als Psychologe:

„Echtes Forschen nimmt seinen Ausgang von einem zentralen Werterlebnis, das zur Frage geworden ist und nach Beantwortung drängt. Dies gilt für die psychologische Forschung in ganz besonderer Weise. Wohin die Forschung führt, kann im Voraus weder gewusst noch geahnt werden, weil die in der Forschung gewonnenen Erkenntnisse selbst wieder zu Werterlebnissen führen, die den Ausgang zu neuen Problemstellungen bilden. Dennoch ist der Weg eines Forschers nicht unzusammenhängend oder zufällig – vielmehr ist er zusammenhängend und konsequent. Dies hat seinen Grund nicht nur im sachlichen Zusammenhang, sondern auch in der Werttreue oder im Charakter des Forschenden.“ (Zit. in Dvorak 2018, S. 22/23)

Forschung ist ihm zufolge mit einer Wahrheitsfindung durch die liebevolle Befragung der Wirklichkeit verknüpft. Ein derartiges Werteerlebnis für den akademischen Weg war bei ihm mit der Hörerfahrung der letzten Streichquartette von Beethoven verbunden, die ihn zur Überlegung anregte, ob die Erhabenheit dieser Musik durch das Medium des Komponisten menschlichen Ursprungs oder göttliche Offenbarung sei. Dieses Erlebnis führte ihn zur Beschäftigung mit dem Musikerleben und damit zur Musikpsychologie.

Julius Bahle wurde am 9. Januar 1903 in Tettnang (Württemberg) als Sohn des Lehrers Ludwig Bahle und seiner Ehefrau Regina (geb. Mauch) geboren. 1922 schloss er seine Schulzeit an der Oberrealschule in Ravensburg ab und studierte vier Semester an der Handelshochschule München, dann 1924 an der Handelshochschule in Mannheim, wo er 1925 die Kaufmännische Diplomprüfung sowie die Diplomprüfung für Handelslehrer ablegte. 1926 nahm er für drei Semester das Studium der Psychologie und Philosophie in Heidelberg auf, um danach eine Assistentenstelle bei dem Denkpsychologen Otto Selz (1881–1943) am Institut für Psychologie und Pädagogik an der Handelshochschule in Mannheim zu erhalten. 1929 wurde er mit der Arbeit Zur Psychologie des musikalischen Gestaltens. Eine Untersuchung über das Komponieren auf experimenteller und historischer Grundlage in Würzburg bei Karl Marbe (1869–1953) promoviert. Danach erhielt Bahle bei Selz eine planmäßige Assistentenstelle in Mannheim. Otto Selz wurde aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1933 abberufen und die Handelshochschule 1934 aufgelöst. Bahle, der als Student der SPD beitrat, verlor 1933 seine sichere Hochschulstelle. Ihm gelang es, ein Stipendium zu erhalten, das es ihm 1934 ermöglichte, bei dem Ganzheitspsychologen Friedrich Sander (1889–1971) mit der Arbeit Der musikalische Schaffensprozeß: Psychologie der schöpferischen Erlebnis- und Antriebsformen in Jena zu habilitieren.

Da sich Bahle nicht dem Druck Sanders, der NSDAP-Mitglied war, beugen wollte, sich an die NS-Ideologie anzupassen, verließ er Ende 1935 die Universität Jena. Den politischen Umständen trotze er und hielt engen Kontakt zu seinem Lehrer Selz, den er versuchte, aufgrund der zunehmenden Bedrohung zu überzeugen, Deutschland zu verlassen. Otto Selz konnte den Nazi-Schergen nicht entkommen und wurde nach seiner Deportation 1943 in Auschwitz ermordet. Bahle hielt an seinen Überzeugungen fest und kritisierte die Auffassung des NS-Komponisten und NS-Kulturfunktionärs Hans Pfitzner (1869–1949) zum schöpferischen Erlebnis. Seine kritische Haltung ließ ihn mit seiner Familie zwischenzeitlich in die Schweiz gehen. Er kehrte jedoch 1938 zurück und wurde 1941/42 in Stuttgart als Heerespsychologe verpflichtet. Nach dem Krieg baute er in Hemmenhofen (Ortsteil von Gaienhofen am Bodensee) eine private kulturpsychologische Forschungseinrichtung auf. 1963 folgte die Gründung des Kulturpsychologischen Verlags, in dem er seine späteren Werke zu klinischen und anwendungspsychologischen Fragen veröffentlichte.

