1 Abjekt(ion), Individuum und Kultur

In Powers of Horror: An Essay on Abjection (1982)Footnote 1 legt Julia Kristeva dar, wie die Abjektion als Grundlage einer umfassenden Kulturtheorie verstanden werden kann. Kristevas psychosoziale Individuations- und Kulturtheorie, die individuelle sowie kollektive Strukturen beschreibt, ist transhistorisch angelegt und ist damit geeignet, auf die puritanische Gesellschaft im 17. Jahrhundert in Neuengland angewendet zu werden, die hier zum Gegenstand einer historischen Betrachtung von Abjektion und Gender gemacht wird. In puritanischen Texten wird religiöser und ziviler Ungehorsam oft als Hinweis auf sexuelle Transgression und körperliche Abjektion verstanden. Puritanische Autoren, die oftmals auch Geistliche sind, brachten Grenzüberschreitungen gerne mit spiritueller Verderbtheit und der Abjektion körperlicher Sekrete, Exkrete und Exkremente in Verbindung; in den hier verwendeten Fallbeispielen handelt es sich dabei um die Abjektion von Sperma und „monströsen“ missgebildeten Föten. Im patriarchalischen Neuengland stellte diese Form körperlicher Abjektion eindeutig einen Nachteil für die betroffenen Frauen dar, denn ihre Fehlgeburten wurden von den Repräsentanten des Patriarchats, bei denen die Diskurshoheit lag, als Manifestation spiritueller Abjektion bewertet.

Kristeva fokussiert in Powers of Horror zunächst auf die Rolle, die der menschliche Körper mit seinen Ausscheidungen in Bezug auf das Empfinden von Widerwillen und Ekel spielt. Sie beschreibt Angst vor dem Abjekt als eine individuelle oder auch kollektive Furcht vor Sinnlosigkeit und Auslöschung, die sich in Ekel vor „an item of food, a piece of filth, waste, or dung“ (Kristeva 1982, S. 2) zeigt.

Das Abjekt löst bei seinen Betrachter*innen zeitgleich Abscheu und Faszination aus, und es verstört, wenn es sich als körperliches Exkret manifestiert, da es ich bei dem Exkret nicht um den Körper selbst, sondern um einen abgestoßenen Teil von ihm handelt. Das ausgeschiedene Abjekt ist weder Subjekt noch Objekt, sondern ein „irgendetwas“, dass dem Ich im Prozess der Individuation großes Unbehagen bereitet. Es muss aus dem Körper hinausbefördert werden, um Verfall und Verwesung abzuwehren und die Grenze zwischen innen und außen zu verteidigen. Das Abjekt evoziert Sinnlosigkeit und Zerstörung und verursacht dadurch Angst:

A massive and sudden emergence of uncanniness […] now harries me as radically separate, loathsome. Not me. Not that. But not nothing, either. A „something“ that I do not recognize as a thing. A weight of meaninglessness, about which there is nothing insignificant, and which crushes me. On the edge of non-existence and hallucination, of a reality that, if I acknowledge it, annihilates me. (Kristeva 1982, S. 2)

Dass Kristeva das Abjekt und die Abjektion schon zu Beginn ihrer Überlegungen in Powers of Horror als „Lehrbuch“ und „Garant“ für die vorherrschende Kultur bezeichnet (vgl. 1982, S. 2), impliziert, dass der Mechanismus der Abjektion für ganze Kulturen ebenso funktioniert wie für Individuen. Die Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young erläutert, dass Kristevas Theorie demzufolge auch als soziale Identitätstheorie zu verstehen ist. In westlichen Gesellschaften werden marginalisierte Gruppen von Teilen der Bevölkerung als abjekt diskriminiert: „[P]eople of color and homosexuals often become the victims of a body aesthetic that defines some groups as ugly or fearsome and produces aversive reactions in relation to members of those groups“ (1990, S. 145). Dies ist laut Young fatal, da die Verbindung von marginalisierten Gruppen mit dem Abjekt eine arbiträre Konstruktion ist, die sich auf böswillige Art und Weise in die Identitätsbildung einschleicht und Ängste vor dem Anderen verursacht (vgl. 1990, S. 145).

