In der faszinierten Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, steckt ein Moment jenes Unheimlichen, im Sinne der Entpersonalisierung, die Freud entdeckt hat und die zu unseren infantilen Wünschen und Ängsten gegenüber dem anderen zurückführt – dem anderen als Tod, als Frau, als unbeherrschbarer Trieb. Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewußtes – dieses „Uneigene“ unseres nicht möglichen „Eigenen“. Feinfühlig, Analytiker, der er ist, spricht Freud nicht von den Fremden: er lehrt uns, die Fremdheit in uns selbst aufzuspüren. Das ist vielleicht die einzige Art, sie draußen nicht zu verfolgen (Kristeva 1990, S. 208 f.).

1 Der Mensch als intelligentes Tier und Gefühlswesen

Das motivierende Ideal einer vernunftorientierten Lebensform ist schön und gut. Es ist ebenso unverzichtbar wie die darauf bezogene, psycho- und soziologische Strukturanalyse praktischer Rationalität (Sichler 2020). Jedoch wird die menschliche Begabung, vernünftig denken und handeln zu können, in ihrer Wirkmacht häufig überschätzt. Menschen sind Vernunft- und Gefühlswesen. Diese doppelte anthropologische Bestimmung bedeutet nun keineswegs, zweierlei Instanzen und Orientierungsquellen, Antriebs‑, Steuerungs- oder Regulationssysteme zu postulieren, die einander schroff entgegengesetzt wären und sich in einem ewigen Wettkampf befänden, ohne jemals übereinkommen und harmonieren zu können. Sie legt jedoch eine dringende Empfehlung nahe: Die Psychologie und erst recht die Soziologie sowie andere Sozialwissenschaften, die sich trotz des längst ausgerufenen emotional oder affective turn (z. B. Clough und Halley 2007) mit Gefühlen noch immer etwas schwertun, sollten sich mit Affekten und Emotionen als eigenständigen Phänomenen und spezifischen Weisen der Welterzeugung und -erschließung befassen. Im Alltag sind leibliche Personen denkende und fühlende Wesen, und zwar fast immer beides zugleich, sodass auch schwer durchschaubare Mischungen und Legierungen von Rationalität und Affektivität bzw. Emotionalität auftreten und normal sind.Footnote 1

Mit der althergebrachten Unterscheidung zwischen Gefühl und Vernunft wird auch die ebenso eingeschliffene Abgrenzung des Affekts bzw. der Emotion von der Kognition untergraben. Jan Philipp Reemtsma (2015) erläutert diesen Punkt. Er rät dazu, das heuristische, hermeneutische und explanative Potenzial einer – phänomenologischen, psychologischen, psychoanalytischen – Begriffssprache der Gefühle genauer auszuloten. Man solle die etablierte theoretische Unterscheidung zwischen Kognitionen und Emotionen, wenn schon nicht aufgeben, „so doch gezielt […] verwischen“ (Reemtsma 2015, S. 25). Die Emotion falle bisweilen in eins mit der Kognition, etwa dann, wenn „ein beliebiges soziales Verhältnis […] zu einem Konflikt wird“, in dem sich die Kontrahenten eben nicht nur als Gegner oder Feinde auffassen und betrachten – eine kognitive Leistung –, um diese kognitive Operation dann auch noch „affektiv zu besetzen“ oder mit emotionalen Bedeutungen auszustatten (ebd.). Jemanden als Feind wahrzunehmen und zu erleben, ihm oder ihr als Feind zu begegnen und in diesem emotionalen Verhältnis zu sein, zu handeln und zu leben, all das ist eins: „Die Kognition ist der Affekt, der Affekt ist die Kognition. Eine krasse Unterscheidung [zwischen Personen oder Gruppen, zwischen ihnen und uns, J.S.] ist nicht verbunden mit einem krassen Affekt gegenüber dem Unterschiedenen, sondern ist dieser Affekt. Und wo sich ein Konflikt löst, eine Feindschaft auflöst, ist nicht einfach der feindselige Affekt nicht mehr da, sondern die neue Beziehung besteht in einer anderen emotionellen Sicht der Dinge“ (ebd., S. 25 f.).

Der springende Punkt in dieser Argumentation und überhaupt im Plädoyer, das Reemtsma gegen die disziplinär eingespielte Affektabwehr der Soziologie vorträgt, besteht darin, Affekte und Emotionen als eigenständige psychosoziale Phänomene zu betrachten und nicht nur als Begleiterscheinungen des Handelns oder einfach als etwas, das zu den eigentlichen (materiellen) Ereignissen hinzukommt und dem Leben wie eine Art Accessoire seine Würze verleiht und für eine bestimmte Intensität, Färbung oder Anmutungsqualität sorgt. Viele soziale (psychosoziale, soziokulturelle) Phänomene lassen sich in der Tat nicht angemessen beschreiben, verstehen und erklären, solange man Gefühle lediglich als akzidentelle Zutaten, Ingredienzien oder Beimischungen auffasst, die zu den ‚eigentlichen‘ Phänomenen hinzukommen, am Wesentlichen – das mit Affekten und Emotionen angeblich nichts zu tun habe – jedoch ohnehin nichts ändern.