An der neu gegründeten Universität Mainz sollte 1946 eine Professur für Psychologie besetzt werden. Um diese Position bemühte sich Bahle, der allerdings dem Musikpsychologen Albert Wellek (1904–1972) unterlag. Bahle betrachtete sich als Benachteiligter des NS-Regimes mit guten Chancen auf die Professur und erwartete von der Berufungskommission ein positives Votum (vgl. zum Mainzer Lehrstuhlstreit Lück und Herrmann 2014). Von der Ablehnung seiner Bewerbung enttäuscht, nahm er das Angebot seines befreundeten Studienkollegen Heinrich Düker (1898–1986) an, sich nach Marburg umzuhabilitieren. Dort führte er u. a. Hypnose-Experimente durch, um seine theoretischen Überlegungen zum schöpferischen Prozess zu bestätigen, nämlich dass durch Suggestionen kreativ-produktive Fähigkeiten verstärkt oder vermindert werden können.

Bereits 1951 erlebte Bahle eine gesundheitliche Krise aufgrund der hohen Arbeitsbelastung und der Trennung von seiner Familie am Bodensee, seiner Frau mit zwei Kindern. Ein grundlegender Streit mit Düker führte dazu, dass Bahle 1957 endgültig seine universitäre Laufbahn beendete. Er ging an den Bodensee zurück und wandte sich der Psychotherapie zu. Basierend auf seinen wertpsychologischen Überlegungen schuf er die Schöpferische Psychosynthese, die er in seinen Werken bekannt machte sowie in der Arbeit mit Patient:innen anwendete (Bahle 1957). Er entwickelte therapeutische Übungen, die dazu dienten, Ängste (auch vor dem Sterben) abzubauen (Dvorak 2018). Er starb am 03.09.1986 in Hemmenhofen am Bodensee an Herzversagen (vgl. zur Biografie Bahles Lück 2016; Dvorak 2018).

3 Perspektiven auf eine Kulturpsychologie der Kreativität

Im Zentrum des Denkens von Julius Bahle steht der Mensch als schöpferisches Wesen. Er bezieht sich auf die Strukturpsychologie seiner Zeit (Wilhelm Dilthey) und nutzt die Begriffe Sinn, Struktur und Wert für seine Überlegungen zum schöpferischen Prozess. Hierbei fragt sich Bahle, ob der schöpferische Prozess am Beispiel der musikalischen Komposition ein unbewusst-passiver Vorgang (romantische Auffassung) oder ein bewusst-aktiver Vorgang (rationalistische Auffassung) ist. Bahle orientiert sich in seinem Denken an der phänomenologischen Gestaltlehre seines Lehrers Selz:

„Seine Entdeckung der qualitätenverbindenden „Steigerungsphänomene“ als einer neuen Grundklasse anschaulicher Phänomene, ermöglicht ihm eine synthetisch-ganzheitliche Gestaltbetrachtung, ohne in den überwundenen Atomismus bzw. Mechanismus zurückzufallen.“ (Bahle 1939, S. 293)

Basierend auf seiner strukturierten Denkpsychologie mittels psychohistorischer Einzelfallanalysen (z. B. die elektrischen Entdeckungen bei Faraday) gelingt es Selz, die These einer unbewussten Inspiration für kreative Lösungswege infrage zu stellen. Kreativität ist ihm zufolge nicht das Ergebnis einer tief innenliegenden Disposition, sondern das Resultat einer im Schaffensprozess determinierenden Tendenz von Tätigkeiten, die sowohl durch die Kultur sowie die Gemeinschaft angeregt als auch durch die schöpferisch-formende Person selbst strukturiert wird (vgl. zu Überlegungen zur Kreativität bei Selz Van Strien 1997). Dieser theoretische Rahmen bildete die Grundlage der Arbeiten von Bahle.

Aufbauend auf seiner Dissertation beauftragt er für seine Habilitationsschrift 32 Komponisten (darunter bekannte Musiker wie Arnold Schönberg, Carl Orff oder Ernst Krenek) in einem Fernexperiment, acht Gedichte und einen selbst aufgefundenen Text zu vertonen (Bahle 1936). Ferner wurde ein Fragebogen mit einer Anleitung zur Selbstbeobachtung versendet. Zusätzlich gab es persönliche Unterredungen und Nachfragen sowie die Sichtung von historischem Quellenmaterial über die Komponisten. Ziel war es, den musikalischen Schaffensprozess phänomenologisch zu rekonstruieren und zu strukturieren. Bahle identifiziert drei schöpferische Phasen, die er aus dem schöpferischen Entwicklungsgesetz von Produktions- und Gemütsschwankungen ableitet:

  1. 1.