Winfried Menninghaus führt dazu aus, dass einige dieser marginalisierten Gruppen sich jedoch effektiv gegen diese Zuschreibungen durch Anwendung von „affirmative abjection“ wehren. Sie entlarven zunächst den Mechanismus der Diskriminierung und zeigen auf, dass Kulturen das Andere, „das sie nicht integrieren können oder wollen […] als ihr jeweiliges Abjekt [verstehen] – ob es sich dabei um Frauen, Homosexuelle, ethnische Minoritäten, [oder] AIDS-Kranke […] handelt“ (2017, S. 517). In einem zweiten Schritt deuten einige diskriminierte Gruppierungen das eigene kulturelle Abjekt-Sein um, indem sie es „einerseits als repressive Funktion der paternalen Ordnung geißeln, andererseits als unangepasste Lust- und Lebensform provokativ der Bejahung anempfehlen“ (2017, S. 549–550). Menninghaus weist in diesem Zusammenhang auf die Gefahr einer Falsifizierung des Abjekts hin, die das ambivalente Konzept im Sinne einer „affirmative abjection“ verkürzt und simplifiziert (2017, S. 554).Footnote 2

2 Abjektion der Mutter

Gender tritt in Bezug auf das Abjekt mit dem mütterlichen Körper auf den Plan, denn jede Begegnung mit dem Abjekt erinnert an die ursprüngliche Abjektion des mütterlichen Körpers, die jedes Subjekt vollziehen muss, um Sprache zu erlangen und in die paternale symbolische Ordnung einzutreten. Damit die Bildung eines Ichs mit eigenen Grenzen erfolgen kann, muss die Mutter-Kind-Dyade beendet werden, denn die Auseinandersetzung mit dem semiotischen mütterlichen Körper, der chora,Footnote 3 wird zu einem chaotischen „ständige[n] Hin- und Hergeworfen werden zwischen Verschmelzungssehnsucht, dem Wunsch zu verschlingen, der Angst verschlungen zu werden, haßerfüllten Abgrenzungsbestrebungen und der Angst, verlassen zu werden“ (Suchsland 1992, S. 92).

Das Subjekt befreit sich letztendlich aus dieser unangenehmen Situation und verwirft den mütterlichen Körper als unrein. Die Mutter wird somit als Objekt aufgegeben und als Abjekt kodiert (vgl. Kristeva 1982, S. 64). In Powers of Horror merkt Kristeva dazu an, dass auch schon das archaische Verhältnis zur Mutter vor der Abjektion kein Trost spendendes ist (vgl. 1982, S. 63). Bereits zu Anfang ihrer Abhandlung beschreibt sie die Trennung von der Mutter als „a violent clumsy breaking away, with the constant risk of falling back under the sway of a power as securing as it is stifling“ (1982, S. 3). Die abgestoßene Materie gilt also weiterhin als gleichzeitig attraktiv und bedrohlich für das frisch separierte Selbst; das Abjekt macht sich immer wieder als Begehren und Lust bemerkbar.

Wie man an Kristevas dramatischen Formulierungen erkennen kann, wird der Mutter für den Prozess der Individuation eine extrem große Wichtigkeit zugeschrieben. Menninghaus bemerkt zum Verhältnis von Mutter und Kind, dass der „schwangere mütterliche Körper […] für das Kind ein Äquivalent des Schellingschen Absoluten darstellt“ und von „Kristeva auch mit fast allen Prädikaten der idealistischen Philosophie des Absoluten belegt [wird]“ (2017, S. 523). Für Kristevas Theorie nimmt die Mutter die Wichtigkeit an, die der Vater für Freuds theoretische Überlegungen hatte. Zur Bedeutung des Vaters schreibt Kristeva: „[I]f the murder of the father is that historical event constituting the social code as such, that is, symbolic exchange and the exchange of women, its equivalent on the level of the subjective history of each individual is therefore the advent of language“ (1982, S. 61). Diese maßgebliche Bedeutung für die Subjektwerdung kommt für Kristeva der Mutter zu. Kristeva „entthront Freuds archaisch-perversen (Verführer‑)Vater […] durch die abjekte Mutter als die zentrale Referenz perverser Obsessionen und psychotischen Identitätsverlusts“ (Menninghaus 2017, S. 534). Der Muttermord muss im Rahmen der Abjektion stattfinden, damit aus Zeichen Sprache entstehen kann, aber die Trennung vom mütterlichen Körper ist nichtsdestotrotz sehr schmerzhaft: „Discomfort, unease, dizziness stemming from an ambiguity that, through the violence of a revolt against, demarcates a space out of which signs and objects arise“ (1982, S. 10). Wie Kristeva auch in Soleil Noir ausführt, ist der symbolische Muttermord lebensnotwendig und eine Bedingung sine qua non der Individuation (vgl. Kristeva 1987, S. 38).