Das ist eine verkürzte, ja falsche Sicht auf unser Leben. Oftmals bilden Affekte oder Emotionen die zentralen, mitunter die einzig wirkmächtigen Beweg- und Bestimmungsgründe unseres Handelns. Es gibt also gute Gründe dafür, sich nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Soziologie und anderen Sozialwissenschaften an der folgenden heuristischen Leitfrage zu orientieren: „Wie verändert sich das Verständnis von Vorgängen, wenn man Emotionen nicht als ‚sie begleitend‘ oder ‚in sie involviert‘ beschreibt“ (ebd., S. 17), sondern diese Vorgänge als Geschehnisse auffasst und auslegt, die in Gefühlen begründet, in einem ernsten Sinne des Begriffs durch sie konstituiert, fortan von ihnen getragen werden und von ihnen abhängig bleiben? Mit den Affekten und Emotionen entstehen und verschwinden die betreffenden Vorgänge und Phänomene, wie zum Beispiel die oben exemplarisch angeführte Feindschaft; man hätte natürlich auch die Liebe, die Sympathie oder die Eifersucht – oder einen von Ekel und Abscheu geprägten Kontakt, eine an Abjektivierungen bzw. Abjektionen gekoppelte Begegnung und Beziehung wählen können (s. unten).

Es sind die Affekte und Emotionen, die unser Selbst- und Weltverhältnis ausmachen können, ohne dass es zur Bestimmung dieses Verhältnisses und des damit verwobenen Verhaltens und Handelns noch einer Bezugnahme auf separate Kognitionen oder ausgefeilte Reflexionen bedürfte. Starke und auch moderatere Gefühle sind Interpretamente, die uns in eine affektive, emotionale Beziehung zu uns selbst, zu anderen oder zu beliebigen ideellen, sozialen, kulturellen und materiellen Gegebenheiten bringen und in dieser orientierungsstiftenden und handlungsleitenden Beziehung halten, einen Moment oder eine ganze Weile lang, vielleicht über Monate und Jahre hinweg. Gefühle sind nicht „lediglich verstärkende oder denaturierende Addenda des Handelns“ (ebd., S. 23). Sie definieren vielmehr unseren Blick auf die Welt, in der wir leben, auf jede der ineinander übergehenden Situationen, in denen wir uns gerade befinden oder wiederfinden. Gefühle geben uns die Welt, sie schenken sie uns oder muten sie uns zu. Sie haben eine welterzeugende und -erschließende Funktion, einschließlich der bekannten evaluativen Komponenten. Demgemäß bedarf es neben einer psycho- und soziologischen Strukturanalyse normativ-praktischer Rationalität (Sichler 2020) ebenso einer Strukturanalyse normativ-praktischer Affektivität oder Emotionalität.

Gefühle sind konstruktiv und produktiv. Wir sind stets auch affektiv und emotional verfasst, wir denken und handeln in dieser Verfassung. Dass Gefühle die Welt erschließen, kann natürlich bedeuten, dass sie etwas verschließen, uns unzugänglich oder zum Gegenstand wechselnder Ressentiments machen (die Scheler 2013, S. 48 ff., in interessanter Weise als „seelische Selbstvergiftung“ und „innere Giftigkeit“ bestimmte, welche die Betroffenen zu einer ständigen „Wertminderung“ anhält): Es sind dann eben die anderen, die – in aller Regel auf dem Boden einer erlebten Kränkung des Selbstgefühls und verletzten Selbstachtung – herabgesetzt und mitunter radikal entwertet werden (vgl. zu Schelers Analyse auch Wrbouschek et al. 2020, S. 21 ff., die den Schöpfer der berühmten materialen Wertethik in wichtigen Punkten korrigieren). Am Beispiel von Abjekten und Abjektionen lässt sich all dies bestens verdeutlichen. Wenn andere Personen abjektiviert werden, richten sich fortan starke negative Affekte gegen sie: Ekel, Abscheu, Widerwillen, Verachtung etc. Das weitere soziale Handeln der abjektivierenden Subjekte macht sie folgerichtig zu bevorzugten Zielen der destruktiven Macht aversiver, aggressiver Anschlusshandlungen. Für die von ihren Gefühlen besessenen und getriebenen und zugleich gezielt tätigen Akteure steht nun alles im Zeichen des eigens erzeugten Abjekts, zu dem Abstand gehalten, das aktiv distanziert und diskriminiert, herabgesetzt, entwertet und exkludiert, ‚am besten‘ sogar beseitigt werden muss. Die maßgeblichen, motivierenden und handlungsbestimmenden Gefühle lassen da kaum eine andere Wahl.

2 Abjekte, Abjekti(vi)erung, Abjektion

Intoleranz beginnt vor jeder Doktrin. […] Wir ertragen die Andersartigen nicht, weil sie eine andere Hautfarbe haben, weil sie eine uns unverständliche Sprache sprechen, weil sie Frösche, Hunde, Affen, Schweinefleisch, Knoblauch essen, weil sie sich tätowieren lassen und so weiter (Eco 1998, S. 104 f.).

