Durch die Herstellung einer Grenze konstituieren wir uns, nach Kristeva, als Subjekt – und damit auch als kulturelles Subjekt, da bestimmte Grenzziehungen nur in einem bestimmten kulturellen Rahmen geboten sind. Die Grenzziehung ist Teil unserer ontologischen Realität – einmal, um uns generell als Subjekt etablieren und verstehen zu können und andererseits, um uns immer wieder der Gewissheit einer bestimmten kulturellen Existenz zu versichern. Wir vergewissern uns unserer individuellen, aber auch sozialen und kulturellen Identität: „There, abject and abjection are my safeguards. The primers of my culture“ (Kristeva 1982, S. 2). Die Abjektion, die auf die Irritation einer Grenze reagiert, konstituiert und sichert somit nicht nur grundlegende kulturelle Normen, sondern auch unsere Möglichkeit, sich innerhalb der Welt zurechtfinden zu können. Sie sichert unseren Standpunkt in der Welt (Kristeva 1982; Taylor 1996).
Abjekt als Zustand der Ungewissheit
Ähnlich wie Kant den Zustand des in die Welt geworfenen Subjekts als einen durch „Angst und Bangigkeit“ bestimmten Zustand „am Rande eines Abgrundes“ (Kant 1786, S. 112) bestimmt, beschreibt Julia Kristeva das Abjekt in Powers of Horror als die Erfahrung der „emptiness“ (Kristeva 1982, S. 6) als das Gefühl: „nothing is familiar, not even the shadow of a memory“ (Kristeva 1982, S. 6).
Abjekt ist also nicht, wie es oft verstanden wird, ein bestimmtes Objekt, das etwa mit Ekel besetzt ist (siehe dazu bspw. Menninghaus 1999) und von dem sich das Subjekt radikal abwenden muss, sondern die existenzielle Bedrohung des Subjekts und seiner Welt durch die Auflösung ontologischer Sicherheiten (also epistemischer Grenzen). Es ist stattdessen die Auflösung aller Prinzipien, sich in der Welt zu orientieren: Ein Objekt ist immer nur ein Objekt, weil es bestimmte Kriterien gibt, es zu bestimmen und sich ihm gegenüber zu verhalten. Ein Subjekt ist nur Subjekt, wenn es Kriterien hat, die Entscheidungen und Handlungen ermöglichen: also Handlungsprinzipien im kantischen Sinne (Kant 1986):
Wenn wir in Gedanken alle Begrenzungen aufheben, so bleibt nicht ein Wille übrig, der kraft seiner Unbegrenztheit besonders große Freiheit besitzt. Was übrig bleibt, ist, weil es kein bestimmter Wille mehr ist, überhaupt kein Wille mehr (Bieri 2007, S. 240).
Der Begriff des Abjekts bezeichnet genau diese Abwesenheit von Kriterien und die Ungewissheit und existenzielle Angst und damit Krise eines menschlichen Subjekts. Gleichzeitig ist die Abjektion der erste Moment einer Entscheidung, also des Setzens von Grenzen und Kategorien. Doch zunächst fehlen diese Grenzen und das Abjekt ist nichts, worauf wir Bezug nehmen können: „When I am beset by abjection, the twisted braid of affects and thoughts I call by such a name does not have, properly speaking, a definable object“ (Kristeva 1982, S. 1; Herv. i. Orig.). Abjekt ist kein empirisches Objekt, sondern das Fehlen einer Ordnung, die Abwesenheit klarer Grenzen und die Unfähigkeit des Subjekts, eine klare Grenzziehung vorzunehmen: „The abject has only one quality of the object – that of beeing opposed to I“ (Kristeva 1982, S. 1; Herv. i. Orig.). Stattdessen besteht der Zustand des Abjekten allein in der Ungewissheit. Er zeigt sich in der Angst und dem Schrecken der Unsicherheit, nicht unterscheiden zu können, was Teil von uns und was nicht mehr Teil von uns selbst ist. Insofern ist es eine phänomenologische Erscheinung bzw. die Form fehlender Differenzierung. Der Zustand des Abjekten schafft insofern einen Raum, in dem Bedeutungen aufhören zu existieren: „[W]hat is abject, […] draws me toward the place where meaning collapses“ (Kristeva 1982, S. 2). Grenzen werden nicht einfach nur überschritten, sondern gänzlich aufgelöst. Der Zustand des Abjekten zeigt sich nur in der Abwesenheit bzw. Ungewissheit einer klaren Grenze – in der Unmöglichkeit Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Eigenes und Fremdes zu trennen.
Und damit können wir eine entscheidende Analogie zu Kants mutmaßlichem Beginn der Menschheit ziehen. Wie zuvor dargelegt, ist es die Fähigkeit zur Willensfreiheit, die Fähigkeit des Menschen, eine reflexive Distanz zu seinen Begierden einzunehmen, welche die naturgegebene Ordnung der Welt für das Subjekt auflöst. Kristeva beschreibt ebenfalls einen solchen Verlust der Struktur der Welt durch das Abjekt und damit die Aufgabe, sich selbst zu schöpfen: „[A]ll its objects [die Objekte des Subjekts, Anm. d. Autors] are based merely on the inaugural loss that laid the foundations of its own“ (Kristeva 1982, S. 5, Herv. i. Orig.). Der Mensch ist in dieser Hinsicht nicht nur zu Freiheit verdammt, sondern auch dazu, seine Welt sinnhaft zu strukturieren. Die reflexive Distanz des Menschen, die ihn aus der Welt der Instinkte herauswirft und damit vor die Aufgabe stellt, eine Welt und die Objekte dieser Welt selbst zu bestimmen, ist die Geburt des Zustands des Abjekten. Abjekt, bzw. der phänomenologische Zustand der Ungewissheit – die Schnittstelle zwischen Unordnung der Welt und Willensfreiheit – ist ein Zustand, der das Subjekt zwingt, sich selbst zu schöpfen, indem es eine Grenze, eine Unterscheidung etabliert. Und genau diesen Vorgang der Selbstgesetzgebung beschreibt Kristeva mit der Abjektion und damit mit der Einführung einer Grenze.