3 Abjektion und der weibliche puritanische Körper

In der strikt patriarchalischen Gesellschaft des kolonialen, puritanischen Nordamerikas des 17. Jahrhunderts, die in dieser Fallstudie als Gegenstand einer historischen Betrachtung von Gender und Abjektion dient, war es Frauen so gut wie unmöglich, sich gegen Männer durchzusetzen. Puritanische Frauen waren sicherlich keine Minderheit, aber dennoch eine marginalisierte Gruppe. Die berühmte Antinomierin Anne Hutchinson (1591–1643) wurde in den Jahren 1637 und 1638 wegen ihrer Verstöße gegen puritanische religiöse Doktrinen vor Gericht gestellt. Im Rahmen der Feststellung ihrer Verfehlungen wurde Hutchinsons „monströse“ Fehlgeburt, die sie im Jahr 1637 erlitten hatte, von den männlichen puritanischen Autoritäten, die die alleinige Deutungshoheit über dieses Geschehnis für sich beanspruchten, mit ihrer religiösen Grenzüberschreitung in Verbindung gebracht. Hutchinson hatte sich bei den Puritanern und ihrem Governor John Winthrop (1588–1649) unbeliebt gemacht, indem sie es wagte, Männern die Bibel zu erklären und dabei eine radikale Interpretation der Doktrin der limitierten Erlösung (limited atonement) zu vertreten. Sie beharrte darauf, dass der calvinistische Gott nur diejenigen vor ewiger Verdammnis bewahrt, die er dafür ausgewählt hat. Ob jemand ein wichtiges Mitglied der puritanischen Gemeinde war, war dabei für sie, im Gegensatz zu Winthrop, von keiner Bedeutung.

Als Anstifterin der antinomischen Kontroverse, wie Hutchinsons Rebellion gegen die Aufweichung puritanischer Glaubensinhalte genannt wurde, hatte sich Anne Hutchinson zweifellos gegen die puritanische Obrigkeit gestellt, deren religiöse Grenzen angezweifelt und sich wie eine „übermächtige Mutter“ verhalten. Ihre Gegner stellten sie dafür vor Gericht. Nach ihrem Prozess – in einer Gemeinde, die keinen Unterschied zwischen Kirchen- und Zivilrecht machte – wurde sie 1638 aus Boston verbannt. Da die Puritaner ihre Gemeinschaft gegen Hutchinson und ihre Gefolgschaft verteidigen mussten, stellten sie eine Verbindung zwischen Hutchinsons antinomischen Ideen und ihrer gesetzlosen und ungezügelten „weiblichen Natur“ her, denn ihr ungehorsamer Körper hatte in einem Akt der Abjektion dreißig „Monster“ zur Welt gebracht, eine Anzahl, die genau den dreißig monströsen religiösen Thesen entsprach, die ihrem Geist entsprungen waren und für die sie verurteilt wurde. Ihre Ankläger folgerten, dass Hutchinsons religiöse Überzeugungen Gottes Zorn hervorgerufen hatte und ihre „monströse“ Fehlgeburt eine Strafe Gottes war. Im Vorwort zu seinem Buch über Gouverneur Winthrops große Taten beschreibt Thomas Weld Hutchinsons „Monstergeburt“ folgendermaßen:

Mistris Hutchinson being big with child, and growing towards the time of her labour, as other women does, she brought forth not one […] but […] 30. monstrous births or thereabouts […]. And see how the wisdome of God fitted this judgment to her sinne every way, for looke as she had vented misshapen opinions, so she must bring forth deformed monsters; as about 30. Opinions in number, so many monsters (zitiert nach Hall 1990, S. 280).