Was Umberto Eco als Grundlage menschlicher Intoleranz aufzählt, sind keine rationalen, guten Gründe. Sie rechtfertigen nichts, woran Vernünftigen gelegen sein könnte – bieten aber sehr realistische, empirisch tragfähige Ausgangspunkte für verstehende Erklärungen dieses komplexen Gefühlsphänomens (zum „verstehenden Erklären“ vgl. Straub 2021b). Affects and emotions matter: Noch immer ist diese Einsicht ganz besonders in psychologischen Theorien präsent, allen voran in psychoanalytischen Ansätzen (König 2014). Julia Kristevas (1980) theoretisches Konzept der Abjektion ist ein Paradebeispiel für die bewegende, bestimmende Macht eigenständiger, negativer Affekte. Sein Wert für das verstehende Erklären unseres Handelns sowie die Produktion, Reproduktion und Transformation psychischer, sozialer und kultureller Ordnungen wird indes keineswegs hinreichend gewürdigt. Dieses Konzept ist für das Verständnis zahlloser Handlungen und Interaktionen, sozialer Begegnungen und Beziehungen meines Erachtens höchst aufschlussreich. Einen besonderen Dienst verrichtet es beispielsweise im Feld einer interkulturellen Praxis, in der Menschen aufeinandertreffen, die sich in weltanschaulich und lebenspraktisch wichtigen Hinsichten stark unterscheiden. Solche erheblichen – vielleicht radikalen, nicht nur graduellen – Unterschiede gehen häufig mit wechselseitigen Fremdheitsgefühlen und -wahrnehmungen sowie entsprechenden Irritationen, mit Verunsicherungen des eigenen Selbst, mit diffusen Ängsten, konkreten Befürchtungen und anderen negativen Gefühlen einher (was positive Reaktionen keineswegs ausschließt, wie etwa die mögliche Faszination des Fremden zeigt). Fremdheit ist bekanntlich ein relationaler Begriff. Fremd sind sich immer bestimmte Menschen in bestimmter Hinsicht. Ich widme mich im Folgenden lediglich Fremdheitserlebnissen, die die Betroffenen irritieren, verunsichern und sie zu Distanzierungen von anderen bewegen, zu Aversionen und Abwehrreaktionen ‚ver-leiten‘ (man kann durchaus sagen: uno actu zu seelischen Selbstvergiftungen).

Kristeva (1990) hat auf die motivierende und orientierende Kraft des Fremden hingewiesen. Ihre Theorie der Abjektion lässt sich im Feld einer Psychologie bzw. Psychoanalyse des kulturell und psychosozial Fremden fruchtbar machen (Torrado 2014; Straub 2017, 2019; Straub und Salzmann 2021; Straub und Tepeli 2021). Zunächst sollte man sich vergegenwärtigen, dass Fremdheitserfahrungen zentrale Überzeugungen, Identifikationen, Bindungen, Leidenschaften, Wünsche etc. bestimmter Menschen in deren affektiv-emotionalem Erleben in Frage stellen und bedrohen können. Sie vermögen ihr Selbstverständnis zu irritieren, ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstachtung zu untergraben. Nur so ist zu verstehen, warum und wozu diese Personen mit Abjektionen und zunächst, wie ich sagen werde, mit Abjektivierungen oder Abjektierungen des verunsichernden Gegenübers reagieren. Die symbolische, psychische und soziale Verwandlung der fremden Anderen in Abjekte (Abjektivierung) ist die entscheidende Voraussetzung und selbst schon Bestandteil einer seelischen Abwehr unbewusster Wünsche und Ängste (Abjektion im psychoanalytischen Sinn). Die Abjektion verbirgt, was die Abjektivierung vollbringt (und warum und wozu sie erfolgt, weshalb sie psychosozial funktional ist).

Wie andere Abwehrmechanismen dient auch die Abjektion – zumindest eine Zeit lang – dem Schutz, der Bewahrung und Integrität des eigenen Selbst. Zugleich gewährt sie die erlebte, ersehnte Unantastbarkeit der eigenen Lebensform. Selbsterhaltung und Selbstbehauptung gehen hier Hand in Hand. Das Eigene wird gegen Zweifel und Veränderungszumutungen verbarrikadiert, während und indem die fremden Anderen in spezifischer Weise verandert, nämlich zu Abjekten erklärt und fortan als solche wahrgenommen und behandelt werden, in Worten und Taten (zum Begriff der „Veranderung“ bzw. VerAnderung – des othering – siehe Reuter 2002). Diese Verwandlung ist affektiver Natur. Sie verlagert innere Regungen nach außen. Sie transformiert die Beziehung zu den fremden Anderen in einen starken Affekt und eine anhaltende Emotion, eine urteilende, wertende Gefühlshaltung. Sie etabliert ein affektiv-emotionales Verhältnis, das für alle Anschlusshandlungen sprachlicher und praxischer Natur maßgeblich ist, speziell für weitere, sich ausdifferenzierende und steigernde Gefühle und Gedanken, die die abjektivierten Anderen unmittelbar betreffen und treffen. Deren gemeinsamer Nenner ist die Aversion und Aggression, die Abgrenzung und Attacke zunächst im symbolischen Raum, wobei der „binäre Code“ (Paul 2019) – wie immer bei solchen interpersonalen und, eng damit verwoben, Intergruppendifferenzierungen – eine entscheidende Rolle spielt.