Abjektion und die menschliche (Selbst‑)Schöpfung
Um das Phänomen der Abjektion besser verstehen zu können, muss man sich das Subjekt und dessen Identität als Prozess vorstellen. Das Subjekt bzw. das „Ich“ ist kein festes bzw. festgelegtes Wesen und keine abgetrennte, unbeeinflussbare Entität, sondern immer abhängig von der Abgrenzung von anderen Objekten und Subjekten (Hegel 1986). Das Gefühl der eigenen Subjektivität und des eigenen „Ichs“ wird insofern durch die Abgrenzung bzw. Abtrennung von Objekten und durch die Positionierung in einem sozialen Raum mit und durch andere Subjekte überhaupt erst hergestellt (vgl. dazu Taylor 1983, 1996). Subjektivität ist das Produkt eines Prozesses von Grenzziehungen und der Übernahme von Grenzen und Unterscheidungen, die bereits durch eine soziale oder kulturelle Ordnung hergestellt worden sind.
Was genau das Subjekt gegen die Bedrohung der Auflösung oder Überschreitung individueller und sozialer Grenzen bewahrt, adressiert Kristeva mit dem Konzept der Abjektion.
Die Abjektion ist damit die Antwort – entweder des psychischen Subjekts oder des sozialen Subjekts – auf die Bedrohung oder Auflösung einer Grenze; dass beispielsweise der Körper nicht einfach nur „menschlich“, sondern auch animalisch sein kann. Der kreatürliche Teil des menschlichen Selbst stellt insofern ständig das individuelle und soziale Selbstverständnis und die kulturellen Grenzziehungen in Frage. Die Folge ist, dass Subjekte versuchen müssen, diejenigen Objekte, die eine Irritation oder Auflösung der Grenzen hervorrufen, aus ihrer Welt auszuschließen.
In Kants Urszene der existenziellen Krise haben wir gesehen, dass der Mensch durch sein Bewusstsein und seine Vernunft dazu in der Lage ist, seine natürlichen Begierden zu hinterfragen. Diese Analogie kann genutzt werden, um zu verstehen, warum für Kristeva das Abjekt insbesondere in der Konfrontation des Menschen mit seiner auch schwer zu kontrollierenden Kreatürlichkeit hervortritt: Zwar können sich Subjekte von ihren Instinkten distanzieren, aber sie sind dennoch immer Teil des eigenen Selbst. Sie werden sie nie endgültig überwinden können und sind stetig vor die Aufgabe gestellt, zu entscheiden, inwiefern sie ihren Instinkten Macht über sich selbst zugestehen. Als Wesen, das dazu fähig ist, sich selbst zu schöpfen, ist der Mensch ständig zerrissen. Das Abjekt findet sich aber nicht in der ständigen Erinnerung an unsere Kreatürlichkeit wieder. Stattdessen wird der Zustand des Abjekten in der Zerrissenheit des Subjekts geboren; im ständigen Widerstreit zwischen seinen Begierden und seiner Vernunft.Footnote 4
Das Subjekt ist damit gezwungen, diese Zerrissenheit zu überwinden und sich selbst zu einer psychischen Einheit (vgl. dazu Kristeva 1982; Korsgaard 2009; Castoriadis 2012) wieder zusammenzufügen. Grundsätzlich kann damit der Prozess der Abjektion als die Herstellung von Subjektivität überhaupt verstanden werden, indem er die Einführung der primären existenziellen Grenze repräsentiert. Mit dieser Schöpfung wird erst dasjenige produziert, was sich innerhalb oder außerhalb dieser Grenzen verortet. Diese grundlegende Unterscheidung muss ihren Ursprung selbst aber nicht zwingend in einem Individuum haben. Ganz im Gegenteil: Mit Kristeva lässt sich beschreiben, dass es nur eine grundlegend psychobiologische Grenzziehung gibt – und das ist die Grenzziehung zwischen dem Selbst und dem Objekt (vgl. dazu Kristeva 1982). Alle anderen Grenzziehungen oder basale Unterscheidungen sind immer mit einer bestimmten kulturellen Logik oder Sprache verbunden, einem bestimmten symbolischen Raum – einer Kultur, Weltanschauung, Religion oder Lebensform.
Der Zustand des Abjekten bzw. die existenzielle Ungewissheit taucht insofern nur in der Irritation der Grenze auf, und diese Irritation spüren Subjekte nur, weil sie subjektiv oder kulturell noch keine klare oder eindeutige Möglichkeit gefunden haben, mit der Irritation umzugehen. Der Irritation der Grenzziehungen begegnen Subjekte in der Etablierung von Praktiken, die ständig reproduziert (aber auch verändert und angepasst) werden müssen, um diese wieder re-etablieren zu können. Subjekte und soziale Gemeinschaften sind also insofern vor die Aufgabe gestellt, die Abjektion immer wieder zu meistern oder neu zu entwerfen und auch dem Zustand der Ungewissheit, der existenziellen Angst und damit der existenziellen Krise mit neuen Formen bzw. Praktiken der Abjektion zu begegnen. Das Individuum, und schließlich auch die Gesellschaft, ist damit nicht nur vor die Aufgabe gestellt, sich immer wieder neu zu schöpfen, sondern kann genuin als menschliche Selbstschöpfung verstanden werden (vgl. dazu auch Castoriadis 1990).