Auch Mary Dyer (1611–1660), die Hutchinson unterstützt hatte und zusammen mit ihrer Gruppe verbannt wurde, hatte kurze Zeit vor Hutchinsons Fehlgeburt selbst eine „monströse Geburt“ erlitten: „Mistris Dier brought forth her birth of a woman child, a fish, a beast, and a fowle, all woven together in one and without an head“ (Weld zitiert nach Hall 1990, S. 280). Governor Winthrop stellte in dem Fall fest, dass Dyers Hebamme Umgang mit dem Teufel gepflegt hatte und dass „[t]he Father of this Monster […] was upon the Lords day […] called before the Church for some of his monstrous opinions“ (zitiert nach Hall 1990, S. 282).

Die moderne Medizin hat inzwischen Dyers „monströses“ Kind als anenzephales Baby mit weiteren Geburtsdefekten diagnostiziert und Anne Hutchinsons angebliche Geburt von dreißig fötalen missgebildeten Meinungen als den Abgang einer Blasenmole – die kein richtiger Fötus ist – identifiziert (vgl. Schutte 1985, S. 90). Footnote 4Für die Puritaner, denen diese Ergebnisse moderner medizinischer Forschung nicht vorlagen, hatten die „Missgeburten“ eine eindeutig übersinnliche Komponente; von daher vermuteten sie eine logische Verbindung zwischen der Anzahl Hutchinsons häretischer Thesen und den angeblich dreißig Monstern, denen diese dazu verholfen hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Im Sinne von Kristevas Modell des Abjekts stellt die „Geburt“ toter Materie eine Abjektion dar. Hier zeigt sich das Abjekte durch die Vermischung von Totem und Lebendigem, von Menschlichem und Tierischem als „whatever disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules“ (1982, S. 4).

Hutchinsons und Dyers Schicksal illustriert, was Suchsland aus Kristevas Schriften in Bezug auf Weiblichkeit folgert: „Weiblichkeit ist […] nicht einfach das unsymbolisierbare Nichts außerhalb der symbolischen Ordnung. Sie lässt sich als das beschreiben, was die westliche symbolische Ordnung auszugrenzen sucht, was jedoch auf unterschiedliche Weise die Ordnung unterminiert und in Frage stellt“ (1992, S. 87). Die Puritaner in Neuengland reagierten sehr schnell und effizient auf diese Herausforderung. Sie verteidigten die Grenzen ihrer patriarchalischen sozialen Existenz gegen das von ihnen als abjekt konnotierte rebellische weibliche Element, indem sie es durch einen Rauswurf aus Boston „eindämmten“ und „abstießen“ (vgl. Kristeva 1982, S. 17). Anne Hutchinson wurde danach im Exil im Jahr 1643 bei einer Attacke von Native Americans getötet und Mary Dyer wurde im Jahre 1660 gehängt, da sie sich weigerte, die Verbreitung von Glaubensgrundsätzen der Quäker, denen sie sich in den 1650er Jahren angeschlossen hatte, einzustellen. Das puritanische Patriarchat hatte somit einen „Muttermord“ an den rebellischen Frauen – Hutchinson und Dyer – vollzogen.

Selbst Puritaner nachfolgender Generationen ließen in ihren Schriften nicht von Hutchinson und ihrem ungehorsamen Geist und Körper ab – während es keine Erkenntnisse zu einer Bewertung von Hutchinsons „monströser“ Fehlgeburt aus weiblicher Perspektive zu geben scheint. Emery Elliot weist darauf hin, dass der berühmte puritanische Gelehrte Cotton Mather (1663–1728) sich besonders feindselig gegenüber dem Andenken von Anne Hutchinson verhielt und Hutchinson und ihren weiblichen Körper als Negativbeispiel in Diskussionen über Fehlverhalten und Sünde einbrachte: „[D]octrinal adultery, wombs of misconception, monstrous fetuses of heresy and similar tropes appear throughout his work“ (2002, S. 118). Dies illustriert die These von Menninghaus, dass alle „objekthaften Ekelerfahrungen“ phobisch besetzt sind, „weil sie an jenen abjekten, weil ursprünglich verdrängten mütterlichen Körper erinnern“ (2017, S. 529).