Insbesondere Henri Tajfel (1981, 1982; s. Brown 2019) hat – vor und neben den macht- und herrschaftskritischen Anklagen vonseiten der cultural, postcolonial oder auch der feminist studies – die psychosoziale Funktionsweise und das zentrale Motiv dieses Codes untersucht. Die polemogene Zweiteilung operiert mit der stets evaluativen, explizit oder implizit hierarchisierenden Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“. Dies geschieht entlang einer Grenze, die offen oder verdeckt, drastisch oder subtil, Gutes von Schlechtem, Wertvolles von Minderwertigem, Entwickeltes von Primitivem, Schönes von Hässlichem, Bewunderns- von Verachtenswürdigem, Ansprechendes von Abstoßendem, Anziehendes von Abscheulichem, Genießbares von Ekelhaftem abhebt. Solche binären Zuordnungen – es gibt zahllose davon – schaffen oder stärken ein positives Selbstgefühl, steigern den Selbstwert und festigen die Kohäsion der Eigengruppe. Sie sorgen für Stolz, Selbstsicherheit und die Bereitschaft der Gruppenmitglieder, die abgewerteten, disqualifizierten Anderen, ihre Selbst- und Lebensformen weiter zu entwerten und vielleicht so weit herabzusetzen, dass absolute Ab- und Ausgrenzungen nötig werden, womöglich eine exkludierende und nihilierende Gewalt, die sich mit symbolischen Stigmatisierungen und Diskriminierungen nicht mehr zufriedengibt, sondern der physischen Verfolgung und Vernichtung der Fremden den Weg bahnt. Wichtig ist: diese den Tätern angemessen, folgerichtig und sogar ‚legitim‘ erscheinende, destruktive Gewalt gründet nicht in rationalen Interessen, Diagnosen und Kalkülen sowie reflektierten Argumenten, sondern in Affekten und Emotionen. Sie enthalten alle wesentlichen Gedanken, sie bestimmen, ja sie bilden und sind die Verhältnisse.

Andere, Fremde zumal, können abjektiviert werden, das heißt: abgewertet und entwertet, marginalisiert, exkludiert oder, im schlimmsten Fall, enthumanisiert und animalisiert, als Schmutz, Schleim oder Schund klassifiziert, als Dreck degradiert, ausgelagert und ausgesperrt aus dem inneren Raum der Gemeinschaft oder Gesellschaft, einer beliebig kleinen oder großen Gruppe, und zugleich aus der Seele der Einzelnen, die durch solche Abjektivierungen und Abjektionen ebenfalls ‚sauber und rein‘, ‚in Ordnung‘ gehalten und vor Negativem, Dreckigem, Bedrohlichem bis auf Weiteres bewahrt werden soll. Die Abjektion ist ein psychischer Vorgang, ein Abwehrmechanismus mit unmittelbaren sozialen Folgen, welche die abjektivierten Anderen leiden machen und mitunter massiv beschädigen können. Zahlreiche Abjektionen funktionieren auch nicht ohne gewisse soziale Voraussetzungen: Es sind meistens bestimmte Andere oder Fremde, die die Angehörigen einer Gruppe, einer Gemeinschaft oder sogar einer Gesellschaft in aufeinander abgestimmten und einander verstärkenden (Inter‑)Aktionen abjektivieren. In der Regel sind Abjekte keine Erzeugnisse individuellen Handelns, sondern Produkte einer sozialen Praxis, an der mehrere oder viele teilhaben. In allen Fällen sind Abjektionen für die Akteure der Abjektivierung psychisch und sozial funktional. Zugleich sind ihre verletzenden, beschädigenden Effekte unvermeidlich. Dadurch gefährden sie gesellschaftlichen Zusammenhalt und untergraben die psychosozialen Grundlagen friedlicher Koexistenz in heterogenen Konstellationen.

In den symbolisch vermittelten Praxen bestimmter Gruppen kann die seelische Option der Abjektion bestimmter Anderer angeboten, nahegelegt oder aufgedrängt werden. Mitglieder der Eigengruppe werden dazu animiert, darin bestätigt und bestärkt. Abjektivierungen sind kommunikative, kollektive Vorgänge. Gruppen können den wuchernden Vorgang der geteilten, ko-konstruktiven Abjektivierung in interaktiven Eskalationsspiralen extrem werden lassen. Bis zur Herausbildung stabiler, komplexer affektiver Haltungen und damit verwobener Handlungsbereitschaften kann es allerdings dauern. Bis Juden und Jüdinnen von Millionen Angehörigen einer „Volksgemeinschaft“ als „Ungeziefer“ und „Schädlinge“ stigmatisiert und mit anderen symbolischen Mitteln abjektiviert, schließlich zur physischen Verfolgung und Vernichtung, zur radikalen Aussperrung und Ausmerzung ‚freigegeben‘ wurden, dauerte es eine Weile: Es bedurfte kumulativer, ko-konstruktiver Abjektivierungen bis hin zum Exzess der absoluten Entwertung und radikalen Entmenschlichung. Analoges gilt für andere bekannte Beispiele – gestern und heute.