    Vorbildphase: Nachahmung und Übernahme von bestehenden Ausdrucksmitteln, Methoden und Prinzipien

  2. 2.

    Gegenbildphase: Loslösung von den Vorbildern in Form einer kritisch-analytischen Auseinandersetzung mit der Folge der temporären Krise und Verarmung der Produktivität mit schöpferischen Pausen oder mühsamen Reflexionen

  3. 3.

    Leitbildphase: Synthese aus der Vorbild- und Gegenbildphase, Schaffung eines persönlichen Stils mit eigenen Ausdrucksmitteln, Methoden und Prinzipien. Im Zentrum steht die durch den Schaffensprozess angeregte Wertverwirklichung, d. h. durch schöpferische Erlebnisse dynamisch-produktiv sowie zielgerichtet tätig zu sein.

Anders als die Genie-Irrsinns-Lehre, die in den Kreativitätsleistungen einen Ausdruck von psychopathologischem Erleben sieht (Bahle 1953) – z. B. der manische Rausch in der Kreativität –, verweist Bahle im Sinne seines Lehrers Selz darauf, dass „künstlerisches Schaffen kein unbewußt-drangvolles Geschehen, sondern eine zielstrebige, erlebnisbedingte und wertbewußte Tätigkeitsstruktur darstellt“ (1939, S. 293). Hierbei kommen ganzheitspsychologische Ansichten von Bahle zum Tragen:

„Was man bisher als intuitiv erschaute „Konzeption“ oder „Idee“ des Gesamtkunstwerkes bezeichnete, sind schaffenspsychologisch gesehen Formen der Antizipation von Ganzeigenschaften, die im Laufe des Schaffensvorganges eine immer weitere Differenzierung erfahren.“ (ebd., S. 294)

Komplementär steht der holistischen Antizipation die schaffenspsychologisch wichtige Erfahrung gegenüber, dass auch von einzelnen Teilen ein Kunstwerk durch Improvisation und Experimentieren geschaffen werden kann. Schließlich findet Bahle zur idealtypischen Unterteilung in einen Inspirationstyp, der emotional bestimmt das Kunstwerk und deren Gefühlswirkungen entwickelt, und einen Arbeitstyp, der basierend auf dem Willen abstrakt-gedanklich das Kunstwerk erschafft. Bahle sieht den Menschen als schöpferisches Wesen, das in der Kultur Werte in Form von Werken erschaffen möchte. Im kulturellen Kontext findet der Mensch die freie Entscheidung sich künstlerisch zu verwirklichen, wenn nicht soziale Bedingungen geschaffen werden, die den produktiven Schaffensprozess hemmen können. 1946 hebt er in einem Vortrag Die psychologischen Wurzeln des Nationalsozialismus an der Volkshochschule Ulm die Bedeutung der Werttreue in den dunklen Tagen der Diktatur hervor: „Der Adel des Menschen liegt eben darin, dass er sich in solchen schwierigen Situationen frei entscheidet und bewährt.“ (Bahle 1946, S. 12).

4 Hans Werbiks Werdegang und Beitrag zur Kulturpsychologie

Hans Werbik schreibt in seinem mit Heinz Jürgen Kaiser verfassten Buch Handlungspsychologie:

„Der Gegenstand der Psychologie […] scheint häufig nicht der Mensch in seiner Zeit, seiner historischen Situation, seiner Gesellschaft und Umwelt zu sein. Der Mensch der wissenschaftlichen Psychologie ist meist ein a‑historisches und a‑soziales Wesen.“ (Kaiser und Werbik 2012, S. 11)

In dieser doch schon fast pessimistischen Haltung drückt sich die zweifache Kenntnis Hans Werbiks um die (1) wissenschaftstheoretische Unterbestimmtheit der Psychologie sowie ihre (2) Blick- und Zugriffsbeschränktheit auf das „Objekt“ Mensch aus. Beides hat er seit seiner Zeit als Lehrstuhlinhaber an der Friedrich-Alexander-Universität Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) stetig moniert und dagegen angeschrieben.