4 Abjektion und puritanische (männliche) Selbstkontrolle

Während die „monströsen Missgeburten“, die weiblichen Körpern entschlüpft waren, fast unvermeidbarer Weise die „monströsen“ Gedanken der Häretikerinnen öffentlich machten, war es sehr viel einfacher für puritanische Männer ihre Abjektion, nämlich ihre unreinen, irreligiösen Gedanken – die sich auch in körperlichen Absonderungen zeigten – zu verbergen, denn im puritanischen Patriarchat gab es kein weibliches Pendant zu den männlichen Geistlichen, die sich zur Abjektion „unreiner Materie“ des weiblichen Körpers äußerten.

Der puritanische Pfarrer Michael Wigglesworth (1631–1653), ungefähr eine Generation jünger als Hutchinson und Dyer, ist ein berühmtes Beispiel für männliche puritanische Grenzüberschreitung – und Selbstkontrolle. Er versteckte seine abjekten Gedanken und Taten in einem Tagebuch, das er schrieb, als er an der Harvard Universität unterrichtete. Das Tagebuch umfasst sein Leben in der Zeit von 1653–1657; seit der Publikation durch Edward S. Morgan im Jahr 1946 hat es Forscher, die sich mit dem Puritanismus beschäftigen, immer wieder fasziniert. Wigglesworth schildert seine spirituellen Probleme und Konflikte in großem Detail. Als seine schlimmsten Sünden sah er seine religiöse Überheblichkeit, seine Unfähigkeit, seinen Vater zu lieben sowie seine „Liebe zur Kreatur“ (d. h. seinen Mitmenschen) an. Letztere war ihm sehr suspekt, da sie auf seine Studenten (die damals alle männlich waren) abzielte und ihm wichtiger erschien als seine Liebe zu Gott.

Seine spirituellen Schwächen und abjekten Sünden, wie z. B. „unresistable torments of carnal lusts or provocation unto ejection of seed“ (1946, S. 4) vertraute er stets seinem Tagebuch an. Dafür dachte er sich einen komplizierten Code aus, den er auf seine peinlichsten persönlichen Eintragungen anwandte. Morgan gelang es, diesen Code zu dechiffrieren; die entsprechenden Passagen sind in seiner Veröffentlichung von Wigglesworths Tagebuch in kursiver Schrift gedruckt.

Walter Hughes weist darauf hin, dass Wigglesworth in seinen Tagebucheinträgen zu seinen abjekten Momenten der Lust psychologische Theorien antizipierte, indem er eine Verbindung zwischen seiner mangelnden Liebe zu seinem Vater und seiner, wie er es nennt, „unnatürlichen“ Zuneigung zu seinen Studierenden zieht (vgl. 1946, S. 30–31).Footnote 5 In einem der Einträge beklagt er sich, dass sein mangelnder Respekt für väterliche Autorität sich auch auf seinen himmlischen Vater erstreckt. Er bittet deswegen Gott, den großen Heiler, darum, ihm seine körperliche und religiöse Abjektion zu nehmen:

But above all my vileness breakes forth whilest I am hearing the word. An Atheistic irreverent frame seizeth upon me; and whilest God is bidding me see his glory I cannot see it; vile and unworthy conceptions concerning god come into my mind. […] Look down and see my plague sores which I spread before thee my saviour; wounds and old putrifyd sores which provoke the Lord, stink in his nosthrils, and poison the peace and comfort of my own soul. (1946, S. 52–53)

Wigglesworth gibt in seinem Tagebuch also sein abjektes Verhalten – das er mit stinkenden, eiternden Wunden an seinem Körper vergleicht – zu und unternimmt sogar einen halbherzigen Versuch, es zumindest vor Gott publik zu machen. Sein Zustand entspricht eindeutig Kristevas Beschreibung einer Manifestation des Abjekts: „Urine, blood, sperm and excrement show up in order to reassure a subject that is lacking its own and clean self“ (1982, S. 53). Obwohl seine Tagebucheintragungen seine unreinen Gedanken und sexuellen Handlungen kasteien, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Abjektion ihm durchaus Lust bereitet, wenn ihn mitten im Gebet atheistische Gefühle der Respektlosigkeit überkommen. Dennoch kann die im Verborgenen ausgeübte Lustabfuhr nicht als „affirmative abjection“ verstanden werden, denn in der puritanischen Gesellschaft gab es keine Möglichkeit eine „unangepasste Lust- und Lebensform [öffentlich und] provokativ der Bejahung an[zu]empfehlen“ (Menninghaus 2017, S. 550).