Abjektionen dienen zuvorderst der eigenen psychischen, sozialen und kulturellen Ordnung, der Bewahrung ihrer vermeintlichen Reinheit angesichts einer von den Akteuren ‚wahrgenommenen‘, ko-konstruierten, praktisch und diskursiv ‚validierten‘ Gefahr der Kontaminierung, Unterdrückung, Verdrängung oder Abschaffung des Eigenen (zu Zygmunt Baumans einschlägigen Überlegungen s. Straub 2020). Offenkundig muss diesen Wahrnehmungen und Validierungen nichts entsprechen, das sich außerhalb der jeweiligen Gruppe abjektivierender Akteure in unvoreingenommener, intersubjektiver Weise nachvollziehen und bestätigen lassen könnte. Die Perzeptionen und willkürlichen Prüfungen der abjektivierenden Gruppe können reine Erfindungen und böswillige Zuschreibungen sein, nicht zuletzt unbewusste Projektionen; für ihre psychosozialen Funktionen ist das einerlei. Sündenböcke müssen bekanntlich nichts von dem, was ihnen zugeschrieben wird, getan oder im Sinn (gehabt) haben. Die wahrgenommene ‚Wahrheit‘ verdankt sich in solchen Fällen allein einem Für-wahr-halten und Wahr-sprechen. Sie gründet nicht zuletzt in unbewussten Motiven. Sie dient der Erhaltung des eigenen Status, der Absicherung von Herrschaft oder der Ausweitung persönlicher und kollektiver Macht.

Zur Verteidigung der vermeintlich bedrohten psychischen, sozialen und kulturellen Ordnung, zu diesem Zweck also wird alles Schlechte und Schlimme, das Abstoßende und Ekelhafte zumal, ins Objekt der Abjektivierung verlegt. Wie lässt sich dieser Vorgang noch genauer verstehen? Das prototypische und paradigmatische Abjekt – sein Urbild und zugleich seine extreme Verkörperung – ist der Kadaver, der verfaulende, verwesende Körper, vor dem sich spontan wohl alle ekeln. Er weckt Erbrechen und entwürdigt alles Lebendige, verwischt die Grenze zwischen Menschlichem und Animalischem und Organischem, signalisiert Zersetzung und Zerfall, nihiliert das lebendige Selbst und das Leben überhaupt. Man muss ihn meiden oder beseitigen, wenigstens Abstand zu ihm halten. Menschen tun das auch, und zwar alle Menschen. (Sogar hier sollte man jedoch hinzufügen: jedenfalls ab einem bestimmten Alter; soweit sie als Erwachsene von Kadavern nicht in perverser Weise angezogen werden – auch das gibt es bekanntlich.) Dass Kadaver gemeinhin als ekelhaft, abscheulich wahrgenommen werden und Abstand gebieten, ist biologisch verankert. Ihre Nähe ist für den menschlichen Organismus gefährlich. Im Kadaver lauern ansteckende Krankheiten. Der Kadaver ist indes nur das elementare Exempel, das eine allgemein verfügbare, körperlich-leibliche Erfahrung aufgreift und zuspitzt. Ekel ist der zentrale Affekt in dieser Erfahrung.

Wir ekeln uns bekanntlich nicht nur vor dem verwesenden Leichnam, sondern vor vielem, und einiges davon ist körperlich oder entstammt Körpern: verfaulendes Fleisch, Ausscheidungen, Erbrochenes usw. Vieles ähnelt äußerlich oder in seiner Konsistenz den körperlichen Stoffen: schleimiges, schmierige Erde, fauliges Gemüse, schimmlige Substanzen, verrottendes Material beliebiger Art usw. Höchst interessant ist im vorliegenden Zusammenhang – in dem es um eine sozial- und kulturpsychologische Reflexion auf Abjektionen in interkulturellen Konstellationen geht –, dass nicht jedes Erleben von Ekel biologischer Natur und anthropologisch universal ist, aber dennoch an das Urbild, den Prototyp oder das Paradigma des Ekels vor dem Kadaver erinnert, damit assoziiert scheint. Sekundäre, tertiäre Varianten des Ekels erwachsen aus seiner primären, originären, biologisch funktionalen Gestalt. Das jedoch ist kein organismisches Wachstum, keine selbstläufige Reifung, sondern Resultat der Sozialisation und Enkulturation von Subjekten. Wie für andere Gefühle, so gilt auch hier: Sie haben eine evolutionäre, biologische, (neuro-)physiologische Grundlage und Funktion, sind aber in ihrer konkreten phänomenalen Gestalt, ihrem Ausdruck und ihrer Bedeutung soziokulturell geformt, modelliert und moduliert. Menschen lernen im Rahmen der soziokulturellen Lebensformen und der Praktiken, in die sie hineingeboren wurden, sich vor diesem oder jenem zu ekeln. Sie lernen sukzessive, wovor sie sich zugunsten der Bewahrung der eigenen psychischen, sozialen und kulturellen Ordnung grausen und wovon sie tunlichst Abstand halten sollten. Die sehr früh einsetzende „Reinlichkeitserziehung“ ist ein wichtiger Schritt in dieser Entwicklung. Auch sie bildet einen bleibenden Nährboden für weitere Abjektivierungen und Abjektionen, auch solche, bei denen es nicht mehr unmittelbar und physisch, sondern nur noch vermittelt und symbolisch um Kot und andere körperlichen Ausscheidungen (Urin, Sperma, Blut), Dreck oder Unrat geht. Die eigentlichen Objekte und Adressaten sind nun andere Lebewesen, nicht zuletzt eben Menschen und ihre (zumindest zugeschriebenen) Lebensformen, Gewohnheiten, Vorlieben und weitere Eigenheiten. Ausscheidungen, Abschaum, Ungeziefer, Dreck, Unrat und dergleichen werden nun zu machtvollen Metaphern. Vor auch metaphorisch abjektierten Menschen muss man sich in Acht nehmen. Generell gilt (biologisch, psychologisch, soziologisch): „Der Grund des Abjekten ist die Abneigung, der Widerstand gegen die Integration eines Objektes, dem wir uns widersetzen“ (Torrado 2014, S. 16). Das geschieht, psycho- und soziologisch betrachtet, (vermeintlich) eigennützig.