Hans Werbik wurde am 27. Februar 1941 im niederösterreichischen Hollabrunn als Sohn des Architekten Viktor Franz Werbik und der Lyrikerin Adolfine Werbik-Seiberl geboren. Die Familie ist evangelisch in einem sonst katholischen Land – ein Umstand, der ihn zeit seines Lebens (in Form der Frage nach Inklusion und Exklusion als Diaspora) beschäftigen wird. Seine Matura legt er am Akademischen Gymnasium in Wien ab, der Stadt, in der er noch im selben Jahr das Studium der Psychologie, Philosophie und Musikwissenschaft aufnimmt. Eigentlich galt sein Interesse mehr der Musikwissenschaft als der Psychologie, denn er wollte Komponist werden. Es ist anders gekommen. 1963 schließt er sein Studium mit der grundständigen Promotion Untersuchungen zur Arbeitszufriedenheit und deren Zusammenhang zur Beurteilung von Mitarbeitern ab (Werbik 1966). In diese Studienphase fällt auch Werbiks erstes politisches Engagement. Er versteht sich selbst als linker Sozialist und verteilt Flugblätter gegen Franz Olah, der illegal Gewerkschaftsgelder an die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) übertragen hatte, auf einer Kundgebung seiner Anhänger. Geschickt verteilt er Flugblätter vor anwesenden Journalisten, sodass sein Foto am nächsten Tag in der Zeitung abgedruckt wurde. Später erfuhr er, dass diese Aktion maßgeblich zum Ausschluss Olahs aus der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) geführt hatte. Seitdem engagiert sich Werbik in und für die Politik und unterhält zahlreiche Kontakte.

Von 1966 bis 1969 ist er als wissenschaftlicher Assistent am Psychologischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen beschäftigt, wo er sich 1969 mit der musikpsychologischen Arbeit Informationsgehalt und emotionale Wirkung von Musik habilitiert (Werbik 1971). Schon in dieser streng experimentellen Studie zeichnet sich ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem ab, das Werbik immer wieder beschäftigen wird, nämlich, dass die konstruierte objektive Welt (hier der objektive Informationsgehalt einer Tonabfolge) nicht die subjektive Welt (hier der subjektive Erlebnisgehalt einer Melodie) erklären kann. 1970 wechselt Werbik als akademischer Rat an das Institut für Psychologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), wo er 1973 zum ordentlichen Professor auf den Lehrstuhl II berufen wird, den er bis zu seiner Emeritierung 2006 innehatte. Hans Werbik war ein politisch-ethischer Mensch und wollte schon früh verstehen, was die Wurzeln für das aggressive Verhalten der Menschen sind und warum sie nicht friedvoll zusammenleben können (Straßmaier und Werbik 2018). Diese pazifistische Grundhaltung führte ihn zu mahnenden Beiträgen während der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren (z. B. Rittberger und Werbik 1987).

Ein Einschnitt in sein wissenschaftliches Denken und Handeln war der Kontakt mit dem Erlanger Konstruktivismus (Kamlah und Lorenzen 1967), der ihn in zweifacher Weise neu auf die Psychologie blicken ließ: Zum einen gewinnt der Erlanger Konstruktivismus seine Erkenntnisse über (wissenschaftliche) Sprache nicht über das Setzen von Prämissen, sondern aus der Alltagswelt, sodass es nahe lag, von der Sprach(handlung) zu abstrahieren und diese in Form einer allgemeinen Handlungstheorie auszuarbeiten.Footnote 1 Zum anderen reflektiert der Erlanger Konstruktivismus die Grundlagen der modernen Wissenschaft in ihrer aktuellen Verfasstheit und kommt zu dem Schluss, es handle sich bei den modernen Wissenschaften größtenteils um Protowissenschaften als um exakte Wissenschaften. Merkmal der Protowissenschaft sei, dass sie ihre Gegenstände lediglich definiert, ohne die realen Gegenstände und Zustände empirisch erfassen zu können. Dies erkennt Werbik auch für die Psychologie, die sich insbesondere nach der kognitiven Wende auf das Denken und die Motivation konzentrierte und die lebensweltliche subjektive Handlung aus dem Kanon ihrer Gegenstände strich.