Im Tagebuch bittet er Gott, die körperlichen Spuren, die von seiner Grenzüberschreitung zeugen, ihn unrein machen und Gott beleidigen, auszulöschen. Dies scheint jedoch nicht zu helfen, denn die Heilige Schrift und Gebete beflügeln seine abjekten Gedanken sogar noch. Wie er in dem Tagebucheintrag zugibt, bezieht er den himmlischen Vater sogar in seine unreinen Gedanken mit ein. In einem späteren Eintrag zeichnet er eine Säule zur Lobpreisung Gottes (vgl. 1946, S. 93). Sogar Richard Crowder, Wigglesworths konservativer Biograph, sah sich veranlasst, auf die phallische Natur der Säule hinzuweisen (vgl. Hughes 1990, S. 108). Unmittelbar unter dem Bild der Säule befindet sich ein Text, der auf die Abjektion von Sperma hinweist: „Some night pollution escaped me notwithstanding my earnest prayer to the contrary which brought to mind my old sins now too much forgotten“ (S. 93).

Durch seine Taten und Äußerungen scheint Wigglesworth einen Vatermord – zumindest an seinem leiblichen Vater und auch den puritanischen (Vor‑)Vätern – begehen zu wollen, und kann es nicht verhindern, auch den himmlischen Vater in seine Gedankengänge zu involvieren. Menninghaus führt an, dass „[d]ie Erschütterung der Körpergrenzen im ‚Gefühl der Abjektion‘ […] die Schwäche der Vaterfunktion [bezeugt]“ (2017, S. 533). Die Mutter – oder andere Frauen – werden in Wigglesworths einschlägigen Tagebucheinträgen nicht erwähnt; allerdings kann man sich dadurch auch fragen, ob die vollkommene Eliminierung des Weiblichen in seinen kodierten Texten nicht auch einen Mord an einer verdrängten „archaischen Mutter“ darstellt.

5 Ungleich in der Abjektion

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kristevas psychosoziale Theorie sich gut zur Analyse der genderspezifischen Betrachtung der Abjektion bei den Puritaner*innen in Neuengland eignet, da sie eine transhistorische Grundlage für eine umfassende Kulturtheorie der westlichen Welt bietet. Hinsichtlich der Abjektion gab es im Neuengland des 17. Jahrhunderts keine Geschlechtergerechtigkeit: Puritanische Männer verurteilten körperliche Abjektion bei rebellischen Frauen über Jahrzehnte in schriftlicher Form – während dies puritanischen Frauen in Bezug auf Männer, die in Neuengland Hüter der Deutungsmacht waren, nicht vergönnt war. Als Repräsentant der puritanischen Obrigkeit war Wigglesworth imstande, seine spirituelle und sexuelle Überschreitung religiöser Grenzen unbemerkt auszuleben, da seine Abjektion körperlicher Materie in seinen privaten Räumlichkeiten stattfand. Im Rahmen seiner Selbstkontrolle zur Vermeidung öffentlicher Sanktionierung vertraute er seine abjekten, unreinen Handlungen nur seinem Tagebuch (in verschlüsselter Form) an und konnte seine Abjektion dadurch erfolgreich verbergen. Hutchinson und Dyer hingegen, deren vermeintliche spirituelle Grenzüberschreitungen durch abjekte „monströse“ Geburten zwangsweise öffentlich gemacht wurden, wurden von den puritanischen Geistlichen, die die symbolische Ordnung Neuenglands verkörperten, für ihre Verstöße gegen die religiös-staatliche Ordnung abgestraft und aus der Gemeinschaft verstoßen.