Das Konzept der Abjektion plausibilisiert die Stärke von Affekten, die ihren Ursprung in elementaren biologischen Ausstattungen und Funktionen besitzen, sich von dieser natürlichen Basis jedoch ablösen und sich in psychischen, sozialen, kulturellen, symbolischen Räumen geradezu beliebig ausbreiten können. Wichtig ist eben, dass diese Ausbreitung – die Suche nach immer wieder neuen Objekten, die, auch metaphorisch, in Abjekte verwandelt werden können – ein zutiefst sozialer, kultureller Vorgang ist. Subjekte werden im Verlauf ihrer Sozialisation und Enkulturation in solche praktischen und symbolischen Abjektivierungen eingebunden, sie werden dazu angehalten und regelrecht dazu abgerichtet. Dabei können die Objekte, die abjektiviert werden und fortan Abjektionen auslösen, ständig wechseln. Verschiebungen sind ein zentraler Modus der Ausbreitung von Abjektionen, die einer überdauernden affektiv-moralischen Haltung entspringen (wie die ebenso flexiblen Ressentiments, die stets ein passendes Ziel finden, an dem die lustvollen Herabsetzungen und Entwertungen anderer exekutiert werden können). All das geschieht, ohne dass die in solche sozialen Praxen, in diskursive oder präsentative Interaktionsräume eingebundenen Menschen genau merken müssten, was da eigentlich vor sich geht, wogegen sie also aus welchen (Beweg‑)Gründen, Intentionen und Motiven Abscheu und Widerwillen, Ekel und Verachtung entwickeln. Ohne dass man sich versieht, sind andere – der eigene Körper und die eigene Seele zeigen es unmissverständlich an – eklig, abscheulich, widerlich, verachtenswert geworden. Wir reagieren fortan affektiv-emotional auf sie, unmittelbar und unreflektiert – als handle es sich beim Gegenstand, auf den die körperlichen, leib-seelischen Subjekte antworten, um Objekte mit ähnlich negativer Valenz wie Kadaver.

Die soziokulturelle Variabilität des Abjekten ist erstaunlich groß. Menschen wird nicht gleichermaßen speiübel beim Anblick des Gleichen oder beim Geruch oder Geschmack desselben; sogar Geräusche und Klänge können abjektiv wirken, wiederum von Gruppe zu Gruppe, Individuum zu Individuum verschieden. Personen reagieren auch in dieser Hinsicht auf je eigene Weise. Sie erleben Unterschiedliches als Abjektes, je nach ihrer kulturellen und sozialen Prägung und lebensgeschichtlichen Erfahrung, auch ihrer individuellen Disposition. Was sie als Abjekt wahrnehmen und behandeln, ist im Übrigen niemals endgültig festgeschrieben. Menschen können sich bekanntlich auch darin üben, etwas ehemals – spontan, unwillkürlich, unkontrollierbar – Widerwärtiges und Abstoßendes nüchtern zu betrachten und kühl damit umzugehen, vielleicht sogar Sympathie dafür zu entwickeln. Sie können ihren Ekel überwinden – und müssen das beispielsweise in vielen Berufen auch tun, wenn sie handlungsfähig und erfolgreich sein wollen. Man denke z. B. an Ärzt*innen, nicht nur in der Gerichtsmedizin oder an Unfallorten tätige; oder an Menschen, die sich in Pflege- oder Reinigungsberufen einer Art Normalisierung und Neutralisierung des ehemals Abjekten widmen.

Die tiefsten Wurzeln unserer Bindungen und Präferenzen liegen nicht im Reflektieren und Räsonieren, sondern in einem viel ursprünglicheren, prärationalen, präreflexiven und vorsprachlichen Erfahrungskomplex, eben in jenem wiederholten Erleben von Anziehendem und Abstoßendem, Appetitlichem und Ekligem, das frühzeitig zu unterscheiden uns die soziale Mitwelt anleitet und anhält. Für die Kulturpsychologie ist das außerordentlich interessant und wichtig. Selten erscheint die Subjektivität von Personen – auch in ihrer affektiv-emotionalen Dimension – so eng mit deren Sozialität und Kulturalität verwoben. Kultur und Person, Individuum und Gesellschaft sind, wo es um Abjektives, Abjektivierungen und Abjektionen geht, zwei Seiten ein und derselben Medaille. In diesem Feld hat die Kulturpsychologie eine große Chance, sich als Sozial- und Kulturwissenschaft zu begreifen, ohne sich als Subjektwissenschaft aufzugeben. Eine Psychologie, die Affekte und Emotionen vernachlässigt, verkäme zur Chimäre. Dies gilt auch für eine handlungstheoretisch fundierte Kulturpsychologie, die sich zurecht als Subjekt‑, Sozial- und Kulturwissenschaft versteht (Straub 2021a).