5 Von einer Handlungspsychologie vom Subjektstandpunkt zur Kulturpsychologie

Werbiks Zeit als Professor an der FAU war nicht nur durch den Erlanger Konstruktivismus geprägt, sondern auch von den Nachwirkungen der „Krise der Psychologie“. Aus der Kritik des naturwissenschaftlichen Paradigmas der (behavioristischen) Psychologie, entstand nicht nur die danach dominierende Variante der kognitiven Psychologie, sondern auch eine ganze Reihe von kritischen Ansätzen wie die Psychologische Morphologie Wilhelm Salbers (1928–2016), Wilhelm Josef Revers (1918–1987) kulturanthropologisch und phänomenologisch ausgerichtete Psychologie sowie die Kritische Psychologie Klaus Holzkamps (1927–1995). Insbesondere letztere war für die Überlegungen Werbiks wichtig, da Holzkamp (1983) neben einer Psychologie vom SubjektstandpunktFootnote 2 auch eine Veränderung der Grundbegrifflichkeit der Psychologie forderte, um angemessen vom Menschen zu sprechen.

„Er hat aufgefordert, dass sich die Psychologie von einer Objektwissenschaft zu einer Subjektwissenschaft zu wandeln habe, was auch bedeutet, sich bewusst als Gegenpart einer „Kontrollwissenschaft“ Psychologie zu etablieren.“ (Kaiser und Werbik 2012, S. 195)

Werbik hat die Kritische Psychologie zwar wahrgenommen, verfolgte aber sein eigenes Programm, indem er auf die bereits in Erlangen etablierte Handlungstheorie setzte und nicht wie die Kritische Psychologie auf die Tätigkeitstheorie.Footnote 3

Hans Werbik unterschied aufbauend auf den Erlanger Konstruktivismus zwischen Psychonomik und Psychologie (Werbik 1986). Während die erstere bestrebt ist, den Menschen zu kontrollieren und Gesetze menschlichen Verhaltens zu formulieren, ist letztere Kultur- und Handlungspsychologie, die sich am Begriff des mitmenschlichen Umgangs und an ethischen Leitvorstellungen der Autonomie des Subjekts orientiert: „Ihre Erkenntnisse [der Kultur- und Handlungspsychologie – LAN] sollen mithelfen, den Umgang der Menschen miteinander zu verbessern“ (Kaiser und Werbik 2012, S. 196). In diesem Sinne verfolgt Werbiks Forschung immer auch ein politisch-ethisches Anliegen:

„Wir denken, dass eine solche Psychologie Mittel bereitstellt, dass Menschen lernen, sich selbst als Akteure in dieser Welt besser zu verstehen. In einer Demokratie, in der die Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll, ist eine solche Entwicklung der Bürger existentiell. Wer „Wir sind das Volk!“ ruft, möchte an den zentralen Entscheidungen des Staates mitwirken. Das setzt aber voraus, dass die Akteure Einblicke gewinnen in die psychischen Grundlagen ihrer eigenen individuellen Entscheidungen. Ein demokratisches Staatswesen ist sicherlich vernünftig, und die Förderung der Vernunft seiner Mitglieder ein wichtiges und hohes Ziel.“ (ebd., S. 197)

Zunächst noch an einfachen Formen der Handlung orientiert, nähert sich Werbik über die Jahre komplexeren Phänomenen und kommt übereinstimmend mit Ernst E. Bosch zu der Erkenntnis, dass die einfachen Handlungstheorien die Komplexität menschlichen Handelns übersehen, indem sie es auf Zielantizipation, Handlung, Zielerreichung reduzieren (Test-Operate-Test-Exit(TOTE)-Modell).

„Was innerhalb des unbeschreiblich komplexen Geschehensstroms, als der sich menschlicher Lebensvollzug der Beobachtung darbietet, (selektiv) als „Handlung“ oder „Handeln“ aufgefasst wird und was an dieser Geschehensvielfalt alles „übersehen“, ignoriert wird, ist jeweils durch ein spezifisches Handlungskonzept prädeterminiert, das offenbar um bestimmter Interessen willen zweckentsprechend ausgestaltet wurde.“ (ebd., S. 40)

Handlungen sind komplex in die soziale wie natürliche Umwelt des Menschen eingewoben und Menschen haben nicht nur Ziele, sondern Auslöser von Handlungen sind „viel häufiger Zielkombinationen oder Zielverschachtelungen“ (Boesch 1980, S. 141). Mit dieser Erkenntnis wird die subjektwissenschaftliche Psychologie zur Kultur- und Handlungspsychologie.Footnote 4 Leider ist diese Erlanger Entwicklung nie in dem Maß wissenschaftlich gewürdigt worden, wie sie es verdient hätte.