Was aufnehmen und annehmen, was ablehnen, ausstoßen und abstoßen? Darüber entscheidet also zuvorderst ein früh ausgebildetes Körper- und Leibgedächtnis, das erst später im Leben eines Menschen auch noch mit rationalen, jedenfalls vernünftig erscheinenden Argumenten und Gründen ausstaffiert wird. Auch Werte und Normen, die affektiv-emotionalen Bindungen an sie sowie die Bereitschaft, sie argumentativ zu rechtfertigen und zu verteidigen, beruhen auf dieser Grundlage frühkindlichen Erlebens. Damit ist ein allgemeiner Zug unserer leidenschaftlichen, anhänglichen Liebe zu bestimmten Prinzipien und Regeln, zu hochgehaltenen Standards, Werten und Normen, zu eigenen Präferenzen und Privilegien, psychoanalytisch bzw. psychologisch decodiert. Diese Liebe gründet immer in elementaren Erlebnissen, in denen prägende, in intime soziale Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse eingebettete Gefühle den Ton angeben, also nicht gleich die leise Stimme des Intellekts und der vermeintlich so nüchternen Vernunft.

3 Gewalt einhegen: Psychologische Aufklärung über Abjektivierungen und Abjektionen

Abjektionen sind an und für sich nichts Schlechtes oder Verwerfliches, das man schleunigst abschaffen sollte. Das wäre aus den dargelegten Gründen ohnehin gar nicht möglich. Auf bestimmte Abjektivierungen und Abjektionen sollte die Sozial- und Kulturpsychologie jedoch ihre kritische Aufmerksamkeit lenken, ihren aufklärerischen und therapeutischen Blick richten. Abjektionen können mit seelischen, sozialen und kulturellen Vorgängen assoziiert und liiert sein sowie weiteren inneren und äußerlichen Handlungen den Weg bereiten, die wir aus ethischer, moralischer und politischer Sicht wahrlich nicht gutheißen möchten. Die schroffe, in Voreingenommenheit, Vorurteilen und Ressentiments verwurzelte Ablehnung von anderen, die Abneigung gegen Hautfarben, Ernährungsgewohnheiten, Haartrachten, Kleidungsstile, sexuelle Orientierungen, religiöse Passionen und dergleichen, die vielgliedrige Abjektivierung von Mitmenschen, ihrer Lebensformen, Praktiken und Handlungsweisen sowie die stets lauernde Aversion und potenzielle Aggression gegen diese fremden Anderen zeigen unmissverständlich an, was es bedeuten kann, dass diese Anderen mit Abjektem amalgamiert werden oder es, für bestimmte Menschen, schließlich in wachsendem Maße direkt verkörpern und symbolisieren. Radikal entwertende, entmenschlichende Metaphern wie „Dreck“, „Abschaum“ oder „Ungeziefer“ bringen das überdeutlich zum Ausdruck.

Die Wege der Herabsetzung und radikalen Entwertung, der Missachtung und Verachtung anderer Menschen, fremder zumal, sind weit verzweigt und unendlich (Paul 2019, zählt einige auf, auch solche, die sich in der ‚schönen Literatur‘ z. B. eines Jonathan Swift finden lassen). Bestimmte Typen und Gruppen von Personen eignen sich dabei besonders gut, nämlich solche, „welche aufgrund ihres Erscheinungsbildes und der sozialen Situation Ablehnung provozieren: Obdachlose, Kranke, Behinderte, Kriminelle und Prostituierte“ (Torrado 2014, S. 18). Diese Liste ist unvollständig und muss es sein, sie bleibt für allerlei Ergänzungen offen: Arme, Alte, Homosexuelle, Transvestiten, Transsexuelle, Trans*-Menschen generell, Migrant*innen, Flüchtlinge, Ossis und Wessis, Muslime, religiös Gläubige überhaupt, Fleischesser und Veganer*innen, Radikale, Extremist*innen usw. Grundsätzlich unvollständig bleiben auch die „Themen und Aktionen“, die mit den genannten Abstoßungen und Ausstoßungen in Verbindung stehen, etwa „sexuelle Akte, Masturbation, Defäkation, Verstümmelung“ (ebd.) – man denke ‚ruhig‘ auch an religiös begründete Beschneidungen von Jungen oder an das Tragen einer Burka oder eines Niqab, an Essgewohnheiten wie den Verzehr von Spinnen, Meerschweinchen oder Schweinefleisch, an Alkoholkonsum, an die vielen Menschen unangenehme Nacktheit von Frauen und Männern an gemeinsam besuchten, öffentlichen Orten usw. Dasselbe gilt schließlich für die Nennung „konnotierter Werte“ und assoziierter Vorstellungen, welche abjektiv besetzt sind, etwa „Unreinheit, Sünde, Verseuchung, Krankheit, Gefahr und Tod“ (ebd.) oder Hässlichkeit, Missbildung, Bosheit, Infektion, Bedrohung, Obszönität, Perversion oder Fundamentalismus, Dogmatismus – sowie das Andere und Fremde. Auch diese Reihe ist für Fortsetzungen offen.