Folgerichtig – und das ist wahrscheinlich neben der „Schulenbildung“Footnote 5 das wichtigste Verdienst Werbiks – gründete er 1987 gemeinsam mit dem Salzburger Professor Wilhelm Revers die Gesellschaft für Kulturpsychologie, deren Gründungsvorsitz er innehatte. Von Anfang an war seine damalige Assistentin Elfriede Billmann-Mahecha beteiligt sowie Revers Assistent Christian Allesch. Wenige Wochen nach der Gründungsversammlung der Gesellschaft für Kulturpsychologie starb Revers. Die erste wissenschaftliche Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie fand 1989 in Mittersill statt (vgl. Allesch und Billmann-Mahecha 1990). Dort hatte auch Wilhelm Salber mit seinem psychomorphologischen Ansatz zur Gesellschaft für Kulturpsychologie gefunden. Als vierten, der die Diskussionen in der Gesellschaft für Kulturpsychologie mitbestimmte, ist der Berner Professor Alfred Lang (1935–2008) zu nennen, der Kulturpsychologie mit Semiotik zu verknüpfen suchte. Seine Schriften weisen viele Schnittmengen mit der Symbolischen Handlungstheorie Ernst E. Boeschs auf.

Hans Werbik hat Ernst E. Boesch erst wenige Jahre vor dessen Tod kennengelernt. Kurz vor seinem Tod im April 2014 fand die letzte Begegnung der beiden statt. Die heutigen Mitglieder der Gesellschaft sind entweder Schüler:innen der genannten Personen oder verorten sich im Wesentlichen in der Kritik in Folge der „Krise der Psychologie“.

Ganz am Ende soll noch ein Aufsatz Erwähnung finden, der nicht im Umkreis der Psychologie aber dennoch so prominent publiziert wurde, dass er auch der Fachöffentlichkeit zur Kenntnis kam, und der uns zu der einleitenden Bemerkung zu Werbiks Konfession zurückführt: Transzendenz-Erfahrungen und die Grenzen der Wissenschaft (Werbik 2007). In diesem Aufsatz balanciert Werbik auf einem Drahtseil zwischen der Beschreibung eigener Offenbarungserfahrung, deren wissenschaftlicher Einordnung und der Bejahung der Existenz Gottes. Werbik beschreibt sein Offenbarungserlebnis vom 20. September 1988, kurz nach einem Friedensgebet:

„Dies hatte zur Folge, dass mein bisheriges Weltbild zusammengebrochen ist. Aufgrund der Vielzahl der Gedanken, die auf mich einströmten, geriet ich in einen Zustand der Informationsüberflutung. Nach einer Odyssee kam ich schließlich in eine psychiatrische Klinik.“ (2007, S. 283).

Das Angebot sowohl der Klinik als auch der Psychoanalytikerin, Werbik zu behandeln, fiel auf keinen fruchtbaren Boden, da hier – psychologietypisch – nicht auf die Bedeutung eingegangen wurde, die diese Erfahrung für Werbik hatte. Eine Seelsorge, die er wohl nötiger gefunden hätte, wurde ihm nicht angeboten. So blieb er mit dieser Erfahrung allein und hat sie sich über 10 Jahre lang „von der Seele geschrieben“. Hier zeigt Werbik anschaulich am eigenen Beispiel, dass eine „objektive“ Psychologie als Grundlage der Praxis oder eine Psychoanalyse in starren Strukturen solche Erfahrungen, die wie transzendente Erfahrungen Evidenz-Erfahrungen sind, keinem vorgegebenen Consensus-Modell folgen und deshalb individuell und kultursensibel angegangen werden müssen. Das Kernanliegen von Hans Werbik durchzieht sein Leben und ist ihm zu einer Lebensanschauung geworden: Das subjektive Erleben kann keine materiell-objektiven Grundlagen (z. B. die Neurobiologie; vgl. Werbik und Benetka 2016) haben, es lässt sich nur verstehend über die Handlungen und Aussagen rekonstruieren.