Anschauliche Beispiele für Abjektives und seine historischen Verschiebungen gibt es unzählige. Wichtig ist: Es muss nicht immer gleich um körperliche Zumutungen, Exzesse und Transgressionen gehen, um Abjektionen zu evozieren. Es bedarf beispielsweise keiner extremen Körpermodifikationen oder der freiwilligen Amputation von Gliedern (wie beim Syndrom der sog. body integrity identity disorder: vgl. Lensing 2013; Müller 2019), um die meisten Menschen schaudern zu lassen. Das Abjekte kann im Unscheinbarsten und Harmlosesten lauern. Körperhaare bei Mädchen und Frauen, in unserer Gesellschaft nun auch mehr und mehr bei Männern, wecken bei nicht wenigen Zeitgenoss*innen Ekelgefühle. Ein Kopftuch einer Frau, lila Schuhe an den Füßen eines Mannes oder Lippenstift auf seinem Mund können ebenfalls genügen. Abjekte sind relationale Kategorien, deren empirisch triftiger Gebrauch von kontingenten – historischen, kulturellen, sozialen und personalen – Umständen abhängt.

Natürlich kann man manches aus guten, jedenfalls allgemein nachvollziehbaren Gründen abscheulich finden. In anderen Fällen gerät der unwillkürliche Ekel schnell in Verdacht, Intoleranz und die Herabsetzung von anderen zu signalisieren, solche emotionalen Einstellungen, Haltungen und Handlungen zu schaffen oder zu festigen. Das hat wenig bis nichts mit einem begründeten, sachlichen Urteil zu tun, einiges jedoch mit mangelndem Kontingenzbewusstsein und nicht praktizierter Toleranz. Dagegen richtet sich eine psychologische Aufklärung, die auch ethisch-moralisch und politisch begründet ist. Viele Abjektivierungen und Abjektionen bilden sozialen Sprengstoff. Sie eignen sich bestens als Nährboden für Distanzierungen, Verwerfungen und Verfeindungen, Krisen und Konflikte, anhaltenden Streit.

Die avisierte psychologische bzw. psychoanalytische Aufklärung ist offenbar von besonderer Art. Sie kann sich nicht mit der Vermittlung von puren Einsichten begnügen, sondern muss danach trachten, dass Personen – für sich und in Gruppen – an sich arbeiten. Diese Personen müssen ihre gemeinsam ins Werk gesetzten Abjektivierungen und die prekären, mit diskriminierender, exkludierender, nihilierender Gewalt gegenüber anderen liierten Funktionen wahrnehmen, spüren und durcharbeiten lernen. Sie sollten das ohne übergroße Scham- und erdrückende Schuldgefühle tun können, ohne in Fremd- und Selbstvorwürfen zu enden. Angenehm ist das dennoch nicht – alternativlos schon, sobald man gewillt ist, die durch Abjektivierungen und Abjektionen freigesetzte und reproduzierte Gewalt einzuhegen. Sehr häufig sind in Gewaltverhältnissen Abjektivierungen und Abjektionen nicht nur im Spiel, sondern maßgeblich. Sie sind dann der tragende (Beweg‑)Grund gewaltsamer und gewalttätiger Praxen und Lebensformen. Sie sorgen für die Affekte und Emotionen, die als eigenständige Phänomene jene Begegnungen und Beziehungen bilden, in denen sich Menschen einseitig oder gegenseitig beschädigen. Diese Personen werden von solchen destruktiven, in verfestigten Gefühlen gegenüber fremden Anderen verkörperten Impulsen bewegt. Dafür sollte sich die Kulturpsychologie interessieren.

Die im Zeichen der Analyse von Abjektivierungen und Abjektionen stehende Kritik von Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen beinhaltet nicht zuletzt eine klare Aufforderung zur Selbstkritik und zur Arbeit an sich selbst, speziell an den ein jedes Selbst und sein Verhältnis zur Welt mit-konstituierenden Affekten und Emotionen (vgl. auch Benjamin 2019, deren anerkennungstheoretische Perspektive gut zu den oben vorgetragenen Analysen und Argumenten passt). Kulturpsychologische Kritik begnügt sich nicht mit Gedanken und rationalen Erwägungen. Sie zielt auf Gefühle und eine Gefühlsarbeit, ohne die sich ethisch-moralische und politische Strukturen oftmals kaum ändern lassen. Das ist keine Psychologisierung seelenferner Sachverhalte, keine Illusion oder naive Verklärung der materiellen, ökonomischen oder politischen Verhältnisse. Die Aufklärung über Abjektivierungen und Abjektionen sowie das „Durcharbeiten“ negativer sozialer Affekte und Emotionen auch in öffentlichen Räumen ist manchmal ein besonders vielversprechender Weg, um an keineswegs nur symbolisch verfassten Gefühlskulturen, Atmosphären und Stimmungslagen etwas ändern zu können. Gefühlskulturen sind Bestandteil der politischen Kultur. Kultivierungen und Subjektivierungen sind nicht zuletzt affektiv-emotionale Angelegenheiten – und sind es immer schon gewesen.