Neben der Kritik an der Psychologie als angewandter Wissenschaft taucht in dem Aufsatz aber noch eine Erfahrung auf, die Werbik zeit seines Lebens begleitet hat und auf der, so nehmen wir an, seine immer wieder betonte Versöhnung der Menschen und das gemeinsame ethische Handeln beruht: Die nicht zu vergebende Schuld an der Shoah. Und zwar als Schuld jedes Einzelnen.

6 Fazit

Jede Wissenschaft muss bezüglich ihrer Theorien und Methoden Grenzen aufweisen, da sie stets auf erkenntnistheoretischen Grundlagen basiert, die ihren Ursprung in Menschen- und Weltbildern haben. Wissenschaftler:innen, die sich dieser Tatsache bewusst sind, müssen den objektiven Anspruch einer Disziplin stets hinterfragen. Eine Wissenschaft, die vorgibt alles und jedes ergründen zu können, kann sich in eine Ideologie mit Totalitätsanspruch verrennen. Die Psychologie hat ihre Wurzel sowohl in den Naturwissenschaften (Physiologie) als auch in den Geisteswissenschaften (Philosophie). Eine Wissenschaft wird über die theoretischen Annahmen ihres Gegenstandsbereichs bestimmt, nicht über die Methode. Eine Psychologie kann deswegen keine Naturwissenschaft sein, wenn sie sich lediglich einer naturwissenschaftlichen Methode wie des Experiments bedient. Es gereicht der Psychologie keineswegs zum Nachteil, wenn sie sich ihres historischen Ursprungs vergewissert und das Bewusstsein und die Grenzen ihrer Wissenschaft als Herausforderung und Chance begreift. Psychologie ist ohne ihre kulturellen und historischen Wurzeln nicht zu denken, sie bleibt immer auch Kulturwissenschaft. Bahle und Werbik wussten dies zu genau.

Der vorliegende Beitrag unternahm den Versuch, den Weg zweier Forscher, Julius Bahle und Hans Werbik, auf dem Weg zu einer kulturwissenschaftlichen Psychologie nachzuzeichnen. Beide Persönlichkeiten hatten ein Sensorium für das Musikalische und erkannten, dass das naturwissenschaftliche experimentelle Paradigma der Psychologie erkenntnistheoretische und methodologische Grenzen aufweist, das subjektive Erleben angemessen zu erfassen und zu beschreiben. Beide Forscher, Bahle wie Werbik, hatten ein hohes politisch-ethisches Bewusstsein, das durch ein frühes politisches Eintreten für sozialdemokratische Ideale bestimmt war, obgleich sie wegen ihres unterschiedlichen Alters unterschiedliche historische Erfahrungen machten. Sie vertraten eine pazifistisch-demokratische Grundhaltung, die der Kultur eine bedeutende Rolle bei der Überwindung menschlicher Übel wie Hass, Aggression und Ignoranz zuschrieb. Sie hatten das Schicksal, dass sie sich mit ihrem Anliegen häufig unverstanden fühlten und in der Psychologie zuweilen einen einsamen Weg gehen mussten. Ihre psychischen Krisen, die oftmals durch das Unverständnis der Mitmenschen ausgelöst wurden, haben sie in ihrer Grundhaltung geprägt, dass der Mensch gut wird, wenn er als ein durch die ethische Kultur geprägtes Wesen begriffen wird.

Anders als Werbik fand Bahle aufgrund der schwierigen Umstände in der Nachkriegszeit keine akademische Heimat an der Universität. Er ging den Weg als Privatgelehrter und Menschenfreund, der sein psychologisches und therapeutisches Wissen für die Allgemeinheit anbot. Seine Kulturpsychologie war in der Überzeugung begründet, dass der Mensch ein schöpferisches Wesen ist, das in der freien Entscheidung neue kulturelle Werte und Werke erschaffen kann, wenn die persönlichen und sozialen Hindernisse erkannt und beseitigt werden. Werbik ist ein arrivierter Wissenschaftler in Erlangen geworden, geriet aber aufgrund seiner kritischen Haltung zum behavioristischen Paradigma der Psychologie in tiefe Zweifel. Er hatte das große Glück auf akademische Mitstreiter zu treffen, die ähnlich dachten und handelten. Das Ergebnis war die Gründung der Gesellschaft für Kulturpsychologie, die auch heute noch eine Gemeinschaft von Wissenschaftler:innen bildet, Kultur und subjektives Erleben als eine theoretisch-inhaltliche Bereicherung der Psychologie aufzufassen und nicht als eine Quantité négligeable.